Erfolgreicher Markenaufbau in Den Großen Emerging Markets: Niklas Schaffmeister Florian Haller
Erfolgreicher Markenaufbau in Den Großen Emerging Markets: Niklas Schaffmeister Florian Haller
Erfolgreicher
Markenaufbau in den
großen Emerging
Markets
Ein praxisorientierter Ratgeber für gezieltes
Markenwachstum in China, Indien,
Russland und Brasilien
Erfolgreicher Markenaufbau in den großen
Emerging Markets
Niklas Schaffmeister · Florian Haller
Erfolgreicher Markenaufbau
in den großen Emerging
Markets
Ein praxisorientierter Ratgeber für
gezieltes Markenwachstum in China,
Indien, Russland und Brasilien
Niklas Schaffmeister Florian Haller
globeone – Strategy, Serviceplan Gruppe für innovative
Brand, Communication Kommunikation GmbH & Co. KG
Köln, Deutschland München, Deutschland
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lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Springer Gabler
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018
Englische Originalausgabe erschienen bei Springer International Publishing, Switzerland, 2015
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V
VI Vorwort
Danksagung
Die Entstehung dieses Buches wurde von vielen Menschen auf vielfache Art und Weise
begleitet. Ein Vorhaben dieser Größenordnung kann ohne die Hilfe guter Freunde und
Unterstützer nicht bewältigt werden. Deswegen möchten wir den folgenden Menschen,
die uns auf unserem Weg geholfen haben, ein herzliches Dankeschön sagen:
An erster Stelle stehen unsere Familien, die uns den Rückhalt und den zeitlichen Frei-
raum gegeben haben, dieses Buch zu schreiben. Ihnen gebührt der größte Dank!
Eine große Zahl von Unternehmen und Menschen haben uns sehr geholfen, sei es mit
Kampagnen-Beispielen, Bildmaterialien und Rechten oder Ideen. Einigen möchten wir
hier besonders danken:
Unser Dank gilt der BMW-Gruppe, der Volkswagen Group China, Georg Warga
(Goodstein Partners), Jan Runau und Sabrina Cheung (Adidas Group), Oliver Wol-
ter (Volkswagen), Jochen Goller (MINI), Petra Schwaiger, Sabine Russ und Justin Dee
(BMW Group), Kristin Harder (Audi), Steffen Kuschel (Volkswagen), Susan Krambo
VIII Vorwort
(Armacell), Claudia Wölfle und Kay Köster (YWCD), Christine Zierott (Porsche), Rene
Co (Procter & Gamble), Lars Zeppenfeld (Mercedes-Benz), Dayna Hart (General Motors
China), Bernd Haack (Lada), Kim Palmer (Land Rover) sowie Oliver Sebel, dem Karika-
turisten der FAZ.
Viele Kollegen bei globeone und Serviceplan an den verschiedensten internationalen
Standorten haben uns ebenfalls mit Inhalten, Fallstudien und ihrer Meinung unterstützt
und dieses Buch bereichert.
Auf Seiten von Serviceplan haben insbesondere unsere Kommunikationsleiterin
Christiane Wolff und unser Managing Partner bei Serviceplan International, Markus
Noder, wichtige Impulse gegeben. Zudem waren Kathi Güthoff und Roger Strack von
Serviceplan China mit dabei. Aufseiten der Markenstrategie-Beratung globeone gab es
ebenfalls viele Unterstützer. Neben unserer Geschäftsführerin in Zürich, Carina Haus-
wald, haben Sebastian Hepp (Manager bei globeone in Köln), Simon Aschermann
(Consultant bei globeone in Köln), Na Tang (Geschäftsführerin globeone China), Ana
Szasz-Barone (Geschäftsführerin globeone Lateinamerika), Tatjana Martens-Pearce
(Beraterin in Shanghai), Lena Ink (Managerin bei globeone in Zürich), Sarah Ulcyfer
(Consultant bei globeone in Köln und Zürich) und Phillipp Fritz (Consultant bei glo-
beone in Köln) und das Projekt an verschiedenen Stellen unterstützt. Sehr hilfreich war
überdies unsere erfahrene Lektorin bei Springer Gabler, Angela Meffert.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.1 Wo die Gewinne erwirtschaftet werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.2 Weltweite Dimension des BRIC-Aufstiegs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1.3 Countdown: Emerging Market Brands erobern die Welt. . . . . . . . . . . . . 12
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
IX
X Inhaltsverzeichnis
„Um in Zukunft weltweit erfolgreich zu sein, muss man die BRIC-Länder verstehen, dies
gilt sowohl hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten als auch ihrer Unterschiede. Dieses Buch
liefert das erforderliche Grundlagenwissen und bietet frische Perspektiven und den kon-
zeptionellen Rahmen, um die Herausforderungen beim Aufbau erfolgreicher Marken in
diesen komplexen, dynamischen Regionen zu meistern.“
David Aaker, stellv. Vorstandsvorsitzender Prophet, Verfasser des Buches „Aaker on
Branding“
„Dieses Buch deckt aus fachlicher Sicht die zentralen Faktoren der Marken-Entwick-
lung und Marketingstrategie ab, derer sich ausländische Marken bei ihrer Expansion
in China bewusst sein müssen. Es gründet sowohl auf wissenschaftlicher Forschung
als auch auf praktischer Erfahrung in einem breiten Branchenspektrum. Würden mehr
Manager die in diesem Buch dargelegten Erfolgsfaktoren und -strategien sorgfältig in
Betracht ziehen, wären viele ausländische Unternehmen auf den BRIC-Märkten noch
sehr viel erfolgreicher.“
Prof. Dr. Jun Ma, Leitender Professor des Fachbereichs Automobil-Marketing, stell-
vertretender Dekan der School of Automotive Studies an der Tongji-Universität in
Schanghai
XV
XVI Stimmen zum Buch
„Die Autoren belegen auf überzeugende Weise, dass die Marke mehr denn je global und
lokal zugleich gedacht werden muss. Neben hochaktuellen Beispielen liefert das Buch
ebenso lehrreiche wie anwendungsbezogene Einblicke in zentrale Herausforderungen an
das Markenmanagement für über drei Milliarden Konsumenten!“
Univ.-Prof. Dr. Anton Meyer, Vorstand des Instituts für Marketing an der Ludwig-
Maximilians-Universität München
„Dieses Buch kombiniert tiefes Wissen über die BRIC-Märkte und Markenmanagement
mit 25 strategischen Ansätzen für Markenwachstum in den aufstrebenden Märkten. Es
stellt einen wesentlichen Beitrag zu unserem Verständnis größerer Herausforderungen
im Zusammenhang mit Markenbildung und strategischen Konzepten in diesen Märkten
dar.“
Prof. Dr. Franziska Völckner, Direktorin des Seminars für Marketing und Markenma-
nagement an der Universität Köln
Über die Autoren
Dr. Niklas Schaffmeister ist ein anerkannter Experte für Markenmanagement und stra-
tegische Markenkommunikation. Er hat sich auf die Entwicklung von Positionierungs-
konzepten unter besonderer Berücksichtigung lokaler und globaler Marktgegebenheiten
und Kundenbedürfnisse (marktgetriebener Ansatz) für führende globale Marken spezia-
lisiert. Weitere Tätigkeitsschwerpunkte sind das Business-to-Business-Marketing sowie
digitale Strategien für den Markenaufbau.
Niklas Schaffmeister blickt auf 15 Jahre Branchenexpertise in den Bereichen Chemie,
Automobil, Technologie, Handel, Unterhaltungselektronik und Finanzdienstleistungen
zurück. Zahlreiche weltweit agierende Blue-Chip-Kunden sowohl aus den Bereichen
Business-to-Business als auch Business-to-Consumer haben bereits von seinen profun-
den Branchenkenntnissen profitiert.
Er ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von globeone, einer Unterneh-
mensberatung, die sich auf Markenmanagement konzentriert und besondere Kompe-
tenz in den wichtigen Wachstumsmärkten der Welt besitzt. Von seinen Niederlassungen
in Deutschland, der Schweiz, Südamerika und in China aus verbindet globeone globale
Strategie und lokale Chancen, um Marken in den großen Schwellenmärkten mit einer
marktgetriebenen Positionierung zu unterstützen.
Vor seiner Tätigkeit bei globeone verantwortete Niklas Schaffmeister das Asien-
Geschäft der Unternehmensberatung BBDO Consulting (heute Batten & Company) in
Schanghai als Vice President Asia-Pacific. In dieser Zeit war er für internationale Bera-
tungsprojekte verantwortlich und trug dazu bei, „Global Best Practices“ einzuführen.
Niklas Schaffmeister besitzt einen Master of Business Administration der Freien
Universität Berlin, an der er auch promovierte. Während seines Master-Studiums und
seiner Postgraduierten-Zeit war er Visiting Scholar an der Universität von Michigan in
Ann Arbor und der Chinese University in Honkong. Während der sechs Jahre, die er in
Schanghai lebte, lehrte er als Gastprofessor im Rahmen des Global-MBA-Programms
der Schanghai University und veröffentliche zahlreiche Artikel und Untersuchungen
wie etwa die repräsentative Studien globeone BRIC Branding Survey und Emerging
Market Brands Survey. Niklas Schaffmeister spricht neben Deutsch fließend Englisch
und Mandarin.
XVII
XVIII Über die Autoren
Ein halbes Jahrzehnt ist vergangen, seit die Großbank HSBC (Ward 2012) in ihrer Stu-
die „The World in 2050“ das Heraufziehen einer „neuen wirtschaftlichen Weltordnung“
mit „außerordentlicher Geschwindigkeit“ vorhersagte. Gemeint war der rasante Aufstieg
neuer Märkte wie China, Indien, Malaysia, Vietnam, Mexiko, Russland und Indonesien,
wobei die Volksrepublik China bis zur Mitte dieses Jahrhunderts sogar die USA als füh-
rende Volkswirtschaft überholt haben sollte. Um diese und ähnliche Prognosen ist es vor-
übergehend still geworden. Seitdem servieren uns die Zeitungen regelmäßig Nachrichten
über nachlassendes Wachstum und hohe Schulden in China, über eine Wirtschaftskrise in
Russland, die schärfste Rezession in Brasilien seit Jahrzehnten sowie schleppende Refor-
men in Indien.
Doch derlei Berichte und Reportagen bilden – wie so oft – nicht die ganze Realität
ab. Brasilien hat im Sommer 2016 trotz schwerer interner Probleme, inklusive einer
Regierungskrise und eines scharfen Rückgangs der wirtschaftlichen Tätigkeit, die Olym-
pischen Spiele besser als erwartet über die Bühne gebracht. Russland treffen die großen
Belastungen aus gesunkenen Energiepreisen, westlichen Sanktionen und einem schwa-
chen Rubel nicht so schlimm, wie ursprünglich von manchen vorhergesagt. Staatsauf-
träge und Subventionen federn die schlimmsten Folgen für die Konjunktur ab. Bei vielen
deutschen Firmen hat das Russlandgeschäft zur Mitte des Jahrzehnts stark gelitten. Doch
im August 2016 berichtete der Geschäftsführer des German Centre in Moskau, Stephan
Weiss, in einem Interview: „Ab Beginn der Krise bis Ende 2015 ist die Nachfrage ein-
gebrochen. Es gab keine Unternehmen aus Deutschland, die sich in Russland niederge-
lassen haben. Jetzt hat es sich wieder normalisiert. Die Investitionsneigung hat deutlich
zugenommen. Die Entwicklung ist positiv“ (Gutmann 2016). Nicht nur das: Die Sanktio-
nen gegen Russland haben in vielen Fällen dazu geführt, dass deutsche Firmen, statt wei-
ter zu liefern, Produktionen in Russland aufgebaut haben (Dams et al. 2016). Und reiche
Russen lassen sich von der aktuellen Krise ohnehin nicht einschüchtern, im Gegenteil.
Bloomberg berichtete im Februar 2016, dass Luxus-Marken im Vorjahr ihr bislang bestes
Verkaufsergebnis erzielt hätten, obwohl der Umsatz im Einzelhandel insgesamt um zehn
Prozent zurückging (Khrennikov et al. 2016). Und letztlich nährt auch der Regierungs-
wechsel in den USA die Hoffnung auf eine Lockerung der Sanktionen gegen Russland
und eine Normalisierung der Handelsbeziehungen.
China konnte trotz seiner eigenen Probleme mit einem anhaltend starken Importsog
die deutsche Wirtschaft in den vergangenen Jahren vor einer größeren Flaute bewahren
helfen. In einer Zeit, in der zunehmend Zweifel daran aufkommen, dass die USA ein frei
zugänglicher Markt bleiben und den globalen Freihandel verteidigen, erscheint China
vielen als wichtige Alternative.
Und Premier Narendra Modi in Indien werden in heimischen Medien teils „deutli-
che“ Fortschritte bei den schwierigen Reformen attestiert, obwohl noch viel zu tun bleibt
(Panagariya 18. Mai 2016). Das Manager Magazin berichtete im September 2016 von
einer beginnenden Wende in den Emerging Markets. „Die meistgehasste Anlageklasse
der vergangenen Jahre steht vor einem Comeback“ (Böschen und Hirn 2016), hieß es in
dem Artikel. Zwar seien nicht alle Schwellenländer „zurück auf dem Radar der Anleger“,
doch gebe es Wachstumsstars wie Indonesien und Indien, in denen Reformen für eine
Trendwende sorgten. Obwohl China eine harte Landung vorerst abgewendet habe, sei ein
breiter Aufschwung aller Emerging Markets nicht zu erwarten, aber es sehe besser aus
als in den Industrieländern.
Der Aufstieg großer neuer Märkte prägte das vergangene Jahrzehnt. Er erfolgte
schneller und mit weitreichenderen Folgen als jede andere Phase der bisherigen Wirt-
schaftsgeschichte, einschließlich der Industriellen Revolution. Der Schwerpunkt der
globalen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse verschob sich seit Beginn des vergangenen
Jahrzehnts immer rascher von den westlichen Volkswirtschaften weg. Längst haben sich
führende westliche Markenunternehmen wie Adidas, Volkswagen, Ralph Lauren und
der Schweizer Luxusuhren-Hersteller Hublot bedeutende Marktanteile in den BRIC-
Ländern erschlossen, um ihre Absatzaussichten langfristig zu steigern und die schlep-
pende Inlandsnachfrage auf den angestammten Heimatmärkten auszugleichen. Selbst bei
schwächerem Wachstum in den Emerging Markets bieten sich Möglichkeiten zur geziel-
ten Expansion. Adidas verfügte im Sommer 2016 bereits über 9000 Single-Brand-Fran-
chise-Läden in China. Bis 2021 will das Unternehmen 3000 weitere Länden im Reich
der Mitte eröffnen (Burkitt 2016). Bedenken, dass eine langsamer wachsende chinesi-
sche Volkswirtschaft dem Konsum schaden könnte, gibt es bei dem erfolgreichen Sport-
artikel-Hersteller nicht, im Gegenteil. Die Präsenz des Markenartiklers soll auf 2200
Städte in China mehr als verdoppelt werden. Der Vormarsch in kleinere Städte, aber auch
die fortgesetzte Urbanisierung im Land, sollen für die nötige Nachfrage sorgen. Das
anhaltende Wachstum der chinesischen Mittelschicht ist allerorten deutlich sichtbar. Ein
weiterer wichtiger Wachstumstreiber sind Online-Käufe, die sich in einigen Kategorien
binnen eines Jahres verdoppelt haben (Warc 2016).
Selbst mit gedämpften Wachstumsraten werden China, Indien, Brasilien und andere
große Schwellenländer zu den Märkten gehören, in denen weltweites Wachstum erzeugt,
1 Einleitung 3
neue Trends und Mega-Marken entwickelt und neue internationale Standards etabliert
werden. Die BRIC-Länder treiben bereits jetzt die globale Motorisierung, die Urbani-
sierung und die Digitalisierung voran, während sie die globalen Ausgaben für Forschung
und Entwicklung sowie das Transaktionsvolumen bei gewerblichen Immobilien massiv
anheben. Sie alle weisen einen raschen Fortschritt im Bereich Telekommunikation und
hier insbesondere bei mobilen Endgeräten und dem Internet auf. Selbst bei gebremstem
Wachstum haben sich China und die anderen Schwellenmärkte zu den führenden Import-
ländern entwickelt.
Maßgeblich dafür ist die fortgesetzte Ausdehnung der Mittelschicht, die die Schwel-
lenländer zur neuen Shopping-Supermacht auf dem Planeten gemacht hat. Im „Global
Wealth Report 2016“ der Boston Consulting Group nimmt China den zweiten Platz
hinter den USA ein, drei Ränge vor Deutschland (Beardsley et al. 2016). Chinas Mit-
telschicht hat sich seit 2000 praktisch verdoppelt und macht heute bereits ein Drittel der
weltweiten Mittelschicht aus. Im Jahr zuvor hatte der globale Vermögensbericht bereits
darauf verwiesen, dass die Asiaten (ohne Japaner) jetzt mehr Privatvermögen besitzen als
die Westeuropäer. Aber nicht nur die Konsumenten schließen zum Westen auf. Auch in
der Kategorie der weltweit größten Konzerne ist China längst in die Spitzengruppe vor-
gestoßen. So rückte Sinopec schon 2014 an die Spitze des „Industry Week (IW) 1000“
vor und ließ damit seine britischen und US-amerikanischen Konkurrenten – Royal Dutch
Shell und Exxon Mobil – hinter sich (Christ 2014). Sinopecs Umsatz hatte sich in den
fünf Jahren bis 2014 mehr als verdoppelt.
Die neuen Champions aus den Schwellenländern können deshalb so außerordentlich
rasch wachsen, weil eine rasch wachsende Mittelschicht die dazu notwendige Nachfrage
erzeugt. Die kritische Masse für den globalen wirtschaftlichen Wachwechsel ist also
bereits vorhanden. Daran ändert die Wachstumspause in einigen Schwellenländern wie
Russland und Brasilien nichts. Ihr Gewicht ist bereits zu groß. China ist der weltweit
größte Markt für Pkws. China ist inzwischen der weltweit größte Exporteur, der größte
Energiekonsument, es hält die umfangreichsten Devisenreserven und auf internationaler
Ebene die größte Menge an US-amerikanischen Staatsanleihen.
Gegenwärtig lecken sich die Verbraucher und Märkte in Europa und Amerika immer
noch die Wunden, die von der weltweiten Finanzkrise von 2008 mit anschließender
großer Rezession verursacht wurden. Die westlichen Volkswirtschaften müssen aller
Wahrscheinlichkeit nach auch in den kommenden Jahren noch mit einem bescheidenen
Wirtschaftswachstum rechnen. Die Folgen sind weitreichend: Gebremste Einkommens-
und Vermögenszuwächse in den Heimatmärkten zwingen vorausschauende Manager
international orientierter Unternehmen, ihre Blicke stärker auf die Wachstumsmärkte zu
richten, um ihre ehrgeizigen und langfristigen Expansionspläne zu realisieren.
Die derzeitige Flaute in den neuen Märkten wird sich später einmal mit Blick zurück
als eine Wachstumspause erweisen. Was die regionalen Wachstumsbeiträge angeht, so
hat sich die wirtschaftliche Weltordnung bereits stark verändert. Und es wird erwartet,
dass insbesondere China und Indien in die Spitzenpositionen der weltweit führenden
Wirtschaftsnationen aufrücken werden (siehe Abb. 1.1).
4 1 Einleitung
Abb. 1.1 China, Indien und Brasilien zählen mittlerweile zu den zehn größten Volkswirtschaften.
(Quellen: World Bank 2011; Ward 2012)
In diesem Zusammenhang wird weiter darüber spekuliert, wann China die USA
gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) als größte Wirtschaftsmacht überholen wird.
Im Oktober 2014 meldete der Internationale Währungsfonds (IWF), wenn man Chinas
BIP an der Kaufkraftparität (KKP) messe, habe China die USA bereits hinter sich gelas-
sen und stehe in dieser Hinsicht an der Weltspitze. Dies ist ein wichtiger Meilenstein in
der Evolution Chinas zu einer globalen Wirtschaftsmacht, nachdem die USA seit 1872
in diese Spitzengruppe aufgerückt waren (Schiavenza 10. August 2014). Bewertet man
allerdings das chinesische BIP anhand des gegenwärtigen Kursniveaus des US-Dollars
auf den Devisenmärkten, so liegen die USA immer noch deutlich als größte Volks-
wirtschaft der Welt in Führung. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis China die USA
auch in diesem Punkt herausfordern wird. Nach einer Schätzung des Economist (siehe
Abb. 1.2) kann China bis 2021 der Durchbruch zur größten Volkswirtschaft der Welt
gelingen (Economist 2014).
Die vier größten Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China reprä-
sentieren 43 % der Weltbevölkerung und tragen etwas mehr als ein Fünftel zum
Welt-Bruttoinlandsprodukt bei. Die Gruppe nimmt ein Viertel der bewohnbaren Erd-
oberfläche ein und verfügt über die Hälfte der weltweiten Devisen- und Goldreser-
ven. Die BRIC (ohne Südafrika, also nicht „BRICS“) ziehen mehr als ein Zehntel
1 Einleitung 5
BIP in
2021
Billionen China US
Dollar*
Abb. 1.2 Jüngsten Prognosen zufolge ist es wahrscheinlich, dass China die USA gemessen am
nominalen BIP und den laufenden Wechselkursen 2021 überholt. (Quelle: Economist 2014)
BRIC-Staaten ihre globale Expansion jedoch unbeirrt fort. Chinas Unternehmen haben
sich dabei eindeutig an die Spitze gesetzt, weil verringertes Wachstum und Überkapa-
zitäten in der Volksrepublik sie zu einer beschleunigten Internationalisierung zwingen.
Die Regierung fördert das. Und die chinesischen Konsumenten verlangen immer bessere
Produkte. Im ersten Halbjahr 2016 kündigten Chinas Firmen so viele Beteiligungen und
Übernahmen in Übersee an, dass deren Volumen bereits das des ganzen Vorjahres über-
traf. Mit einem Anteil von knapp 21 % am Volumen aller internationalen M&A-Deals
setzten sich Chinas Firmen damit international an die Spitze, vor deutsche Firmen, die
auf einen M&A-Weltmarktanteil von 18 % kamen. Chinas Firmen investieren damit
erstmals mehr in Übersee-Beteiligungen, als internationale Firmen in China investie-
ren. Im Klartext: China ist dabei, im Rekordtempo Know-how, Marken, Manager und
Vertriebswege im Ausland zu erwerben, um seine eigenen Marken zu stärken und global
zu positionieren. Es ist nur noch eine Frage weniger Jahre, bis westliche Hersteller den
wachsenden Wettbewerbsdruck schmerzhaft zu spüren bekommen. Es wäre hilfreich,
wenn sie die neuen Champions, deren Vorhut mit Firmen wie Huawei, Haier und Lenovo
schon jetzt auf westlichen Märkten für Aufsehen sorgen, in ihrem Heimatmarkt frühzei-
tig kennenlernen, um später der Konkurrenz besser gewachsen zu sein.
In ihrem ständig zunehmenden Hunger nach US-amerikanischen und europäischen
Anlagen und Marken erwerben chinesische Investoren Liegenschaften in London, deut-
sche Werkzeugmaschinenbauer und Robotik-Spezialisten wie Kuka sowie Anteile an
kanadischen Ölsand-Projekten. Im Weinbau sind sie sogar dabei, die neuen „Barone von
Bordeaux“ zu werden. Als die weltweite Wirtschaftsflaute die Nachfrage nach exquisiten
französischen Weinen schrumpfen ließ, eilten chinesische Käufer zu Hilfe. Zuhauf wech-
selten französische Weingüter in den Besitz chinesischer Investoren, die sich so zugleich
ein weiteres lukratives Standbein für die kommenden Jahre aufbauten, in denen chinesi-
sche Touristen voraussichtlich Milliarden von US-Dollar in die Region bringen werden.
China und Indien sind jeder für sich eher als Kontinent und nicht als Land zu betrach-
ten und waren bereits früher weltweite Wachstumsmotoren. Sie knüpfen in gewisser
Weise an frühere Größe an. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts erwirtschafteten die
beiden asiatischen Riesen die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung. Aber dann
setzte aufgrund des Aufstiegs Europas und der Entscheidung Chinas, man sei zu seinem
eigenen Fortschritt nicht auf die Weltmärkte angewiesen, ein relativer Rückgang ein. Der
addierte Anteil Chinas und Indiens an der Weltwirtschaft sank von 49 % im Jahr 1820
auf nur noch acht Prozent 1973. Erst nach der Öffnung Chinas – und nachdem Indien mit
einigem Zögern eigene Reformen einleitete – nahm ihr gemeinsamer Anteil wieder zu:
auf zunächst 17 % im Jahr 2001 bis auf etwa ein Viertel 2013.
Angesichts des geringen Wachstums in Europa – sowie eines nicht überzeugenden
Aufschwungs in den Vereinigten Staaten – reichen den Schwellenmärkten auch geringere
Zuwächse, um nicht nur aufzuschließen, sondern letztlich die Führung zu übernehmen.
Die meisten Kenner der BRIC-Länder sehen keine Notwendigkeit, ihre langfristigen
Erwartungen über den Haufen zu werfen. Die Urbanisierung ist – mit der Ausnahme
Brasiliens – immer noch geringer als in den Industrienationen. Darüber hinaus lässt sich
1 Einleitung 7
ein großer Teil des Rückgangs des chinesischen Wachstums im gegenwärtigen Wirt-
schaftszyklus mehr auf reduzierte Investitionen als auf verringerte Verbrauchernach-
frage zurückführen. Und das ist im Rahmen der Umstellung des Geschäftsmodells von
einer export- und investitionsgetriebenen auf eine mehr vom heimischen Konsum ange-
fachte Konjunktur durchaus gewollt. Die jüngsten Zahlen zeigen, dass China mit dieser
Umstellung vorankommt. Im Herbst 2016 begannen die Importe Chinas erstmals nach
fast zwei Jahren wieder zu steigen, ein klarer Hinweis darauf, dass das Land auf dem
Weg zu einem neuen Wirtschaftsmodell Fortschritte macht. Und das, ohne seine Zug-
kraft in der Weltwirtschaft einzubüßen. Der ehemalige Vorsitzende von Morgan Stanley
in Asien, Stephen Roach, rechnete im August 2016 in einem Beitrag für das Project Syn-
dicate vor, dass China 39 % zum Wachstum der Weltwirtschaft beiträgt (Roach 2016).
Dass der Inlandskonsum im Reich der Mitte dabei seine neue Führungsrolle bereitwil-
lig übernimmt, zeigt eine Beobachtung des Marktforschungsunternehmens eMarketer in
New York. Dieses schätzte im Herbst 2016, dass die Umsätze in Chinas Einzelhandel mit
einer Zunahme von 13 % im Kalenderjahr genau fünfmal so schnell wachsen wie in den
USA. (eMarketer 2016) Dabei hat China laut dem eMarketer auch bereits die globale
Führungsrolle im Online-Handel übernommen. Der sogenannte E-Commerce hat mit
18,4 % schon jetzt einen größeren prozentualen Anteil am Gesamterlös im Einzelhandel
als in allen anderen großen Volkswirtschaften. China soll demnach 2017 über die Hälfte
vom weltweiten Online-Umsatz des Handels bestreiten.
Die chinesischen Konsumenten verzeichnen also weiterhin zweistellige Zuwachsraten
bei ihren Einkäufen. Und dieser Trend wird auch in den kommenden Jahren anhalten. In
ihrem Buch The $10 Trillion Prize: Captivating the Newly Affluent in China and India
prognostizieren Silverstein et al. (2012a), chinesische und indische Konsumenten wür-
den im laufenden Jahrzehnt 64 Billionen US$ und 2020 allein zehn Billionen US-Dollar
ausgeben – das entspräche 71 % des US-amerikanischen BIP des Jahres 2010. Die Mit-
telschicht in den beiden Ländern soll bis zum Jahr 2020 auf eine Milliarde Menschen
anwachsen. Chinesische Konsumenten, die 2009 geboren wurden, werden den Progno-
sen zufolge 38-mal mehr Geld ausgeben als die, die 1960 das Licht der Welt erblickten.
In Indien rechnet man mit einem Anstieg des Anteils der Mittelschicht an der Gesamt-
bevölkerung von jetzt 28 % auf nahezu die Hälfte bis zum Ende des Jahrzehnts. Die-
ser Zuwachs entspricht etwa dem Zweieinhalbfachen der deutschen Bevölkerung. Selbst
wenn diese Prognosen in Teilen nach unten korrigiert werden müssten, wäre das zusätzli-
che Marktpotenzial immer noch zu groß, um es einfach zu ignorieren.
Doch im Zusammenhang mit den BRIC geht es nicht allein um die schiere Größe der
einzelnen nationalen Märkte. Ihre breit gefächerten Volkswirtschaften sind auch auf viel-
fältige Weise durch den Austausch von Gütern und Dienstleistungen miteinander verbun-
den. China ist bereits der größte Handelspartner Brasiliens und Indiens. Die wichtigsten
Anstöße für diese wachsende Integration stammen aus der Politik. Auf ihrem Treffen im
mexikanischen Los Cabos im Juni 2012 beschlossen die Mitglieder, eine gemeinsame
Entwicklungsbank und einen Devisenreserve-Pool einzurichten. Darüber hinaus verstän-
digten sie sich darauf, eine Vereinbarung zu Währungs-Swaps einzuführen. Das soll die
8 1 Einleitung
wenn man ihre Situation vor zehn Jahren betrachtet hätte, und hätte er damals erklärt, sie
würden von einer Milliarde auf zehn Milliarden wachsen, hätte ihnen das niemand abge-
nommen. Aber sie hätten es geschafft. In den nächsten zehn Jahren würden sie auf der
Grundlage sowohl quantitativer wie qualitativer Maßstäbe zu den 50 weltweit am meis-
ten geschätzten Marken gehören wollen (Silverstein et al. 2012c).
Immer mehr ausländische Unternehmen erkennen offenbar, dass der Verkauf von Export-
gütern an die Konsumenten in den BRIC-Ländern nicht der Königsweg ist. Eines der
Beispiele dafür ist BMW, das im Chinesischen (Mandarin) „Baoma“ („wertvolles
Pferd“) genannt wird. In China erzielte BMW zur Mitte des Jahrzehnts fast ein Drittel
seines operativen Gewinns und etwa ein Fünftel seines Ertrages. Im Mai 2012 eröff-
nete der Luxusautobauer in der nordostchinesischen Stadt Shenyang seine zweite Ferti-
gungsfabrik. Es war die 25. BMW-Fabrik weltweit. Die Produktionskapazitäten wuchsen
damit auf bis zu 200.000 Fahrzeuge an – ein eindrucksvoller Beleg für das außerordent-
liche Potenzial dieses Marktes für das Wachstum des deutschen Premium-Herstellers.
Anfang 2012 wurde China gemessen an den Verkaufszahlen zum größten Markt für
BMW und ließ Deutschland und die USA hinter sich. Nach einer spürbaren Abkühlung,
die auf rasante Zuwachsraten folgte, hat sich der chinesische Premiummarkt für Pkws
2016 wieder normalisiert. Die Verschnaufpause hat nichts daran geändert, dass China
auch für die deutschen Hersteller von Luxusautos zum wichtigsten Einzelmarkt aufge-
stiegen ist und seine Rolle weiter festigt. Einer der Gründe: Der US-Markt zeigt neuer-
dings Schwächen und hilft dabei, dass China trotz der Normalisierung relativ gesehen
weiter an Bedeutung gewinnt. BMW hat laut dem Autoexperten Ferdinand Dudenhöffer
zusammen mit seinem lokalen Partner Brilliance 2015 allein in den Produktionsstandort
Shenyang rund eine Milliarde Euro investiert (Trentmann 22. Januar 2016).
Die Unternehmen können es sich einfach nicht mehr leisten, nicht vor Ort in den
großen Schwellenländern präsent zu sein. Aus einer Umfrage unter Managern von 431
großen und mittleren Unternehmen aus der ganzen Welt durch das Marktforschungsun-
ternehmen Global Intelligence Alliance (2012) geht hervor, dass Brasilien, China, Russ-
land und Indien – in dieser Reihenfolge – als Märkte von deutschen Firmen am höchsten
geschätzt werden. Dass China und Indien inzwischen ganz an die Spitze dieser Wert-
schätzungs-Rangliste aufgerückt sind, hat am Gesamtergebnis wohl nicht viel verändert.
Die Hälfte der an der Umfrage beteiligten Unternehmen vertrat die Meinung, mindestens
30 % der weltweiten Umsätze würden bis 2017 in den aufstrebenden Märkten erwirt-
schaftet werden. Der überwiegende Teil der Befragten weitet seine Investitionen aus, um
im Sinne langfristiger Erträge auf den größeren zukünftigen Märkten präsent zu sein.
US-amerikanische Vorstände scheinen die Ansichten ihrer europäischen Kollegen
hinsichtlich des Aufbaus einer langfristigen Präsenz in den Schwellenmärkten zu teilen.
Yum! Brands, der Eigentümer von KFC, Pizza Hut und Taco Bell, beschleunigt seine
10 1 Einleitung
Die weltweite Bedeutung dieser Gruppe lässt sich am besten am Anwachsen der Mit-
telschicht festmachen. Im August 2012 lieferte McKinsey die folgende Einschätzung:
1990 betrug die Gesamtzahl der Menschen weltweit, die mehr als zehn US-Dollar pro
Tag verdienen – diese Summe reicht aus, um einen finanziellen Ermessensspielraum für
Anschaffungen zu eröffnen – etwa eine Milliarde. Das entsprach damals einem Fünftel
der Weltbevölkerung. Die große Mehrheit dieser bessergestellten Konsumenten lebte
in den Industrienationen in Europa, Nordamerika und Japan. Aber seit dieser Zeit ver-
doppelte ein außerordentliches Wachstum die Zahl der Mitglieder dieser Konsumen-
tenschicht in den aufstrebenden Märkten auf 2,4 Mrd. In den kommenden fünf Jahren
könnte diese Zahl noch auf 4,2 Mrd. Menschen weiter ansteigen – bei einer Weltbevöl-
kerung von vermutlich 7,9 Mrd. Menschen. Sollte sich die Vorhersage als einigermaßen
zutreffend erweisen, gäbe es erstmals mehr Menschen, die der globalen Mittelschicht
angehören, als jene, die sich nur das Notwendige leisten können.
Aber das ist noch nicht alles: Bis zum Jahr 2025 werden fast 60 % der schätzungs-
weise eine Milliarde Haushalte weltweit mit einem Jahreseinkommen von mehr als
20.000 US$ aus den Schwellenländern kommen. Sie werden die weltweite Nachfrage
von Zahnpasta bis hin zu Luxusfahrzeugen und von Smartphones bis zu Hamburgern
dominieren. Die Auswirkungen dieses historischen Wandels sind bereits sichtbar. Ein
unübersehbarer Beleg ist die zunehmende Zahl chinesischer Touristen, die Europa und
Nordamerika bereisen. Das berühmte Kaufhaus Harrods in London verdient bereits jedes
fünfte Pfund durch die Käufe chinesischer Touristen. Und die kommen seit dem Refe-
rendum über den Ausstieg der Briten aus der EU noch viel häufiger, weil ihnen das abge-
wertete britische Pfund Schnäppchen verspricht. Die Zahl der Shopping-Touristen aus
China hat in den Monaten nach der Abstimmung für den Brexit um 20 % zugenommen.
Bevor sich dieses Nachfragehoch aus den Schwellenländern abschwächte, war China
für 42 % des gesamten weltweiten Verbrauchs von Basismetallen verantwortlich. Chinas
Anteil an der globalen Kupfernachfrage betrug 2012 über 40 %, bei Baumwolle waren es
36 %. Chinas Direktinvestitionen im Ausland haben inzwischen die westliche Wirtschaft
von Bereichen wie Energie bis zu Maschinen, Computern und der Weinwirtschaft auf-
gerüttelt. In der ersten Hälfte des laufenden Jahrzehnts nahmen die Investitionen chine-
sischer Firmen in ausländische Unternehmen mit zweistelligen Raten zu. Die Nachfrage
aus China hat laut dem US-China Business Council die US-amerikanischen Exporte in
das Reich der Mitte in zehn Jahren um 542 % ansteigen lassen.
12 1 Einleitung
Chinas Aufstieg hat die weltweiten Handelsrouten auf den Kopf gestellt. In den letz-
ten zehn Jahren wurde die Endmontage unzähliger Güter von anderen asiatischen Län-
dern nach China verlagert. Verstärkt wurden Vorprodukte aus Asien zuerst nach China
und dann als Endprodukt weiter nach Europa oder Nordamerika exportiert. Diese Ent-
wicklung führte zu einem massiven Handelsüberschuss Chinas gegenüber den USA,
während China gegenüber den meisten seiner Nachbarn Handelsdefizite aufwies. Ande-
ren asiatischen Ländern eröffnete dies die Chance, ihre Exportwirtschaft im Fahrwasser
Chinas anzukurbeln. Die Größe der aufstrebenden Märkte in den BRIC-Ländern – sowie
deren rasche Integration und die Verbreitung der sozialen Medien in der neuen Mittel-
schicht – schafft perfekte Testgebiete, in denen künftig internationale Marken ihre ersten
Probeläufe unternehmen können. So startete die Lufthansa ihre weltweit erste Groupon-
Kampagne in Brasilien. Und PepsiCo Beverages wählte in Lateinamerika Brasilien als
das am besten geeignete Land aus, um den Energiedrink Gatorade mithilfe eines For-
schungsprojektes im Mobilbereich in eine Sporternährungsmarke zu verwandeln. Ana
Alvarez, PepsiCo Beverages-Direktorin für Verbraucherstrategie und -verständnis, erläu-
terte im Oktober 2012, Brasilien sei der zweitgrößte Markt für Facebook, und es gebe
mehr Mobilgeräte als Einwohner; die Möglichkeit für Marktforschung sei enorm, das
schließe auch Menschen mit geringen Einkommen ein (Alvarez und Moreira 2013).
Es gibt überzeugende Gründe für die Annahme, dass viele Marken aus großen Schwellen-
ländern schon bald in den westlichen Märkten viel bekannter – und präsenter – werden.
Ein solcher Grund ist das rasche Wachstum neuer Verbraucherschichten in den aufstreben-
den Märkten. Die neue Mittelschicht wird die lokalen Marken stärken und deren Wachs-
tum befördern, sodass sich aus ihnen ernsthafte Konkurrenten entwickeln. Ein weiterer
wichtiger Grund hat mit dem weltweiten demografischen Wandel zu tun. In den aufstre-
benden Märkten sind die Menschen in der Regel viel jünger. Im Westen liegt das Durch-
schnittsalter bei über 35 Jahren gegenüber 25 bis 30 Jahren in den Schwellenländern. In
den nächsten Jahrzehnten wird der Großteil der Menschen in ihrem besten aktiven Alter
(zwischen 25 und 49 Jahren) in Asien und Südamerika leben. Das für die Expansion jun-
ger und vielversprechender Marken notwendige Kapital steht mehr als jemals zuvor in
den Schwellenmärkten bereit. Umfangreiche Devisenreserven, rasch wachsende Kapital-
märkte und ein dynamischer Bankensektor erleichtern die Finanzierung.
Viele der Schwellenländer – insbesondere in Asien, Südostasien und Lateinamerika –
weisen starke regionale Eigentümlichkeiten auf, die aber von westlichen Konzernen oftmals
nicht angemessen berücksichtigt werden. Es wird daher vor allem im Bereich geschmacks-
und kulturorientierter Branchen – wie Mode, Arznei und Nahrungsmittel – zum Aufstieg
heimischer multinationaler Unternehmen kommen. Während aufstrebende lokale Marken
dank wachsender heimischer Märkte, günstiger Finanzierungen und einer jungen Bevöl-
kerung an Boden gewinnen werden, dürften viele westliche multinationale Konzerne unter
Druck geraten.
1.3 Countdown: Emerging Market Brands erobern die Welt 13
Volvo 96%
Jaguar 96%
Lada 77%
Gazprom 76%
Kaspersky 71%
Kalashnikov 68%
Lenovo 62%
Aeroflot 57%
2015). Bis 2020 könnten ihre Direktinvestitionen in Europa auf bis zu 250 Mrd. US$
anwachsen. Indische Unternehmen liegen nicht weit hinter ihren chinesischen Konkur-
renten. Eine der spektakulärsten Übernahmen war der Kauf des deutschen Windkraft-
anlagenbauers Repower durch das indische Unternehmen Suzlon Energy im Mai 2007.
Chinesische Manager zeigen sich insbesondere an deutschen Unternehmen interes-
siert, wenn sie sich Europa zuwenden. Laut dem Beratungsunternehmen EY betrachtet
ein Viertel der führenden Manager Chinas Deutschland als eines der drei attraktivsten
Länder, wenn es um Investitionen geht. Im Januar 2012 griff China sogar nach einer der
Säulen der deutschen Industrie, als es ankündigte, Sany Heavy Industry werde Putzmeis-
ter, einen mittelgroßen Hersteller von High-Tech-Betonpumpen, übernehmen. Sany ist
der größte chinesische Hersteller von Baumaschinen. Diese Übernahme zog große Auf-
merksamkeit auf sich und gehörte zu den bisher größten Geschäften dieser Art, bei denen
ein Unternehmen aus der Volksrepublik einen deutschen, als Familienbetrieb geführten
Maschinenbaukonzern erwarb.
China macht Brasilien, Indien und Russland erfolgreich vor, wie Kapital und Mar-
ken aus diesen Ländern in den kommenden Jahren ihren Weg nach Europa und Nord-
sowie Südamerika finden können. In einer ersten Phase werden im Rahmen wachsender
Auslandsinvestitionen westliche Technologie und Management übernommen. Auf der
Grundlage des erworbenen Wissens wird ein heimischer Produktionssektor aufgebaut.
Wenn sich das chinesische Unternehmen nicht länger mit seinem Anteil an der Wert-
schöpfung zufriedengeben will, geht es dazu über, hochwertigere Produkte herzustellen
und in ausländische Märkte zu expandieren. Unter Kapitalmangel leidende Unternehmen
in Europa oder Amerika werden vielfach durchaus bereit sein, ihre Marken, Vertriebs-
netze, ihr Know-how oder Kundenstämme zu verkaufen. Damit ermöglichen sie es den
aufstrebenden Unternehmen, beim Aufbau eigener Marken viele Jahre zu sparen.
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Teil I
Die großen Schwellenmärkte als neue Kräfte im
globalen Marketing
Das neue Paradigma – Die
marktgetriebene Positionierung 2
Noch nie waren die Notwendigkeit und die Chancen, sich weltweit zu engagieren,
offensichtlicher als heute. Der finanzielle Spielraum der Verbraucher in vielen Ländern
Europas ist aufgrund von Vermögensverlusten und steigendenden Lebenshaltungskosten
stark eingeschränkt. Und in den USA erholt sich der Konsum nach der Finanzkrise
erst langsam. Doch ganz anders sieht es in vielen Schwellenländern aus. Dort wird der
Konsum in den nächsten Jahrzehnten kontinuierlich wachsen. In ihrem Bemühen, das
eigene Wachstum zu stützen, müssen die Unternehmen der Industrienationen neue
Märkte in den Entwicklungs- und Schwellenländern erschließen. Nach Zahlen von
Keegan und Green (2011) – siehe dazu Abb. 2.1 – liegen schätzungsweise 75 % des
Weltmarktes für US-amerikanische Unternehmen außerhalb der USA. Für deutsche
Unternehmen liegt dieser Wert sogar noch höher: Hier können die Unternehmen 94 %
ihres Marktpotenzials außerhalb Deutschlands realisieren.
„Going Global“ ist natürlich weit mehr als nur ein Schlagwort. Und viele Firmen
nehmen diese Herausforderung sehr ernst. Laut einem Bericht von McKinsey stieg der
Anteil der weltweiten Kapitalströme, die in die Schwellenmärkte fließen, am Gesamtauf-
kommen von fünf Prozent im Jahr 2000 auf 32 % im Jahr 2012. Rund 40 % der
grenzüberschreitenden Kapitalströme bestehen gegenwärtig aus ausländischen Direktin-
vestitionen.
Smartphones muss man berücksichtigen, dass es in Indien mehr als ein Dutzend unter-
schiedliche Alphabete gibt, wenn man die passenden digitalen Tastaturen für die Kon-
sumenten vor Ort anbieten will. Gleichzeitig fordert die Lokalisierung aber auch ihren
Preis: Je stärker man sich an lokale Gegebenheiten anpasst, desto geringer fallen die
Skaleneffekte aus.
In einem Papier mit dem Titel „Global Strategy and Organization“ unterscheiden
Cavusgil et al. (2008) zwischen zwei Arten von Wirtschaftszweigen, um die im Wider-
spruch zueinander stehenden Ziele herauszuarbeiten, zwischen denen ein Ausgleich
gefunden werden muss. In Wirtschaftsbereichen wie Nahrungsmittel und Getränke, Spi-
rituosen, Haushaltsbedarf oder Bekleidung für wichtige Anlässe findet der Wettbewerb
in der Regel auf landesspezifische Weise statt, da jeweils spezifische Geschmäcker und
Vertriebskanäle, unterschiedliche kulturelle Hintergründe und Einkommensunterschiede
sowie andere gesetzliche Bestimmungen die Unternehmen dazu zwingen, dem örtlichen
Geschäftsumfeld und den spezifischen Bedürfnissen der lokalen Märkte größere Auf-
merksamkeit zu widmen. In diesem Szenario entscheiden sich die Unternehmen in aller
Regel für einen sogenannten „multiplen Binnenmarktansatz“, in dessen Rahmen sie ihre
Produktentwicklung und ihr Produktmarketing den unterschiedlichen örtlichen Gegeben-
heiten anpassen. Bei anderen Branchen geht es um bereits stark globalisierte Bereiche
wie etwa die Luxusartikel-Industrie, die chemische Industrie sowie die Bereiche Indus-
trieausrüstung, Telekommunikation und Computer. Dort streiten die Unternehmen auf
regionaler sowie auf weltweiter Ebene um Marktanteile. Der Druck, sich lokalen Bedürf-
nissen und Gegebenheiten anzupassen, ist in diesen Sektoren etwas geringer und die
Firmen können ihre Herangehensweise auf eine gesamte Region oder in einigen Fällen
sogar auf den gesamten Weltmarkt ausrichten.
Abb. 2.2 liefert einen knappen Überblick über die spezifischen Merkmale der vier
unterschiedlichen Strategien, auf die man sich insbesondere in den jüngeren Veröffent-
lichungen der Managementlehre bezieht. Während die Ansätze „Globale Strategie“ und
die „Home-Replication-Strategie“, bei der Faktoren wie betriebsgrößenbedingte Skalen-
effekte und die globale Markenstärke für die Expansion in andere Märkte genutzt wer-
den, einen höheren Grad der Standardisierung aufweisen, versucht die „Transnationale
Strategie“, eine möglichst weitgehende Standardisierung mit der notwendigen Anpas-
sung an örtliche Gegebenheiten zu kombinieren. Die „Multi-Domestic Strategie“ erlaubt
das höchste Maß an Lokalisierung, wobei die Ländergesellschaften dezentral agieren und
praktisch als Einzelunternehmen geführt werden.
Welches ist nun das bessere Konzept? Standardisierung oder Lokalisierung? Dieser Streit
wird schon seit Jahrzehnten ausgefochten und nahm 1983 seinen Anfang, als Theodore
Levitt (1983) seinen Artikel „The Globalization of Markets“ veröffentlichte. Dort pro-
gnostizierte er eine weltweite Angleichung der Verbrauchergeschmäcker. Levitt ging
22 2 Das neue Paradigma – Die marktgetriebene Positionierung
davon aus, dass Verbraucher – wo immer auf der Erde sie auch leben – in zunehmendem
Maße durch die gleichen Wünsche und Begehren angetrieben werden, allen voran der
Wunsch, hochwertige Qualität zu einem geringen Preis zu erwerben. Levitt beschrieb die
Welt als einen einzigen großen Markt. Daher könne man vordergründige Unterschiede
vernachlässigen. Die gleichen Produkte auf der ganzen Welt auf die gleiche Weise zu
vermarkten, erschien ihm als das beste Rezept für langfristigen Erfolg. Als treibende
Kraft hinter dieser Konvergenz sah Levitt den Faktor Technologie. Er sah einen welt-
weiten Markt für vereinheitlichte Verbraucherprodukte in einer Größenordnung, wie
sie zuvor unvorstellbar schien (Levitt 1983). Gut geführte Unternehmen, so versicherte
Levitt, sollten dazu übergehen, weltweit standardisierte Produkte anzubieten, die hoch
entwickelt, funktional und verlässlich seien und für einen niedrigen Preis verkauft wer-
den könnten, anstatt ihre Produkte an die Märkte und Verbraucher anzupassen. Die
Prämisse, die die Unternehmen zu Standardisierungen bewegen würde, war laut Levitt
(1983) eine neue Realität, die durch gigantische Skaleneffekte in der Produktion, beim
Vertrieb, Marketing und Management charakterisiert sei.
Unterschiede in nationalen oder regionalen Präferenzen, so hieß es, gehörten nun der
Vergangenheit an. „In kommerzieller Hinsicht“, so argumentierte Levitt (1983; Über-
setzung des Verfassers aus dem Englischen), „bestätigen dies mehr als alles anderen die
Erfolge von McDonald’s vom Champs Elysées bis zum Geschäftsviertel Ginza in Tokio
2.2 „One Size Fits All“: Das Mantra globaler Standardisierung 23
oder von Coca-Cola in Bahrain und Pepsi-Cola in Moskau, sowie der Rockmusik, von
griechischem Salat, von Hollywood-Filmen, Kosmetika von Revlon, Sony-Fernsehgerä-
ten und Levi-Jeans allerorten“. Die weltweiten Wettbewerber, erklärte Levitt, „verkaufen
in allen nationalen Märkten die gleiche Art von Produkten, wie sie auch in ihrer Heimat
oder in ihrem größten Exportmarkt vertrieben werden“. Wie die kulturellen Unterschiede
auch immer ausfielen, so war diese Denkschule überzeugt, könnten diese durch das qua-
litativ bessere Angebot bei niedrigen Preisen völlig ausgeglichen werden.
Mehr als 30 Jahre später wissen wir, dass sich die Unterschiede in der Welt nicht in
dem Maße angenähert haben, dass dieses Konzept „one size fits all“ überall funktionie-
ren könnte, insbesondere nicht in vielen Endkonsumentenmärkten und nicht in diesem
radikalen Sinn. Die großen aufstrebenden Märkte der Schwellenländer, die zahlreiche
westliche Unternehmen als das letzte große, noch zu erschließende El Dorado des Kon-
sums betrachten, haben zwar viel gemeinsam, wie etwa ihre relativ junge Bevölkerung,
steigende Einkommen und eine hohe soziokulturelle Vielfalt. Gleichzeitig aber weisen
die Geschmäcker, kulturellen Hintergründe, familiären Werte und Einkommensungleich-
heiten erhebliche Abweichungen auf. Die Vielfalt scheint sich im Gegenteil in einem
unternehmerischen Umfeld, in dem die Schwellenmärkte wichtige Wachstumslokomo-
tiven und eine wichtige Voraussetzung für den globalen Unternehmenserfolg geworden
sind, noch verstärkt zu haben.
Als Folge ist die Notwendigkeit gestiegen, Marken und ihr Marketing zumindest in
einem gewissen Ausmaß an die örtlichen Marktgegebenheiten anzupassen. Mit seinem
großen Potenzial in den unteren Bereichen seiner Einkommenspyramide ist Indien ein
idealer Platz für den Verkauf simpler, preisgünstiger und einfach zu benutzender Pro-
dukte, wenn man das Ziel verfolgt, große Mengen abzusetzen. Nokia nutzte den Mobile
World Congress 2013 in Barcelona als Bühne, um sein „Modell 105“ vorzustellen –
ein preisgünstiges Mobiltelefon für weniger als 20 US$, aber mit Basisfunktionen wie
E-Mail, Internetzugang und Verarbeitung von Bildern. Es wird lediglich in zwei Far-
ben hergestellt und verfügt über einen Bildschirm mit nur geringer Auflösung. Aber
seine Batterie kann einen ganzen Monat lang Strom liefern und seine LED-Lampe als
praktische Taschenlampe benutzt werden. Beide Funktionen besitzen in den ländlichen
Regionen Indiens und Chinas große Bedeutung. Dies gilt insbesondere für Indien, wo
es auf dem Land regelmäßig zu Stromausfällen kommt. Und Volkswagen beispielsweise
ist dabei, dem Vorbild Tatas zu folgen. Der Konzern arbeitet an einer Familie von preis-
günstigen Kraftfahrzeugen für China und andere aufstrebende Märkte, die ab 2018 auf
den Markt kommen soll. Die Preisspanne für die Fahrzeuge mit Stufen- oder Schrägheck
sowie einer SUV-Variante soll zwischen 8000 und 11.000 EUR liegen.
Um einen Eindruck von den unterschiedlichen Faktoren zu bekommen, die diese
Anpassungen fordern, muss man sich nur die sieben „Ps“ des Marketings in Erinnerung
rufen: Product, Price, Place, Promotion, Processes, Physical Facilities und Personnel.
Jeder dieser sieben Parameter kann den entscheidenden Unterschied ausmachen, wenn
man nach der idealen Positionierung sucht, und dazu beitragen, einen perfekten Aus-
gleich zwischen Standardisierung und Lokalisierung zu erreichen.
24 2 Das neue Paradigma – Die marktgetriebene Positionierung
In den letzten Jahren häuften sich die interessanten Beispiele von Markenunterneh-
men, die ihre Angebote hinsichtlich Design, Geschmack, Namen, innovativer Pro-
dukt-Aspekte oder gleich der Gesamtpositionierung erfolgreich anpassten, um ihre
Verkaufszahlen in verschiedenen Märkten zu erhöhen. In den folgenden Kapiteln werden
viele dieser Beispiele genauer diskutiert.
Die Automobilindustrie gehört traditionell zu den eher weltweit operierenden Bran-
chen. Begrenzte Anpassungen an lokale Bestimmungen etwa bei Vorder- und Rück-
scheinwerfern, Sicherheitsaspekten und Emissionsgrenzwerten waren zwar schon immer
ein „Anpassungs“-Problem (das man als „Homologation“ bezeichnete), aber im Allge-
meinen sah sich die Automobilindustrie selbst als global agierende Branche. Viele der
führenden Akteure der Branche brauchten daher ziemlich lange, um sich von diesem
Selbstverständnis zu lösen und substanziell größere Anpassungen an die lokale Markt-
nachfrage zuzulassen – dies schließt die Entwicklung von Fahrzeugen ein, die spezi-
ell auf die Bedürfnisse lokaler Märkte zugeschnitten sind. So entwickelt Volkswagen
heute viele seiner Joint-Venture-Modelle wie den Lavida und den Sagitar speziell für
den chinesischen Markt. Interessanterweise kann dies durchaus zur Kostenreduzierung
beitragen. Der Wettlauf um noch weitreichendere Anpassungen in Märkten wie China,
Brasilien, Russland und Indien hat begonnen, da die Erfüllung der funktionalen und
emotionalen Markterwartung durch das jeweilige Produkt zunehmend als wichtiger Fak-
tor für einen Wettbewerbsvorteil gesehen wird. Dies gilt erst recht in einem ökonomisch
schwieriger werdenden Umfeld wie zuletzt in China, in dem sich ausländische Erzeug-
nisse plötzlich nicht mehr wie von selbst verkaufen.
Die Berücksichtigung und Umsetzung verschiedener Verbraucherbedürfnisse und
die systematische Anpassung an die Unterschiede sind aber kein Selbstzweck. Die
Verlagerung des globalen wirtschaftlichen Schwerpunkts in die Wachstumsmärkte –
insbesondere nach China – verwandelt das Konzept lokaler Anpassung in vielen Wirt-
schaftsbereichen von einer „Option“ in einen strategischen Imperativ. Angesichts der
Tatsache, dass die BRIC etwa 42 % der Weltbevölkerung und 20 % des weltweiten BIP
stellen, richten sich derartige Strategien auf einen bemerkenswerten Markt. Aber Kalku-
lationen dieser Art lassen außer Betracht, dass in vielen Fällen innerhalb dieser riesigen
aufstrebenden Märkte ein immenses Potenzial für regionale Anpassungen selbst unter-
halb der nationalen Ebene existiert. Gemessen am BIP ist Macau so groß wie Panama,
Shanxi entspricht Ungarn und Zhejiangs Wirtschaft etwa der Österreichs. Aber diese bei-
den chinesischen Provinzen und Macau, bei der es sich um eine Sonderverwaltungszone
handelt, weisen erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Einkommens, kultureller Tra-
ditionen, Geschmäcke und Wertvorstellungen auf. Viele Märkte in China stehen zwar im
Allgemeinen weltweiten Ideen und Produkten offen gegenüber, aber andere Märkte wei-
sen außerordentliche lokale Besonderheiten auf und sind tief in örtlichen Traditionen und
Geschmäcken verwurzelt, die unter den Provinzen zu erheblichen Unterschieden führen
(Tse 2010).
2.3 Der marktgetriebene Positionierungsansatz 25
Dem vorangegangenen Abschnitt lässt sich eine einfache Botschaft entnehmen: Ver-
braucher auf der ganzen Welt wollen in der Regel nicht genau die gleichen Produkte und
Markenversprechen. Und selbst wenn sie die gleichen Produkte oder Marken nachfragen,
haben sie dafür im Allgemeinen in Abhängigkeit von ihren individuellen Verhältnissen
und ihrer Verbrauchersituation unterschiedliche Gründe. Aus diesem Grunde wurden
bereits kurz nach dem Erscheinen des bereits genannten Artikels von Levitt zur Domi-
nanz der Standardisierungsstrategie im Harvard Business Review alternative Strategien
entwickelt. Die Entscheidung im Zusammenhang mit Standardisierung sei keine Dicho-
tomie zwischen völliger Standardisierung oder Kundenanpassung. Es gebe vielmehr
Abstufungen der Standardisierung, argumentierten Quelch und Hoff (1986) in ihrem
Artikel „Customizing Global Marketing“. Eine weitere einflussreiche Stimme, die sich
gegen das rigide Standardisierungskonzept Levitts aussprach, war Subhash Jain, Profes-
sor für Marketing an der Universität des US-amerikanischen Bundesstaates Connecticut.
In einem Artikel des Journal of Marketing erklärte Jain (1989), die Standardisierungs-
entscheidung sei eine Einzelfallentscheidung und erfordere eine Berücksichtigung des
betreffenden Zielmarktes für ein bestimmtes Produkt. Zu den Faktoren, die vernünftiger-
weise berücksichtigt werden müssen, gehören neben anderen die besondere Nachfrage
in dem Zielmarkt, der örtliche Wettbewerb, kulturelle Unterschiede, die Marketinginfra-
struktur sowie die gesetzlichen Rahmenbedingungen.
Auch andere Wissenschaftler wie Geroski (1989) stellten Levitts Prämisse, die Ver-
braucherbedürfnisse glichen sich im Lauf der Zeit an, infrage. Geroski wandte ein, die
wichtigsten Vorteile, die sich aus der Annäherung der Märkte Europas ergäben, resul-
tierten aller Wahrscheinlichkeit nach aus einer Erweiterung der Vielfalt und eben nicht
aus einer Vereinheitlichung. Und in einem Artikel im Harvard Business Review erklärten
Vishwanath und Rigby (2006), nach Jahrzehnten unbeirrbarer Strategien der Standardi-
sierung vollziehe sich in den Verbrauchermärkten nunmehr eine stille Revolution, und
Erfolge für die Einzelhändler und Produkthersteller hingen von nun an von ihrer Fähig-
keit ab, sich an lokale Unterschiede anzupassen und dennoch weiterhin Skaleneffekte zu
generieren.
Die Diversität der Verbraucher, so argumentieren sie, nehme zu – dies betreffe ihre
Ethnizität, ihren Wohlstand und Lifestyle sowie ihre Wertvorstellungen. Und sie schluss-
folgern, das Konzept „one size fits all“ habe seine Gültigkeit verloren. In ihrem Artikel
beschreiben Vishwanath und Rigby (2006), dass Einzelhändler und Konsumgüterunter-
nehmen damit begonnen hätten, ihre Angebote an die Bedürfnisse der lokalen Märkte
anzupassen, indem sie ihre Geschäftstypen und Produktlinien veränderten und alterna-
tive Ansätze bei der Preisgestaltung, dem Marketing, der Personalbesetzung und dem
Kundenservice einführten. Das neue Mantra lautete, die Effizienz eines zentralisierten
Managements zu nutzen, ohne die Reaktionsfähigkeit auf die lokalen Gegebenheiten
aufzugeben. Die größten Vorteile dieses Wechsels in Richtung mehr Lokalisierung seien
26 2 Das neue Paradigma – Die marktgetriebene Positionierung
um Shrimps und Sojamilch und bot frische Meeresfrüchte und nach thailändischer Art
zubereiteten Reis in seinen Pizza-Hut-Restaurants an. Starbucks eröffnete sogar ein chi-
nesisches Designzentrum, das die Einrichtung seiner neuen Läden konzipierte, und loka-
lisierte sein Essensangebot mit Gerichten wie Hühnchen à la Hainan, Reis-Wraps und
einem Garnelen-Wrap nach thailändischer Art.
Heute räumen viele westliche Markenunternehmen offen ein, dass ihr Erfolg in ande-
ren Märkten das Ergebnis einer absichtlichen und bewussten Anpassung an lokale Gege-
benheiten ist. Der rasche Erfolg L’Oréals in Indien erkläre sich durch seine Fähigkeit,
sich den Bedürfnissen eines Marktes anzupassen, in dem der alltägliche Einsatz von
Kosmetika und ihr Erwerb fest in der Tradition verankert seien, erklärte das französi-
sche Unternehmen (L’Oréal 2012). L’Oréal wird angerechnet, die Bandbreite seiner Ver-
packungsoptionen erfolgreich erweitert zu haben, um den Bedürfnissen der wachsenden
Mittelschicht zu entsprechen. Als eine der ersten Maßnahmen ging man dazu über, Sham-
poo nicht länger in größeren Flaschen, sondern in kleineren Beuteln anzubieten. Auf diese
Weise konnte sich eine größere Zahl von Verbrauchern mit einem niedrigeren Einkommen
das Produkt leisten. Diese lokale Anpassung erlaubte eine sehr viel größere Reichweite
und Akzeptanz der Produkte, als dies mit einer weltweit standardisierten Verpackung
möglich gewesen wäre. Mit zwei Forschungs- und Entwicklungszentren in Mumbai und
Bangalore geht L’Oréal noch einen Schritt weiter und investiert in die weitere Erfor-
schung des asiatischen Schönheitsideals und insbesondere der besonderen indischen Ver-
braucherbedürfnisse. Indische Frauen wollen, dass ihr Haar dicker, kräftig und glatt ist
und schwarz glänzt. Daher benutzen 98 % aller Inder Haaröle. Um diese Nachfrage zu
befriedigen, entwickelte Garnier – eine der Flaggschiffmarken von L’Oréal – die Produk-
treihe Ultra Doux, die die kräftigenden Eigenschaften von Haaröl mit einem Shampoo
vereint. Natürliche ayurvedische Bestandteile sowie spezifisch indische Duftstoffe bieten
eine weitere Möglichkeit, sich in einer auf die örtlichen Verhältnisse zugeschnittenen Art
und Weise anzupassen. Mit dieser einfühlsamen Strategie gelang es Garnier, in zahlrei-
chen Produktkategorien zur führenden Schönheitsmarke auf dem indischen Subkontinent
zu werden.
Welches grundlegende Konzept verbirgt sich hinter diesen Beispielen? In den letzten
20 Jahren haben sich sehr rasch riesige neue Märkte geöffnet. Aber dort verzeiht man es
nicht, wenn neue Marken in den Wettbewerb vor Ort eintreten, ohne sich in ausreichen-
dem Maße mit den heimischen Präferenzen auseinandergesetzt und ihre Produkte und
Marken auf die lokalen Bedürfnisse abgestimmt zu haben. Bei einer Milliarde neuer Ver-
braucher, die der Mittelschicht in diesen Ländern zuströmen und die völlig unterschied-
liche Hintergründe und Traditionen aufweisen, ist es einfach zu gefährlich, diese jeweils
spezifischen Gegebenheiten zu ignorieren. Ein marktgetriebener Positionierungsansatz
(„Market-Driven Brand Positioning“) ist notwendig geworden, der mehr als jemals zuvor
die spezifischen Bedürfnisse der örtlichen Verbraucher berücksichtigt. In vielen Fällen
liegt diesem Konzept die Idee zugrunde, einerseits die Anmutung einer weltweit etablier-
ten Marke zu erhalten, um damit auch eine entsprechend hohe Preisgestaltung zu rechtfer-
tigen, andererseits aber den bisher nicht abgedeckten Bedarf der örtlichen Konsumenten
28 2 Das neue Paradigma – Die marktgetriebene Positionierung
zu befriedigen. In vielen Situationen gilt hier die Faustregel, dass man die Zugkraft einer
global etablierten Marke nutzen sollte und dabei gleichzeitig ihre lokale Relevanz, ihren
Nutzwert und ihre Exposition optimiert. Die Marken- und Kommunikationsberater von
globeone und die internationalen Werbeprofis von Serviceplan haben auf der hier skiz-
zierten theoretischen Grundlage einen solchen marktgetriebenen Positionierungsan-
satz entwickelt, der genau diese Kluft zwischen globalen Standards auf der einen Seite
und notwendigen lokalen Anpassungen auf der anderen Seite zu überwinden hilft (siehe
Abschn. 9.4).
Angesichts dieser strategischen Neuausrichtung ist ein tief gehendes Verständnis der
lokalen Märkte erforderlich. Aber die Risiken sind dennoch hoch. Gelingt es nicht, die
zentralen lokalen Kaufmotive glaubhaft in der Positionierung abzubilden und ein erfolg-
reiches, lokal akzeptiertes Geschäftsformat zu finden, sind Niederlagen wahrschein-
lich. Nicht selten führt dies dazu, dass sich Unternehmen letztlich ganz aus einem oder
mehreren der großen Wachstumsmärkte zurückziehen. Ende 2012 kündigte die welt-
weit führende Baumarktkette Home Depot die Schließung ihren sieben noch verbliebe-
nen Häuser mit großen Verkaufsflächen in China an. Home Depot hatte versucht, sein
Geschäftsmodell nach China zu übertragen, es aber nicht vermocht, so Einzelhandelsex-
perten, das richtige Format in einem Land zu finden, in dem die Do-it-yourself-Einstel-
lung praktisch fehlt, die die Nachfrage in den amerikanischen Läden des Unternehmens
stützt (Jopson und Waldmeir 14. September 2012). Die Financial Times zitierte James
Roy, einen Analysten der China Market Research Group in Shanghai, der erklärte, Home
Depot sei gescheitert, weil es dem Unternehmen nicht gelungen sei, sein Angebot an das
Einkaufsverhalten chinesischer Konsumenten anzupassen. Verbraucher in der Volksrepu-
blik kaufen lieber in Einkaufszentren ein, in denen sich zahlreiche Geschäfte konkurrie-
render Anbieter befinden, als in einem Single-Brand-Geschäft, in dem alles angeboten
wird. Sie haben dann das Gefühl, sie hätten eine größere Auswahl und mehr Vergleichs-
möglichkeiten. Zudem sind die Preise in der Regel günstiger, wenn viele verschiedene
Händler an einem Ort um die Gunst der Kunden werben.
In Abhängigkeit vom Markt und der bestimmten Marke kann die Umsetzung einer
lokalen Adaptionsstrategie – in extremen Fällen – zu einem Paradox führen. Vor allem in
den großen Schwellenländern ist eine solche Konstellation oft zu beobachten: Die deutli-
che Hervorhebung des ausländischen Ursprungs einer Marke kann sich unter bestimmten
Umständen als die perfekte lokale Anpassung erweisen. Dies ist in Märkten dann der
Fall, wenn ausländische (Luxus-)Güter ein im Vergleich zu den lokalen Marken hohes
Qualitäts- und Prestigeniveau erreichen und dementsprechend stark nachgefragt werden.
Die ausländische Herkunft oder das Herkunftsland machen die Marke folglich besonders
attraktiv und sollten entsprechend akzentuiert werden. Dies gilt beispielsweise in beson-
derem Maße für deutsche Marken, denen in quasi allen Schwellenländern ein hervorra-
gendes Image in vielen kauftreibenden Dimensionen attestiert wird. Bei vielen wirklich
global aufgesetzten Markenidentitäten gehört diese ausländische Markenherkunft nicht
zum eigentlichen Markenkern und wird folglich nicht proaktiv kommuniziert.
2.4 Eine-Welt-Strategie 29
Nehmen wir das Beispiel China: Dort gehören vier deutsche Autobauer – Audi,
BMW, Mercedes-Benz und Porsche – zu den Top 10 der am stärksten nachgefragten
Luxusmarken. In diesem Fall könnte ein Unternehmen möglicherweise seinen lokalen
Erfolg dadurch verstärken, dass es die deutsche Herkunft noch deutlicher hervorhebt,
um auf diese Weise die Attraktivität und den Premium-Appeal der Marke zu verstärken,
die von chinesischen Konsumenten bereits aktiv nachgefragt wird. Dieses Beispiel zeigt,
dass „Lokalisierung“ nicht zwangsläufig bedeutet, dass ein Unternehmen wirklich „loka-
ler“ wird und seine ausländischen oder internationalen Wurzeln verbergen muss. Viel-
mehr kann es tatsächlich genau das Gegenteil besagen. Es zeigt, dass „Lokalisierung“
eigentlich der falsche Begriff ist, es sei denn, man meint damit, dass man die Verbrau-
cher glauben machen will, die betreffende Marke sei lokalen Ursprungs. Aus diesem
Grunde ist es besser, den Begriff Lokalisierung nur dann zu verwenden, wenn dies auch
wirklich gemeint ist. In allen anderen Fällen spricht man besser von einer Anpassung an
die örtlichen Verhältnisse („Adjustment“) oder aber von einer marktgetriebenen Positi-
onierung. Ansonsten ist das Risiko zu hoch, dass eine partielle Anpassung der Marken-
positionierung an lokale Marktfaktoren als bewusste Positionierung als lokale Marke
missverstanden wird.
2.4 Eine-Welt-Strategie
Der ehemalige Chairman für China von Booz & Company hat die Diskussion über das
Thema Standardisierung versus Lokalisierung auf eine höhere Ebene gehoben. In seinem
Artikel „The China Challenge“ rät Edward Tse (2010) westlichen Unternehmen, sich
den neuen Realitäten der weltweit überzeugendsten Geschäftsmöglichkeiten zu stellen,
indem sie ihre Aktivitäten in China in ihre weltweit operierenden Unternehmen integ-
rieren, um China dazu zu benutzen, ihre Wettbewerbsposition zu verändern. In seinem
Artikel führt Tse Unternehmen wie IBM, Coca-Cola, Honeywell, KFC und Goodyear
als markante Beispiele für eine Strategieänderung multinationaler Firmen an, die damit
begonnen hätten, wichtige Teile ihrer Tätigkeiten nach China zu verlagern, um in einer
Art Hebelwirkung die wachsende Stärke und den zunehmend hohen Entwicklungsgrad
des Landes zu nutzen. Indem die Unternehmen Forschungs- und Designtrends, die Pro-
duktentwicklung und Marketingplattformen aus China stärker in ihre globale Strategie
integrieren, können sie sich eine bessere weltweite Wettbewerbsposition erarbeiten. Zur
Verdeutlichung seines Vorschlags für eine „Eine-Welt-Strategie“ beschreibt Tse, wie
IBM 2006 damit begann, seine Zentrale für das weltweite Beschaffungswesen vom US-
Bundesstaat New York in das chinesische Shenzhen im Perlfluss-Delta zu verlegen. Erst-
malig siedelte „Big Blue“ damit eine seiner wichtigsten Konzernabteilungen außerhalb
der USA an. Laut Tse (2010) markiert dies einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg,
IBM zu einem weltweit integrierten Unternehmen zu machen. Chinas boomender Süden
war zur damaligen Zeit bereits vielen westlichen Managern als einer der größten Pools
im Bereich Beschaffungswesen und damit zusammenhängender Fähigkeiten bekannt.
30 2 Das neue Paradigma – Die marktgetriebene Positionierung
Aber hinter dem Vorgehen IBMs stand sehr viel mehr als nur eine Stärkung der eige-
nen Wertschöpfungskette. Der Konzern unternahm ernsthafte Vorbereitungen für eine
strategische Neuausrichtung, die man als „Eine-Welt-Strategie“ bezeichnen könnte.
Bereits zwei Jahre später eröffnete IBM in Shanghai ein weiteres Entwicklungslabor,
nachdem das Unternehmen zuvor schon massiv in sein Forschungszentrum im Zhonggu-
ancun Software Park in Peking – eines der acht Vorzeige-Laboratorien IBMs weltweit –
investiert hatte. Zu der Zeit, als Tse sein Konzept einer „Eine-Welt-Strategie“ präsentierte,
steuerte IBM bereits seine gesamten weltweiten Wachstumssparten von Shanghai aus.
Dies bezog die Geschäfte in Asien, Lateinamerika, Russland, Osteuropa, Europa, dem
Nahmittelosten und Afrika mit ein. Indem IBM auf diesem Weg weiter voranschritt, so
erklärte Tse (2010), erreichte das Unternehmen weit mehr, als seine Präsenz in China nur
auf die wachsende Nachfrage der chinesischen Verbraucher oder billige Arbeitskräfte zu
gründen. IBM integrierte seine chinesischen Aktivitäten in sein weltumspannendes Unter-
nehmen.
Am Ende des letzten Jahrzehnts waren die treibenden Faktoren dieser strategischen
Neuorientierung für die in China tätigen ausländischen Unternehmen bereits deutlich
sichtbar und offenkundig. Der Verbrauchermarkt der Volksrepublik wuchs rasch. Ent-
sprechend stieg auch die Ertragskraft für internationale Unternehmen in China. Als
Tse (2010) seinen Artikel veröffentlichte, hatte China bereits aufgrund der sichtbaren
Ergebnisse seiner wachsenden Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen die Auf-
merksamkeit westlicher Manager erregt. Immer mehr Unternehmen aus Europa und
dem amerikanischen Kontinent waren dabei, einen Teil ihrer Entwicklungskapazitäten –
einschließlich Forschung und Design – nach China zu verlagern. Sie erlebten bei ihren
eigenen Aktivitäten aus erster Hand, dass immer mehr Innovationen aus den schnell
wachsenden aufstrebenden Märkten wie China stammten.
Neue Technologien und Produkte für die weltweite Vermarktung in China zu entwi-
ckeln, ist zu einer Schlüsselstrategie vieler multinationaler Unternehmen geworden. Ein
weiteres Beispiel ist der US-amerikanische Automobilkonzern General Motors. 2012
verlegte das Unternehmen sein „General Motors’ Advanced Studio“, das künftige Zen-
trum für das Automobil-Design, in ein neues Designzentrum in der Hauptniederlassung
GMs in China in Shanghai. GM arbeitet dort mit Automobil-Designern und anderen pro-
fessionellen Künstlern wie Lehmbildhauern, um Kraftfahrzeuge für China und andere
wichtige globale Märkte zu entwickeln. In einem Interview wurde die Design-Direkto-
rin des Advanced Studio, Wulin Gaowa (die 2010 von der Chinesischen Vereinigung für
Industriedesign zu einer der „zehn besten Jungdesigner Chinas“ gewählt wurde) nach
dem Einfluss des neuen Zentrums auf die Entwicklung zukünftiger Produkte GMs für
China, aber auch andere Regionen der Welt befragt. Ihre Antwort fiel bezeichnend aus
(Shen 2011; Übersetzung des Verfassers aus dem Englischen):
Der chinesische Markt spielt sowohl in Asien als auch weltweit eine beherrschende Rolle.
Da die Nachfrage in China einen erheblichen Anteil am weltweiten Umsatz von GM aus-
macht, ist unser Erfolg in China entscheidend. Wir müssen das Mobilitätsverhalten sowie
2.4 Eine-Welt-Strategie 31
die Bedürfnisse und Präferenzen der chinesischen Verbraucher genau beobachten und vor-
hersagen, um sicherzustellen, dass wir die richtigen Produkte auf den Markt bringen. Die
geografische Größe Chinas und seine Vielfalt bedeuten, dass viele verschiedene Mobilitäts-
lösungen benötigt werden. Die Überlegung erscheint daher logisch: Innovationen aus China
können auch in anderen Ländern mit vergleichbarer Verkehrsdichte und ähnlichen Verbrau-
cherbedürfnissen gleichermaßen positiv aufgenommen werden.
Andere weltweite Autobauer sind diesem Beispiel gefolgt: Ende 2014 schloss Mer-
cedes-Benz sein Designzentrum in Japan und eröffnete ein neues „Zentrum für fortge-
schrittenes Design“ in Beijing. Einflüsse aus China werden mit Sicherheit die weltweite
Automobilentwicklung und das weltweite Automobildesign mitprägen.
Während China immer noch daran arbeitet, im Bereich der Grundlagenforschung mit
dem Westen gleichzuziehen, verfügt es über einen großen Vorteil, den sich westliche
Unternehmen bereits für eine Eine-Welt-Strategie zunutze machen können: Die Chinesen
sind Meister, wenn es um marktorientierte Innovationen geht:
Wenn Chinesen eine Idee entwickelt haben, testen sie sie auf dem Markt. Und es macht
ihnen nichts aus, im Gegenteil, drei oder vier Vermarktungsrunden durchzuführen, um eine
Idee zu verbessern. Im Westen wenden demgegenüber die Unternehmen die gleiche Zeit
für Forschung, Versuche und Überprüfungen aus, bevor sie versuchen, die Produkte zu
vermarkten. Die Chinesen verfügen über eine innovative Art und Weise, innovativ zu sein,
etwas, was die restliche Welt nur schwer begreifen kann (Mourdoukoutas 2013; Überset-
zung des Verfassers aus dem Englischen).
Die Eine-Welt-Strategie, so wie sie in ihrer ursprünglichen Fassung von Edward Tse
(2010) vorgelegt wurde, wurde mit China als Referenzraum entwickelt und formuliert.
Aber sie hätte ebenso gut mit einem anderen Schwellenland wie Indien oder Brasilien als
Bezugsgröße formuliert werden können. Diese großen Schwellenmärkte sind alle durch
eine wachsende Mittelschicht, einen großen Binnenmarkt, eine sich ausweitende Pro-
duktions-, Forschungs- und Entwicklungsbasis sowie eine zunehmende Integration in die
weltweite Wertschöpfungskette gekennzeichnet. Neue Produkte oder Marken zur Befrie-
digung der Bedürfnisse der Verbraucher in diesen Schwellenländern zu entwerfen und zu
entwickeln und sie dann auch im Rest der Welt zu vermarkten, ist tatsächlich schon län-
ger nicht mehr auf China begrenzt. Eines der besten Beispiele für diesen Wandel in der
32 2 Das neue Paradigma – Die marktgetriebene Positionierung
Automobilindustrie ist der Dacia, das Low-Cost-Auto des französischen Autobauers Ren-
ault. In einigen Ländern heißt das Modell Dacia, in anderen wird es Logan genannt. In
technischer Hinsicht basiert der Dacia auf der Nissan-B-Plattform, auf der bereits zuvor
der Renault Clio aufbaute. Weltweit greifen Autobauer auf ältere Plattformen zurück,
wenn sie ihre Entwicklungskosten minimieren wollen. Der Dacia-Logan wurde zuerst in
Rumänien auf den Markt gebracht, später folgten Polen, Estland, Slowenien und andere
osteuropäische Länder. 2015 kam Russland hinzu, und später begann die europaweite
Vermarktung. Mit der geografischen Ausweitung der Vermarktung ging eine Erweiterung
der Angebotspalette einher. Neue Varianten konnten auf der Grundlage der gleichen Platt-
form – aber in fortschrittlicherer und ansprechenderer Form – produziert und angeboten
werden. Das Modell Sandero kam 2008 in Brasilien auf den Markt. Danach wurde noch
das Modell Duster für den russischen Markt entwickelt.
Anfänglich sollte die neue Automobilmarke neue Wachstumsregionen für die Ren-
ault-Gruppe erschließen. Der Start des Dacia ermöglichte es Renault, seine Präsenz
außerhalb Europas zu verstärken, Wachstum und Marktanteile in den aufstrebenden
Märkten zu sichern und sich in dem rasch wachsenden Marktsegment der Low-Cost-
Pkw-Segment ein festes Standbein zu verschaffen. Ende 2012 hielt Renault zusammen
mit seinem Partner Nissan (seit 1999) in Russland einen Marktanteil von 30 %. Auch die
Geschäftstätigkeit außerhalb Europas legte deutlich zu. 2004 erzielte die Renault-Gruppe
22,8 % ihres Umsatzes außerhalb Europas. 2007 war dieser Anteil bereits auf 34 % ange-
stiegen. Und 2012 wurde mehr als die Hälfte des weltweiten Umsatzes des Autobauers
außerhalb des europäischen Kontinents erwirtschaftet. Aber auch in Europa selbst erwies
sich der Dacia als Erfolg. Dieses Modell war für Menschen interessant, die zuvor größ-
tenteils Gebrauchtwagen gekauft hatten oder die nach einem geräumigen und robusten,
aber gleichzeitig bezahlbaren Pkw suchten. Seit 2004 wurden in Europa mehr als zwei
Millionen Exemplare des Dacia verkauft. Gegenwärtig ist die Marke in praktisch 40
Ländern vertreten.
Die Erfolgsgeschichte des Dacia war so überzeugend, dass auch andere Automobil-
hersteller diesem Beispiel folgten. Fiat kündigte bereits an, es beabsichtige, eine Low-
Cost-Automarke als Konkurrenz zum Dacia zu entwickeln. Nissan führte den Datsun
wieder als Einstiegsmarke für aufstrebende Märkte ein. Auch Volkswagen plant eine
eigene Marke im Niedrigpreissegment. Das VW-Management bestätigte, dass der deut-
sche Autobauer an der Entwicklung einer neuen Low-Budget-Marke arbeite. Als mög-
licher Standort sei China im Gespräch. „Eines ist klar“, erklärte Remy Pothet, Leiter
der Abteilung Global Practice bei TNS Automotive, „traditionelle OEMs müssten ihre
Marketingstrategie rasch überdenken und innovative Weg finden, sich selbst auf diesem
zunehmend dynamischen Markt zu positionieren, wenn sie nicht riskieren wollen, dass
ihre Marktanteile aufgrund des Low-Cost-Car-Phänomens weiter schrumpfen“ (Pothet
et al. 2011; Übersetzung des Verfassers aus dem Englischen).
Anscheinend hat dieses Phänomen der Eine-Welt-Strategie weiteren Auftrieb gegeben.
Aber Chinas Stellung in dieser neuen strategischen Umgebung ist nicht unangefochten.
2.4 Eine-Welt-Strategie 33
Auch Indien ist zu einer relevanten Größe in dieser strategischen Betrachtung geworden.
Verschiedene multinationale Autobauer wie Volkswagen, Nissan und Mercedes-Benz
haben bereits – oder sind gegenwärtig dabei – speziell auf den indischen Markt zuge-
schnittene Marken und Produkte entwickelt. Renault brachte das Modell Logan in Indien
auf den Markt. 2012 beschäftigte Datsun fast 2000 Ingenieure in seinem Design-Zentrum
in Chennai, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Tamil Nadu, mit der Entwick-
lung eines speziell auf Indien zugeschnittenen Kraftfahrzeugs. Dies ist nur ein weiteres
Beispiel für eine international agierende Marke, die mit lokalen Produkten arbeitet, um
ein höheres Wachstum zu erzielen. Rakesh Batra, der bei EY für den indischen Auto-
mobilsektor verantwortlich ist, sagte, multinationale Autobauer wollten die Muttermarke
nicht durch das Angebot von deutlich billigeren Produkten für den sehr preisempfindli-
chen indischen Markt verwässern (Gupta und Chandramoulil 05. Februar 2013).
In gewisser Hinsicht steht der Dacia für das, was Edward Tse (2010) als „die Menta-
lität von Eine-Welt-Unternehmen“ bezeichnete. Sie nutzen die großen Chancen in riesi-
gen Schwellenmärkten wie China und Indien und verstärken gleichzeitig ihre Aktivitäten
auf Weltmaßstab. Im Falle des Dacia besteht dieser globale Zusammenhang darin, dass
ein Großteil des zukünftigen Wachstums in der Automobilindustrie im Niedrigpreis-
segment erwirtschaftet werden wird. Dieses soll Prognosen zufolge bis zum Jahr 2020
einen Anteil von 20 % am Weltmarkt ausmachen. Ein erheblicher Teil dieses Wachstums
wird in Europa und den USA generiert werden, wo die Verbraucher aufgrund des enger
gewordenen finanziellen Spielraums und der höheren Steuer- und Abgabenlast nicht
mehr einen Großteil ihres Einkommens für Kraftfahrzeuge ausgeben oder sich für klei-
nere und umweltfreundlichere Fahrzeuge entscheiden werden.
Dennoch scheint es, als wäre das ganze Potenzial der aufstrebenden Märkte für eine
weitere Lokalisierung noch lange nicht erschöpft, um es vorsichtig auszudrücken. Neue
Produktionsmethoden wie die neue Produktionsphilosophie der „Modul-Bauweise“
erlauben ein höheres Maß der Anpassung an örtliche Gegebenheiten. Bei dieser modula-
ren Herstellungsweise können Module nach dem Baukastensystem sehr flexibel zu neuen
Automodellen kombiniert werden, die besonders auf die Bedürfnisse lokaler Märkte
zugeschnitten sind, ohne auf die globalen Potenziale zur Kostensenkung durch Massen-
produktion verzichten zu müssen.
Bleibt die Frage, wie sich diese neuen Management-Paradigmen der „Eine-Welt-
Strategie“ und der stärkeren Anpassung an die Erfordernisse lokaler Märkte (marktge-
triebene Positionierung) auf der Markenebene auswirken werden. Werden nun tausende
neue Marken erschaffen, die speziell entwickelt werden, um die individuellen Bedürf-
nisse der wachsenden Konsumentenschicht in den aufstrebenden Märkten zu befrie-
digen? Oder werden Unternehmen dazu übergehen, ihren globalen Marken in diesen
Schwellenmärkten mit ihren speziellen Segmenten zum Durchbruch zu verhelfen, weil
sie auf die Anziehungskraft ihrer Marken mit ihrer globalen oder ausländischen Herkunft
vertrauen? Oder wird es zu völlig neuen und flexibel gedehnten Ansätzen im Markenma-
nagement kommen, die möglicherweise zuweilen mit den traditionellen Prinzipien des
34 2 Das neue Paradigma – Die marktgetriebene Positionierung
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede der
BRIC-Staaten 3
Alle Länder der BRIC-Gruppe gehören flächenmäßig zu den größten der Erde. Sie bestehen
aus gewaltigen Landmassen, die sich über oft sehr unterschiedliche Landschafts-, Klima-
und Vegetationszonen erstrecken. Wie der Vergleich einiger Länder in Abb. 3.3 zeigt,
handelt es sich bei ihnen eher um ganze Kontinente als um Länder. Mit 17 Mio. km2 ist
Russland das bei Weitem größte Land der Erde. Interessanterweise gehören die drei verblei-
benden BRIC-Staaten ebenfalls zur Gruppe der zehn größten Länder weltweit. China steht
auf dem vierten Platz, gefolgt von Brasilien auf dem fünften und Indien auf dem siebten
Platz. Von den etwa sieben Milliarden Menschen auf der Erde leben 2,6 Mrd., also 37 % der
Weltbevölkerung, allein in zwei BRIC-Ländern: China und Indien; Brasilien, ebenfalls in
diesen Top 10, folgt mit „nur“ 194 Mio. Einwohnern etwas abgeschlagen auf dem fünften
Platz (Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2012; Food und Agriculture Organization of the
United Nations 2011). In allen BRIC befinden sich daher riesige ländliche Regionen mit
einer Pro-Kopf-Kaufkraft, die im Vergleich mit den städtischen Zentren deutlich geringer
Gemeinsamkeiten Implikaonen
Mielschicht als
Mielschicht Hauptwachstumsmotor in den
weitet sich BRICs
ausfällt. Aber auch in diesen Regionen im Landesinneren finden sich „Shootingstars“, derer
sich die Vermarkter bewusst sein müssen.
Die Urbanisierung wird zu den wichtigsten treibenden Wachstumsfaktoren gehören.
Aber dies gilt nicht gleichermaßen für alle Länder. Während Brasilien seine Urbani-
sierung schon sehr früh und in großem Umfang begonnen hatte, begann China in den
1980er Jahren, und noch heute strömen zwischen 20 und 30 Mio. Menschen jedes Jahr
aus dem chinesischen Hinterland in die Küsten- und Wachstumsregionen. In Russland
und Indien nimmt die Urbanisierung gegenwärtig Fahrt auf. Die chinesische Migration
ist zwar heute überwiegend abgeschlossen, aber ihre Auswirkungen reichen immer noch
aus, um deutliche Wachstumsimpulse zu geben. Um 2030 soll es in China mehr als 220
Städte mit jeweils mehr als einer Million Bewohnern geben. Darüber hinaus werden sich
weitere 300 bis 400 Mio. Menschen aus den ländlichen Regionen des Landesinneren auf
den Weg in die urbanen Zentren machen. Rechtzeitig an den richtigen Orten präsent zu
sein, ist also ein wichtiger Schritt zum Erfolg. In den riesigen aufstrebenden Märkten
mit ihren massiven Urbanisierungswellen ist es daher entscheidend, genau die urbanen
3.1 Geografische Ausdehnung 39
Gemeinsamkeiten Auswirkungen
Top 10 der größten Länder der Welt Top 10 der größten Länder der Welt
(nach Landfläche) (nach Bevölkerungsgröße)
Abb. 3.3 Alle vier BRIC-Länder befinden sich unter den Top 10 der weltweit größten Länder
nach Landfläche und Bevölkerungsgröße. (Quellen: mapsofworld.com; worldbank.org)
Die Altersstruktur unterstreicht das ungeheure Konsumpotenzial, das sich in den BRIC
eröffnet, da der einzelne Verbraucher statistisch gesehen am intensivsten im Alter zwi-
schen 16 und 40 Jahren konsumiert. In dieser Spanne gewinnt die Karriere an Fahrt,
steigen die Einkommen, beginnen die Familienplanung und entsprechende Überlegun-
gen zum Erwerb von Wohneigentum. Erst später werden dann Maßnahmen zur Alters-
vorsorge getroffen. Daher stellt die Altersstruktur eine ganz wesentliche Stärke vieler
Wachstumsmärkte dar. Das Durchschnittsalter in den BRIC liegt 15 Jahre unter dem
Durchschnittsalter in den Industrieländern (in Indien beispielsweise liegt es bei nur 25
Jahren). 2011 waren 35 % der brasilianischen Bevölkerung zwischen 20 und 29 Jahre
alt. In Russland liegt der Anteil der Bevölkerung in diesem Alterssegment bei 34 %, in
China bei 36 % und in Indien bei atemberaubenden 47 %. In diesem Alter beginnen die
Menschen ihre beruflichen Karrieren und gründen Familien. Ihr Konsum steigt deutlich
an, denn zum ersten Mal kaufen sie Pkws, Waschmaschinen und andere kostspielige und
hochwertige Konsumgüter.
Es ist sinnvoll und wichtig, der besonderen – oder sogar einzigartigen – Altersgruppe
eines gegebenen Marktes besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Nehmen wir als Beispiel
3.3 Hohe Komplexität und Diversität 41
die chinesischen Automobilkäufer: In Abhängigkeit von der Altersgruppe, der sie angehö-
ren, stellen sie bei der Auswahl ihres Fahrzeugs ganz unterschiedliche Faktoren in den Vor-
dergrund. Bei älteren Befragten, die in den 1960er oder 1970er Jahren geboren wurden,
waren oft das Markenimage, aber auch die Funktion, die das Fahrzeug erfüllen sollte, ent-
scheidende Kriterien. Aber für die neue Generation der Automobilkäufer, die in den 1990er
Jahren geboren wurde, ist das Fahrzeug auch Ausdruck ihrer Identität und Persönlichkeit,
was das Design zur Priorität erhebt. Auch die Verkehrsverhältnisse haben große Bedeu-
tung. Sicherheitsüberlegungen (54 %) und Design (47 %) spielen bei der Kaufentschei-
dung dieser neuen Generation die ausschlaggebende Rolle (Zhuang 2011).
Die demografischen Veränderungen im Zusammenhang mit der immer stärker werden-
den Mittelschicht sind in vollem Gange: Von heute bis 2030, davon gehen verschiedene
Schätzungen aus, wird die Weltbevölkerung um ungefähr 1,3 Mrd. Menschen wachsen.
Von den Neugeborenen werden 1,2 Mrd. in den aufstrebenden Weltregionen das Licht der
Welt erblicken. Das sind mehr als neun von zehn Geburten. Im gleichen Zeitraum wird
Europa lediglich 0,01 % zum weltweiten Bevölkerungswachstum beitragen. Als Folge wer-
den die aufstrebenden Märkte durch eine besonders junge Bevölkerung gekennzeichnet
sein. 2030 werden, so schätzt Roland Berger, 40 % der Bevölkerung jünger als 25 Jahre alt
sein, verglichen mit 26 % in den Industrienationen (Aulbur und Angoulvant 2012).
Diese massive Veränderung der Altersstruktur der Weltbevölkerung wird weitrei-
chende Folgen für das Konsumverhalten haben. Die Ausgaben in allen Bereichen – von
Bildung und Freizeit über Unterhaltung, Reisen und Gesundheit bis hin zu Kommunika-
tionsgeräten – werden förmlich explodieren. Der treibende Faktor ist aber nicht allein die
wachsende Zahl junger Menschen, sondern zugleich auch ihre Bildung, die sich ebenso
wie ihre beruflichen Chancen und Karrieren sowie ihre Einkommen verbessern wird.
Während ihre Zahl weiter steigt, wird ihre Kaufkraft noch schneller anwachsen.
Ein weiterer gemeinsamer Aspekt ist die hohe Komplexität der BRIC. Sie weisen mit
ihrer Vielzahl unterschiedlicher ethnischer Gruppen, Sprachen, Dialekte und Religionen
eine enorme Vielfalt auf, die bei erfolgreichen Positionierungsstrategien und den damit
verbundenen Marketing- und Vertriebsorganisationen unbedingt berücksichtigt wer-
den muss. Ein sorgfältiges Targeting wichtiger Konsumentengruppen und geografischer
Regionen ist erforderlich und bedarf einer durchdachten Forschung und Planung. Die
Markenperformance wird also nicht überall in diesen riesigen Ländern gleich ausfallen.
Und die jeweiligen Ansätze müssen sich unterscheiden.
In Indien gibt es 22 offizielle Sprachen und etwa 1200 Dialekte. Hindi, die offizielle
und vorherrschende Sprache, wird nur von einem Drittel der Bevölkerung gesprochen.
Die regionalen und lokalen Landessprachen unterscheiden sich so grundlegend voneinan-
der, dass die führenden zehn Zeitungen in örtlichen Dialekten veröffentlicht werden. Die
englischsprachige Zeitung mit der größten Verbreitung steht in der Liste der führenden
42 3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der BRIC-Staaten
Tageszeitungen erst an elfter Stelle. Die kaum zu zählenden sozialen, kulturellen, wirt-
schaftlichen und geografischen Milieus sind so vielfältig, dass der viel gepriesene indi-
sche Verbrauchermarkt nur schwer fassbar ist (Zachariah 2012). Kenner und Insider wie
Marktforscher, Markenexperten und Marketingleiter teilen diese Einschätzung: Devita
Saraf (2009), Gründerin, Vorstandschefin von Vu Technologies und Geschäftsführerin
von Zenith Computers in Mumbai erklärte, sie würden zwar über das ganze Land verteilt
die gleichen tief verankerten und prägenden familiären und sozialen Werte finden, aber
ihre Sprache, die Geschmäcke, Kultur, Traditionen sowie Feiertage und Festlichkeiten
würden sich alle hundert Kilometer ändern. Die notwendige Mentalität und Strategie zu
entwickeln, um mit dieser Pluralität zurechtzukommen, stellt an sich schon eine größere
Herausforderung dar.
Aufgrund des Sklavenhandels in der Kolonialzeit und jahrhundertelanger Einwande-
rung, insbesondere aus Europa und Asien, verfügt auch Brasilien über eine heterogene
und gemischte Bevölkerung. Hunderttausende Sklaven waren aus Afrika nach Brasilien
gebracht worden, um dort auf Zuckerrohrfeldern, in den Bergwerken und Kaffeeplan-
tagen zu arbeiten. Nach dem Ende des Sklavenhandels nahmen viele Italiener Arbeit auf
den Kaffeeplantagen in der Großregion São Paulo an. Die Portugiesen kamen vor allem
während der Kolonialzeit ins Land. Im 19. und 20. Jahrhundert wanderten viele Italiener,
Deutsche und Spanier ein. In geringerem Maße ließen sich auch Einwanderer aus Osteu-
ropa und dem Nahen Osten in Brasilien nieder. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahr-
hundert wanderten zahlreiche Japaner ein, denen in den 1950er Jahren Koreaner folgten.
Die indigene Bevölkerung, der einst fünf Millionen Menschen angehörten, macht heute
nur noch 0,2 % der Gesamtbevölkerung aus. Die unterschiedlichen ethnischen Gruppen
haben sich auch durch Eheschließungen untereinander stark vermischt. Das daraus resul-
tierende Bevölkerungsmosaik ist so vielfältig, dass eine klare Zuordnung vieler Menschen
in ethnischer Hinsicht kaum mehr möglich ist. Marketingstrategen müssen diese historisch
gewachsene kulturelle Vielfalt für eine erfolgreiche Markenpositionierung berücksichtigen.
In Russland ist die ethnische Vielfalt größer, als es im ersten Moment den Anschein
hat. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es zu einem deutlichen Anstieg
der Einwanderung aus früheren Sowjetrepubliken nach Russland. Diese Entwicklung
wurde von einem steigenden Selbstbewusstsein der Minderheiten im Land begleitet. In
ihrer Analyse „Diversity Management and Concepts of Multiculturalism in Russia“ für
das Open Society Institute und das Center für Policy Studies der Central European Uni-
versity untersuchte Victoria Antonova (2007) am Beispiel der Regionen Saratow an der
Grenze zu Kasachstan und Perm im europäischen Osten westlich des Urals die Diversi-
tät Russlands. In der Region Saratow allein zählte sie 112 Nationalitäten. Die Mehrheit
bildeten mit 81 % der Bevölkerung ethnische Russen, dann folgten Tataren, Mordwinen,
Tschuwaschen und Kasachen. Folgerichtig definiert sich der russische Staat auch heute
noch als ein Vielvölkerstaat, der zwar vom russischen Kern der Gesellschaft dominiert
wird, der aber den zahlreichen Minderheiten ihren Platz in der Gesellschaft zugesteht.
Im Vergleich zu Brasilien oder Indien zeigt sich in China auf den ersten Blick eine sehr
viel homogenere Gesellschaft. Das liegt an der auf Einheit und Gleichheit ausgerichteten
3.4 Rasch wachsende Mittelschicht 43
Die BRIC werden von einer beispiellosen Ausweitung der weltweiten Mittelschicht vor-
angetrieben. Diese breite und umfassende Entwicklung ist all diesen Ländern gemein,
und sie wird auch einen wichtigen Schwerpunkt in den folgenden Kapiteln bilden.
Alle BRIC-Länder verfügen über eine riesige unerschlossene und wachsende Zahl
von Arbeitskräften. Während China fast seine maximale Auslastung erreicht hat, feh-
len in Russland bereits Arbeitskräfte. In Brasilien und Indien steht ein hoher Anteil der
Bevölkerung kurz davor, in das Erwerbsleben einzutreten. Diese Entwicklung löst einen
zusätzlichen Einkommensstrom aus, der so stark ist, dass laut der HSBC der Konsum
in den aufstrebenden Märkten im Jahr 2050 einen Anteil von praktisch zwei Drittel des
weltweiten Konsums, verglichen mit etwa einem Drittel heute, ausmachen könnte (Ward
und Neumann 2012). Der dafür verantwortliche Einkommensanstieg wird die Verbrau-
cherpräferenzen weltweit verändern. Die Spielräume für Ausgaben in den Schwellenlän-
dern werden von etwas mehr als 30 % der Gesamtausgaben auf bis zu 60 % ansteigen.
Die Bereiche Gesundheitswesen, Freizeit und Erholung sowie finanzielle Dienstleistun-
gen werden zu den größten Nutznießern gehören, während der Anteil des verfügbaren
Einkommens, das für Lebensmittel ausgegeben wird, von gegenwärtig mehr als 40 %
auf etwa zehn Prozent absinken wird. Aber die Einkommen werden nicht in allen BRIC-
Staaten mit der gleichen Geschwindigkeit wachsen.
Laut dem HSBC-Bericht werden die chinesischen Zuwächse des realen Pro-Kopf-Ein-
kommens in den Jahren bis 2050 im Durchschnitt nahe sechs Prozent liegen. In Indien
44 3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der BRIC-Staaten
wird die Steigerungsrate wohl knapp unter fünf Prozent und in Brasilien unter drei Pro-
zent liegen. Brasilien startet dabei von einem der höchsten Niveaus aus, während sich
Indien von einem sehr viel tieferen Stand aus nach oben arbeiten muss. In der Zeit bis zur
Mitte des aktuellen Jahrhunderts wird Indien aus dem unteren Bereich der mittleren Ein-
kommen in den oberen Bereich dieses Einkommenssegments aufsteigen und damit den
größten Wandel unter den BRIC-Staaten vollziehen (Ward und Neumann 2012).
In den vergangenen zehn Jahren ist der private Konsum in den Schwellenländern laut
dem Carnegie Endowment etwa dreimal so schnell wie in den Industrieländern gewach-
sen (Dadush und Ali 2012). Die Boston Consulting Group hat einen historischen Ver-
gleich angestellt, um die weltweiten Auswirkungen der aufstrebenden Mittelschicht,
die sich zu einer gigantischen weltweiten Wachstumslokomotive entwickelt hat, zu ver-
deutlichen. Der Anteil der Menschen, die über ein ausreichend hohes Einkommen ver-
fügen, um Produkte und Dienstleistungen zu kaufen, die über den alltäglichen Bedarf
hinausgehen, lag in den meisten geschichtlichen Phasen bei unter einem Prozent. Um
1990 war die Zahl der Menschen, die über einen Teil ihres Einkommens frei verfügen
konnten bei einer Weltbevölkerung von fünf Milliarden Menschen auf eine Milliarde
angestiegen, was einem Fünftel entsprach. Aber die überwältigende Mehrheit dieser
privilegierten Menschen lebte in den Industrieländern. In den letzten zwei Jahrzehnten
haben Urbanisierung, rasches Wachstum und eine stärker marktorientierte Politik in den
Schwellenländern die Zahl der zahlungskräftigeren Konsumenten mehr als verdoppelt.
Man rechnet mit einer weiteren Verdoppelung der weltweiten Konsumentenschicht auf
dann etwa 4,2 Mrd. Menschen innerhalb der kommenden fünf Jahre. Zum ersten Mal seit
Menschengedenken würde die Konsumentenschicht die Zahl der Menschen übersteigen,
die darum kämpfen müssen, ihre täglichen Bedürfnisse zu befriedigen. Aus historischer
Sicht hätten sich dann die Verhältnisse in der globalen Konsumentenschicht umgekehrt.
Große multinationale Unternehmen und ihre Zulieferer beobachten diesen Megat-
rend sehr genau und passen ihre Strategien entsprechend an. Der Softdrink-Hersteller
Coca-Cola kündigte im Juni 2012 an, er werde seine weltweite Strategie aufgrund von
fünf weltweiten Megatrends entsprechend anpassen. Einer dieser Trends ist der Aufstieg
einer neuen Mittelschicht in den aufstrebenden Großregionen. Das US-amerikanische
Unternehmen rechnet für die kommenden zehn Jahre mit einer weiteren Milliarde Mit-
telschicht-Konsumenten. Um das Jahr 2030 herum werden, so schätzt der Konzern, ver-
glichen mit dem heutigen Anteil von 50 % mehr als 90 % seiner potenziellen Kunden in
den Schwellenländern leben (WARC 2012).
Während das allgemeine Niveau der Markenkenntnis und der Markentreue in den meis-
ten Märkten der Schwellenländer noch auf einem erheblich niedrigeren Niveau als in den
westlichen Industrienationen verharrt, lässt sich ein weiterer gemeinsamer Faktor aller
BRIC-Länder aufzeigen. Aufgrund des wirtschaftlichen Fortschritts und der wachsenden
3.5 Schneller Wandel und soziale Mobilität 45
Mittelschicht gibt es viele „Gewinner“ dieser Entwicklung. Die Ergebnisse des BRIC
Branding Surveys von globeone (2011), die in Abb. 3.4 dargestellt sind, weisen dar-
auf hin, dass die überwiegende Mehrheit der städtischen Bevölkerung in den führenden
Megastädten der BRIC die weitere Entwicklung positiv einschätzt. Auf die Frage, ob sich
ihre persönlichen Lebensumstände in den vergangenen Jahren verbessert hätten, bejahte,
mit Ausnahme Russlands, die überwältigende Mehrheit der befragten Bürger dies – in
Brasilien waren es 91 %, in Indien 89 % und in China 86 %.
Die positive Entwicklung, wie sie in dieser urbanen Mittelschicht zum Ausdruck
kommt, belegt einen stetigen sozialen Fortschritt. Hinzu kommt eine weitere, allen
BRIC-Märkten gemeinsame Tendenz: Dem Besitz prestigeträchtiger ausländischer Mar-
ken wird ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt. So messen beispielsweise 69 % der in
städtischen Zentren lebenden Inder dem Konsum und Besitz ausländischer Marken große
Bedeutung bei. Auch in China und Russland ist die Zustimmungsrate ähnlich hoch (in
beiden Ländern sind es 67 %). Lediglich in Brasilien scheint man weniger interessiert
daran zu sein (50 % Zustimmung), den neu gewonnenen Status durch auffälligen Kon-
sum zu kommunizieren (globeone 2011). Konsum als Statussymbol ist in den BRIC ein
allgegenwärtiges Phänomen. Und es trug entscheidend dazu bei, weltweiten Modemar-
ken und deutschen Premium-Autobauern ständig neue Verkaufsrekorde zu bescheren.
Die Gesellschaften in den aufstrebenden Ländern unterliegen ebenso wie ihre Tradi-
tionen, Wertvorstellungen und ihr Konsumverhalten dramatischen Veränderungen. In den
großen im Übergang befindlichen Ländern wie Brasilien, Russland, Indien und China
werden immer mehr Menschen parallel zum Wachstum der Mittelschicht zu bewuss-
ten und erfahrenen Käufern und Touristen. Sie entwickeln mehr kosmopolitische und
– Anteil der Verbraucher (in %), die erklären, die wirtschaliche Entwicklung habe
ihr Leben posiv beeinflusst –
91% 89%
86%
46%
individualistische Züge. Und mit den zunehmenden ausländischen Einflüssen führt der
Zusammenstoß von Moderne und Tradition zu Konflikten. Oft werden die Kräfte der
Modernisierung als Gegensätze zu traditionellen lokalen Werten verstanden. Aber dieser
Eindruck ist nicht in allen Ländern gleich stark. Im Vergleich der BRIC-Länder (siehe
Abb. 3.5) weist Brasilien mit 83 % den höchsten Zustimmungswert zur Einstellung auf,
zwischen den weltweit wirkenden Kräften der Modernisierung und lokalen Wertvorstel-
lungen bestehe ein Gegensatz. In Indien und China ist dieser Wert mit 77 % bzw. 66 %
ebenfalls hoch.
Eine verstärkte Reisetätigkeit, vom Ausland inspirierte Fernsehwerbung sowie die
rasche Ausbreitung des Internets und der sozialen Medien erlauben es der neuen Mit-
telschicht, die Welt zu erkunden und Teil des „globalen Dorfes“ zu werden. An diesem
Punkt der Entwicklung treten die Gegensätze offen zutage: Der Individualismus stellt
die kollektiven Traditionen infrage. Die traditionelle Großfamilie weicht allmählich der
Kleinfamilie aus Vater, Mutter und Kindern, die nun für sich in städtischen Appartements
und nicht mehr im Familienverbund mit ihren Tanten, Onkeln und Großeltern im glei-
chen Haushalt leben. Die Zahl der Einkindfamilien ist sehr hoch. Die Eltern bemühen
sich sehr um ihre kleinen „Prinzen und Prinzessinnen“, aber oft bleibt nicht genug Zeit
zum gemeinsamen Kochen und für gemeinsame Mahlzeiten. Dies schafft zusätzliche
Marktpotenziale für Fertiggerichte oder Kindertagesbetreuung.
Ein weiterer wichtiger Trend betrifft den verbesserten Zugang von Frauen zum Arbeits-
markt. Eine zunehmende Zahl von Frauen beginnt, einer beruflichen Karriere Vorrang vor
Kindern einzuräumen. Frauen sind im Allgemeinen besser ausgebildet als früher und erhal-
ten entsprechend besser bezahlte Arbeitsplätze. Sie werden in wirtschaftlicher Hinsicht
– Anteil der Verbraucher (in %), die der Aussage zusmmen, Modernisierung
und Tradion bilden einen Gegensatz –
83%
77%
66%
58%
immer unabhängiger. Statistiken zufolge tendieren sie auch dazu, später zu heiraten sowie
später und weniger Kinder zu bekommen. In wirtschaftlicher Hinsicht führt dies dazu, dass
sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für Produkte und Dienstleistungen für sich
selbst aufwenden können. Und es bedeutet mehr Geschäfte und Umsätze für Restaurants,
Schönheitsprodukte, Innendekoration sowie die Touristik- und Unterhaltungsbranche.
Im Mai 2012 berichtete die indische Tageszeitung The Indian Express (2012) über eine
Umfrage, die unter 1200 verheirateten, jungen, berufstätigen Frauen und Hausfrauen in
Städten wie Ahmedabad, Delhi, Bangalore, Chennai und Hyderabad durchgeführt wurde.
Es zeigte sich, dass etwa die Hälfte der befragten berufstätigen Frauen die Absicht, eine
Familie zu gründen, aufgegeben hatte. In Delhi verzichteten 65 von 150 befragten berufs-
tätigen Frauen bewusst darauf, eine Familie zu gründen. Und zwei Drittel der berufstäti-
gen Frauen in Mumbai erklärten, sie lehnten es ab, in der absehbaren Zukunft Kinder zu
bekommen, da sie gegenwärtig ihrer beruflichen Karriere den Vorrang gäben.
Diese Antworten unterscheiden sich sehr deutlich von dem, was man alltäglich im
indischen Fernsehen zu sehen bekommt. Die bekanntesten und beliebtesten Seifen-
opern, die von den meisten Inderinnen und Indern täglich mit Vergnügen gesehen wer-
den, zeigen Frauen in einer sehr traditionellen Rolle: Sie heiraten, bekommen Kinder
und widmen ihr Leben dem Wohl der Familie. Und sie lernen, sich mit diesem Schick-
sal abzufinden. Dass die Familie eine höhere Bedeutung als persönliche Wünsche und
Ansprüche hat, gehört zu den immer wieder gezeigten Klischees in diesen sehr beliebten
Serien. Dies ist ein Beleg dafür, dass lokale Traditionen und Werte immer noch eine vor-
herrschende Rolle spielen, auch wenn diese Situation in einem raschen Wandel begriffen
ist. Die meisten Familien in Indien treffen sich immer noch am Wochenende zu traditi-
onellen Zusammenkünften und gemeinsamen Mahlzeiten, um das Ideal der Großfamilie
zu pflegen. Die Familie als Einheit schrumpft zwar hinsichtlich der Zahl ihrer Mitglie-
der, aber das Bedürfnis, zu einer Gruppe zu gehören, ist in Indien und Südasien so aus-
geprägt, dass die Struktur der Großfamilie in vielen Bereichen der Gesellschaft immer
noch vorherrscht.
In allen großen aufstrebenden Volkswirtschaften steht die Mehrheit der Verbraucher
noch am Anfang, wenn es um die Erfüllung ihrer Wünsche nach jenen Gütern und Dienst-
leistungen geht, die den Bereich ihrer Grundbedürfnisse übersteigen. Aber mit steigendem
Wohlstand ändert sich auch das Ausgabeverhalten rasch. Die Einkommen steigen, immer
mehr Frauen sind berufstätig, die Zahl der Kinder sinkt, die Mobilität steigt, und es ste-
hen mehr Zeit und Geld für Freizeitaktivitäten, Unterhaltung und Shopping zur Verfügung.
Auch die Essgewohnheiten ändern sich. So steigt der prozentuale Anteil an Convenience-
Food und Fertiggerichten, da immer weniger Zeit für das Kochen am heimischen Herd
zur Verfügung steht. Ein weiteres Beispiel: Bei einer Reihe von Konsumentenbefragungen,
die vor Kurzem in den BRIC-Ländern durchgeführt wurden, zeigte sich, dass die Zahl der
Menschen, die größere Geldsummen für Luxus-Körperpflegeprodukte ausgeben wollen,
stark ansteigt. Die steigenden Einkommen tragen auch zur Entstehung eines rasch wach-
senden Bevölkerungssegments bei, das bei seinen Einkaufsaktivitäten in größerem Maße
Premiumprodukte konsumiert und in zunehmendem Maße auch dem Luxuskonsum frönt.
48 3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der BRIC-Staaten
ler Marken sollten daher nie unterschätzt werden – insbesondere, da Regierungen lokale
Unternehmen mehr oder weniger offen unterstützen. Die stärkeren lokalen Marken müs-
sen daher sorgfältig analysiert und auch die „Category Killer“ (Facheinzelhandelsge-
schäfte mit einem tiefen, breiten und oft preisgünstigen Angebot) identifiziert werden.
Und da die Positionierung sehr viel differenzierter ausfallen muss, bilden gute Beziehun-
gen mit den örtlichen Behörden und Verwaltungen den Schlüssel zu einer erfolgreichen
Strategie. Wir werden in den Kap. 5 bis 8 ausführlicher auf die starke lokale Marken-
landschaft eingehen.
Die Konsumenten in den BRIC teilen eine weitere Eigenschaft: Markenwissen und
Markenerfahrung sind in der Regel noch relativ gering. Man kann nicht davon aus-
gehen, dass chinesische oder russische Mittelklasse-Konsumenten jemals von einer
bestimmten ausländischen Marke gehört haben, ihre Geschichte oder Tradition kennen
oder sogar wissen, wann und wie man sie verwendet. Es ist daher entscheidend, einen
Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, was die potenziellen Konsumenten tatsächlich
über die Marke wissen müssen. Das Gleiche gilt für die Firmenkunden in einem B2B-
Umfeld. Die „Erziehung“ der Konsumenten und das Narrativ in Bezug auf die Tradition
und Geschichte einer Marke sind wesentliche Aspekte, um die substanziellen Preisauf-
schläge, die die meisten ausländischen Marken einzufordern versuchen, zu rechtfertigen.
In dieser Hinsicht können sich soziale Medien als ein sehr wichtiges und einflussreiches
Instrument für Marken erweisen, um Verbindungen zu den Zielgruppen aufzubauen und
mehr Informationen und Inhalte über Marken zu transportieren, als über einfache Fern-
sehwerbung vermittelt werden kann.
In den Bereichen mobiler und digitaler Kommunikation sind die BRIC zu einem unan-
greifbaren Kraftzentrum geworden. China, Indien, Russland und Brasilien gehören zu
den am stärksten „digitalisierten“ Ländern der Erde. Beim jüngsten weltweiten Ranking
durch 360 Digital Influence gehörten China, Indien, Brasilien und Russland – in dieser
Reihenfolge – zur Spitzengruppe der sieben Länder mit den meisten Internetnutzern,
deren Zahl in diesen Ländern rasant immer weiter ansteigt.
In China nutzten Mitte 2016 laut Internetworldstats mehr als 721 Mio. Menschen das
Internet, was einer Durchdringung von etwa 52 % entspricht. Dies bedeutet, dass die
Volksrepublik praktisch ein Viertel der weltweiten Internet-Nutzer stellt. Brasilien und
Russland haben einen Durchdringungsgrad von etwas mehr als 40 %, während Indien
mit einer Durchdringungsrate von mehr als zehn Prozent noch zurückliegt. Zusammen
repräsentieren die BRIC-Länder 45,5 % der weltweiten Internetnutzer.
50 3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der BRIC-Staaten
Mit der wachsenden Verbreitung der Internetnutzung blüht auch der E-Commerce.
Einer Studie der Unternehmensberatung PwC zufolge kauften 2016 65 % der chinesi-
schen Konsumenten mindestens einmal monatlich online ein. In den USA waren es
dahingegen vergleichsweise geringe 22 % (PWC 2016). Die Alibaba-Gruppe, Chinas
größtes E-Commerce-Unternehmen, verkauft mehr Waren als Amazon und eBay zusam-
mengenommen. Und mit 25 Mrd. US$ war Alibabas Börsengang im September 2014 an
der New Yorker Börse der bisher größte der Geschichte.
2015 lag die Zahl der Online-Shopper in China bei 350 Mio. Menschen. Damit war
das Land der größte digitale Einzelhandelsmarkt der Welt (Statista 2014). Die Auswei-
tung des Online-Universums trug maßgeblich dazu bei, dass China seine hohen Wachs-
tumsraten halten konnte, während sich das Wachstum im Rest der Welt aufgrund der
Finanzkrise deutlich verlangsamte. Das Gleiche gilt für Ausgaben für Werbung. Dort
sind die BRIC der weltweite Wachstumsmotor mit Steigerungsraten, die drei- bis vier-
mal höher sind als in Europa. E-Commerce ist zum wichtigsten Wachstumsbereich in
Russland geworden und wurde vor Kurzem von institutionellen Anlegern und staat-
lich gestützten Fonds „entdeckt“. In der Zwischenzeit behauptet Googles YouTube, es
sei unter der indischen Jugend bereits populärer als Jugend-Kanäle wie etwa MTV. Das
Wachstum sozialer Medien in Brasilien, dem größten Land Lateinamerikas, hat sich so
beschleunigt, dass São Paulo von vielen als die „Hauptstadt der sozialen Medien“ welt-
weit betrachtet wird. Brasiliens hyper-soziale Kultur, der hohe Anteil junger Menschen
an der Gesamtbevölkerung und deren besondere Begeisterung für das Internet befördern
diesen massiven Trend. Für Facebook wurde Brasilien Anfang 2013 zum zweitgrößten
Markt nach den USA.
Verschiedene Treiber haben die großen aufstrebenden Märkte zum Epizentrum der
digitalen Revolution gemacht. Einer von ihnen wirkt allerdings auch als Wachstums-
bremse. Da die Exportunternehmen in den BRIC unter den rückläufigen Verkäufen nach
Europa und den USA leiden, werden sie sich verstärkt dem E-Commerce-Markt in den
BRIC selbst zuwenden. Zweitens fallen die Kosten für den Versand bestellter Güter
in den aufstrebenden Märkten sehr viel geringer als im Westen aus. Dies verlieh dem
E-Commerce einen anhaltenden Aufschwung. Der Versand eines ein Kilogramm schwe-
ren Pakets in China kostet etwa einen US-Dollar, während man in den USA ungefähr
sechs US-Dollar bezahlen muss. Drittens sind die Servicestandards in den aufstrebenden
Märkten oft noch nicht so weit entwickelt wie in Europa oder den USA. Luxuskunden
in einem Ladengeschäft zu bedienen, kann angesichts fehlenden qualifizierten Personals
eine große Herausforderung darstellen. Internetverkäufe könnten diese Lücke zumindest
teilweise füllen. Und viertens haben westliche Marken damit begonnen, sich von den
größeren und reicheren Küstenregionen in die kleineren Städte im Landesinneren auszu-
breiten, in denen es nur wenige Markenverkaufsstellen, aber steigende Einkommen und
wachsende Nachfrage für diese Güter gibt. E-Commerce kann das fehlende Bindeglied
sein, da Online-Kanäle für einen zusätzlichen Absatz genutzt werden können, der keine
hohen Investitionen in die Eröffnung von Ladengeschäften erforderlich macht.
Literatur 51
Was nun die mobile Kommunikation betrifft, hat China schon vor langer Zeit den
Weltrekord im Bereich Marktdurchdringung bei Smartphones eingestellt. Das Land ver-
fügt über mehr aktive Smartphone-Nutzer als die USA. Es wird damit gerechnet, dass
die Zahl bis 2019 auf rund 687 Mio. Nutzer ansteigen wird (Statista 2017). Diese weite
Verbreitung der mobilen Nutzung wird sich massiv auf die Art und Weise auswirken,
wie Online- und Offline-Handel in Zukunft durchgeführt werden. Völlig neue Muster
mit weltweiten Folgen werden entwickelt werden. Elektronische Bezahlsysteme, Inter-
netdienste und digitale Markenerfahrung werden auf der ganzen Welt davon beeinflusst
werden.
Literatur
Ward, K., & Neumann, F. (2012). Consumer in 2050 – The rise of the EM middle class. HSBC Global
Research. https://www.hsbc.com.vn/1/PA_ES_Content_Mgmt/content/vietnam/abouthsbc/news-
room/attached_files/HSBC_report_Consumer_in_2050_EN.pdf. Zugegriffen: 29. Nov. 2016.
Zachariah, B. (2012). The Great Indian Consumer Market – A close up view from an insider’s per-
spective. On Device Research. https://ondeviceresearch.com/blog/the-great-indian-consumer-
market-a-close-up-view-from-an-insiders-perspective. Zugegriffen: 29. Nov. 2016.
Zhuang, G. (2011). The next generation of Chinese car buyers is looking for style. Nielsen. http://
www.nielsen.com/us/en/insights/news/2011/the-next-generation-of-chinese-car-buyers-are-loo-
king-for-style.html. Zugegriffen: 29. Nov. 2016.
Die Agentur – Der entscheidende Partner
für die Markenexpansion 4
Für den Einstieg in die Emerging Markets der Welt ist es für Unternehmen entscheidend,
die geeignete Agentur an ihrer Seite zu haben. Immerhin ist sie für den Kommunikati-
onserfolg vor Ort verantwortlich, und das ist keine leichte Aufgabe: Es muss ihr gelin-
gen, die global gültigen Prinzipien des Markenaufbaus mit den lokalen Erfordernissen zu
vereinen.
Ein gutes Beispiel für eine solche Glokalisierung ist die Positionierungskampagne
der Hongkong & Shanghai Banking Corporation Holdings (HSBC) zwischen 2002 und
2011. Mit ihr präsentierte sich die HSBC als eine global operierende Bank, die sich trotz
ihrer weltweit einheitlichen Standards bestens auf die Erfüllung der lokalen Verbraucher-
wünsche verstand. Der entsprechende Slogan: „The world’s local bank“ brachte diesen
vermeintlichen Widerspruch zwischen einer globalen Ausrichtung und einer notwendi-
gen lokalen Anpassung nicht nur verbal perfekt auf den Punkt. Die zahlreichen Kam-
pagnenmotive und Clips übersetzten den Gedanken hinter dem Slogan zudem in eine
gelungene Bildsprache. Fast immer geht es in diesem Fall darum, wie die Wahrnehmung
von bestimmten Gegenständen oder Verhaltensweisen durch kulturbedingte Faktoren
vorgeprägt ist. So kann zum Beispiel ein Orientteppich je nach kulturellem Kontext
entweder als Teil der Inneneinrichtung, als Souvenir oder aber als Gebetsteppich wahr-
genommen werden. Mit demselben Gegenstand werden also ganz unterschiedliche Vor-
stellungen assoziiert. So kann beispielsweise auch das, was in dem einen Kulturkreis als
höflich, als rebellisch oder als eklig empfunden wird, auf der anderen Seite der Erdkugel
womöglich als besonders unfreundlich, brav oder appetitlich gelten. Diese Kontextab-
hängigkeit birgt für Unternehmen Risiken und Chancen zugleich: Im schlimmsten Fall
setzen sie sich kulturellen Missverständnissen aus, im besten Fall integrieren sie diese
durch kulturbedingte Faktoren vorgeprägte Wahrnehmung in eine differenzierte und an
die lokalen Gegebenheiten angepasste Kommunikation. Dieses einfache Kampagnenbei-
spiel illustriert einen Sachverhalt, der weit über die Formulierung von Werbebotschaften
hinausgeht, indem er sich auch unter der Oberfläche auf den gesamten Prozess der lokal
getriebenen Positionierung sowie der Kommunikations- und Mediaplanung auswirkt.
Das Beispiel zeigt vor allem eins: Wer seine Marke in einem neuen Land einfüh-
ren will, muss vor dem Start sehr genau hinsehen. Er muss die Marktbedingungen hin-
sichtlich des Konsumentengeschmacks, der Konkurrenz sowie des Medienangebots
und der Mediennutzung detailliert erforschen. Denn so wie sich die Assoziationen mit
bestimmten Gegenständen von Region zu Region verändern können, kann auch die
Art und Weise, wie und über welche Kanäle etwas kommuniziert wird, variieren. Das
heißt: Lokale Anpassungen in der Positionierungsstrategie eines Unternehmens erfordern
ebenfalls eine auf die lokalen Umstände zugeschnittene Kommunikations- und Mediast-
rategie. Beispielsweise zeigt sich, dass die BRIC-Länder in der Social-Media-Nutzung
deutlich vor Deutschland liegen. Während in Deutschland einer Studie des Pew Research
Centers zufolge nur 50 % der Internetnutzer Social-Media-Seiten aufsuchen, sind es mit
stark steigender Tendenz in Indien 62 %, in China 63 %, in Brasilien bereits 79 % und in
Russland sogar 85 % (Poushter 2016). Wer etwa in den chinesischen Markt expandieren
möchte, muss sich daher im Vorhinein darüber klar werden: Eine Kampagne braucht –
schon allein aufgrund der dominierenden Stellung der plattformübergreifenden Chat-
App WeChat mit rund 700 Mio. aktiven chinesischen Nutzern (eMarketer 2016) – tra-
gende Social-Media-Elemente, sonst wird sie aller Voraussicht nach scheitern. Ebenso
gehört das Erwerben tief gehender Kenntnisse über Vertriebsstrukturen und Kaufverhal-
ten zu den Bedingungen vor dem Markteintritt.
Auch wenn sich die Kulturen der Welt – aufgrund des weltweiten Informationsflus-
ses, der durch die Digitalisierung entstand – einander annähern: In der Markenkommu-
nikation müssen kulturelle und gesellschaftliche Merkmale der verschiedenen Regionen
aufmerksam berücksichtigt werden. Ob klassische Kampagne, Onlinewerbung, Dialog-
kommunikation, PoS-Auftritt, PR, Events, Sponsoring oder Messe: dies alles muss in
den jeweiligen Kulturkreis passen. Das ist ohne Zweifel eine große Herausforderung –
und der Grund, warum die ausgewählte Agentur bei der Expansion in neue Märkte eine
erfolgskritische Rolle spielt. Sie ist dafür verantwortlich, dass ein Meisterstück gelingt:
eine Kommunikationslösung, welche die Besonderheiten des lokalen Markts berücksich-
tigt und gleichzeitig die globale Kernbotschaft, den „Spirit“ einer Marke, transportiert.
Aber wie sieht eine solche „glokale“ Kommunikation aus? Gibt es Regeln, an denen
sich Unternehmen und Agentur orientieren könnten? Antworten auf diese Fragen sind
insgesamt für die deutsche Wirtschaft von größter Relevanz. Deshalb beauftragte das
Bundesforschungsministerium (BMBF) die Westfälische Wilhelms-Universität in Müns-
ter damit, solche Antworten zu finden. Das Ergebnis fiel jedoch ernüchternd aus: „[…]
Weder die Unternehmenspraxis noch die Forschung [weiß] um die Besonderheiten von
Dienstleistungen bei der Internationalisierung, speziell nach Osteuropa oder gar um die
Markenführung in Unternehmensnetzwerken“, resümieren die Forscher. Deshalb habe
die Projektarbeit „mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert“ (Ahlert 2006).
Unsere Erfahrungen bei Serviceplan zeigen: Das Fazit ist immer noch aktuell. Nach wir
vor ist das Know-how rund um die internationale Markenexpansion in vielen Unternehmen
4 Die Agentur – Der entscheidende Partner für die Markenexpansion 55
eher dünn – und die Verunsicherung dementsprechend groß. Was tun? Die meisten Unter-
nehmen brauchen für ihre Markenexpansion eine Kommunikationsstrategie mit stärkeren
lokalen Zugeständnissen. Es geht um die „Glokalisierung“ ihrer Marke, ohne dass die
globale Positionierung verwässert wird – und genau hierzu gibt es auf Unternehmensseite
noch zu wenig nutzbare Erfahrungswerte. Auch weil solche Unternehmensprozesse selbst
bei großen Unternehmen nicht regelmäßig auf der Tagesordnung stehen und weil die Län-
dergesellschaften ihre Erfahrungen häufig nicht teilen oder diese Erfahrung in der Zentrale
kein Gehör findet.
Aus dieser unbefriedigenden Situation heraus entstehen in Unternehmen unzählige
Fragen, sobald ein neuer Markt erschlossen werden soll:
Das sind nur einige der Fragen, die uns bei Serviceplan und globeone regelmäßig gestellt
werden. Gleichzeitig machen diese Fragen deutlich: Wenn es um das Erschließen eines
neuen Marktes geht, brauchen Unternehmen mehr als die Services einer klassischen
Werbeagentur. Sie benötigen einen lokal und global sattelfesten Kommunikationsstrate-
gen, der den gewünschten Markt und seine Konsumenten bestens kennt und weiß, wel-
che Maßnahmen und Weichenstellungen dort vorgenommen werden müssen. Einen, der
das Unternehmen über einen langen Zeitraum hinweg nicht nur berät, sondern tatkräf-
tig unterstützt – von der Expansionsplanung bis über die Markenaufbauphase hinaus.
Einen vertrauensvollen Sparringspartner, der bei Bedarf selbst hochsensible Aufgaben
übernehmen kann, etwa das technische und personelle Management aller Kommunika-
tionsprozesse zwischen Headquarter und den einzelnen Märkten. Unternehmen, die eine
Markenexpansion in neue Länder planen, sollten also genau hinsehen, wenn sie sich für
eine Agentur entscheiden. Die Tiefe und Intensität der Zusammenarbeit bei einer Expan-
sion in einen neuen Markt ist wesentlich höher als bei einer Kampagnenkonzeption in
einem bereits erschlossenen Markt. Deshalb brauchen sie einen Partner, mit dem sie über
viele Jahre hinweg vertrauensvoll und substanziell zusammenarbeiten können. Wenn die-
ser nicht nur eine kreative, sondern zugleich auch eine personelle und technologische Inf-
rastruktur bietet, mit der die globale Markenführung effizienter und damit kostengünstiger
56 4 Die Agentur – Der entscheidende Partner für die Markenexpansion
betrieben werden kann, sind die Weichen für eine erfolgreiche Markenexpansion in neue
Wachstumsmärkte gestellt.
Bevor sich ein Unternehmen also für eine Agentur entscheidet, muss es seine eigenen
Stärken und Schwächen analysieren: Was kann ich während der Markenexpansion selbst
leisten – und für welche Aufgaben brauche ich Unterstützung? Benötige ich bereits beim
Aufbau vor Ort einen erfahrenen Partner – oder erst später für die regelmäßige Kunden-
ansprache und den Dialog? Und kann ich sicherstellen, dass der Austausch zwischen den
Kommunikationsmanagern in der Zentrale und in dem neuen Markt reibungslos funk-
tioniert? Erst wenn ein Unternehmen über sich selbst sehr gut Bescheid weiß, sollte es
sich auf die Suche nach der passenden Agentur machen. Im Idealfall kann eine Agentur
überraschend auftauchende Aufgaben übernehmen, denn häufig kristallisieren sich erst
während der Markenexpansion Problemfelder heraus, die man zuvor nicht erwartet hat.
Nicht nur deshalb ist es von Vorteil, eine Agentur mit breitem Leistungsportfolio auszu-
wählen. Eine Agentur, die eine Markenexpansion begleitet, sollte also in der Lage sein,
viele unterschiedliche Rollen zu übernehmen, zum Beispiel als:
Häufig scheitern Markenkonzepte, weil sie aus Kostengründen aus anderen Märkten
adaptiert wurden und nicht in den avisierten Kulturkreis passen. Deshalb muss jedem
Unternehmer, der neue Märkte erschließen will, klar sein: Ohne eine qualitativ tief
gehende Vorabanalyse des Marktes, der Zielgruppen und deren Mediennutzung wird sich
kein Erfolg einstellen. Das bedeutet für die Agentur: Sie sollte entweder selbst Markt-
und Know-how in der Markt- und Verbraucherforschung vor Ort besitzen oder die besten
Player im dortigen Forschungsmarkt kennen und mit diesen zusammenarbeiten.
So muss der Definition der primären Zielgruppen größte Aufmerksamkeit geschenkt
werden. Wer zuerst eine falsche ins Visier nimmt, kommt später um eine Repositi-
onierung nicht herum – und diese ist weitaus mühsamer und kostenintensiver als eine
fundierte Zielgruppenanalyse vorab. Für unseren Kunden BMW ermittelten wir zum
Beispiel, dass die typische Zielgruppe für die 7er-Reihe in den arabischen Emiraten
weitaus jünger ist: Diese liegt in Deutschland bei 50, in den arabischen Emiraten hinge-
gen bei 20 Jahren. Diese Erkenntnis war entscheidend, um von Anfang an die passende
Kommunikationsstrategie entwickeln zu können. Die Übernahme europäischer Erfah-
rungswerte wäre in diesem Fall ein großer Fehler gewesen.
Ein weiteres Beispiel: Beiersdorf erforschte mit dem weltweit aktiven Marktfor-
schungsinstitut GIM die Zielgruppe „Frauen über 50 Jahre“ und fand heraus, dass sie je
nach Land extrem unterschiedlich ist. Für deutsche und französische Frauen etwa sind
4.2 Die Agentur als Markenwächter und Begleiter beim strukturellen Aufbau 57
Weiblichkeit und Attraktivität keine Frage des Alters, sondern der Einstellung. Für Rus-
sinnen hingegen bedeutet Schönheit eine Art Zukunftsinvestition. In den USA setzen
ältere Frauen alles daran, ihre Schönheit zu bewahren, um im Berufsleben zu bestehen.
Das Gleiche in Brasilien: Dort wollen Frauen lange jung aussehen, denn sie fürchten das
Altern geradezu. In China hingegen neigen Frauen dazu, sich bereits ab 30 Jahren alt
zu fühlen, und greifen sehr früh zu Anti-Aging-Mitteln. Eine global einheitliche Anspra-
che für diese eine Altersgruppe wäre daher aus kommunikationsstrategischer Sicht alles
andere als optimal gewesen.
Der Sportartikelkonzern Adidas musste anfangs in China feststellen, dass seine Kam-
pagnen bei Frauen nicht wirkten, weil sie nur männerdominierte Interessen wie Fuß-
ball und Basketball berücksichtigten. Also launchte Adidas 2013 eine lokale Kampagne
nur für chinesische Frauen. „all in for #mygirls“ betonte das gemeinsame Erlebnis von
Freundinnen beim Sport. Der Erfolg: plus 40 % im „womens business“ und der Golden
Effie Award.
Eine konsequente Analyse vor dem Markteintritt zahlt sich also langfristig aus. Jeder
einzelne Parameter sollte dazu auf den Prüfstand, bis hin zur Farbe der Verpackung. So
stellte Beiersdorf durch Forschung fest, dass Inder gerne Pflegeprodukte in günstigeren
Miniverpackungen kaufen – eine Fabrik vor Ort produziert nun genau diese.
Die klassische Marktforschung bietet sich für die Marktanalyse natürlich an, um zu
wertvollen Erkenntnissen zu gelangen. Aber es gibt auch interessante ergänzende Metho-
den. Philips etwa kooperierte 2015 mit sechs Beauty-Bloggerinnen in England, Korea,
China, Frankreich, Russland und Deutschland. Ziel der Kampagne „Beauty Heroes“ war
es natürlich auch, Philips Kompetenz im Beauty- und Healthcare-Bereich zu betonen.
Doch durch den initiierten Austausch auf der Plattform beautyheroes.com gewann Philips
wertvolle Einsichten in die Gewohnheiten und Wünsche junger Frauen in diesen Ländern.
Dank der Analyseergebnisse sollte ein Unternehmen erkennen können, welche Facet-
ten der Marke es im jeweiligen Markt betonen sollte – ohne die Marke in ihrem Kern zu
verletzen. Das Einhalten dieser Balance ist die Kunst, sie entscheidet über Erfolg oder
Misserfolg.
Heimatland des Kunden wie auch im neu zu erschließenden Markt eine Niederlassung
besitzt und beide in engem Kontakt miteinander stehen. Dann kann sie sowohl auf zen-
trale wie auch dezentrale Vorgaben zügig und effizient reagieren. Und sie könnte bei
Bedarf beim Aufbau einer neuen Dependance die noch fehlende Manpower mit Mitar-
beitern kompensieren, die zeitlich befristet dort arbeiten und zugleich bei der Suche nach
dem passenden Personal helfen.
Die Anforderungen der Kunden für das Erobern eines neuen Marktes sind also extrem
unterschiedlich und bedürfen womöglich schneller Reaktionen. Es ist deshalb durch-
aus sinnvoll, wenn sich ein Unternehmen die Struktur der Agentur genauer ansieht und
überprüft, ob diese zu den formulierten Ansprüchen passt. Dabei könnte er zum Beispiel
auf eine Struktur wie die in Abb. 4.1 dargestellte treffen. Hierbei handelt es sich um ein
typisches „Einliniensystem“, bei dem die Entscheider auf Unternehmensebene mit einer
Vielzahl isoliert arbeitender Agenturen zu tun haben. Markenunternehmen sollten prü-
fen, ob ein solches Dienstleistergeflecht das richtige Modell für eine erfolgreiche interna-
tionale Markterschließung ist.
Serviceplan hat, angeregt durch seinen Kunden BMW, eine andere Dienstleistungs-
struktur für global und lokal agierende Kunden aufgebaut (siehe Abb. 4.2). Jede einzelne
lokal angesiedelte Agentur steht in engem Kontakt mit dem zentral agierenden Internati-
onal Integrated Key Account Management, das die Kommunikationsleistungen der ein-
zelnen Dependancen bündelt, die Einhaltung der Qualitätskriterien kontrolliert und für
nützlichen Wissenstransfer untereinander sorgt. Zugleich wird das Topmanagement mit
allen relevanten Informationen aus den weltweiten Märkten versorgt. Es wird durch ein
einziges Team auf dem Laufenden gehalten – ein großes Effizienzplus im Managemen-
talltag. Damit die Balance zwischen global und lokal eingehalten wird, arbeiten an allen
LEITER LEITER
LEITER WERBUNG
MARKENFÜHRUNG DIALOG-KOMM.
KUNDE*
INTERNATIONAL
INTEGRATED KEY ACCOUNT
MANAGEMENT
*Beispiel
Abb. 4.2 Serviceplan betreibt ein „International Integrated Key Account Management“, das zum
einen alle lokalen Aktivitäten bündelt und zum anderen globale Markenvorgaben kontrolliert.
(Quelle: Serviceplan 2017)
Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Der Markenaufbau ist eine völlig andere, weit-
aus verantwortungsvollere Aufgabe als das Konzipieren einer Werbekampagne für eine
Marke, die bereits etabliert ist. Wie in den folgenden Kapiteln noch genauer erläutert
60 4 Die Agentur – Der entscheidende Partner für die Markenexpansion
wird, wird ein zum Markt passendes Markenbild geschaffen, das die Balance aus Stan-
dardisierung (Markenregeln, die global für alle gelten) und Differenzierung (Marken-
regeln für einen lokalen Markt) einhält. Die Ergebnisse der Analyse spielen hier die
tragende Rolle – sie sollten klar zeigen, in welchem Maß eine Marke eher global oder
lokal ausgerichtet sein sollte.
Wenn es im Markenaufbau eine Regel geben sollte, dann diese: Geduld. Der Auf-
bau einer Marke kann Jahre dauern, und eine Marke kann Schaden erleiden, wenn die
Dienstleister immer wieder ausgetauscht werden. Ein Unternehmen sollte von Anfang an
einen Agenturpartner an seiner Seite wissen, mit dem er über eine längere Zeit sehr eng
und vertraut zusammenarbeiten möchte. Das übliche Pitch-Verhalten hat in dieser Phase
also nichts zu suchen.
Es kommt auch immer wieder zu Problemen, wenn Manager oder Vertriebspartner
schneller vorankommen wollen. Der Grund: „Unternehmens- oder Produktmarken, die in
ihren westlichen Heimatmärkten bereits in der Psyche der Konsumenten verankert sind,
sehen sich in neuen Märkten aufgrund der dort fehlenden Verankerung enormen Absatz-
schwankungen ausgesetzt. Die Unternehmen reagieren vielfach panisch und peitschen
im Wechselspiel mit den Wettbewerbern Verkaufsförderungsaktionen und wechselnde
Imagekampagnen durch den Markt“, schildern die Autoren der Studie „Brands go East“
nach ihrer Marktanalyse das Problem (Ahlert 2006).
Eine der drängendsten Fragen der Markenunternehmen mit Expansionsplänen ist die
nach der optimalen Verteilung des Kommunikationsbudgets. Erfahrene Agenturen kön-
nen hier helfen. Auch wenn sich keine generellen Handlungsempfehlungen geben lassen,
so empfehlen wir unseren Kunden in vielen Fällen nur einen geringen Prozentsatz (zum
Beispiel zehn Prozent) für die zentral gesteuerte Kommunikation einzuplanen und einen
Großteil des Budgets für die dezentral gesteuerte Kommunikation vorzuhalten. Das mag
Verfechtern der Standardisierung als recht hoch erscheinen, doch die Erfahrung zeigt:
Je sicherer eine Marke auf dem lokalen Markt agiert, desto erfolgreicher ist sie. Dann
passieren auch nicht Fehler wie jener von American Airlines. Die Fluggesellschaft warb
in Mexiko für Ledersitze in der Business Class und übersetzte den Slogan „In Leder flie-
gen“ mit „Vuelo en Cuero“. Das Problem: „en cuero“ kann auch „nackt“ bedeuten.
Im günstigsten Fall gelingt dem Unternehmen gemeinsam mit dem Agenturpartner
eine erfolgreiche Positionierung in den wichtigsten internationalen Wachstumsmärkten.
Dies kann mitunter auch zu positiven Rückkoppelungseffekten im Heimatmarkt füh-
ren. Das lokale Image in wichtigen Märkten kann auf das globale Image und die ange-
strebte Positionierung „abfärben“. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Porsche. Denn das
Rebellische, das diese Marke seit Jahrzehnten ausstrahlt, stammt nicht originär aus dem
Schwäbischen, sondern aus den USA. „Vor allem durch dieses in Amerika geprägte
Bild von Coolness wurde die Marke auch in Europa cool“, bestätigt Bernhard Maier,
Mitglied des Porsche Vorstandes für Vertrieb und Marketing. Seit den 1950ern gab es
dort Rennerfolge reihenweise: „Sonntags siegen, montags verkaufen“ freuten sich die
Händler. In Porsche vernarrte Superstars wie James Dean, Steve McQueen und Paul
Newman taten ihr Übriges zum Markenaufbau. Porsche nennt das „die Vereinigung von
Literatur 61
Literatur
China ist dabei, sein Geschäftsmodell umzustellen. In den ersten drei Jahrzehnten der
Reformen, die 1979 von Deng Xiaoping initiiert wurden, schoben billige Ausfuhren und
umfassende Anlageinvestitionen die Wirtschaft an. Künftig jedoch soll der heimische
Konsum als Treiber für ein umweltverträglicheres und nachhaltiges Wachstum sorgen.
Diese Umstellung kann bei 1,3 Mrd. Einwohnern in der zweitgrößten Volkswirtschaft
auf dem Planeten nicht über Nacht bewerkstelligt werden. Sie wird einige Jahre dauern.
Und sie führt vorübergehend zu niedrigeren Wachstumsraten, weil Überkapazitäten in
der Industrie abgebaut werden müssen, da weiter steigende Löhne erst einmal für noch
mehr Kaufkraft sorgen müssen und da ein immenser Kapitalstrom langsam in ganz neue
Kanäle umgeleitet werden muss. Zudem verlangsamt sich die Urbanisierung etwas.
Weil gleichzeitig die Weltkonjunktur eine Verschnaufpause einlegt und Chinas Dyna-
mik zusätzlich drosselt, verlieren selbst gut informierte Beobachter bisweilen den Blick
für das große Bild. So sah die Neue Zürcher Zeitung im Juni 2015 das Reich der Mitte
„am Scheideweg“, mit der Gefahr einer „Stagnation auf mittlerem Niveau“ (Middle
Income Trap). (Müller 2015) Selbst die für gewöhnlich gut informierte South China
Morning Post räumte im August 2015 leise Zweifel ein: Asiens Aufholjagd gegen-
über dem Westen könne in einem Flaschenhals stecken bleiben. (Steinbock 2015) Und
die Ratingagentur Fitch sagt den bislang erfolgreichen Branchen Chinas – darunter der
Autoindustrie – für einige Zeit mittlere Wachstumsraten im einstelligen Bereich vorher.
(Leggett 2015) Produkt-, Preis- und Marketingstrategien, so Fitch, werden folglich in
China künftig noch entscheidendere Faktoren für den Erfolg werden.
Unter Insidern und Ökonomen hält sich die Aufregung über die geringere Schlag-
zahl in Chinas Wirtschaft in Grenzen. Erstens wissen sie, dass der Preis für die Umstel-
lung des Geschäftsmodells ein vorübergehend langsameres Wachstum ist. Zweitens ist
die mathematische Vergleichsbasis nach fast 40 Jahren stürmischen Wachstums relativ
hoch, sodass die prozentualen Zuwächse automatisch kleiner werden. Wächst China von
2015 bis 2019 um jeweils fünf Prozent pro Jahr, dann ist das in absoluten Zahlen ein
ebenso großer Zuwachs wie die zweistelligen Raten in den Jahren 2000 bis 2009. Bei
der Zweigstelle der US-Notenbank (Fed) in San Francisco wurde im August 2015 im
„Economic Letter“ die Gretchenfrage gestellt: „Ist Chinas Wachstumswunder vorbei?“
Die nüchterne Antwort in dem Papier lautete: „Wenn die jüngsten Reformpläne die
strukturellen Ungleichgewichte im Land beseitigen, dann kann China solides Wachstum
beibehalten und seine Transformation in ein Land mit hohen Einkommen reibungslos
gelingen.“ (Liu 2015; Übersetzung des Verfassers aus dem Englischen) Patrick Cho-
vanec, einer der renommiertesten Chinakenner unter den Ökonomen, sagt sogar, dass es
keinen großen Unterschied mache, ob die Transformation politisch erfolgreich gesteuert
werde – der Konsum werde in der Volksrepublik sowieso eine immer größere Rolle spie-
len. (DiBiasio 2015) Und dieselbe Neue Zürcher Zeitung, die China im Sommer 2015
„am Scheideweg“ sah, ließ drei Monate später den Firmenberater und Chinaexperten bei
„China Intelligence“, Joachim Rudolf, mit einer optimistischen Prognose zu Wort kom-
men: Grundsätzlich seien die chinesischen Firmen „sehr zuversichtlich“. (Baches 2015)
Selbst die Weltbank (2013), die in ihrer Langfrist-Prognose „China 2030 – Die Erschaf-
fung einer modernen, harmonischen und kreativen Gesellschaft mit hohen Einkommen“
Herausforderungen vorhersagt, die das Wachstum dämpfen werden, erwartet bis 2030
einen Anstieg des Konsums am Bruttoinlandsprodukt von 47 auf 66 %.
Hinzu kommt: Ein Land wie China, das die Größe eines Kontinents hat und das von
vielen dynamischen Zentren an der Ostküste, im umtriebigen Süden mit seinen Mega-
zentren Shenzhen und Kanton, am Jangtse-Fluss und im Nordosten zusammengehal-
ten wird, das bremst nicht überall gleich stark ab. Der AP Business in den USA bringt
den Vorteil verschiedener dynamischer Zentren und neu entstehender Nachfrage so auf
den Punkt: „China mag seinen Appetit für schwere Kipplaster, Eisenerz und Baukräne
zügeln, aber die Chinesen wollen reisen und ihren Kindern eine bessere Ausbildung
geben.“ (Murphy und Wiseman 2015; Übersetzung des Verfassers aus dem Englischen)
Im Klartext: Steigende Einkommen, die anhaltende Urbanisierung und die wachsende
Mittelschicht verlagern lediglich die Wachstumszentren. Es bilden sich neue dynami-
sche Treiber wie Dienstleistungen heraus. Wie sehr einzelne Branchen von der Transfor-
mation des Landes profitieren können, hat beispielsweise Adidas-Konzernchef Herbert
Hainer im August 2015 erklärt: „Mit dem zunehmenden Wohlstand wird Sport für die
Chinesen immer mehr zu einem Gesundheitsthema, das wird nun auch von der Regie-
rung stark gefördert und unterstützt.“ Das Fazit von Hainer: „Wir spüren in China nichts
von einer Krise, Bremsspuren können wir nicht erkennen“ (Merkur.de 2015). Ähnlich
beurteilt das trotz einer Beruhigung des Marktes die deutsche Autobranche, die davon
profitiert, dass der Markt – insbesondere für Premiumfahrzeuge – noch lange nicht gesät-
tigt ist. Das für seine guten Analysen bekannte Nikkei Asian Weekly, das von Japans Nik-
kei-Netzwerk herausgegeben wird, fühlt sich sogar bemüßigt, sein Publikum daran zu
erinnern, dass von China noch nie eine globale Krise ausgegangen ist (Kajiwara 2015).
Seit China seine Öffnungspolitik begann, hat es eine durchschnittliche Wachstums-
rate von fast zehn Prozent pro Jahr erreicht. Als Deng Xiaoping, der Vater der Reformen,
die bäuerlichen Kooperativen auflöste und das alte Planungssystem verwarf, war China
5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen 67
eines der ärmsten Länder der Welt, ärmer als Indien und viele Staaten südlich der Sahara.
Doch 35 Jahre später (2014) hat das Land laut dem IWF und der Weltbank eine wirt-
schaftliche Gesamtleistung von knapp 10,4 Billionen US$ erbracht. Das verfügbare Ein-
kommen der städtischen Bevölkerung und die Pro-Kopf-Einkommen im Hinterland sind
in den vergangenen zehn Jahren um 152 bzw. 97 % gewachsen. Mehr als 250 Mio. Chi-
nesen sind seit Beginn der Reformen aus dem bäuerlich geprägten China in die Wachs-
tumszentren entlang der Küste gewandert. Im Zuge dieser massiven Migration hat die
Urbanisierungsrate im Jahr 2012 die Marke von 50 % überschritten. Mehr als 500 Mio.
Chinesen sind der Armut entkommen. In den kommenden Jahren dürfte auch von der
Demografie wieder ein größerer Wachstumsbeitrag kommen, denn seit Oktober 2015
dürfen alle Ehepaare in China offiziell zwei Kinder haben. Die Einkindpolitik ist damit
beendet.
China ist im Verlauf der vergangenen Jahre der größte Automarkt, der führende Stah-
lexporteur und der größte Industriestandort auf dem Planeten geworden. Der Sozialis-
mus mit chinesischen Vorzeichen hat das Land in die Fabrik der Welt verwandelt und
China in Spitzenpositionen fast aller globaler Rankings gehievt. Auf seinem Weg in die
Moderne hat das Land zahlreiche Meilensteine passiert. Seit 2008 zählt es mehr Milli-
onäre als Frankreich. Mit Peking, Hongkong, Shanghai und Guangzhou finden wir vier
chinesische Flughäfen unter den 15 größten der Welt. China hat 2016 die USA als das
Land mit den meisten Ausgaben für Business-Reisen überholt. Hongkong und Shanghai
sind zwei der aktivsten Immobilienmärkte der Welt geworden. China ist auch Heimat der
weltweit meisten Internetnutzer sowie der größten Mobilfunk- und Luxusmärkte. Das
Land zählte laut dem China Internet Network Information Center (CNNIC) im August
2016 rund 710 Mio. Internetnutzer, davon 92,5 %, die regelmäßig von ihren Mobilgerä-
ten aus digitale Dienste nutzen. Und weil die Konsumenten in der Volksrepublik erfahre-
ner und anspruchsvoller werden und zwischen den verschiedenen Marken immer stärker
differenzieren, fallen Start-ups wie Xiaomi, die früh mit billigen Angeboten erfolgreich
waren, zugunsten von Anbietern mit höherwertigen Produkten bereits zurück. China hat
Ende der 2000er Jahre Deutschland als größte Exportnation abgelöst und überholte die
USA als größten Automarkt.
Da das Land sein jüngstes Wachstumskapitel bereits aufgeschlagen hat und sich
von einem Billigproduzenten zu einem mehr technologieorientierten Wettbewerber mit
eigenen Marken zu entwickeln beginnt, erzielt es bei internationalen Vergleichen auch
erstmals führende Plätze in Industrien der Zukunft. Es zieht beispielsweise schon mehr
Finanzinvestitionen im Bereich erneuerbare Energien an als Europa und die USA zusam-
men. Laut der UNCTAD ist China auch schon der größte Importeur und Exporteur in der
IT-Industrie. Und laut der Deutsche Bank Research ist China bereits Nettoexporteur von
F&E-Dienstleistungen gegenüber der EU (Meyer und Dyck 2011).
China ist jetzt in die dritte Phase seines langen Marsches in die Moderne eingetreten.
In der ersten Etappe, Ende der 1970er und Anfang der 80er Jahre, hat es die Kollekti-
vierung der Landwirtschaft beendet, die Pforten erstmals für ausländische Direktinves-
titionen geöffnet und freies Unternehmertum zugelassen. Doch der ganz überwiegende
68 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
Teil der Industrie blieb in staatlicher Hand. In der zweiten Phase der Reformen, in den
1990er und 2000er Jahren, wurden die Preiskontrollen aufgehoben und die Privatisierung
beschleunigt. Mitte der 2000er Jahre bestritt die Privatwirtschaft bereits 70 % des Brutto-
inlandsprodukts. Massive Urbanisierung, enorme Produktivitätszuwächse, eine Flutwelle
ausländischer Direktinvestitionen sowie enorme Ausfuhren haben Chinas Wirtschaft in
den vergangenen zwei Jahrzehnten angetrieben. Seit China 2001 der Welthandelsorgani-
sation beitrat, hat sich dieser Prozess enorm beschleunigt.
Für die Chinesen bedeutet dieser wirtschaftliche Aufstieg gewaltige Veränderungen.
Die Armut wurde stark reduziert, die Einkommensunterschiede nahmen drastisch zu, das
soziale Gefälle zwischen den Ballungszentren an der Küste und dem Hinterland erwei-
terte sich deutlich, die Umwelt wurde schwer geschädigt. Doch die Segnungen der Urba-
nisierung werden jetzt kleiner. Erwerbstätige Chinesen müssen die Pensionen von immer
mehr Senioren erwirtschaften. Und die Zahl der Erwerbstätigen beginnt jetzt abzuneh-
men. Schon 2012 ermahnte Vizepremier Li Keqiang seine Landsleute, China sei nun in
eine kritische Phase eingetreten, in der man es sich nicht leisten könne, Zeit zu verlieren.
Im Fünfjahrplan bis 2015 wurde der beschleunigte Wandel in eine mehr technologieori-
entierte Konsumgesellschaft erstmals festgeschrieben. Bis 2020 sollen laut dem laufen-
den 13. Fünfjahrplan die Privatfirmen durch besseren Marktzugang noch stärker werden,
die IT-Branchen stark expandieren und Innovationen ein Wachstumstreiber werden. Dass
der Wechsel zu einem neuen Geschäftsmodell immenser Strukturreformen bedarf – unter
anderem des wahrscheinlich endgültigen Aufbrechens der Staatswirtschaft – ist Chinas
Führung bewusst. Das für die Wirtschaft überragende Motto lautet seit einigen Jahren
„mehr Qualität statt Quantität“.
Unabhängig von den tatsächlichen Wachstumszahlen steht eines zweifelsfrei fest:
China wird in den kommenden Jahren mehr Geld in die Taschen seiner 1,3 Mrd. Ein-
wohner transferieren als je zuvor während der Reform- und Öffnungspolitik. Allein die
Verschiebung der Wachstumszentren in den Westen des Landes wird die Wirtschaft sta-
bilisieren. Westlich der Ostküste wachsen die Einkommen schon seit ein paar Jahren
schneller als in den Ballungszentren. Eine dritte Welle nach der Marktöffnung und der
Privatisierung ist mit dem Aufbau chinesischer Marken und der Ankurbelung des heimi-
schen Konsums in vollem Gange. Aus der Fabrik der Welt wird ein neues Innovations-
zentrum, in dem die Zahl besser bezahlter Jobs zunimmt und der Konsum steigt.
Einer der Ersten, die das vor vielen Jahren vorhergesehen haben, war Kai-Alexander
Schlevogt (2000). In einem Artikel für den China Business Review beschrieb er die kom-
mende Markenrevolution in China. Laut Schlevogts Schilderungen hat das Markenbe-
wusstsein in der Volksrepublik vier ausgeprägte Phasen durchlaufen. Der zentral geplanten
Kommandowirtschaft folgte eine Aufholphase, die in beinhartem Wettbewerb endete und
dann in eine postindustrielle Phase überging. In den beiden ersten Entwicklungsabschnitten
konzentrierten sich die chinesischen Manager auf die Angebotsseite. Dann wechselte die
Aufmerksamkeit auf die Nachfrageseite. Schlevogt (2000) zufolge steuerte in der Anfangs-
phase die Produktion in China die Allokation von Ressourcen: „Die starke Hand der Regie-
rung teilte Produkte zu bestimmten Zeiten bestimmten Verbrauchern zu. Das Umwerben
5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen 69
von Kunden und die Suche nach Wettbewerbsvorteilen durch Marken war nicht gefragt.“
Leistungsanreize der Hersteller schwankten zu dieser Zeit. Sie hingen von der hierarchi-
schen Stellung der Empfänger ab. Leistungsanreize konnten zum Beispiel Beförderungen
sein oder der privilegierte Zugang zu Waren, Produktionsmaterial, Boni, schöne Abendes-
sen oder Nahrungsmittel.
Während der Aufholphase versuchten die Firmen, sich auf der Jagd nach Kapital
und Technologie gegenseitig abzuhängen. Laut Schlevogt (2000) konnten sie „alles,
was sie herstellten, an einen jungfräulichen Markt mit enormem Nachholbedarf ver-
kaufen“. Der Druck, sich durch bessere Marken hervorzuheben, war gering. Schlevogt
(2000) beschrieb aus diesen Tagen in China ein vielsagendes Beispiel. Als japanische
Kanäle chinesischen Rundfunkveranstaltern freiwillig Programme zur Verfügung
stellten, wollten sie im Gegenzug freie Werbezeiten in den chinesischen Sendungen
haben. Die Chinesen stimmten sofort zu, weil sie glaubten, einen phänomenal güns-
tigen Deal gemacht zu haben. Aber am Ende öffnete dieses Abkommen die Schleusen
für japanische Markenprodukte und bescherte ihnen viele Millionen von chinesischen
Zuschauern. Die trojanische Kriegslist, wie Schlevogt (2000) dieses Vorgehen der Japa-
ner nannte, schuf starke Wettbewerbspositionen für die Japaner, die später nur schwer
angreifbar waren.
Was in den 1990er Jahren folgte, war Wettbewerb in Reinkultur. Fabriken mit ähnli-
chen Produkten und Leistungsmerkmalen überfluteten die jungen Konsummärkte. Dis-
tribution, Verkauf und After-Sales-Service waren kaum entwickelt. Die Einzelhändler
füllten ihre Regale mit No-Name-Produkten, die bei den Konsumenten nicht sonderlich
beliebt waren und eher zufällig ausgewählt wurden. Weil der Preis der wichtigste Wett-
bewerbsfaktor war, folgten Preiskriege. Das änderte sich erst, als verstärkt ausländische
Marken nach China drängten. Nun waren Chinas Hersteller herausgefordert. Jetzt muss-
ten sie wachsen und eigene Marken aufbauen. Gleichzeitig entstanden neue Marktseg-
mente, und das Konsumverhalten änderte sich. Die uniformierten Kunden aus der Ära
von Mao Zedong gehörten der Vergangenheit an. Geschmäcke und Kaufmotive wurden
zahlreicher. Die reichen Chinesen wollten Autos, Schmuck und Luxusuhren, selbst wenn
sie Tausende US-Dollar kosteten. „Du bist, was Du kaufst“, wurde zum neuen Mantra
der Superreichen. Der Übergang zur Phase der Post-Industrialisierung begann Anfang
der 2000er Jahre. Die aufkommende Mittelschicht begann, Kosmetik, Handtaschen und
schöne Bekleidung zu kaufen. Die Nachfrage stieg an, es gab mehr Marken, heimische
Wettbewerber holten auf. Chinas Beitritt zur WTO sorgte für mehr Wettbewerb durch
ausländische Marken. In diesem neuen Abschnitt waren die Firmen gezwungen, auf
eine höherwertige Produktion auszuweichen und bei einzelnen Produkten mit dem Mar-
kenaufbau zu beginnen. Es reichte nicht mehr, ein Produkt einfach ins Regal zu legen.
Investitionen in fortlaufende und auffällige Werbung wurden eine Voraussetzung, um
überhaupt Aufmerksamkeit bei den Konsumenten zu erregen. Nach Beobachtung von
Schlevogt (2000) begannen große chinesische Provinzen, Ausstellungen und Wettbe-
werbe für die besten Marken zu veranstalten, darunter die „China Jiangsu Fair of Celeb-
rated Brands“. Die Ära der Marken hatte begonnen.
70 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
In dieser jüngsten Phase der Entwicklung wandelte sich China laut Schlevogt (2000)
schnell zu einer „von Marken und Innovation getriebenen Wirtschaft“. Die entstehende
Mittelschicht wuchs zu einer richtigen Mittelklasse heran, die Premiumprodukte ver-
langt und die Nachfrage nach internationalen wie lokalen Premium-Produkten anheizt.
Qualität ist nicht länger das entscheidende Alleinstellungsmerkmal, um sich von Wett-
bewerbern erfolgreich zu differenzieren. Unternehmen müssen mit Marken aufwarten,
die viel präziser auf ein spezifisches Segment in einem Markt mit viel mehr individu-
ellen Bedürfnissen zielen. Marken brauchen jetzt eine klare Positionierung, ein attrak-
tives Wertversprechen, eine eigene Story und Geschichte sowie einen ganz besonderen
Charakter, um Erfolg zu haben. Hervorzustechen ist nicht nur wünschenswert, es ist in
vielen Fällen sogar lebensnotwendig, weil es in vielen Industrien große Überkapazitä-
ten gibt. In Industrien wie Nahrung und Getränke, Telekommunikation, Haushaltsgeräte,
Chemie, Finanzdienstleistungen und in einigen B2B-Sektoren sind starke lokale Wett-
bewerber entstanden. Diese neuen Mitstreiter, viele von ihnen mit starken Verbindungen
zum Staat, haben ihre Wettbewerbsfähigkeit deutlich verbessert und denken über eine
Expansion nach Übersee nach. Sie treiben verstärkt eigene Entwicklungen voran und
schützen ihre Marken. Der Markenaufbau wird raffinierter und mit immer mehr Kapi-
taleinsatz vorangetrieben. Bei der Expansion nach Übersee helfen weltweit aufgestellte
Agenturen und deren lokale Ableger. China hat bereits bewiesen, dass es erfolgreich
große internationale Marken wie Volvo oder das PC-Geschäft von IBM übernehmen
und dabei behutsam das existierende Management und die Marke nutzen kann. Was die
Markenentwicklung angeht, liegt der Fokus in dieser Phase auf der Individualisierung,
dem Ausweichen auf höherwertige Marken, überlegenen Dienstleistungen und teureren
Premiumprodukten. Viele chinesische Firmen und deren Management sind dabei sehr
offen für digitale Strategien, und sie ergreifen begierig jede Gelegenheit, die digitale und
mobile Anwendungen ihnen bieten. Die große Frage mit Blick auf die Zukunft ist diese:
Wird es China gelingen, seine Wirtschaft so grün und nachhaltig zu entwickeln, wie es
im jüngsten Fünfjahrplan steht?
Die Abb. 5.1 gibt einen Überblick über die verschiedenen Phasen bis hin zum aktuel-
len Abschnitt der „Marken- und Innovationswirtschaft“.
Von PCs über Smartphones und Solarpanel bis hin zu Schnellzügen und Atomkraft-
werken: Chinas Hersteller gewinnen in vielen Branchen rund um die Welt mit atembe-
raubendem Tempo Marktanteile. Und immer öfter setzen sie sich an die Spitze ganzer
Industrien, oft mithilfe spektakulärer Übernahmen. Der Computerhersteller Lenovo, der
2005 als verspotteter Emporkömmling die PC-Sparte von IBM gekauft hatte, nahm 2013
Hewlett-Packard die globale Spitzenposition in der Branche ab. Inzwischen ist Lenovo
sogar unter europäischen Konsumenten eine einigermaßen vertraute Marke. Bis an die
Spitze brauchte der chinesische Konzern nur acht Jahre. Anfang 2014 erwarb Lenovo
Orientierung auf
Angebotsorientierung Bedarfsorientierung
Markenführerschaft
Nachindustrielle
Planwirtscha „Au
olphase“ Hyper-Webewerb Markenbasierte Wirtscha
1980er Jahre 1990er Jahre Phase
1949-78 2010-
2000er Jahre
Hauptcharakteriska
• Veränderung ausländischen • Druck in Richtung Internationalisierung
der Präferenzen Wettbewerbs nach chinesischer Supermarken und Nutzung des
WTO-Eintritt Chinas heimischen Marktpotenzials als Grundlage für
5.1 Der Aufstieg chinesischer Marken-Champions
internationale Expansion
Erfolgsfaktoren
Vorgaben decken zu wirtschaftliche Werte nehmen, die über wichtige Technologien
kapazitäten
können und Branchen- verfügen
konsolidierung • Rasche Digitalisierung der Wirtschaft und
umfassende Nutzung von E- und M-Commerce
Abb. 5.1 Chinas Entwicklung von einer Planwirtschaft zu einer Marken- und Innovationswirtschaft. (Quelle: globeone 2015 nach Schlevogt 2000)
71
72 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
von Google die defizitäre Tochter Motorola für 2,9 Mrd. US$. Das beschleunigte den
Einstieg des chinesischen Unternehmens ins Geschäft mit Smartphones und Tablets.
Kurz zuvor hatte Lenovo für 2,3 Mrd. US$ auch einen Teil des Server-Geschäfts von
IBM übernommen. Die strategische Einkaufstour addierte sich binnen Tagen auf mehr
als fünf Milliarden US-Dollar.
Ein weiterer chinesischer Champion mit großen Ambitionen und Erfolgen ist Huawei.
Chinas führender Telekommunikationsausrüster verkauft so ziemlich alles, was Telefon-
netze zum Laufen bringt. Er stieg 2013 mit einem Umsatz von knapp 40 Mrd. US$ zur
Nummer eins vor Ericsson und Cisco auf. Das Unternehmen wurde erst 1987 gegründet,
beliefert aber schon 45 der 50 größten Netzbetreiber der Welt. Huawei ist in kürzester
Zeit ein Topanbieter für die vierte Generation superschneller Mobilfunknetze geworden
und hat sich als Systemlieferant von Japans Softbank, Indiens Bharti Enterprises und
China Mobile gegen internationale Konkurrenz durchgesetzt. Jeder zweite der 170.000
Mitarbeiter bei Huawei wird außerhalb Chinas beschäftigt. In Europa arbeiten für das
Unternehmen über 10.000 Menschen, jeder siebte davon in Forschung und Entwicklung.
Huawei investiert 14 % seiner Verkaufserlöse in F&E, ein Kraftakt, der die technische
Führung abrunden und zementieren soll.
Entwicklungszentren wurden unter anderem in München, Paris, Moskau, Bangalore
und Dallas aufgebaut. Fast die Hälfte der Belegschaft bei Huawei ist an der Erforschung
oder Entwicklung neuer Produkte beteiligt. Über zwei Drittel des Umsatzes werden
bereits außerhalb Chinas gemacht. Weltweit nutzt mittlerweile jeder dritte Mensch Tele-
kommunikationstechnik von Huawei in irgendeiner Form.
Es gibt inzwischen viele solcher Beispiele. Der Haushaltsgerätekonzern Haier ist
längst der weltweit führende Produzent von Hausgeräten. Auf dem Weltmarkt für Smart-
phones jagt eine chinesische Verfolgergruppe die Marktführer Samsung und Apple. Mitt-
lerweile sind sieben der zehn größten Smartphone-Anbieter in China angesiedelt: Geht
es nach Absatzzahlen, dann heißen die neuen Champions Huawei, Oppo, Xiaomi, Vivo,
ZTE, Lenovo und TCL (Leistikow 2016). Die chinesischen Aufsteiger nutzen den riesi-
gen lokalen Markt, der schon mehr als ein Drittel der weltweiten Verkäufe ausmacht, als
Sprungbrett.
Auch die Autohersteller aus dem Reich der Mitte holen auf. Der chinesische Neu-
ling Qoros, ein Joint Venture zwischen Chery Automobile und der Investment-Holding
Israel Corp. in Tel Aviv, führte im September 2013 den Qoros 3 in der Slowakei ein. Das
Magazin Focus urteilte im August 2016 nach einem Test des Qoros 3, der viel deutsche
Spitzentechnik enthält, das Ergebnis „kann sich sehen lassen“ (Viehmann 2016). Es ist
nicht der erste Anlauf eines chinesischen Herstellers auf dem Alten Kontinent mit seinen
markenbewussten und kritischen Käufern. Aber es könnte der erste sein, der von Erfolg
gekrönt wird. Aus zwei Gründen: Der Qoros 3 ist das erste Pkw-Modell aus der Volks-
republik, das vom Euro NCAP – hinter dem europäische Regierungen und Konsumver-
bände stehen – die Bestnote von fünf Qualitäts-Sternen erhielt. Mehr noch: Der Qoros 3
bekam 2013 für den Schutz erwachsener Insassen das beste Testergebnis aller geprüften
Autos in Europa. Das ist Welten von dem Debakel entfernt, das sechs Jahre zuvor die
5.1 Der Aufstieg chinesischer Marken-Champions 73
Peking forciert seit Jahren gezielt und mit hohem Kapitaleinsatz die 1999 formu-
lierte „Going-Out“-Kampagne. Die Initiative soll die Internationalisierung chinesischer
Firmen beschleunigen und den Aufbau globaler Marken fördern – ein zentrales Ziel,
das auch im Fünfjahrplan bis 2015 prominent formuliert war und weiterhin eine hohe
Priorität genießt. Zu den bekannten Übernahmen im Rahmen dieser Kampagne gehö-
ren der Erwerb der PC-Sparte von IBM durch Lenovo, der Kauf von 60 % des italieni-
schen Bau- und Maschinenunternehmens Compagnia Italiana Forme Acciaio durch die
von der Provinz Hunan kontrollierte Zoomlion sowie zwei Milliarden-Deals, die noch
vor der Unterzeichnung platzten: Das 19,5 Mrd. US$-Investment von Chinas Rohstoff-
konzern Chinalco in Australiens Rio Tinto und die 2009 geplante Übernahme von Hum-
mer, der inzwischen eingestellten Benzinschlucker-Marke von General Motors, durch die
Sichuan Tengzhong Heavy Industrial Machinery Company. Der wachsende Anteil pri-
vater Firmen an der globalen Expansion Chinas ist ein Versuch der Regierung, den zu
Hause benachteiligten Privatfirmen durch Wachstum im Ausland eine bessere Position
im Kampf gegen die oft übermächtige Staatsindustrie zu verschaffen und die staatlichen
Industrie-Giganten, die gegen Reformen erheblichen Widerstand leisten, mit Hilfe von
außen aufzubrechen.
Viele chinesische Firmen scheinen in der ersten Phase der globalen Expansion
zunächst auf den Erwerb von westlichen Marken zu setzen, um Zeit und Geld zu spa-
ren. Und manche von ihnen kommen mit dieser „Abkürzung“ zum Markenstatus schnell
voran. Viele chinesische Firmen scheinen in der ersten Phase der globalen Expansion
zunächst auf den Erwerb westlicher Marken zu setzen, um Zeit und Geld zu sparen. Und
manche von ihnen kommen mit dieser „Abkürzung“ zum Markenstatus schnell voran.
Andere von ihnen versuchen derweil, die Vorbehalte westlicher Verbraucher gegen das
China-Image dadurch zu umgehen, dass sie nicht „chinesisch“ aussehen oder erschei-
nen. „Wir gehen nirgends mit der Idee hin, dass wir eine chinesische Firma sind“ (Rhally
2014), wird bei Lenovo erklärt. Der Name zeigt ja, dass man sich bei dem Tech-Unter-
nehmen keinen allzu chinesischen Anstrich geben und stattdessen als internationales
Unternehmen gesehen werden will. Ein anderes Beispiel kommt aus der Textilindus-
trie: Chinesische Firmen in dieser Branche kaufen immer öfter finanziell ausgezehrte,
aber etablierte italienische Produzenten mit gutem Namen. Die Marken werden nach der
Übernahme umgehend auch in China registriert. Produziert wird aber – wegen des hilf-
reichen Images des Herkunftslandes – weiter in Italien. Das neue Ursprungsland China
wird schlicht getarnt.
Bei Kosmetik und Luxusgütern fahren Chinas Aufsteiger gerne Trittbrett und lassen
sich mit ihren Geschäften in Europa und den USA bevorzugt in der Nachbarschaft renom-
mierter Läden von westlichen Edelmarken nieder. Einen regelrechten französischen
„Touch“ hat sich der Smartphone-Produzent Wiko gegeben. Er gehört zur chinesischen
5.1 Der Aufstieg chinesischer Marken-Champions 75
Geschwindigkeit der Schlüssel zum Erfolg ist – und hier werden mitunter Abstriche bei
der Qualität und Funktionalität in Kauf genommen, solange das Produkt einen gewissen
Fun-Faktor mitbringt, über den sich die chinesischen Konsumenten zum Beispiel in den
sozialen Netzwerken austauschen können. (Chan 2016) All das also trägt zu einem inno-
vationsfreundlichen Umfeld bei, in dem Start-ups wachsen und von dem aus chinesische
Marken den Sprung in die Liga der globalen Markenchampions wagen können.
Universität München und Munich Innovation Group (2012) in ihrer bemerkenswert aus-
führlichen und detaillierten Studie „Chinese Champions“ zu dem eindeutigen Ergebnis,
dass immer weniger chinesische Unternehmen auf Imitation setzen. Für die meisten
spielt dagegen selbst entwickeltes geistiges Eigentum eine dominante Rolle in ihrem
Geschäftsmodell. Das Papier zählt reihenweise Industrien mit anspruchsvollem Know-
how und hohen Forschungsausgaben auf, in denen die Herausforderer aus China rasant
Boden gutmachen: Für andere Branchen wie Energie, Chemie und Pharmazie zeigen die
Analysen aktuell stark zunehmende Aktivitäten.
Scharfe Konkurrenz mit westlichen Firmen auf ihren Heimatmärkten sowie die starke
Hand der Regierungen und billige Kredite der lokalen Banken sind nicht die einzigen Trei-
ber für die Aufholjagd bis in Hightech-Industrien hinein. Ein weiterer ist das geografisch
weit gefächerte Netz von Lieferketten, das China sich seit dem Beitritt zur WTO im Jahr
2001 in ganz Asien aufgebaut hat. In einem Papier der Asiatischen Entwicklungsbank heißt
es, die Lieferketten der Fabrik Asien hätten es den Ländern der Region einfacher gemacht,
in die Fertigung anspruchsvoller Güter einzusteigen. (Banomyong 2010) Ein Paradebei-
spiel für diesen Aufstieg ist Chinas Spezialchemie-Shootingstar Tianhe Chemicals. Das
Unternehmen ging 2014 in Hongkong an die Börse. Der Fluorit-Hersteller hat sich in den
vergangenen zehn Jahren auf Halogene spezialisiert und eine Lücke in Chinas kollektivem
Know-how geschickt genutzt. In den späten 1990er Jahren war China bereits der weltweit
größte Förderer von Flussspat, das für die Stahlbranche wichtig ist, weil es den Schmelz-
punkt von Erzen senkt. Das Mineral wird aber auch für die Herstellung von Glas und als
Zutat für hochwertige Spezialchemikalien verwendet. China exportierte lange Zeit den
Rohstoff und kaufte später die Produkte, die mit dessen Hilfe hergestellt wurden, teuer im
Ausland ein. Tianhe wollte das ändern. Es lud US-Experten zur Kooperation in die Provinz
Liaoning ein und baute sein eigenes Geschäft auf. Jetzt ist es einer der fünf größten Her-
steller weltweit für Zusatzstoffe von industriellen Schmiermitteln, hinter dem Marktführer
Lubrizol aus den USA. Hinter DuPont ist es zur globalen Nummer zwei bei Fluor-Chemi-
kalien aufgestiegen. Das sind Stoffe, die unter anderem in der Elektroindustrie, zur Ober-
flächenbehandlung oder zur Herstellung wasserabweisender Textilien eingesetzt werden.
Tianhe benötigte für den Aufstieg an die Spitze nur ein knappes Jahrzehnt. Manche
westlichen Wettbewerber sind schon zehnmal so lange am Markt. China macht sich mit
rasendem Tempo derzeit auch in der Herstellung von Phenolen breit. Das sind organi-
sche Verbindungen, die vor allem als Zwischenprodukt in der Kunststoffproduktion
dienen. Für Neulinge in der Industrie gilt die Produktion von Phenolen als technische
Herausforderung. Doch Chinas neue Champions spielen bereits die in Asien führenden
Japaner an die Wand. 2014 hat die Volksrepublik erstmals mehr Phenole produziert, als
sie verbrauchte, was sie zu einem Netto-Exporteur macht. Seit 2009 hat sich die Ferti-
gungskapazität in China auf 1,5 Mio. Tonnen verdoppelt. Das zwang den zweitgrößten
Phenol-Produzenten der Welt, Mitsui Chemicals, 40 % seiner Fertigung in Japan abzu-
bauen und stattdessen mit Sinopec in China zu produzieren.
Chinas neue Champions brillieren nicht nur mit Technologieprodukten, sie zei-
gen auch, dass sie etwas von Eleganz verstehen. Ihre Vorstöße erreichen auch die
5.3 Scharfer internationaler Wettbewerb 79
Obwohl sich das Wachstum der Gesamtwirtschaft verlangsamt, expandiert Chinas Kon-
sumgütermarkt dank weiterhin kräftig steigender Konsumausgaben rasant. Steigende
Löhne und die anhaltende Urbanisierung sind kräftige Treiber. Zudem wandert die Nach-
frage im Reich der Mitte weiter nach Westen und in die kleineren Städte. Höhere Löhne
sorgen dafür, dass viele Chinesen sich immer bessere Produkte derselben Kategorie leis-
ten können („trading up“). Zudem stellen Marktforscher und Analysten fest, dass das
Interesse an internationalen Marken nach wie vor sichtbar zunimmt. Doch die internatio-
nalen Marken stehen vor einer Herausforderung: Sie müssen mit billigeren lokalen Pro-
dukten konkurrieren, ohne ihr Image zu verwässern.
Westliche Marken wie Adidas und Nike betreiben mehrere tausend Läden in China.
Weltweit aufgestellte Retailgiganten wie Wal-Mart und Carrefour haben sich im chine-
sischen Supermarkt-Sektor etabliert. Ihr Ansturm war schon im vergangenen Jahrzehnt
so stark, dass die Zwei-Millionen-Stadt Changsha in Hunan, wo Mao Zedong geboren
wurde, allein 40 Hypermärkte zählte. Die scharfe Konkurrenz, vor allem mit aufstreben-
den chinesischen Wettbewerbern, forderte schnell die ersten Opfer. Die britische Tesco
80 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
kündigte im August 2013 an, dass sie 80 % ihres Geschäfts an den größten chinesischen
Wettbewerber, die staatliche China Resource Enterprise, verkauft. Zu diesem Zeitpunkt
hatte Tesco bereits zwei Milliarden Euro in China investiert. Für Amerikas Technolo-
gie-Liebling Apple zum Beispiel ist China von einem vernachlässigbaren Markt zum
Kernmarkt für die künftige Expansion aufgestiegen, obwohl lokale Wettbewerber der
US-amerikanischen Kultmarke immer stärker zusetzen. Der Smartphone-Absatz des US-
Unternehmens ist in China bereits größer als in Europa. Doch die lokalen Konkurrenten –
von Huawei über Xiaomi bis hin zu ZTE – machen Apple das Leben schwer, nicht nur
mit günstigen Preisen, sondern auch und vor allem mit immer besseren Leistungsmerk-
malen. Dennoch: Ende 2014 machte China mit einem Umsatz von 16,1 Mrd. US$ knapp
ein Fünftel der weltweiten Verkäufe des neuen iPhone 6 aus. Das war ein Umsatzplus für
das Apple-Produkt von 70 % im Jahresvergleich. Der Anteil Chinas am Apple-Geschäft
stieg auf mehr als 21 % (Spiegel Online 2015; Abb. 5.2). Selbst die negativen Schlagzei-
len über den Apple-Lieferanten Foxconn, wo Selbstmorde und Arbeitsbedingungen von
Mitarbeitern für Aufsehen sorgten, konnten diesem Erfolg keinen Abbruch tun.
Die US-amerikanischen Fast Food-Ketten haben sich sehr früh auf den Weg nach
China gemacht und dabei einigen Erfolg gehabt. YUM ist dabei viel erfolgreicher gewe-
sen als jedes andere US-Unternehmen. Über 4500 KFC- und Pizza-Hut-Restaurants
trugen schon zu Beginn dieses Jahrzehnts etwa die Hälfte zum operativen Gewinn von
YUM bei. McDonald’s zum Beispiel konnte in den zwei Jahren bis 2013 die Zahl seiner
Restaurants in China um 700 auf 2000 steigern. Im März 2016 kündigte das Unterneh-
men an, die Zahl seiner Restaurants in China binnen fünf Jahren auf 3500 mehr als zu
verdoppeln. Auch deutsche Autohersteller setzen trotz der nachlassenden Wachstums-
raten weiterhin auf China. Volkswagen setzt in der Volksrepublik jedes dritte Auto ab.
Das Unternehmen hat eigens einen Vorstandsitz für China geschaffen. Nirgends betreibt
der Konzern mehr Produktionsstätten als in China. Laut Firmenangaben wurden bereits
21%
2%
2009 Q4 2014
5.3 Scharfer internationaler Wettbewerb 81
Events. Inzwischen hat Peking auch den Zuschlag für die Winterspiele im Jahr 2022
bekommen.
China ist ein Markt mit 1,3 Mrd. Menschen, die von der Regierung zu Sport und Fit-
ness angehalten werden die zunehmend das Geld für qualitativ hochwertige Sportartikel
haben und es auch dafür ausgeben wollen. Coca-Cola, McDonald’s und Samsung haben
jeweils 100 Mio. US$ auf den Tisch geblättert, um globaler Sponsor für die Spiele 2008
zu sein. Abb. 5.3 zeigt eine Aufnahme der Eröffnungszeremonie im Pekinger Olympia-
stadion „Bird’s Nest“.
Eine von vielen Erklärungen für Chinas rasante Aufholjagd seit Beginn der Reformen
besteht darin, dass es inzwischen viel leichter geworden ist, eine neue Firma zu gründen.
Der Trendforscher und Zukunftsexperte John Naisbitt behauptet sogar, in China gebe es
mehr Unternehmergeist, während in Europa das politische Klima für Start-up-Unternehmen
schwieriger würde. (Stöcker 2010) Doch China ist kein einfaches Terrain für internationale
Unternehmen. Steigende Löhne, undurchsichtige Regulierung, Protektionismus und teure
Zertifizierungen sind nur ein paar der Herausforderungen, mit denen sich westliche Marken-
firmen im Reich der Mitte konfrontiert sehen. Selbst große Konzerne wie Apple und VW
haben unliebsame Überraschungen erlebt. Apple machte monatelang negative Schlagzeilen
Abb. 5.3 China kehrt endgültig auf die Weltbühne zurück – Eröffnungszeremonie der Olympi-
schen Spiele 2008 im Nationalstadion Beijing. (Quelle: Schaffmeister 2008)
5.3 Scharfer internationaler Wettbewerb 83
wegen vieler Überstunden und der schlechten Bezahlung von Mitarbeitern beim Lieferanten
Foxconn. Manche Firmen verlassen China wieder, wie die Baumarktkette Obi. Das Unter-
nehmen betrieb 13 von 100 geplanten Märkten, als es 2005 nach einer Auseinandersetzung
mit seinem lokalen Partner Haier und dem Verlust des chinesischen Management-Teams die
Reißleine zog. Prüfer und Landmann (o. J.) deuteten das Beispiel Obi damals so: „Das Bei-
spiel zeigt deutlich: Das Verhalten chinesischer Business-Partner ist vor allem eines: unbere-
chenbar – aber nur nach deutschen Maßstäben.“
China wird in den kommenden Jahren gerade für solche Unternehmen, die sich dort
nicht niederlassen, schwieriger werden. Einer der großen Trends in der Weltwirtschaft
ist derzeit die Expansion chinesischer Firmen über ihre Landesgrenzen hinaus, vor allem
auch nach Europa. Die neuen Wettbewerber profitieren vor allem von ihrem riesigen
Heimatmarkt und einer wachsenden Innovationskraft, wie eine Studie von McKinsey im
Oktober 2015 verdeutlicht. (Roth et al. 2015) Darin heißt es zum Beispiel, China pro-
fitiere von der schieren Größe seines Konsummarktes, der es den Firmen erlaube, neue
Ideen schnell in Produkte mit großer Stückzahl umzusetzen. Selbst relativ kleine chine-
sische Märkte wie Online-Kasinos seien größer als die Autoindustrie in Thailand oder in
der Türkei. Chinesische Unternehmen hätten es gelernt, die Anforderungen ihres Mark-
tes in einem rasch urbanisierten Land zu erkennen und dafür zügig die entsprechenden
Produkte zu entwickeln.
Eine Welle von Übernahmen im Westen lässt die chinesischen Herausforderer dabei
oft eine Größe erreichen, die es erlaubt, selbst etablierte Marktführer im Westen anzu-
greifen. Firmen in Deutschland und anderen Ländern des Westens haben in dieser Situ-
ation nur zwei Optionen. Die erste ist mehr Wachstum in den Heimatmärkten. Das aber
ist wegen schrumpfender und vergreisender Gesellschaften schwierig – und weil mehr
neue Konkurrenten aus den Schwellenländern in den Wettbewerb eintreten. Die zweite
ist eine Expansion in die Schwellenmärkte, in denen sich lernen lässt, wie man mit den
neuen Konkurrenten umgeht. Das ist wichtig, um sich beizeiten auf deren Vorstoß in die
Heimatmärkte einzustellen, bevor es dort noch enger wird.
Dieser Aspekt ist von außerordentlicher Bedeutung, weil China in vielen Industrien
künftig ein technischer Trendsetter werden wird und auch in Sachen Management neue
Akzente setzen dürfte. Westliche Firmen, die dieser Herausforderung aus dem Weg
gehen, könnten in nicht allzu ferner Zukunft durch eine neue Form des Wettbewerbs, die
niedrige Kosten mit hoher Qualität verbindet, aus dem Markt gedrängt werden. Einer
der besten Wege, dies zu vermeiden, ist, wenn man China nicht nur zu einem Dreh-
kreuz seiner Fertigung und seines weltweiten Vertriebs macht, sondern auch zu einem
neuen F&E-Zentrum, um den neuen Markt mit präzise auf die dortigen Kundenwünsche
zugeschnittenen Produkten zu öffnen. Die Deutsche Bank Research hat bereits 2011 im
Detail beschrieben, wie vor allem China und Indien immer mehr F&E ausländischer Fir-
men anziehen. (Meyer und Dyck 2011) Dieser Trend hält an. Laut einer Untersuchung
der Deutschen Bank hat sich der Anteil der F&E-Budgets deutscher Firmen in den aus-
ländischen Niederlassungen in den vergangenen 20 Jahren auf 20 % verdoppelt. Die For-
schung folgt der Produktion, dieser Trend verstärkt sich von Jahr zu Jahr. Als die Studie
84 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
der Deutschen Bank gedruckt wurde, beschäftigte Siemens in den BRIC bereits 19 %
seiner weltweiten Wissenschaftler. Laut der OECD macht die F&E ausländischer Firmen
in China bereits 30 % aller F&E-Ausgaben aus. Chinas Firmen müssen angesichts die-
ser Aufrüstung – und weil ihre Kunden anspruchsvoller werden – nachrüsten. Wenn die
Prognose des „2014 Global R&D Funding Forecast“ des F&E-Experten Battelle zutrifft,
dann wird China zu Beginn des kommenden Jahrzehnts die USA bei den gesamten F&E-
Ausgaben überholen. Japan wurde von China bereits überflügelt. Damit beschleunigt
sich der Wissenstransfer von West nach Ost. Wer die Inside-Story von Chinas Aufholjagd
nicht kennt, weil er es versäumt, auf diesem Markt dabei zu sein, könnte in der Zukunft
schwer vom Markt dafür bestraft werden.
Eine Expansion nach China ist aber gar nicht so einfach. Der Wissenstransfer von
West nach Ost weist nämlich auf eine grundsätzliche Problematik in den wirtschaftlichen
Beziehungen zwischen China und anderen westlichen Industriestaaten hin. Während die
„Going-Out“-Initiative der kommunistischen Führung darauf abzielt, dass chinesische
Unternehmen durch die Akquise von europäischen und US-amerikanischen Unterneh-
men zum Zwecke der Produktdiversifizierung, Qualitätsverbesserung und Erschließung
neuer Märkte an westliches Know-how gelangen, können ausländische Unternehmen im
Gegenzug nur unter sehr strikten Vorgaben in China investieren. Häufig sind sie sogar
auf Joint Ventures angewiesen, um überhaupt auf dem chinesischen Markt aktiv werden
zu dürfen. Auch wenn ihnen so zunächst ein lokales Netzwerk zur Verfügung steht, birgt
das die große Gefahr, Geschäftsgeheimnisse an die chinesische Konkurrenz preisgeben
zu müssen.
Mittlerweile hat in den westlichen Industriestaaten aber ein Umdenken begonnen.
Das Ziel der kommunistischen Führung, den Westen in bestimmten Schlüsseltechno-
logien zu überholen, hat zu einer Angst vor dem Ausverkauf der heimischen Industrie
geführt – insbesondere in Deutschland, das auch 2016 das bislang bevorzugte Investiti-
onsziel der Chinesen war. Die Übernahme des Roboterherstellers Kuka durch den chi-
nesischen Elektrokonzern Midea dürfte diese Befürchtungen befeuert haben, ebenso
die Übernahmen von EEW, Krauss-Maffei oder Putzmeister. Allein im ersten Halbjahr
2016 übertraf das Transaktionsvolumen chinesischer Unternehmen in Deutschland mit
10.773 Mrd. US$ bei Weitem die Investitionen der Vorjahre (2006 bis 2015). (EY 2016)
Jörg Wuttke, der Präsident der Europäischen Handelskammer in China, kommentierte
das so: „Es kann ja nicht sein, dass China sich in Europa an einem reichhaltigen Buffet
bedienen kann und die Europäer bekommen in China nur karge Hausmannskost.“ (Kamp
et al. 2016) Erstmals aktiv unterbunden wurde schließlich die Übernahme von Aixtron –
zunächst widerrief der Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel seine Unbedenklich-
keitserklärung, und dann legte Barack Obama, der Präsident der Vereinigten Staaten, in
denen Aixtron eine Niederlassung führt, sein Veto gegen die Übernahme ein. Vordergrün-
dig begründeten das die verantwortlichen Politiker mit sicherheitspolitischen Bedenken
über die mögliche militärische Nutzung von Aixtron-Produkten. In der Diskussion um
die Übernahme hat zumindest auf deutscher Seite zweifelsohne aber auch das Ungleich-
gewicht in den deutsch-chinesischen Investitionsbeziehungen eine Rolle gespielt.
5.4 Einkommensstruktur in China 85
Wenn man die „China Rich List 2015“ (Hurun Report 2015) liest, könnte man mei-
nen, die Volksrepublik sei ein Millionärsparadies mit sozialistischen Vorzeichen. Ganze
596 US$-Milliardäre finden sich dort. Damit hat China erstmals die USA überflügelt.
Die Zahl der Superreichen (mit einem Vermögen von mehr als 30 Mio. US$) insgesamt
hat derweil sogar 1877 erreicht. Die meisten Neuzugänge stammen aus der Industrie, vor
allem aus dem IT-Sektor. Die 1877 Reichen auf der Hurun-Liste für China beschäftigen
zehn Millionen Chinesen. Das sind mehr als ein Prozent aller Beschäftigten in der Volks-
republik. Und sie tragen vier Prozent zu den Steuereinnahmen der Volksrepublik bei.
Im Klartext: Eines der am schnellsten wachsenden „Assets“ des aufsteigenden China ist
seine kapitalistische Elite. Sie wächst etwa zehnmal so schnell wie die Gesamtwirtschaft.
Kein Wunder also, dass sich trotz der vielen Nachrichten über langsameres Wachstum
Banken und Vermögensberater einen harten Konkurrenzkampf um die Betreuung betuch-
ter Chinesen liefern. Laut der Bank Julius Baer soll das addierte Vermögen von Chinas
Millionären von 5,1 Billionen US$ im Jahr 2016 auf knapp 8,3 Billionen zum Ende des
Jahrzehnts steigen. Das wäre dann zweimal so viel wie die japanische Wirtschaftsleis-
tung im Jahr 2014. Auffallend an dem Hurun-Bericht über Chinas Reiche ist der hohe
Anteil der Self-Made-Milliardäre, die erst in den 1980er Jahren geboren wurden. Der
Markt für Luxusgüter wird vor allem von den jüngeren Chinesen getragen. Laut Master-
Card geben Chinas „Millennials“, die um die Jahrtausendwende herum zu den Teenagern
zählten, bereits doppelt so viel für Luxusprodukte aus wie ihre Altersgenossen im Raum
Asien-Pazifik. (WARC 2015) Die meisten Reichen Chinas leben in Peking, Shanghai,
Guangdong und Zhejiang.
Bis zum Ende der 2000er Jahre breitete sich der Boom des Landes vor allem in
den Metropolen und industriellen Ballungszentren der Ostküste und im Süden aus.
Die Industrialisierung hat enorme Reichtümer geschaffen und zu starker Ungleichheit
geführt. Schon 2012 strichen die zehn Prozent Bestverdiener in China 35 % des nationa-
len Einkommens ein. Immobilien, aufsteigende Firmen, harte Arbeit und gute Netzwerke
stehen fast immer hinter den Erfolgsgeschichten. Aber wie geben die reichen Chinesen
ihr Geld aus, wenn sie nicht gerade Immobilien kaufen? Sie lieben es, zu reisen. Der
Tourismus ist der größte Ausgabenfaktor für Chinas Millionäre geworden. Sie verbrin-
gen im Schnitt etwa 20 Tage pro Jahr fern der Heimat. Die Insel Hainan, Hongkong und
die Provinz Yunnan sind die beliebtesten Reiseziele. International stehen Frankreich, die
USA und Singapur ganz vorn. Die Tourismusbranche in Südostasien ist ohne die Chine-
sen kaum noch vorstellbar. Und der Umsatz in den edlen Einkaufsstraßen von London,
Paris und Barcelona würde ohne die Besucher aus dem Reich der Mitte schwer leiden.
Über 40 Mio. Chinesen werden jedes Jahr in den Spas von Bali, den Einkaufszentren
von Dubai und an den Ständen von Thailand gezählt. Dabei tätigen die Chinesen mehr
als die Hälfte ihrer Einkäufe von Luxusartikeln im Ausland.
Das Internet spielt eine immer größere Rolle, weil ein Online-Shop weltweit die Kun-
den erreicht. Chinas E-Commerce-Sektor ist bereits der größte der Welt. Und er ist nicht
86 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
auf China begrenzt. Beispiele aus allen BRIC-Staaten zeigen die globale Reichweite. So
tummeln sich brasilianische Konsumenten gerne auf portugiesischen Webseiten, weil
sie die Sprache beherrschen und die größere Auswahl schätzen. Auf dem russischen
E-Commerce-Markt treten in der wirtschaftlichen Flaute weniger russische Kunden in
Erscheinung, aber dafür mehr digitale Konsumenten aus den ehemaligen Sowjetrepubli-
ken, die Russisch sprechen. Und chinesische Online-Konsumenten orientieren sich von
Südkorea bis nach Europa verstärkt an westlichen Webseiten, weil sie inzwischen besser
Englisch können. Was suchen die betuchten Konsumenten aus den BRIC online? Es sind
laut dem Hurun-Bericht, der sich am Werbeaufkommen orientiert, vor allem Kosmetik,
Alkohol, Immobilien, Schmuck und Uhren. Chinas Reiche wollen dem Rest der Welt
zeigen, wie weit sie es gebracht haben. Sie parken ihre Edelkarossen auf dem Gehweg
und riskieren Strafzettel, bloß damit jeder ihren Reichtum sieht, und sie rufen die Order
für eine sündhaft teure Flasche Champagner durch das ganze Restaurant, damit jeder es
mitbekommt. Immer öfter kaufen sie ihre Markenprodukte online ein. Ihr Geschmack
unterscheidet sich dabei wenig von dem westlicher Kunden in diesem Einkommens-
segment. Die neuen und jungen Reichen in China lieben Louis Vuitton, BMW, Cartier,
Patek Philippe und Hennessy. Vorbehalte gegenüber westlichen Marken? Völlig unbe-
kannt. Das einzige, was in Chinas Luxussegment in den vergangenen Jahren gelitten hat,
war die Nachfrage korrupter Parteimitglieder und Staatsbeamter, die aus Angst vor der
Anti-Korruptions-Kampagne vorsichtiger geworden sind, wenn sie üppig essen gehen
oder teure Uhren und Alkohol kaufen, um sich für Gefälligkeiten zu bedanken oder einen
Geschäftskontakt anzubahnen.
Vermögen und Einkommen in China sind fast 40 Jahre nach Beginn der Reformen
sehr ungleich verteilt. Ein Arbeitspapier des IWF vom März 2015 stellt fest, dass die
Früchte der Reformen nicht gleich auf die Gesellschaft verteilt werden. Die Ungleich-
heit der Einkommen hat sich aufgrund des Gini-Koeffizienten von 0,28 im Jahr 1980 auf
0,52 ausgedehnt. Es gibt außerdem eine signifikante regionale Ungleichheit der Einkom-
men innerhalb des Landes. (Internationaler Währungsfonds 2015) Doch unter dem Strich
bleibt ein enormer Erfolg: China hat seit Beginn der Reformen 660 Mio. Menschen aus
der Armut befreit. Das Pro-Kopf-Einkommen ist von 320 US$ 1980 laut dem IWF auf
8280 im Jahr 2015 gestiegen. Der Anteil der Chinesen, die mit weniger als 1,25 US$ pro
Tag auskommen müssen, ist in dieser Zeit von 85 auf elf Prozent gefallen. Laut Zahlen
des Pew Research Center stieg der Prozentsatz der Chinesen mit mittlerem Einkommen
seit Beginn dieses Jahrhunderts von drei Prozent auf 18 %. Der Anteil der Chinesen mit
„niedrigen Einkommen“, die in den Mittelstand streben, lag zu Beginn dieses Jahrzehnts
bereits bei 66 %. Im selben Zeitraum nahmen die Chinesen in der oberen Sphäre des
Mittelstands, die nach Wohlstand streben, von ein auf fünf Prozent zu. Das sind annä-
hernd so viele, wie Deutschland Einwohner zählt (Kochhar 2015).
Was die regionalen Unterschiede in den Einkommen angeht: Sie werden im Laufe
anhaltender Urbanisierung sowie größerer Mobilität und besserer Ausbildung bei stei-
genden Löhnen noch ausgeprägter als bisher werden. Die Einkommensschere geht wei-
ter auf. Für internationale Marken, die sich an chinesische Konsumenten wenden, wird
5.4 Einkommensstruktur in China 87
die klaffende Schere eine große Rolle spielen. Sie kann über Erfolg oder Fehlschläge
entscheiden, wenn sie in einer Marketingstrategie nicht berücksichtigt wird. Denn alles
ist im Fluss: Während die Einkommen steigen, verändern sich die Konsummuster. Neue
Konsumsegmente werden entstehen, und neue Trends werden geformt. Allein im Laufe
dieses Jahrzehnts soll sich das verfügbare Einkommen in China verdoppeln.
Marktforscher unterscheiden üblicherweise vier große Einkommensklassen im städ-
tischen China, wie die Abb. 5.4 zeigt. An der Spitze der Pyramide stehen die „Wohlha-
benden“ mit mehr als 34.000 US$ Jahreseinkommen. Dahinter folgt der „Mainstream“
mit 16.000 bis 34.000 US$. Die dritte Einkommensschicht sind „nutzenorientierte
Konsumenten“, die über 6000 bis 15.999 US$ im Jahr verfügen. Im Erdgeschoss dieser
Einkommenspyramide finden wir „arme“ Chinesen, die weniger als 6000 US$ im Jahr
verdienen.
Bis zum Beginn der 2010er Jahre machten die nutzenorientierten Konsumenten 80 %
der städtischen Haushalte in China aus. Ihr Einkommen reicht aus, um die Grundbedürf-
nisse zu decken. Die bessergestellten Mainstream-Konsumenten waren mit sechs Prozent
noch ein sehr kleiner Teil der 226 Mio. städtischen Privathaushalte. Die Wohlhabenden
machten nur zwei Prozent aus. Doch sie entsprechen schon der Einwohnerzahl von Sin-
gapur oder Los Angeles oder mehr als dreimal München. Doch bis 2020 werden sich die
Proportionen drastisch verändern. Das führt dazu, dass die Mainstream-Konsumenten mit
Mainstream 26.6
63 51
(16.000$
bis 34.000$)
82
Nutzen-
orien ert
(6.000$ bis 1.2
36
16.000$)
36
Armut
(Einkommen -3.8
10 6 unter 6.000$)
2000 2010 2020 (Prognose)
16.000 bis 34.000 US$ verfügbarem Jahreseinkommen von sechs auf 51 % aller urbanen
Haushalte zunehmen. Dies sind jetzt bereits annähernd 30 %, also fast 400 Mio. Chinesen.
Bisher haben die starken Einkommensunterschiede multinationale Firmen mit Enga-
gement in China vor eine eher simple Wahl gestellt: Entweder die Einkommensschichten
„Mainstream“ und „Wohlhabende“ anzusprechen oder die Marke bis ins Value-Seg-
ment zu dehnen. Diejenigen, die sich für die erste Option entschieden, konnten mehr
oder minder so vorgehen wie in anderen Teilen der Welt, nämlich ohne ihre Produkte
anzupassen. Doch der Preis dafür war, nur einen limitierten Markt von 18 Mio. privaten
Haushalten zu erreichen. Unternehmen, die sich entschieden, auf die Value-Kategorie zu
zielen, profitierten von einem viel größeren Markt von 184 Mio. Haushalten. Die enorme
Marktvergrößerung war jedoch verbunden mit günstiger angebotenen Produkten sowie
angepassten Geschäftsmodellen und geringerer Profitabilität.
Derzeit ändert sich das gesamte Gefüge. Und zwar schnell. Ein enormer Teil der
Value-Kategorie von Konsumenten wechselt dank steigender Löhne in das höhere Main-
stream-Segment der Einkommensypyramide. Bis zum Ende des Jahrzehnts werden annä-
hernd 400 Mio. Chinesen an dieser Einkommensmigration teilnehmen, fünfmal so viele
wie Deutschland Einwohner hat. Die Mainstream-Klasse wird künftig die Standards für
den Konsum in der Volksrepublik setzen. Sie kann sich der in der Abb. 5.4 gezeigten
Einkommensverteilung zufolge Familienautos und kleinere Luxus-Artikel leisten. Inter-
nationale Marken gewinnen dadurch die Chance, höherwertige Produkte an eine riesige
Gruppe neuer Konsumenten zu verkaufen. Aus Marketingsicht bedeutet das die Möglich-
keit, sich stärker von Wettbewerbern abzuheben. Auch die Gewinnmargen werden größer
werden. Die Value-Konsumenten werden, obwohl sie die Mehrheit in der Einkommens-
pyramide verlieren, im Jahr 2020 immer noch 36 % aller städtischen Haushalte repräsen-
tieren. Das entspricht etwas mehr als 300 Mio. Konsumenten, ein immenser Markt für
günstigere Produkte.
Weil ihr prozentualer Anteil an der urbanen Bevölkerung zunimmt, verteilen sich
die Mainstream-Konsumenten weiter quer durch die Volksrepublik. Derzeit leben etwa
85 % von ihnen in den 100 reichsten Städten Chinas. Die 300 nächstreicheren Städte
beherbergen dagegen nur weitere zehn Prozent der Mainstream-Einkommensklasse.
Doch dieser Anteil wird sich bis zum Ende des laufenden Jahrzehnts auf 30 % verdrei-
fachen. Große TV-Flachbildschirme, Reisen nach Übersee und modische Kleidung wer-
den für viele Millionen Chinesen im riesigen Hinterland nach und nach erschwinglich
werden. Für Marken zeichnet sich ein enormes Wachstum bei Nicht-Basiskonsumgütern
ab. Millionen von Chinesen werden sich anspruchsvollere und teurere Versionen von
Produkten zulegen, die sie bereits kennen. Konsumgüter, die nicht für den täglichen
Bedarf benötigt werden, können dabei auf die größten Zuwächse hoffen. (Atsmon und
Magni 2012) Auf Basis dieser Prognosen bis zum Jahr 2020 ergeben sich weitreichende
Schlussfolgerungen für internationale Marken und deren Positionierungsstrategien in
China. Viele Marken werden stärker am Markt orientiert neu positioniert werden müs-
sen, um den wachsenden Ansprüchen von Chinas Mainstream-Konsumenten gerecht zu
5.5 Nicht vergessen: Chinas Mittelklasse 89
werden. Neue und jüngere Marken könnten sogar etablierte Konkurrenten überflügeln,
obwohl diese mit Premiumprodukten und einem starken Markenimage punkten können
(globeone 2013a).
Der Aufstieg von Chinas Mittelschicht ist für sich betrachtet das größte einzelne öko-
nomische Phänomen in der Geschichte der Menschheit. Wenn das Konsumniveau der
Chinesen einst den globalen Durchschnitt erreicht, wird es dank der 1,3 Mrd. Menschen
im Reich der Mitte 20 % der weltweiten Nachfrage darstellen. Schon jetzt ist China der
weltgrößte Markt für viele Produkte, darunter Handys, Autos und Klimaanlagen. Der
britische The Telegraph (2015) meldete im Oktober 2015 unter Bezugnahme auf einen
Bericht von Credit Suisse, dass Chinas Mittelschicht jetzt die der USA überholt habe
und zur größten auf dem Planeten geworden sei. Das ist aber lange nicht das Ende der
Entwicklung. Denn mit einem Fünftel der Weltbevölkerung vereint China erst ein Zehn-
tel des globalen Wohlstands auf sich. Es spricht nichts dagegen, dass das Land auch in
puncto Wohlstand irgendwann mit dem Rest der Welt gleichziehen wird. Übrigens: Der
Credit-Suisse-Bericht definierte als zum Mittelstand gehörend jene Chinesen, die Erspar-
nisse mindestens im Umfang von zwei durchschnittlichen Jahreseinkommen angesam-
melt haben. Die Urbanisierung und die rasant steigenden Löhne von zehn bis 15 % pro
Jahr seit Beginn der 2000er Jahre haben zu diesem immensen Zuwachs der Mittelschicht
beigetragen. Seit Beginn der Reformen hat die Volksrepublik 600 neue Städte aufgebaut.
Bis zum Jahr 2030 soll eine Milliarde Chinesen in den Ballungszentren leben. Schon
jetzt leben mehr Chinesen in den Städten als im agrarisch geprägten Hinterland.
Die Einkommenspyramide verändert sich rasant. In China wurden zu Beginn des
Jahrhunderts vier Prozent der Bevölkerung der Mittelschicht zugerechnet. Jetzt ist dieser
Anteil auf 70 % in die Höhe geschossen. Laut dem Firmenberater EY wird sich die Zahl
der privaten Haushalte in China, die mehr als 35.000 US$ im Jahr verdienen, bis 2022
auf fast 80 Mio. mehr als verdoppeln. Wie schnell diese Veränderung stattfindet, zeigt ein
Vergleich. Großbritannien brauchte während der industriellen Revolution über 150 Jahre,
um seine Wirtschaftsleistung zu verdoppeln. Deutschland benötigte im 19. Jahrhun-
dert dafür 53 Jahre. China schaffte die Verdoppelung in zwölf Jahren. Indien brauchte
16 Jahre. Hinzu kommt ein geografischer Faktor: In China wandern jedes Jahr 15 bis
20 Mio. Menschen aus dem bäuerlichen Hinterland in die Ballungsräume an der Küste.
Dort verdreifachen sie in der Industrie als Arbeiter ihren Beitrag zum Bruttoinlandspro-
dukt. Die Wucht der Märkte, die daraus entstehen, kann man sich kaum ausmalen. Selbst
wenn die Urbanisierung in den kommenden Jahren weiter an Schwung verliert, weil sie
sich langsam erschöpft, wird sie ein spürbarer Wachstumsfaktor bleiben. Mehr noch:
Auch jene Chinesen, die sich entscheiden, weiterhin im Hinterland zu leben, sind eine
beachtliche Größe in der neuen Konsumgesellschaft geworden. Denn die Löhne steigen –
politisch gewollt – in den kleineren Städten und im bäuerlichen China seit ein paar Jahren
90 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
schneller als in den großen Städten entlang der Küste. Die Mittelschicht ist längst ein
zentraler Bestandteil im ungeschriebenen Sozialkontrakt des Landes geworden. Profes-
sor Bruce Dickson (2008) von der George Washington University erklärt in seinem Buch
„Wealth into Power“ (Vom Wohlstand zur Macht), das die Umarmung der Privatwirt-
schaft durch die KP beschreibt, die Kommunistische Partei habe praktisch die Entwick-
lung der Mittelschicht fest an das aktuelle Geschäftsmodell des Landes geknüpft.
Zwei wichtige Entwicklungen in China sind von besonders großem Interesse für
internationale Markenfirmen, die in China Geschäfte machen wollen: Erstens wächst das
verfügbare Einkommen der städtischen Bevölkerung schneller als der offizielle Inflati-
onsindex. Die Realeinkommen steigen also auch in der gegenwärtigen Schwächephase.
Zweitens, wie bereits erwähnt: Die Einkommen jenseits der Ballungszentren wachsen
jetzt am schnellsten und eröffnen völlig neue Inlandsmärkte. globeone hat in seinem
BRIC Branding Survey die Zuversicht der Konsumenten in den großen Schwellenlän-
dern gemessen und festgestellt, dass die Chinesen trotz der bekannten Probleme sehr
zufrieden mit der Entwicklung ihres Landes sind. Es ist der Führung ganz offensicht-
lich gelungen, ausreichend viele Gewinner im Reform- und Öffnungsprozess zu „pro-
duzieren“. Erstaunliche 86 % der städtischen Chinesen sagten in unserer Studie, die in
fünf führenden Städten des Landes durchgeführt wurde, dass es ihnen jetzt viel besser
ginge als noch vor ein paar Jahren und dass die Veränderungen im Land ihr Leben posi-
tiv beeinflussten (globeone 2012).
Die Finanzkrise und ihre Folgen, vor allem die wirtschaftliche Schwächephase zur
Mitte dieses Jahrzehnts, haben den Aufholprozess gedämpft. Aber der langfristige Trend
ist nicht gebrochen. Der wichtigste Grund hierfür ist die Verschiebung in den Einkom-
menssegmenten, die wir hier beschrieben haben. China beginnt derzeit seine zweite
Konsumphase, in der wertbewusste Konsumenten im unteren Teil der Mittelschicht den
Höhepunkt ihrer Kaufkraft erreichen und in das nächsthöhere Segment der Einkommens-
pyramide aufsteigen. Das ist die Mittelschicht des „Mainstreams“. Hier handelt es sich
um eine massive Transformation, die den Konsum in China auch bei Gegenwind stärkt.
Zusätzliche Dynamik gewinnt diese Entwicklung durch den von der politischen Führung
unterstützten Einkommenszuwachs. Ein Indiz dafür, wie schnell diese Transformation
stattfindet, sind Klagen von Markenstrategen und Marketingexperten über die schnellen
Veränderungen in den chinesischen Konsumgewohnheiten.
Das Ansteuern der richtigen Konsumsegmente ist eine der schwierigsten und weit-
reichendsten Entscheidungen, die Markenhersteller in Chinas komplexem Markt zu
treffen haben. Insgesamt funktionieren die Prinzipien der Segmentierung in China
wie überall sonst auch. Es geht darum, Menschen mit ähnlichen oder gleichen sozi-
odemografischen Charakteristika zu erfassen, am besten auch mit spezifischen psy-
chologischen Verhaltensweisen sowie Wertorientierungen und Bedürfnissen. Wenn
5.6 Segmentierung des chinesischen Marktes 91
diese Segmente erst einmal identifiziert sind, ist es möglich, die größte potenzielle
Zielgruppe festzulegen, das Produkt darauf abzustimmen, die Marke zu positionie-
ren und diejenige Kommunikationsstrategie zu entwerfen, die den Bedürfnissen und
Erwartungen dieser Gruppe am besten entspricht. All dies geschieht mit dem Ziel, die
Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass das Produkt und seine Positionierung relevante
Bedürfnisse befriedigen und eine möglichst große Zahl von Konsumenten das Produkt
kauft.
Wenn die Identifizierung des gewünschten Konsumsegments erfolgreich abgeschlos-
sen ist und (für gewöhnlich mehr als 1000) Konsumenten der Zielgruppe interviewt
worden sind, ist es sinnvoll, herauszufinden, welche lokalen und internationalen Konkur-
renzprodukte dieses Segment von Konsumenten derzeit kauft. In vielen Fällen gibt es
große Unterschiede, was die Markenauswahl in verschiedenen Segmenten angeht. Man
muss nicht nur identifizieren, in welchen Segmenten es Nachfrage gibt, sondern auch,
wo es am einfachsten sein wird, neue Kunden für Ihre Marke zu gewinnen. Sehr wichtig
ist auch ein klares Verständnis für das absolute und relative Wachstum, das ein bestimm-
tes Segment verspricht. In der Regel ist es am besten, sich auf jene Konsumsegmente zu
konzentrieren, die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit weiter wachsen. Nehmen wir das
Beispiel Fertiggerichte. Während es in China viele Menschen gibt, die jeden Tag für sich
und ihre Familie kochen, leben in den Ballungszentren immer mehr Chinesen, die lange
arbeiten und pendeln müssen. Sie haben keine Zeit, jeden Tag zu Hause zu kochen. In
diesem Markt für Fertiggerichte werden die traditionellen Konsumsegmente schrumpfen,
während der Bedarf an Convenience-Produkten weiter zunimmt.
Wie bereits beschrieben, sind regionale Unterschiede für die Marktforscher in
China stets ein kniffliges Thema. In China gibt es mehr als 170 Städte mit jeweils
über einer Million Einwohner. Welche davon soll man ins Visier nehmen? Es gibt auf
diese Frage keine einfache Antwort. Weil man von China für gewöhnlich kein exakt
repräsentatives Bild zeichnen kann, sollte sich die Auswahl der Regionen, Städtegrö-
ßen und tatsächlichen Städte an der Wachstumsstrategie des Unternehmens orientieren.
Sehr häufig entscheiden sich Firmen nach der Analyse für den Markteintritt für die drei
Top-Städte Peking, Shanghai und Guangzhou und dann noch für ein paar andere große
Städte wie Tianjin, Wuhan oder Chengdu. Andere Firmen, die neue Wachstumsmärkte
jenseits der führenden Tier-1-Metropolen suchen, entscheiden sich für eine größere
Zahl von Tier-2- und Tier-3-Städten quer durchs Land und treffen dann auf eine völlig
andere Marktstruktur.
Wie bereits erwähnt, gibt es viele Variablen, die in eine Segmentierungsanalyse in
China einfließen können. Abgesehen von harten Variablen wie sozioökonomischen Fak-
toren spielen auch die Ausbildung, auf den Job bezogene Aspekte und der soziale Status
eine wichtige Rolle. Doch jenseits davon gibt es viele weitere Dimensionen, die die Wer-
torientierung eines Konsumenten beeinflussen. Gelegentlich werden diese Faktoren als
„China VALS“ bezeichnet. Bei VALS handelt es sich um eine psychometrische Methode,
um ländertypische Verhaltensweisen und Einstellungen messen zu können. Die Methode
baut auf Kriterien auf, die sich bei der Analyse von Konsumsegmenten sehr gut bewährt
92 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
haben. Anhand der Analyse lassen sich besonders vielversprechende Gruppen von Kon-
sumenten identifizieren. Nachfolgend ein paar Beispiele dafür:
• Patriotismus
• Besonderheiten von persönlichen Netzwerken
• Statusdenken
• Familienorientierung
• Unternehmergeist
• Fokus auf Einkommen
• Optimismus
• Wertschätzung des westlichen Lebensstils
• Wunsch, Individualität auszudrücken
• Streben nach Ausbildung
• Offenheit für andere Kulturen
Diese und andere produktbezogene Aspekte haben sich als wichtig erwiesen, wenn es
darum geht, den chinesischen Markt zu analysieren. Die Segmentierung in China ist
schwieriger als in etablierten Märkten, wo sich die Segmente kaum noch verschieben.
China ist wie ein bewegliches Ziel. Die enormen Veränderungen in den Einkommen und
von Region zu Region sowie ausländische Einflüsse und zunehmender Individualismus
können dazu führen, dass sich das gesamte Bild, das man bei der Marktanalyse gewinnt,
binnen eines oder zwei Jahren vollständig ändert. Erst wenn all diese Faktoren berück-
sichtigt worden sind, erst wenn ein vernünftiges Analyseverfahren entworfen und Kon-
sumenten der Zielgruppe interviewt worden sind, kann eine zielführende Segmentierung
vorgenommen werden, die als Ausgangspunkt für strategische Entscheidungen dienen
kann. Diese Entscheidungen können einen Markteintritt, die Ansteuerung eines spezifi-
schen Segmentes, die Art des Markteintritts, die Positionierung und die Ansprache der
Zielgruppe durch eine bestimmte Medienstrategie sein. Aber wie sieht eine Segmentie-
rung der mittleren und höheren Einkommen sowie der reichen Chinesen aus? Welches
sind die Schlüsselsegmente und wie unterscheiden sie sich? Die Abb. 5.5 illustriert eine
Segmentierung, die ein grundsätzliches Verständnis von der Struktur des gehobenen städ-
tischen Marktes in China bietet.
Das vielleicht größte Segment, das sich auch mit den meisten anderen etwas überlappt,
ist die „moderne Geschäfts-Elite“. Dies sind meist freie Unternehmer, denen es sehr
stark um Geschäft und Geld geht. Viele von ihnen sind angesehen und ihr Einkommen
ist hoch oder sehr hoch. Sie haben lange gebraucht, oft Jahre, um ihr Vermögen anzu-
häufen. In ihrer Wertorientierung sind sie weder besonders patriotisch oder loyal zur Par-
tei noch westlichen Werten sehr zugewandt. Aber: Sie sind sehr optimistisch und haben
das Gefühl, dass sie das neue China mitgestalten. Deswegen zeigen sie gerne ihre Macht,
ihren Status und ihre Dominanz, was sich zum Beispiel in der Wahl der Autos ausdrückt.
Sie fahren lieber einen protzigen Sportwagen als eine „langweilige“ traditionelle Limou-
sine. Sie zögern nicht, ihren frisch erworbenen sozialen Status vor sich her zu tragen.
5.6 Segmentierung des chinesischen Marktes 93
Sozialer
Status
Moderne
Hohe Wirtschaftselite
Einkommen Administra-
tive Elite Junge
gesell-
schaftliche
Traditionelle Aufsteiger
Wirtschafts-
Aufsteigende
elite
Unternehmer-
schicht
Obere
Mielschicht Wertorienerung
Unterhalb der modernen Geschäfts-Elite gibt es eine Klasse, die man als „aufstei-
gende Unternehmerschicht“ bezeichnen kann. Der größte Unterschied zwischen
diesem Segment und der modernen Geschäfts-Elite ist nicht deren Wertorientierung, son-
dern der soziale Status. Sie haben es noch nicht ganz bis an die Spitze geschafft. Sie
steigen noch auf. Deswegen sind viele von ihnen ganz besonders bemüht, ihren sozialen
Status zu demonstrieren. Insgesamt sind sie sehr leidenschaftliche und hoch motivierte
Fachleute und Profis. Viele von ihnen sind erst in jüngster Zeit zu Geld gekommen.
Viele stammen aus Arbeiterfamilien und unteren Einkommensschichten, was sie geneigt
macht, mit ihrem neuen Erfolg anzugeben. Diese Neureichen sind oft gut ausgebildet
und meist jünger als die Magnaten und Erfolgsunternehmer in der modernen Geschäfts-
Elite. Die aufsteigenden Unternehmer sind äußerst motiviert, viel Geld für Luxusartikel
auszugeben, weil sie sich unbedingt von anderen unterscheiden wollen. Der Kauf von
Prestigeprodukten erlaubt es ihnen, ihre einfache Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Ihnen ist es besonders wichtig, dass andere sie wahrnehmen.
Traditioneller sind dagegen die „administrativen Eliten“ und „traditionellen
Geschäfts-Eliten“. Die Mitglieder beider Segmente sind sehr patriotisch. Sie sind sehr
stolz auf China und enorm loyal gegenüber der kommunistischen Partei. In der adminis-
trativen Elite gibt es viele Mitglieder mit hohen Positionen in der KP, im Staatsapparat
oder im Militär. Das legt ihnen meist Zurückhaltung gegenüber ausländischen Einflüs-
sen sowie Individualismus und demokratischer Orientierung auf. Wenn sie sich ein Auto
kaufen, geht es weniger darum, aufzufallen. Die Mitglieder dieses Segments wollen
nicht so gerne, dass andere sich fragen, wie sie zu diesem Wohlstand gekommen sind.
94 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
Die traditionelle Geschäfts-Elite war lange eine wichtige Zielgruppe für ausländische
Premiumautos. Einige westliche Hersteller versuchten daher, ihre Markenkommunika-
tion mit traditionellen chinesischen Elementen und kulturellen Symbolen anzureichern.
Doch wegen des rasanten Aufstiegs der modernen Geschäfts-Elite verliert dieses Seg-
ment relativ an Bedeutung. Während sie weniger patriotisch und auf Beziehungen fokus-
siert ist als die administrative Elite, legt die traditionelle Geschäfts-Elite viel Wert auf
die Familie. Sie ist stolz auf chinesische Traditionen, investiert viel Zeit in persönliche
Beziehungen und folgt nicht jedem ausländischen Trend. Doch wenn es um Autos geht,
werden ausländische Marken ganz sicher nicht links liegen gelassen. Die traditionelle
Geschäfts-Elite bevorzugt allerdings eher klassischen Luxus wie den Audi A6 oder die
E-Klasse von Mercedes-Benz, als sich für einen schnittigen BMW oder einen Porsche
911 zu entscheiden.
Neben diesen Schlüsselsegmenten gibt es noch eine sehr dynamische Klasse, die man
als „junge soziale Aufsteiger“ charakterisieren kann. Dies sind kulturell sehr offene und
mehr westlich orientierte junge Chinesen, die gutes Geld verdienen und eine ausgezeich-
nete Ausbildung – oft im Ausland – erhalten haben. Sie sind meist Individualisten, sehr
offen gegenüber einem modernen Lebensstil und bevorzugen Produkte mit exklusivem
Design. Viele von ihnen sind sehr agil und bereits als Direktoren, Berater oder Interne-
tunternehmer erfolgreich, aber viele andere arbeiten noch am Aufstieg. Die chinesische
Gesellschaft ist interessanterweise bis heute geteilt in Menschen, die eher traditionell
und stolz auf ihr Land sind, und andere, die westlich orientiert und offen für neue Kon-
zepte sind. Weil ständig junge und erfolgreiche Chinesen in höhere Einkommenssphären
aufsteigen, verändert sich das Gesamtbild andauernd. Deswegen muss man sich darüber
im Klaren sein, dass die hier skizzierte Segmentierung nur eine von mehreren Möglich-
keiten ist, sich der oberen städtischen Konsumgesellschaft in China zu nähern. Während
ein solcher Überblick quasi aus der Vogelperspektive wichtig und hilfreich ist, muss auch
eine tiefere Analyse des Konsumverhaltens sowie der Gewohnheiten und der Wahrneh-
mung gegenüber spezifischen Produkten und Marken vorgenommen werden. Nur dann
wird dieses stark fragmentierte Mosaik zu einem runden Bild, auf dessen Basis sich ver-
lässliche Geschäftsentscheidungen treffen lassen.
durch die Medien sind reichlich verfügbar. Aber es scheint, dass ein umfassendes Bild,
das die traditionelle Kultur und die jüngeren Trends miteinander verbindet, fehlt. Es
gehört zum Allgemeinwissen, dass die Chinesen eher kollektiv orientiert sind, während
im Westen der Individualismus herrscht. Expats, die aus China zurückkommen, erzählen,
dass die Chinesen gegenüber westlichen Geschäftspraktiken ziemlich offen sind, wäh-
rend sie, was ihre starken nationalistischen Ansichten angeht, wenig Kompromisse zu
machen bereit sind. Alte Überzeugungen, Philosophien, Konzepte und Religionen wie
der Konfuzianismus, der Buddhismus und der Taoismus sind tief verwurzelt und stets
irgendwie präsent, selbst dann, wenn neue Mitglieder der chinesischen Mittelschicht ihre
Einkaufswagen durch die glitzernden Supermärkte schieben.
Es ist auch gut erkennbar, dass chinesische Konsumenten besser vorbereitet und infor-
miert sind, wenn sie in ein Geschäft gehen. Oft haben sie Listen mit ihren beliebtes-
ten Marken in der Hand. Und meistens gehen sie mit einem Produkt an die Kasse, das
schon vor dem Besuch im Geschäft in ihrer engeren Auswahl war. In den unteren Ein-
kommensschichten wird noch viel experimentiert und oft die Marke gewechselt. Diese
Konsumenten können auch im Handumdrehen in eine andere Produktkategorie wech-
seln. Weichmacher, Mikrowellen und reine Fruchtsäfte haben sie einst gar nicht gekannt,
aber die Penetrationsraten solcher Produkte haben inzwischen bis zu 60 % erreicht. Die
Kenntnis von Marken nimmt rasant zu. Und die Loyalität zu Marken hält nicht mit. Ganz
allgemein gesagt sieht es so aus, dass chinesische Konsumenten immer noch gerne mit
verschiedenen Marken experimentieren und auch auf lange Sicht offen dafür sind, eine
Marke zu wechseln. Die Abb. 5.6 verdeutlicht am Beispiel von Coca-Cola und Pepsi
sowie mit Blick auf McDonald’s und KFC die geringe Markenloyalität der Chinesen.
Rund 15 Jahre, nachdem die ersten internationalen Marken in größerer Zahl China
eingeführt wurden, haben lokale Marken gegenüber der neuen Konkurrenz noch immer
– Anteil (in %) der Befragten, die wiederholt eine oder beide Marken kauen –
Coca-Cola 23 52 25 Pepsi
McDonald’s 9 63 28 KFC
Wiederholter Kauf
einer Marke
Wiederholter Kauf
beider Marken
das Nachsehen. So haben Chinas lokale Autohersteller bis zur Mitte des Jahrzehnts
Marktanteile an deutsche, US-amerikanische und japanische Wettbewerber verloren.
Selbst bekannte chinesische Marken wie Li Ning und Anta Sports müssen immer noch
begreifen, dass sie die Verbindung zu ihren eigenen lokalen Kunden verlieren können,
wenn sie nicht ausreichende Marktforschung betreiben, die nötige Aufmerksamkeit für
ihre Produkte erzeugen und systematisch sowohl in Werbung als auch in den Marken-
aufbau investieren. Viele heimische chinesische Marken erlebten nach den Olympischen
Sommerspielen 2008 eine rasante Zunahme der Verkaufserlöse, nur um anschließend
zusehen zu müssen, wie viele Kunden in der expandierenden Mittelschicht zu ausländi-
schen Marken abwanderten, sobald sie sich die teureren und trendigeren Produkte leisten
konnten. Westliche Sportmarken wie Nike und Adidas, die in China in den 1980er Jah-
ren mit dem Verkauf ihrer Produkte begannen, weiten immer noch ihren Marktanteil im
lokalen Markt für Sportbekleidung und Schuhe aus.
Trotzdem: In einigen Industrien, die mit ihren Produkten näher an der lokalen Kul-
tur angesiedelt sind (zum Beispiel Arznei, Tee, Nahrung), beweisen die heimischen Mar-
ken oft ein besseres intuitives Verständnis für die lokalen Geschmäcke. Es ist offenbar
so, dass viele chinesische Firmen die Fähigkeit besitzen, ihre Produkte besser auf die
lokalen Konsumtrends abzustimmen als die internationalen Wettbewerber. Multinatio-
nale Firmen neigen dazu, ihre Produktanpassungen an lokale Geschmäcke und Bedürf-
nisse zu minimieren. Sie behalten lieber die Positionierung ihrer existierenden Marken
bei. Während das in einzelnen Fällen zum Beispiel für Luxusprodukte gerechtfertigt sein
mag, kommt jedoch eine hohe Standardisierung in China sehr oft praktisch einer Auf-
gabe des Marktes gleich. China ist ein einzigartiger Markt. Das Land ist viel zu groß, um
es wie einen kompakten Einzelmarkt zu behandeln. Jede erfolgreiche Marketingstrategie
in diesem Land muss jedoch die wachsende Vielfalt lokaler und regionaler Marktbedin-
gungen und -bedürfnisse ebenso berücksichtigen wie verschiedene Trends und Konsum-
gewohnheiten.
In China haben kulturelle Werte eine sehr hohe Bedeutung. Die Chinesen sind stolz
auf ihre lange Geschichte. Es gibt eine Vielzahl traditioneller chinesischer Werte und
äußerer Einflüsse, die das Verhalten der Konsumenten formen. Das Augenmerk im fol-
genden Abschnitt ist auf die urbane Mittelschicht in China gerichtet. Diese ist im Ver-
gleich zum Rest der chinesischen Bevölkerung jenen Einflüssen, die durch die rasante
Transformation des Landes entstehen, stärker ausgesetzt, ausländische Einflüsse einge-
schlossen.
China ist tief im philosophischen System des Konfuzianismus verwurzelt. Das Resultat
ist ein ausgeprägter Kollektivismus. Das Ziel dieser Lehre ist eine wohlgeordnete Gesell-
schaft. Hierarchische Beziehungen in der Familie, wie auch zwischen der Familie und
dem Staat, sind strikt geregelt. Meist sehen und verhalten sich Personen als Mitglied
5.7 Wichtige Einflussfaktoren des Konsumverhaltens in China 97
einer Gruppe, nicht als Individuum. Der Sinn für Verantwortung, besonders innerhalb der
Familie oder als Teil einer Gruppe, ist sehr ausgeprägt. Nehmen wir ein Beispiel: Ver-
suchen Sie, ein zweisitziges Auto in China zu verkaufen. Die meisten Chinesen kämen
nicht einmal auf den Gedanken, das Fahrzeug zu erwerben. Der Grund dafür ist ganz
einfach: Kinder würden ihren Eltern niemals ein solches Auto präsentieren, weil diese
das als sehr unhöflich empfänden. Sie hätten das Gefühl, sie wären in diesem Auto nicht
willkommen. Wenn man diese kollektivistische Orientierung in die Welt der Konsum-
gesellschaft übersetzt, stechen einige Verhaltensweisen hervor. Viele chinesische Konsu-
menten wollen nicht unter den ersten sein, die ein neues Produkt ausprobieren. Zugleich
aber fühlen sie sich unwohl, wenn andere schon vorangegangen sind. Wenn ihre Nach-
barn und Freunde es ausprobiert haben, ist es vielleicht an der Zeit, nachzuziehen. Für
Markenexperten bedeutet eine so starke kollektivistische Orientierung, dass informelle
Kommunikationskanäle sehr wichtig sind. Zwischen den Mitgliedern einer bestimmten
Gruppe gibt es eine hohe Zahl von Kontakten und einen intensiven Informationsfluss.
Das heißt, dass chinesische Konsumenten einen guten Teil ihrer Kaufentscheidung auf
die Empfehlung von Freunden gründen. Und das ist genau der Grund, warum soziale
Plattformen wie Sina Weibo oder das mobile soziale Netzwerk von Tencent, WeChat,
besonders populär sind. Jegliche Kommunikation über ein bestimmtes Produkt wird sich
wie ein Lauffeuer auf diesen informellen Kanälen ausbreiten.
Doch der Konfuzianismus ist nur einer von vielen Faktoren, die das Verhalten in
China beeinflussen. Dieses kann abhängig vom Alter, dem Einkommen und der Indus-
trie stark variieren. Besonders in jungen Zielgruppen beobachten Experten wachsende
Abweichungen von traditionellen kulturellen Normen. Es kann dann sogar als schick
empfunden werden, wenn jemand alte Normen und Werte infrage stellt. Dank wachsen-
der Migration und Mobilität sowie zunehmender Einkommensunterschiede und der bes-
seren Erschwinglichkeit von eigenen Wohnungen für viele junge Chinesen beginnt der
Einfluss des Konfuzianismus im modernen China abzunehmen. Steigende Scheidungs-
raten sowie ein beschleunigter Trend zum Verzehr von Fast Food gegenüber selbst zube-
reiteten Mahlzeiten sind nur zwei Indizien für diese Entwicklung. Auf der anderen Seite
haben einige zentrale Werte des Konfuzianismus wie die Loyalität zu den Eltern, der
Aufbau persönlicher Netzwerke (guanxi) und das Streben nach einer guten Ausbildung
weiter eine sehr hohe Bedeutung.
China wird als ein autoritärer Staat mit gut ausgebildeten Eliten wahrgenommen, die
das Land stärker kollektivistisch führen als zu Zeiten von Mao Zedong, der als unum-
schränkter Führer regierte. In wirtschaftlicher Hinsicht scheint das Land hervorragend
beraten und geführt zu werden. Das politische System basiert mehr auf interner Auswahl
denn auf Wahlen. Und die Führung lässt sich vom Westen ebenso wie von den eigenen
Traditionen inspirieren. Während in westlichen Ländern die Zweifel an der Effektivität
und Nachhaltigkeit der Wirtschaftsverfassung wachsen, gibt es eine erstaunliche Zahl
von chinesischen und westlichen Intellektuellen, die kein alternatives wirtschaftliches
Regime kommen sehen. Experten wie Wei-Wei-Zhang, ein Professor für internationale
Beziehungen an der Fudan Universität in Shanghai, betrachten China als eines der am
98 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
wenigsten ideologischen Länder auf der Welt, ein Land, das pragmatisch bereit ist, aus-
zuprobieren, was nachweislich funktioniert. In einer Analyse über autoritären Kapitalis-
mus und Demokratie sagt Ivan Krastev (2012) von der Stanford University vorher, dass
in den kommenden Jahrzehnten politische Regime keine zuverlässigen Prognosen mehr
über geopolitische Allianzen erlauben werden: Die globale politische Landschaft werde
eher durch das Verschwinden der Grenzen zwischen Demokratien und autoritärem Kapi-
talismus geprägt sein als durch den Triumph des einen über den anderen.
Status und Prestige haben in der chinesischen Gesellschaft eine enorme Bedeutung. In
einer gewissen Weise sind der Konfuzianismus und der Kollektivismus eine wichtige
Quelle für diese Prioritäten. Da die Meinung der Gruppe sehr wichtig ist, ist auch das
Verlangen, persönlichen Erfolg nach außen zu zeigen, sehr groß. Dieser Aspekt ist viel
wichtiger als in eher individualistischen Gesellschaften. Status und die Bereitschaft,
einen Aufpreis für repräsentative Produkte zu zahlen, sind die logische Folge. In einer
Phase schneller und bisweilen volatiler Transformation für ihr Land wollen erfolgreiche
und wohlhabende Chinesen zeigen, dass sie es geschafft haben und sich jetzt Premium-
Produkte leisten können. Von Limousinen über edle Handtaschen und teure Uhren bis
hin zu luxuriösen Apartments und exquisiter Einrichtung oder dem Besuch in Karaoke-
Bars mit teurem Whiskey gibt es fast nichts, womit erfolgreiche Chinesen nicht versu-
chen würden, ihre Freunde und Geschäftspartner zu beeindrucken. Markenexperten und
Werbestrategen haben das in China schnell erkannt, wie die Abb. 5.7 zeigt. Der Fahrer
benutzt die Rennflagge als Manschettenknopf, um seinen Stolz, einen sportlich-dynami-
schen Cadillac zu fahren, hervorzuheben. Die hohe Beschleunigung des Fahrzeugs wird
mit dem dynamischen sozialen Aufstieg des Fahrers verknüpft. Viele weitere Beispiele,
wie der Status und andere soziokulturelle Faktoren in der Markenkommunikation erfolg-
reich genutzt werden, zeigen wir in Kap. 9.
In westlichen Gesellschaften werden die Motive für den Konsum von Luxusartikeln
schon seit Jahrzehnten untersucht. Einer der ersten, die sich damit befasst haben, war der
US-amerikanische Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen (1899). Er war ein führen-
der Intellektueller in der „Progressive Era“, einer Zeit sozialer und politischer Reformen
der 1890er bis 1920er Jahre in den USA. Im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte
Veblen „The theory of the leisure class“ (Die Theorie der feinen Leute). Er kombinierte
Ökonomie und Soziologie und traf folgende Unterscheidung: Es gab eine produktive, von
Ingenieuren geführte Industrie und eine parasitäre Geschäftselite, die nur existierte, um
Gewinne mit der Freizeitklasse zu machen. Ihre wichtigste Aktivität war demonstrativer
Konsum. Dieser war darauf angelegt, ihre wirtschaftliche Macht durch die Zurschaustel-
lung von Luxusartikeln zu beweisen. Veblens Forschungsgegenstand waren die Neurei-
chen in den USA zu dieser Zeit. Veblen war überzeugt, dass Menschen soziales Prestige
durch den Besitz von Luxusgütern erreichen, die sie als Zeichen des Wohlstands überall
5.7 Wichtige Einflussfaktoren des Konsumverhaltens in China 99
Abb. 5.7 Positionierung anhand von Status und Ansehen. (Quelle: Cadillac China 2010)
herumzeigen. In den vergangenen Jahrzehnten haben Forscher begonnen, sich mehr mit
den psychologischen Motiven dieses Verhaltens zu beschäftigen, und sich unter anderem
mehr mit der Vergnügungssucht auseinandergesetzt. Einige von ihnen unterscheiden zwi-
schen sozial beeinflussten und eher persönlich beeinflussten Motiven. Konformität kann
in diesem Zusammenhang ein starkes Motiv eines sozial gesteuerten Kaufverhaltens sein.
Viele Menschen kaufen demnach Luxusprodukte, um Einfluss auf andere auszuüben,
damit sie von bestimmten sozialen Gruppen besser akzeptiert werden (Mason 1993). In
Übereinstimmung mit Veblen ist laut Mason diese Form des Imponierens ein wichtiges
Motiv für einen solchen nach außen hin sichtbaren Konsum.
Der Forscher Li Boyi (2012) hat in einer Abschlussarbeit am Politecnico Di Milano
herausgearbeitet, dass Status und Selbstbelohnung zwei sehr starke Motivationskräfte
in China sind. Unter den Chinesen, die Li befragte, sahen mehr als 70 % Luxusartikel
als eine Möglichkeit, ihren Status und Erfolg zu demonstrieren. Weniger als 30 % der
Chinesen in seiner Studie waren nicht bereit, einen Aufpreis für ein Premiumprodukt zu
bezahlen. Und über 60 % der Befragten gaben an, Luxusartikel gekauft zu haben, um
sich selbst für harte Arbeit und Erfolg zu belohnen. Neben Status und Selbstbelohnung
100 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
gibt es demnach noch einen weiteren wichtigen Grund für statusbezogenen Konsum. Es
geht um das, was Marktforscher oft „kosmopolitische Erfahrenheit“ nennen. Sie wollen
sich als Kenner exquisiter Produkte zeigen, um sich hervorzuheben und das Gefühl zu
kompensieren, dass sie in der Entwicklung hinterher sind. Weil sie vor den Reformen
jahrzehntelang unter wirtschaftlicher Rückständigkeit gelitten haben, empfinden viele
Chinesen immer noch den Drang, zum Westen aufzuschließen und zu zeigen, dass sie
mindestens ebenso erfahren und anspruchsvoll sind wie die Menschen in der industriali-
sierten Welt.
Auf einen besonders interessanten Aspekt für westliche Marken in China hat Wang
(2005), ein Professor für chinesische Kultur am MIT, aufmerksam gemacht: Würde
Veblen heute im städtischen China leben, so Wang, könnte er keine größere Gruppe als
die Chinesen finden, die so darauf bedacht sind, seine Theorie zu leben. Laut Wang wer-
den sich Investitionen westlicher Marken vor allem in den Tier-2-Städten Chinas – dar-
unter Dalian, Shenyang und Chengdu – schnell und gut bezahlt machen, weil der Status
von Städten zweiten Ranges sich in erstrangige Produktbegierden übersetzt. „Es gibt kei-
nen besseren Beweis für Veblens Theorie“, sagt Wang (2005; Übersetzung des Verfassers
aus dem Englischen), „als in chinesischen Städten der zweiten und dritten Reihe, weil
dort die Konsumenten den Lebensstil der Erfolgs-Chinesen in den führenden Metropolen
nachahmen wollen: Du bist, was Du konsumierst.“
Konfuzianische und kollektivistische Werte tragen stark zu dem Umstand bei, dass die
chinesische Gesellschaft der Familie und den Kindern die größte Priorität einräumt. Dies
macht sich auch in den Konsumgewohnheiten der Chinesen deutlich bemerkbar. Fami-
lien mit Kindern in den fünf größten Städten Chinas geben nach übereinstimmenden
Studien etwa die Hälfte ihres verfügbaren Einkommens für die Kinder aus. Die Fami-
lie ist in China immer eine Art Festung gegen ein unvorhersehbares, manchmal bruta-
les soziales Umfeld gewesen. Aus diesem Grund spielt die Familie in der chinesischen
Werbung bis heute die Hauptrolle. Vor allem um Feiertage und Festlichkeiten wie das
chinesische Neujahrsfest herum zeigt Werbung regelmäßig den Konsum von Gütern wie
Nahrung und Getränken im familiären Umfeld. In jüngster Zeit wird dieser Trend auch
in der Autoindustrie akzentuierter. Zu den Motiven für familienbezogene Werbung gehö-
ren zum Beispiel der Respekt und die Bewunderung für die ältere Generation. Gezeigt
wird die perfekte Familie mit Großeltern, Mutter, Vater und dem Kind. Die Verpflich-
tung, die hohen Erwartungen von Eltern und Ahnen zu erfüllen, lastet auf der jungen
Generation. Die Einkindpolitik hat diesen Druck sicher noch erhöht, weil alle Erwartun-
gen und unerfüllten Träume von zwei Generationen auf das eine Kind gebündelt werden.
Auch wenn im Oktober 2015 offiziell durch die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua
verkündet wurde, dass Familien in China jetzt ohne Ausnahme zwei Kinder haben dür-
fen, wird sich dieser Zusammenhang nicht so schnell auflösen. Er wird aber ganz sicher
5.7 Wichtige Einflussfaktoren des Konsumverhaltens in China 101
in den kommenden Jahren der Betonung der Familie und dem Konsum für den Nach-
wuchs noch mehr Nachschub verleihen.
Es wird auf absehbare Zeit also dabei bleiben, dass Werbung, die glaubwürdig
demonstriert, wie der Kauf eines bestimmten Produktes die ganze Familie entzücken
kann, sehr erfolgreich ist. Auch die ältere Generation wird im Mittelpunkt bleiben, weil
die Senioren in der chinesischen Familie eine viel größere Rolle spielen als in Europa
oder den USA. Die Senioren in China haben bei vielen Produkten weiterhin das letzte
Wort in der Familie. In der Ein-Kind-Familie hat der Nachwuchs sich zu einer sozialen
Gruppe eigener Art entwickelt. Jeder weiß, wer mit den „Kleinen Kaisern“ gemeint ist.
Die Ein-Kind-Familie, die seit 1976 propagiert wird, ist jedoch überwiegend ein städti-
sches Phänomen gewesen, weil sie auf dem Land und unter Minderheiten nicht durch-
gesetzt wurde. Sie war aber nicht nur ein drakonisches Werkzeug zur Kontrolle des
Bevölkerungswachstums, sondern auch ein gezieltes Mittel, alle Anstrengungen für eine
bessere Ausbildung auf das jeweils einzige Kind zu konzentrieren und damit zu maxi-
mieren. Die Kleinen Kaiser waren und sind der unbestrittene Mittelpunkt der Aufmerk-
samkeit in den Familien. Das Gewicht der addierten Erwartungen einer ganzen Familie
lastet auf ihren Schultern. Kompensation spielt eine große Rolle dabei. Viele ältere Chi-
nesen haben das Gefühl, dass sie dank der Kulturrevolution auf viele Chancen verzichten
mussten. Also erzeugen sie enormen Druck auf ihre Kinder, mehr als sie selbst zu errei-
chen. Die Ausbildung kann nicht gut genug sein. Rund 40 % des Einzelhandelsumsatzes
für traditionelle Spielzeuge und Spiele in China bezieht sich auf Kinder im Vorschulal-
ter. Es gibt sogar Sprach- und Mathematikunterricht für Einjährige. Die Kleinen Kaiser
besuchen die besten Schulen, sie bekommen privaten Englischunterricht, sie lernen Ins-
trumente und sie haben viele Stunden zusätzlichen privaten Unterricht nach der Schule.
Die Mütter, die ihren Nachwuchs triezen, werden im Englischen auch als „Tiger Moms“
tituliert.
Aber es gibt auch viel Belohnung für so harte Arbeit. Die erweiterte Familie mit vier
Großeltern, zwei Eltern und unserem Kleinen Kaiser überschütten das einzige Kind mit
immenser Liebe, Aufmerksamkeit und Geschenken. Das 4-2-1-Phänomen hat die ganze
Gesellschaft fest im Griff. Die Kinder wachsen gut ausgebildet, gut beschützt und ver-
wöhnt auf. Von Spielzeugen bis zu Bekleidung werden sie mit Gütern überhäuft. Und
viele Eltern erfüllen einfach jeden Wunsch. Die Kleinen kontrollieren in vielen Fami-
lien den Geldbeutel. Aus diesem Grund hat China im internationalen Vergleich eine der
jüngsten Konsumentengruppen für Luxusartikel. Nur die allerbesten Produkte sind gut
genug für den Nachwuchs. Die Folge ist: Die Kleinen Kaiser sind oft verwöhnt und ver-
letzlich zugleich. Und viele von ihnen sind übermäßig besorgt um ihr Aussehen. Die
Konsequenzen dieses Phänomens sind weitreichend. Innerhalb von nur einer Genera-
tion haben die Einzelkinder traditionelle chinesische Werte mit dem konsumgetriebenen
Lebensstil verändert. Sparsamkeit, einst ein überragendes Merkmal ganzer Generationen,
ist üppigem Konsum und dem Wunsch nach sofortiger Befriedigung gewichen. Das hat
riesige Märkte für so gut wie alles von Babynahrung bis hin zu Spielzeugen mit Erzie-
hungswert geschaffen. Da die erste Generation der Kleinen Kaiser jetzt über 30 Jahre alt
102 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
ist, erweitert sich die Nachfrage nach Kinderprodukten auf alle möglichen Luxusartikel.
Die gute Ausbildung, die diese Generation genossen hat, spielt dabei eine maßgebliche
Rolle. Zu Beginn dieses Jahrzehnts ist die Gruppe der 20- bis 29-Jährigen die am besten
verdienende Altersgruppe in China geworden. Und für viele von ihnen ist die Qualität
wichtiger als der Preis. Mit der besseren Ausbildung, der gestiegenen Mobilität und dem
Kauf der eigenen Wohnung hält bei vielen Chinesen der Individualismus Einzug. Der
wachsende Einfluss westlicher Marken und der Vormarsch des Internets verstärken diese
Entwicklung. Dies ist noch nicht in ganz China ein Trend, aber immer stärker in den grö-
ßeren und größten Städten des Landes.
Chinas Entwicklung wird unter anderem angetrieben von Stolz und Patriotismus. Der
Patriotismus wirkt wie ein kollektiver Energielieferant für das Land. Die Wurzel ist eine
Zivilisation, die über Jahrhunderte mit Erfindungen und wirtschaftlicher Macht die Welt
angeführt hat. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts steuerte China zusammen mit Indien
40 % der weltweiten Wirtschaftsleistung bei. China hat im Verlauf seiner Geschichte
mehrere kulturelle Höhepunkte erreicht. Beispiele sind die Han-Dynastie (206 vor Chris-
tus bis 200 nach Christus) und die Tang-Dynastie im 7. und 8. Jahrhundert. China zeich-
nete sich damals durch große Offenheit gegenüber dem Rest der Welt aus. Unter der
Song-Dynastie ab der Mitte des 10. Jahrhunderts erreichte China eine nie gekannte Vor-
herrschaft in Wissenschaft und Forschung. Große Erfindungen wie das Schießpulver, der
Kompass und das Papier revolutionierten das Leben von Millionen Menschen. China war
damals das Zentrum des Fortschritts.
Heute scheut die KP keinen Aufwand, Stolz und Patriotismus anzufachen. Das
beginnt schon in der frühen Kindheit und im Bildungssystem. Flaggenzeremonien und
sogar militärische Drills während der akademischen Ausbildung sind Beispiele dafür.
Wegen ihrer glorreichen Vergangenheit sehen sich viele Chinesen als eine überlegene
Kultur, die nach Jahrzehnten der Rückständigkeit nun wieder in die erste Liga der Nati-
onen zurückkehrt. Viele Chinesen fühlen sich nahezu historisch verpflichtet, wirtschaft-
lich, militärisch und in der Wissenschaft schnell aufzuholen. Sichtbarer Ausdruck dieses
starken Bestrebens ist zum Beispiel das Raumfahrtprogramm mit den Shenzhou-Flügen
(Shenzhou: göttliches Schiff). Als einer der Meilensteine in dieser Aufholjagd wird bei-
spielsweise der Koreakrieg gesehen, wo es gelang, der größten militärischen Macht auf
dem Planeten mit enormen Opfern ein Remis abzutrotzen. Die Rückgabe von Hongkong
durch die Briten im Juli 1997 war sicher ein weiterer Meilenstein, der entsprechend zele-
briert wurde. Jahrzehnte der Demütigung durch die Kolonialmächte gingen zu Ende.
Und 2001 trat China der Welthandelsorganisation bei. Es war der vielleicht größte und
sichtbarste Durchbruch für die Öffnungspolitik des Landes. Sieben Jahr später folgte
mit den Olympischen Sommerspielen der nächste große Durchbruch. Nach jahrelangen
Sanktionen, die der Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Frie-
dens folgten, wurde China wieder in die olympische Familie aufgenommen.
5.7 Wichtige Einflussfaktoren des Konsumverhaltens in China 103
Ausländische Firmen in China werden ständig daran erinnert, dass nationaler Stolz
und Patriotismus gelegentlich regelrechte Minenfelder erzeugen. Wenn eine Marketing-
kampagne eine der oft unsichtbaren Grenzen des sozial und politisch Korrekten über-
schreitet, kann ohne jede Vorwarnung ein nationaler Sturm der Entrüstung aufbrausen.
Starbucks gehört zu jenen Firmen, die auf die harte Tour herausfinden mussten, wie deli-
kat es sein kann, mit dem chinesischen Publikum zu kommunizieren. Als Starbucks im
September 2000 in der Verbotenen Stadt ein neues Café eröffnete, zog das Unternehmen
in den Medien des Landes und in der chinesischen Öffentlichkeit einen Sturm der Ent-
rüstung auf sich. Die Präsenz einer westlichen Marken-Ikone an einem höchst symboli-
schen und historischen Ort Chinas empfanden viele Chinesen als einen neo-kolonialen
Akt. Selbst die Tatsache, dass das Management des Museums die US-amerikanische
Kaffee-Kette eingeladen hatte, konnte die Gemüter nicht beruhigen. Nach anhaltender
Kritik in den Medien und nach einer Petition der chinesischen Behörden machte Star-
bucks das Café im Juli 2007 wieder zu. Ein ähnlicher Sturm brach los, als Toyota im
Dezember 2004 seine Werbekampagne für die Modelle Land Cruiser und ein Prado-
SUV startete. In dem Video, das die Fahrzeuge bewarb, wurden zwei steinerne Löwen
gezeigt, das Symbol der Macht in China. Die Löwen salutierten und verbeugten sich vor
den japanischen Autos. Diese Darstellung traf einen äußerst empfindlichen Nerv. In den
Augen vieler Chinesen suggerierte das Video von Toyota eine japanische Überlegenheit
gegenüber China. Der Missbrauch traditioneller Symbole sowie die Anspielung auf eine
Unterlegenheit Chinas wurden weithin als Beleidigung aufgefasst.
Es gibt jedoch clevere Möglichkeiten, das patriotische Gefühl vieler Chinesen in
Marketingkampagnen richtig anzusprechen und es zu nutzen. 2008 startete Adidas eine
Kampagne, die anlässlich der Olympischen Sommerspiele in Peking Chinas Stolz über
die Rückkehr auf die globale Bühne adressierte. Die Kampagne „Gemeinsam in 2008 –
Nichts ist unmöglich“ zeigte chinesische Athleten in verschiedenen Disziplinen, die von
Tausenden von Fans getragen wurden. Die Massen bejubelten ihre nationalen Helden.
Die Anerkennung für Chinas Athleten wurde an das chinesische Volk weitergereicht. In
der ersten Jahreshälfte von 2008 konnte Adidas so seinen Umsatz in China um 60 % stei-
gern. Die Kampagne wurde in Cannes zudem mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnet
(Adidas 2008).
haben. Über 1000 Interviews in Peking, Shanghai, Guangzhou, Wuhan und Chengdu wur-
den geführt, um ein repräsentatives Bild zu ermitteln. Abb. 5.8 und 5.9 fassen die wahrge-
nommenen Stärken und Schwächen von Marken aus den jeweiligen Ländern im Vergleich
mit chinesischen Marken zusammen. Ganz offensichtlich ist die relativ geringe Attraktivi-
tät chinesischer Marken in den Augen lokaler Konsumenten. Es gibt auch ein ausgepräg-
tes Wahrnehmungsprofil für die meisten Drittländer in der Studie. Zum Beispiel schneiden
deutsche Marken sehr gut bei klassischen Kriterien wie „Qualität“ und „Haltbarkeit“ ab,
während japanischen Marken Designstärke zugesprochen wird und US-amerikanische Mar-
kenprodukte vor allem als „innovativ“ und „technisch führend“ wahrgenommen werden.
Man sieht relativ leicht, dass das Image deutscher Marken am stärksten zu sein
scheint. Dieser Befund wird bestätigt, wenn man den Herkunftslandindex kalkuliert,
der sich als Durchschnitt des Abschneidens eines Landes in den 15 wichtigsten posi-
tiven Imagedimensionen ergibt. Die Analyse zeigt den stärksten Wert für Deutschland
(46 %), gefolgt von Japan (40 %) und den USA (39 %). Es ist aber interessant zu sehen,
wie die Abb. 5.10 zeigt, dass China selbst bereits Frankreich in dieser Indexwertung
überholt hat.
Wenn Konsumenten sich ein Bild vom Herkunftsland machen, spielt eine wichtige
Rolle, welche Produktkategorien am meisten mit dem Land in Verbindung gebracht wer-
den. So ist die Wahrnehmung der Stärken führender Industrien ein wichtiger Einfluss-
faktor für das Image des betreffenden Landes insgesamt. Wie man in der Abb. 5.11 sieht,
sind die Produktkategorien, die Chinas Konsumenten am ehesten mit Deutschland asso-
ziieren, Autos und Motorräder (78 %), Maschinen (57 %), Haushaltsgeräte (42 %) und
Pharmazeutika (30 %). Andere Industrien spielen in diesem Fall keine so große Rolle.
Hervorragende Qualität
Gute Verlässlichkeit
Hohe Lebensdauer
China
Hohe Leistung
USA
Japan
Herausragendes Design
Deutschland
Hohes Pres ge
Anspruchsvoll
0% 20% 40% 60%
Vertrauenswürdig
31%
26%
Man kann daher sagen, dass die Wahrnehmung Deutschlands in China sehr stark beein-
flusst wird von deutschen Limousinen, die als Markenbotschafter für deutsche Marken
insgesamt fungieren.
Für Marketingmanager offenbart sich hier eine enorme Chance, ihre Produkte unter
Hinweis auf das Herkunftsland effektiv zu positionieren. Wichtig ist dabei: Je höher
5.7 Wichtige Einflussfaktoren des Konsumverhaltens in China 107
(in %)
Automobile 77
Haushaltsgeräte 43
Maschinen 40
Medikamente/Medizin 31
Fußball 26
Kosmeka/Parfüm 18
Lebensmiel 18
Bekleidung/Mode 17
Waschmiel 12
Dienstleistungen 12
(Versicherungen usw.)
Umwelreundliche
11
Technologien
das Einkommen der lokalen Konsumenten, desto attraktiver sind ausländische Marken
für sie. Wie die Abb. 5.12 zeigt, haben 77 % der städtischen Konsumenten in China mit
einem Monatseinkommen von umgerechnet mehr als 4000 EUR eine positive Einstel-
lung gegenüber deutschen Marken – besonders gegenüber deutschen Autos. Die positive
Einstellung ist quer durch alle sozialen Klassen deutlich sichtbar.
Der globeone-Bericht hat aber auch ein paar Herausforderungen aufgedeckt: Im
Schnitt haben lediglich 66 % der chinesischen Konsumenten die Herkunft einer deut-
schen Marke richtig erkannt. Ganz offensichtlich haben einige Marken es versäumt, die
lokalen Konsumenten über ihre mit einem positiven Image besetzte Herkunft zu infor-
mieren. Daraus ergeben sich einige Schlussfolgerungen über das Markenmanagement,
die wir im Strategiekapitel ausführlich erörtern werden.
Eine Frage hat sehr eng mit der korrekten Zuordnung des Herkunftslandes zu tun:
Welche Quellen nutzen Chinas Konsumenten, um sich über internationale Marken zu
informieren? Die Abb. 5.13 gibt auf diese Frage ein paar interessante Antworten. Mit
einem Anteil von 34 % erweist sich das Internet als die mit großem Abstand wichtigste
Informationsquelle. Das Internet ist als Schlüsselquelle zweimal so wichtig wie die Fami-
lie und Freunde, die an zweiter Stelle auf 17 % kommen, gefolgt vom Fernsehen mit
16 % und Einkaufszentren oder Geschäften mit zwölf Prozent. Traditionelle Nachrichten-
quellen wie Zeitungen und Magazine (elf Prozent) und das Radio (drei Prozent) scheinen
für chinesische Konsumenten keine wichtigen Informationskanäle zu sein, wenn sie sich
über ausländische Marken erkundigen. Innerhalb des digitalen Kommunikationsorbits
108 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
Ich schätze
deutsche
Marken
5% 7% 11%
eigentlich
nicht.
Ich schätze
2% 2% 0%
deutsche Marken
überhaupt nicht.
Internet 34
Familie/Freunde
17
Fernsehen 16
Einkaufszentren/Läden 12
Zeitungen/Magazine 11
Events/Verkaufsshows 7
Radio 3
Die expandierende Mittelschicht sowie steigende Einkommen und eine bessere Aus-
bildung führen dazu, dass Chinesen als Touristen verstärkt den Rest der Welt bereisen.
Selbst bei schwächerem Wachstum lässt dieser Trend kaum nach. Das vielleicht mar-
kanteste Verhalten chinesischer Touristen in Übersee sind ihre enormen Ausgaben. Im
Schnitt sind es über 1000 US$ pro Reise. Aber diese Durchschnittszahl ist irreführend,
weil sie Reisen zu den zwei beliebtesten Zielen – Hongkong und Macau – berücksich-
tigt. Die Reisen dorthin sind kürzer als die meisten Reisen nach Übersee. Allerdings deu-
ten sie bereits auf eine zweite Welle an chinesischen Touristen hin, die sich zwar zurzeit
noch mit Reisen innerhalb Asiens begnügen, sich bald jedoch aufmachen werden, den
Rest der Welt zu ergründen. Zu den beliebtesten Reisezielen außerhalb Asiens zählen
Deutschland, Frankreich, die USA und Australien. 2015 gaben 109 Mio. chinesische
Touristen insgesamt 229 Mrd. US$ für ihre Reiseaktivitäten aus. (GfK 2016) In einem
globalen Tourismusmarkt, der schneller wächst als die Weltwirtschaft, ist China 2015
damit hinter den USA die zweitgrößte Kraft geworden. Laut China.org.cn (2015) bestrit-
ten Chinas Touristen 2014 knapp ein Drittel der weltweiten Duty-free-Einkäufe. Kein
Land hat seit 2009 demnach mehr zum globalen Wachstum des Duty-free-Geschäfts
beigetragen. Die Chinesen gaben 2014 bei Einkäufen in Übersee 163 Mrd. US$ aus.
Das waren zehn Prozent mehr als die Wirtschaftsleistung von Ungarn. Die jährlichen
Zuwächse liegen bei fast 20 %. Längst schon sind chinesische Touristen Shopping-Welt-
meister. Und sie reisen in die entferntesten Winkel der Welt. Selbst in Neuseeland haben
sie US-amerikanische und britische Touristen bei den Gesamtausgaben überholt. Sie fül-
len Hotelbetten in Italien und Südafrika. Sie sind Umsatzträger in den edelsten Einkaufs-
straßen Europas. Sie sind die am schnellsten wachsende Besuchergruppe in Paris. Und
sie haben in Deutschland schon zu Beginn der 2010er Jahre die Japaner überholt.
Zu dem Reiseboom der Chinesen nach Übersee trägt auch eine Verschiebung der
Prioritäten bei. Für eine kleine, aber sehr schnell wachsende Zahl junger, beruflich
erfolgreicher Chinesen werden persönliche Befriedigung und die Erkundung der Welt
so wichtig und wünschenswert wie Wohlstand und Sicherheit. Damit verändern sie die
Freizeitindustrie auf der ganzen Welt. Selbst Hotels in Europa stellen chinesischsprachi-
ges Personal ein und passen das Frühstücksbuffet teilweise an. Deutsche Hotelmanager
stellen neuerdings Thermosflaschen mit warmem Wasser auf die Zimmertische. Hotels
in London bieten zum Frühstück Congee an. Selbst chinesische Bankkarten werden neu-
erdings akzeptiert. Wer also sind diese meist gut ausgebildeten, jungen und polyglot-
ten chinesischen Touristen? Der Verband der Geldwechsler in der Provinz Henan hat
unlängst versucht, sie zu portraitieren. Die wichtigsten Ergebnisse: Die meisten dieser
110 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
Auf seinem viel bewunderten Marsch in die Moderne hat China einige markante struk-
turelle Verwerfungen erzeugt. Hohe Überkapazitäten in der gewerblichen Wirtschaft
und die enorme Umweltbelastung sowie eine beachtliche Einkommensschere gehören
dazu. Einige dieser belastenden Nebeneffekte sollen im Zuge des Umstiegs auf eine vom
Konsum angetriebene Wirtschaft reduziert oder beseitigt werden. Doch neue Heraus-
forderungen entstehen. Obwohl die Energieintensität der Wirtschaft ab jetzt nachlassen
wird, sind die Staatsfirmen des Landes immer noch bemüht, sich weltweit durch Kre-
ditvergabe oder Beteiligungen Zugriff auf Energiequellen zu sichern, damit anhaltendes
Wachstum gesichert werden kann. In Afrika und Südamerika wird Land erworben, um
die Nahrungsversorgung sicherzustellen. Im Finanzsektor müssen massive Kredite für
weniger profitable oder schlechte Investitionsprojekte verdaut und abgebaut werden. Die
Regelung des Verkehrs in einem Land, in dem der Fuhrpark noch schneller wächst als
das bereits rasant wachsende Straßennetz, ist ein großes Problem. Unter anderem muss
eine zügige Umstellung auf Fahrzeuge mit Elektromotoren und hybriden Antrieben
gelingen. Der Pkw-Fuhrpark in China wächst jedes Jahr fast so schnell wie in Europa
und den USA zusammen. Eine grüne Strategie muss ganz schnell her. Die Führung hat
das verstanden und tut, was sie kann. Allein für ein umweltfreundlicheres Transport-
system sollen bis zum Ende des Jahrzehnts laut Schätzungen jährlich zwei Millionen
neue Arbeitsplätze entstehen. Laut Worldwatch könnte Chinas Anteil am Weltmarkt für
„grüne Fahrzeuge“ bis 2020 auf 15 % ansteigen (Ma 2011).
Auch jenseits des Transportsektors gibt es viele gewaltige Aufgaben. Vor allem gesell-
schaftliche. Wachsende westliche Einflüsse und gut bezahlte Arbeitsplätze für junge
Chinesen, die eine neue Mobilität mit sich bringen, nagen am Zusammenhalt der tradi-
tionellen Familien. Der Individualismus ist auf dem Vormarsch. Tausende internationale
Marken überfluten Chinas Märkte. Sie sind nicht nur einfach Produkte, sondern sie brin-
gen auch kulturelle Botschaften ins Land. Große Werbekampagnen führen Konzepte und
Lebensweisen wie Individualismus, Vergnügungssucht und Zügellosigkeit ein. Das ver-
ursacht im traditionellen Wertesystem Veränderungen, vor allem bei den jüngeren Chi-
nesen. Aber Werbung ist nicht der einzige Kanal, über den solche Einflüsse transportiert
werden. Hollywood-Filme, populäre TV-Serien, internationale Reisen, Computerspiele
und die hohe Zahl der westlichen Expats machen immer mehr Chinesen mit anderen
Lebensweisen vertraut und wecken Begehrlichkeiten.
5.7 Wichtige Einflussfaktoren des Konsumverhaltens in China 111
Eine weitere Herausforderung ist die Demografie. Die Bevölkerung wird älter, die
Geburtenrate ist mit etwa 1,6 deutlich unter jenes Maß gefallen, bei dem die Einwoh-
nerzahl ohne Migration auf dem gleichen Stand bleibt. Ob die Aufhebung der Einkind-
politik viel daran ändern wird, muss sich erst noch zeigen. Das Durchschnittsalter ist
jedenfalls seit dem Beginn der Reformen von 22 auf 35 Jahre angestiegen. China sieht
in dieser Hinsicht schon eher aus wie ein entwickeltes Land. Eine der Folgen wird sein,
dass es eine riesige Zahl von Rentnern zu ernähren gilt, bevor das Land noch das nötige
Versorgungswesen für die vielen Alten aufgebaut hat. Bisweilen äußern Forscher die
Befürchtung, dass China alt wird, bevor es reich wird. Fast jeder zweite Pensionsfonds
der Provinzen soll mehr zugesagte Verpflichtungen als liquide Mittel haben. Millionen
Kleine Kaiser werden sich mit einer wachsenden Last für die Finanzierung des Pensions-
systems konfrontiert sehen. Mit den steigenden Löhnen sind weite Teile des Kostenvor-
teils verschwunden, von dem China seit den 1980er Jahren profitieren konnte.
Alle diese Herausforderungen zusammen stellen einen ernsthaften Stresstest für das
künftige China dar, vor allem für die aktuelle Führungsgeneration, die Wachstum, Sta-
bilität, die Modernisierung der Wirtschaft und Umweltschutz miteinander vereinen und
ausgleichen muss. Das alles muss geschehen, während die Ansprüche einer interneter-
fahrenen jungen Generation ständig zunehmen. Der Fünfjahrplan bis 2015 und auch der
aktuelle Entwicklungsplan bis 2020 zeigen, dass man in Peking das Ausmaß dieser Her-
ausforderung kennt. Aber eine rauer gewordene Weltwirtschaft und die demografischen
Verwerfungen stellen eine riesige Aufgabe dar. Gleichzeitig sieht man, dass Chinas KP
inzwischen von besser ausgebildeten und jüngeren Kadern geführt wird. Sie lassen sich
gut beraten und haben keine ideologischen Berührungsängste, wenn es um Konzepte für
die Zukunft geht. Und durch liberalere Reisebestimmungen, das Aufheben der Einkind-
politik, Konsumförderung und sogar lokale Wahlen mit mehreren Kandidaten nehmen
sie geschickt und wohldosiert den sich aufbauenden gesellschaftlichen Druck weg. Doch
die KP erlaubt keine Konkurrenz im politischen System. Der „Kommunismus mit chi-
nesischen Vorzeichen“ wird auf absehbare Zeit das einzige zugelassene Modell bleiben.
Im August 2012 erneuerte China mit einer großen Kampagne in den Staatsmedien die
jahrhundertealten Normen für die junge Generation. Die „All China Women’s Federa-
tion“ publizierte ihre neuen Richtlinien für den Umgang mit den Senioren im Land. Erst-
mals waren solche Normen von dem Gelehrten Guo Jujing im 14. Jahrhundert schriftlich
festgelegt worden. Dieser trug damals Erzählungen von gehorsamen Kindern zusammen,
die sich vorbildlich um die Alten kümmerten. Jahrhundertelang wurden diese Anleitun-
gen schriftlich veröffentlicht, bis die KP sie wegen ihrer „Rückständigkeit“ verbot. Seit
2012 werden sie aber wieder publiziert. Und im Januar 2011 reichte das Ministerium
für zivile Angelegenheiten einen Vorschlag beim Staatsrat darüber ein, wie erwachsene
Kinder per Gesetz zum regelmäßigen Besuch ihrer Eltern verpflichtet werden können.
112 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
Die neuen Normen legen nun fest, dass erwachsene Kinder ihre Ferien mit den Eltern
zu verbringen haben, für sie kochen, sie wöchentlich anrufen und ihnen beibringen, wie
man das Internet benutzt. Auch den Erzählungen der Eltern über die „guten alten Tage“
soll aufmerksam zugehört werden. Selbst eine Partnervermittlung für verwitwete Eltern
wird den jungen Chinesen nahegelegt. Ganz offensichtlich hält es Chinas Elite angesichts
der von westlichen Vorstellungen zunehmend beeinflussten Werte für notwendig, einigen
Tendenzen, die den Zusammenhalt der Familie beeinträchtigen, entgegenzuwirken.
Die rasche Alterung der chinesischen Gesellschaft dürfte einer der Gründe für diesen
Schwenk sein. Schon 2012 zählte China laut der China Daily 185 Mio. Einwohner, die
älter als 60 waren. Fast die Hälfte von ihnen lebt alleine. Chinas junge Generation, insbe-
sondere die Millionen von Migranten, die in die Ballungszentren entlang der Küste abge-
wandert sind, sind zu sehr damit beschäftigt, Geld zu verdienen und Karriere zu machen.
Viele von ihnen können sich regelmäßige Besuche bei den Eltern nicht leisten, vor allem
auch deswegen nicht, weil sie jeden Yuan sparen, um ihn nach Hause zur Familie auf
dem Land zu schicken. Die Sorge um die ältere Generation ist eines der wichtigsten sozi-
alen Themen im modernen China. Das Land gehört zu den Ländern mit den höchsten
Selbstmordraten unter den Senioren. Viele von ihnen fühlen sich vernachlässigt und ver-
gessen. Das stellt im Kern eine Bedrohung für Chinas kollektives System dar. Während
ältere Chinesen immer noch in fast jedem Park – meist beim Tanzen, Singen oder ande-
ren Gruppenaktivitäten – zu sehen sind, sind die jüngeren Generationen mit Karriere und
Geldverdienen beschäftigt. Das alte chinesische Sprichwort, „arbeite hart und beschwere
Dich nicht“ (bu gan gao lao) gibt es immer noch. Aber die Kosten der Lebenshaltung
steigen schnell. Dafür muss hart gearbeitet werden und es bleibt weniger Zeit für Grup-
penaktivitäten.
Zur harten Arbeit kommt der wachsende Wunsch nach Selbsterfüllung hinzu. Eine
immer größere Auswahl von Produkten, Musik und Kunst kommt dem zunehmenden
Wunsch entgegen, den eigenen Geschmack zum Ausdruck zu bringen. Für eine ehr-
geizige und aufwärtsmobile Generation ist die Ego-Befriedigung der stärkste Antrieb
geworden. Hinzu kommt die Expansion der privaten Industrie in China, die schier gren-
zenlose Chancen auf ein eigenes Unternehmen und die Kontrolle des eigenen Schick-
sals eröffnet. Mit wachsenden internationalen Einflüssen und einer immer größeren
modischen Auswahl wächst auch der Wunsch, sich auszudrücken und ein modisches
Statement abzugeben. Viele junge Chinesen wollen in diesem inspirierenden Umfeld
ihre finanzielle Unabhängigkeit voll auskosten, bevor sie auf Druck ihrer Verwandten
eine eigene Familie gründen und Schwiegermütter, Hypotheken und Kinder ihr Leben
bestimmen. Der wirtschaftliche Wandel hat dramatische kulturelle und soziale Verän-
derungen ausgelöst und erzwingt eine Transformation von einer rein kollektivistischen
Gesellschaft hin zu einer, die sich stärker dem Individualismus und Materialismus
zuwendet.
Hier kommt die rasante Ausbreitung neuer Kommunikationstechnologien ins Spiel.
Sie leistet dem Individualismus Vorschub. Smartphones mit all ihren Funktionen indi-
vidualisieren die Kommunikation. Und sie bieten den Zugang zu Plattformen, der es
5.8 Erste Schlussfolgerungen für internationale Marken 113
den Chinesen leicht macht, sich nach ihren Vorlieben und Geschmäckern Netzwerke
aufzubauen, die viel weniger als bisher an der traditionellen Familie orientiert sind.
Genau hier setzen westliche Marken an: Immer mehr Marken finden heraus, dass die
Berücksichtigung solcher Trends zu einem großen Erfolg führen kann. Akademiker und
Marketingprofis, die Motive chinesischer Konsumenten studieren, schenken der Aus-
breitung des Individualismus neuerdings mehr Aufmerksamkeit. Allerdings muss daran
erinnert werden, dass China kein homogener Markt ist, es gleicht eher einem Univer-
sum. In einem Papier über den Einfluss persönlicher Wertvorstellungen auf Kaufent-
scheidungen an der Jiao-Tong-Universität in Shanghai warnte Doctoroff (2013) davor,
China als einen normalen nationalen Markt zu betrachten. Vielmehr solle man es als
Kontinent ansehen, der aus verschiedenen Ländern besteht, in denen die Konsumenten
an der Küste hinsichtlich ihrer Wertprioritäten individualistischer eingestellt sind. Weil
viele internationale Firmen dies außer Acht lassen, scheitern sie in China, resümiert das
Papier. Vor allem die unterschiedlichen Ausprägungen des Individualismus werden meist
nicht ausreichend berücksichtigt. Für Marketingmanager ist dies ein überaus wichti-
ger Punkt. Wer China als homogenen Markt ins Visier nimmt, kann dafür vom Markt
schwer „bestraft“ werden. Unsere eigene Umfrage- und Projekterfahrung bei globeone
zeigt ganz klar, dass chinesische Konsumenten zunehmend darauf bedacht sind, sich von
ihren Mitmenschen abzuheben, und dass sie deutlich erfahrenere Konsumenten gewor-
den sind. Jüngere Chinesen und Mitglieder der Mittelschicht bevorzugen Marken, die
mit Spaß und Aufregung verbunden sind und die ihre Individualität verstärkt zum Aus-
druck bringen. Das Design des Produkts ist folglich sehr wichtig für sie. Marken, die
sich an ältere und traditionell orientierte Chinesen wenden, müssen stattdessen durch
Effizienz und Leistung überzeugen.
Westliche Firmen in China brauchen ein gutes Verständnis davon, wie stark die Dyna-
mik bei Marketing und Konsum geworden ist. Veränderte traditionelle Werte sowie die
Demografie, die Einkommen, das Wachstum, die Urbanisierung, die wachsenden inter-
nationalen Einflüsse und die teilweise stark veränderten Familienstrukturen zwingen
westliche Markenmanager, sich mit den wichtigsten Beweggründen chinesischer Konsu-
menten bestens vertraut zu machen. Diese verändern sich aufgrund der genannten Fak-
toren ständig. Das Geschäft mit chinesischen Konsumenten kann riskant sein, wenn es
nicht sorgfältig vorbereitet wird. Das Verständnis der veränderten Verhaltensmuster ist
eine Voraussetzung für eine Markenpositionierung, die Markenstärke und Umsatz beflü-
gelt. Leider scheinen westliche Firmen meist nur langsam auf veränderte Bedingungen
in Chinas Konsum-Universum zu reagieren. In vielen Fällen ist bei europäischen und
US-amerikanischen Markenmanagern nicht einmal der Wunsch ausgeprägt, die wichtigs-
ten Beweggründe chinesischer Kunden zu verstehen. Das zeigen Umfragen und Studien
114 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
immer wieder. Diese Verständnislücke kann in einem Desaster enden, wenn die am tiefs-
ten hängenden Früchte des Marktes bereits gepflückt sind.
Für viele Firmen aus Übersee bleiben die Hoffnungen, Gebräuche und Träume chi-
nesischer Konsumenten jenseits der Metropolen an der Küste – wo der größte Teil des
Geschäfts gemacht wird – ein großes Geheimnis. Die meisten von ihnen wissen ledig-
lich, dass chinesische Konsumenten sehr markenbewusst sind und dass sie sich entwe-
der für Schnäppchen oder für die prestigereichste Marke entscheiden, die sie sich leisten
können. Sie wollen simple Funktionalität und Haltbarkeit, sie bevorzugen Komfort und
Zweckdienlichkeit, und viele werden von ihrem Wunsch getrieben, ihren neuen Wohl-
stand zur Schau zu tragen. Aber je weiter man sich ins Hinterland bewegt, in die weni-
ger reichen, aber rasant aufholenden inneren Provinzen, desto stärker wird der kollektive
Geist. In manchen Fällen muss man nicht länger einen einzelnen Kunden von seinem
Produkt überzeugen. Es könnte erfolgversprechender sein, Freunde und Familie anzu-
sprechen. Weiter im Hinterland gehen die Chinesen nicht so häufig einkaufen, sie haben
weniger verfügbares Einkommen, und sie werden stärker vom Rat ihrer Freunde beein-
flusst. Impulsiver Konsum spielt dort eine geringere Rolle. Das bedeutet, dass die Prä-
sentation im Verkaufsregal, Geschenke und Muster effektiver sind als in den reicheren
Metropolen. Werbung im Radio und prominente Platzierung in den lokalen Läden funkti-
onieren weiter westlich in China besser als an der Küste.
Konsumenten in den großen Küstenstädten verlassen sich dagegen mehr auf ihre
eigene Erfahrung. In den kleineren Städten werden sie stärker von der Meinung ihrer
Freunde und Bekannten beeinflusst. Und im landwirtschaftlich geprägten Hinterland – in
den Tier-3-Städten – haben der Rat des Ladenbesitzers und die Verpackung einen größe-
ren Einfluss. Auch mit Blick auf die Medien und die Entertainment-Gewohnheiten gibt
es Unterschiede. Während das Fernsehen im ganzen Land viel Einfluss hat, unterschei-
den sich die Zuschauergewohnheiten zwischen der Küste und dem Hinterland. In den
Ballungszentren entlang der Küste ist das Fernsehen vorwiegend ein Unterhaltungsme-
dium. Die Chinesen dort schauen gerne Sendungen über Sport, Musik, Wirtschaft und
die Natur. In den kleineren Städten sind stärker die lokalen Nachrichten gefragt. Und
in den Tier-3-Städten im Westen Chinas sind internationale Nachrichten sowie Bil-
dungs- und Karrieresendungen sehr populär. Wer eine erfolgreiche Markenkampagne
betreiben will, muss sich mit diesen Unterschieden vertraut machen. Wenn man sich von
den reicheren Provinzen im Speckgürtel rund um Shanghai nach Westen entfernt, kann
man beobachten, dass sich die Macht der Marken erst jetzt zu entfalten beginnt. Viele
Konsumenten in inneren Provinzen wie Hubei, Shaanxi, Guizhou und Hunan geben bis
heute an, dass sie für internationale Marken keinen Aufpreis zahlen wollen. Für Marken-
experten und Marketingmanager bedeutet das aber vor allem eins: gute Wachstumspers-
pektiven, wenn sie es schaffen, auch abseits der Metropolen ihr Markenversprechen im
Rahmen eines für die chinesischen Verbraucher akzeptablen Preis-Leistungs-Verhältnis-
ses zu verankern.
5.9 Medienlandschaft 115
5.9 Medienlandschaft
Chinas Medienlandschaft wächst, vor allem das Internet. Die hohen Wachstumsraten der
vergangenen Jahrzehnte haben in Verbindung mit einer besseren Ausbildung und stei-
genden Löhnen für eine rasche Ausdehnung des Medien-Universums in Lande gesorgt.
Die Expansion der Mittelschicht macht sich durch eine explosionsartige Ausbreitung
von Modezeitschriften und Luxusmagazinen bemerkbar. 2011 musste das Cosmo-
politan-Magazin in zwei Ausgaben aufgespaltet werden, weil es dank der vielen Wer-
bung zu dick geworden war. Elle wurde auf zwei Ausgaben im Monat erweitert, weil
das Heft auf 700 Seiten angeschwollen war. Als die Reformen Ende der 1970er Jahre
begannen, gab es weniger als ein TV-Gerät je 100 Einwohner. Weniger als zehn Millio-
nen Chinesen hatten einen Fernseher. Jetzt sind es über eine Milliarde. Mitte der 1960er
Jahre gab es im Land zwölf TV- und 93 Radiostationen. Jetzt sind es zwischen Shanghai
und Urumqi 700 TV-Stationen und 3000 Kabelkanäle. Chinas einziges nationales TV-
Netzwerk CCTV kontrolliert den Rundfunk. Es untersteht dem Propagandaministerium,
das für den Inhalt verantwortlich zeichnet. Alle Stationen im Land sind verpflichtet,
die Nachrichtensendungen von CCTV auszustrahlen. CCTV hat auch das Monopol auf
den Kauf ausländischer TV-Inhalte. Die Ausbreitung des Print-Universums ist ähnlich
dynamisch wie dies des Rundfunks. Von etwas mehr als 40 KP-Zeitungen in den späten
1960er Jahren hat sich die Zahl der Titel bis 1980 verzehnfacht. Inzwischen sind es über
2200. Dazu kommen etwa 9000 Magazine. Die Medien sind im Verlauf der Reformen
etwas mutiger und kritischer geworden, doch ihnen sind klare Grenzen gesetzt. Xinhua
kontrolliert als staatliche Nachrichtenagentur streng die offiziellen Inhalte. Wer sich im
Internet als eigener Nachrichtengeber betätigt, kann, selbst wenn es nur um Aktien-
kurse geht, schnell auf den Monitor eines engmaschigen Netzes von Zensoren geraten.
Der Zugriff des Staates auf die Medien wurde nur unwesentlich gelockert, auch wenn
es manchmal anders aussieht. So hat die People’s Daily, die einst von Mao Zedong als
Waffe gegen interne Feinde eingesetzt wurde, inzwischen sogar begrenzte Kritik in Form
von Leserbriefen zugelassen. Doch wenn irgendetwas Größeres passiert – Demonstrati-
onen, eine Naturkatastrophe oder ein Korruptionsfall – greifen sofort interne Richtlinien
für die Berichterstattung, an die sich alle halten müssen. Die Kontrolle der Medien ist
unter Staatspräsident Xi Jinping wieder strenger geworden. Spätestens seit den Olympi-
schen Sommerspielen werden Chinas Medien in viel stärkerem Maße für die Kampag-
nen internationaler Firmen und Markenhersteller genutzt. Das Internet spielt sich dabei
wegen seiner immensen Ausdehnung immer stärker in den Vordergrund.
Mitte November 2015 zählte die Volksrepublik fast 715 Mio. Internetnutzer. Das ent-
spricht einer Penetrationsrate von 46 % der Bevölkerung. Allein im Jahr 2015 wuchs Chi-
nas Internetgemeinde um 75 Mio. User. Laut dem China Internet Network Information
Center (CNNIC) nehmen 85 % der Internetnutzer im Land die digitalen Angebote mit
ihrem Handy oder Smartphone wahr. Damit ist der Siegeszug des Internets in China lange
noch nicht abgeschlossen. Denn vor allem in den Tier-2-Städten und im Hinterland existie-
ren enorme Potenziale für Zuwachszahlen. Entsprechend wird investiert. Die Führung in
116 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
Peking hat für den Ausbau der Internetinfrastruktur bis 2018 umgerechnet 188 Mrd. US$
reserviert. Schließlich birgt dies für die Wirtschaft ein enormes Geschäft. Laut einer Stu-
die der Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC 2015) ist online inzwischen
die erste Wahl für viele Chinesen, wenn sie einkaufen. Demnach wird in China bereits die
Hälfte des Umsatzes im Einzelhandel von Mobilgeräten und sozialen Plattformen beein-
flusst. So gaben in der PwC-Studie 85 % der befragten Chinesen an, ihre Recherchen zu
einem gewünschten Produkt im Internet begonnen zu haben. Deutlich mehr Chinesen
als im globalen Schnitt stützen sich dieser Umfrage zufolge (58 % gegenüber 47 %) vor
allem auf das Internet, bevor sie ein Produkt kaufen. Je betuchter die Konsumenten sind,
desto mehr scheinen sie sich auf das Internet zu verlassen. So ergab eine E-Commerce-
Studie der KPMG im November 2015, dass fast die Hälfte von 10.150 Befragten Chine-
sen bereits jetzt 50 % ihrer Luxusgüter online kaufen. (KPMG 2012) Der Zuwachs beim
Online-Shopping für Luxusware betrug demnach 2014 ein Viertel. Während das Produk-
terlebnis vor Ort in einem Geschäft oder Empfehlungen von Bekannten für Männer und
Frauen gleichermaßen wichtig für die Kaufentscheidung sind, neigen Frauen dreimal eher
als Männer dazu, sich auch von Blogposts oder sozialen Medien beeinflussen zu lassen.
Dies ist für geschlechterspezifische Produkte wie Bekleidung, Schuhe oder Kosmetik ein
besonderer Grund, die sozialen Plattformen in eine Strategie einzubinden. Welchen Unter-
schied das machen kann, wissen die Manager bei Otte, einer kleinen Boutique-Kette in
New York. Weil der 16 Jahre alte Retailer seit drei Jahren auf chinesischen Plattformen wie
Sina Weibo und WeChat aktiv ist, waren im August 2015 bereits die Hälfte seiner Online-
kunden Chinesen. Hier zeigt sich das ganze Potenzial der sozialen Medien für Marken-
kampagnen.
Sina ist Chinas größtes Portal und Medienwebseite. Sie wurde von einem 32 Jahre
alten Pekinger Studenten gegründet und gelangte zu Ruhm, als sie 1999 Berichte über
die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad durch die NATO ins Netz
stellte. Mithilfe massiver Werbeeinnahmen wurde der führende chinesische Mikroblog-
ging-Dienst Sina Weibo aufgebaut. Er erreichte schon 2013 eine halbe Milliarde User.
In dem Land mit der wahrscheinlich aktivsten Community für soziale Plattformen, wo
91 % angeben, in den vergangenen sechs Monaten die Internetseite eines sozialen Netz-
werks besucht zu haben, ist das ein enormer Erfolg. Andere führende Plattformen sind
WeChat von Tencent, QZone und Renren.
Die Größenordnungen, die Chinas Internetstars erreicht haben, sind für viele im
Westen nur schwer vorstellbar. Der chinesische Internet-Riese Alibaba wickelt mehr
Online-Zahlungen ab als eBay und Amazon zusammen. Alibaba ist schon der größte
Online-Einzelhändler der Welt und hat Chinas Shopping-Gewohnheiten revolutioniert.
Das Technologiekonglomerat Tencent – schon jetzt eine der teuersten Internetfirmen auf
dem Globus – wächst explosionsartig im Mobilbereich und hat zwei Milliarden US$ in
die globale Expansion gesteckt. Das Unternehmen wurde von BrandZ im Mai 2014 zur
wertvollsten Marke Asiens gekürt. Tencents populäre Messenger-App WeChat erreichte
im August 2015 rund 600 Mio. Teilnehmer, davon über 100 Mio. jenseits der Landesgren-
zen. (Millward 2015) Im September 2013 schloss Tencent mit einer Marktkapitalisierung
5.9 Medienlandschaft 117
von 101 Mrd. US$ zu Facebook auf. Wie selbstbewusst und stark Chinas neue Internetgi-
ganten sogar im Ausland schon auftreten, wurde beim Börsengang von Alibaba im Herbst
2014 in New York deutlich. Alibaba zahlte den am Börsengang (IPO) beteiligten Banken
nur eine Gebühr von einem Prozent auf das Emissionsvolumen. Der Standard für große
IPOs in den USA liegt bei drei bis fünf Prozent.
Das rasant expandierende Internetuniversum in China zieht auch westliche Konsum-
güterhersteller, Marketingfirmen, Celebrities und selbst Behörden und Vereine in seinen
Bann. Der FC Barcelona zählte auf der sozialen Plattform Sina Weibo im Juni 2014 nach
nur drei Monaten über eine Million Fans. Am Eingang der britischen Botschaft in Peking
können Besucher mit dem Smartphone von einer Steinplatte den Code für die Bot-
schafts-Webseite auf Weibo einscannen. Die User auf Weibo hatten mit einer Kampagne
maßgeblichen Einfluss darauf, dass die chinesische Führung tägliche Luftmessungen in
der Hauptstadt publik macht. Bei Unwettern organisieren Bürger in Peking über Weibo
spontan Rettungsaktionen, um am Hauptstadtflughafen gestrandete Passagiere einzu-
sammeln. Und die Lufthansa gibt regelmäßig Updates über ihre Fan-Zahlen auf Weibo
und RenRen. Der weltweit größte Konsumgüterhersteller Procter & Gamble verkauft auf
dem Online-Marktplatz Taobao Shampoo, Rasierer und Hautpflegemittel.
In China schält sich ein Dreigestirn führender Internetfirmen heraus. Tencent ist der
Platzhirsch für soziale Netzwerke und Spiele. Alibaba, das im Herbst 2014 seinen Auf-
stieg mit dem Börsengang in New York krönte, ist der größte Online-Marktplatz. Baidu
ist die führende Suchmaschine. Alle haben sie als Nachahmer westlicher Vorbilder
begonnen. Aber alle haben noch einiges draufgesetzt und ihr eigenes Geschäftsmodell
entwickelt. Experten kennen dieses Verhalten als „second generation innovation“. Auf
Deutsch: Die Nachahmer studieren sehr penibel die Stärken und Schwächen erfolgrei-
cher Pioniere. Dann kopieren sie das Vorbild und verbessern es. Und alle dehnen sie sich
derzeit mit massiven Zukäufen in die Claims der anderen Internetgiganten in China aus.
Alibaba stieg im Frühjahr 2013 mit 18 % bei Sina Weibo ein. Das Dreigestirn dieser
Giganten, in China als „BAT“ bezeichnet („Baidu, Alibaba und Tencent“), breitet sich
in fast alles aus, was online Geld bringt: Suchdienste, Shopping, Spiele, Bildung, Enter-
tainment, Banking und Videos. Dazu werden Logistikfirmen und Verteilzentren gekauft,
um einen flächendeckenden und zügigen Warenversand aufzubauen. Alibaba soll für
60 % der Päckchen verantwortlich sein, die in China verschickt werden. Mit dem größ-
ten Postversender des Landes, der China Post, ist Alibaba eine Kooperation eingegangen,
um online bestellte Ware binnen 24 h in den letzten Winkel Chinas liefern zu können.
Mit der China Post will Alibaba ein globales Express-Netzwerk aufbauen und den west-
lichen Konkurrenten einheizen. Das Geld dafür steht spätestens seit dem viel beachte-
ten Börsengang in den USA zur Verfügung. Und in den USA wurde 2014 mit 11 Main
ein Online-Kaufhaus eröffnet, das Amazon Kunden abspenstig machen soll. Alibaba und
Tencent kaufen gleichzeitig im Silicon Valley eine wachsende Zahl von Internet-Start-
ups auf, um auch in Nordamerika ihre profitablen Internet-Ökosysteme zu errichten.
Baidu entwickelt unterdessen mit chinesischen Herstellern einen eigenen Internet-
fernseher, mit dem der Absatz von Waren und zahlreiche Unterhaltungsangebote
118 5 China – Der Tanz mit dem roten Drachen
forciert werden können. Im Juli 2014 hörten wir von Baidu, dass es auch ein selbstfah-
rendes Auto entwickelt. Das Unternehmen ist ebenfalls auf dem Sprung nach Westen.
Im Silicon Valley hat Baidu ein eigenes Forschungszentrum eröffnet. Sein Antivirus-
Programm wurde 2013 vom Apps- und Spiele-Spezialisten Softonic als die vielverspre-
chendste Sicherheits-Software ausgezeichnet. Baidu und Tencent sind beide auch auf
der Forbes-Liste der innovativsten Firmen. Baidu hat seine Suchmaschine zuerst nach
Brasilien exportiert und macht sich in der Online-Vermögensberatung breit. Es scheint,
als könnten Zehntausende von Zensoren in China dem wirtschaftlichen Erfolg der
neuen Internetgiganten nichts anhaben. Baidu wird in westlichen Zeitungen gerne als
„das Google von China“ vorgestellt. Das ist es aber nicht. Baidu ist Google plus Ama-
zon. Und seit das Unternehmen im April 2014 den Internetbezahldienst Baidu Wallet
gegründet hat, ist es auch auf dem Weg, eine Bank zu werden, die sogar Vermögens-
verwaltung anbietet. Und wer weiß, wie schnell das selbstfahrende Auto kommt. Wir
werden unter diesen gigantischen Online-Mischkonzernen auch Bauchlandungen sehen.
Das wird aber der Attacke auf die globalen Märkte insgesamt keinen Abbruch tun. Ali-
baba machte zuletzt mit seinen beiden Marktplätzen – Tmall für große Händler und
wichtige Marken, Taobao für Kleinhändler und private Verkäufer – auf jeden US-Dollar
Umsatz 45 Cent Gewinn.
Ein typischer Tag im Leben eines chinesischen Mediennutzers sieht etwa so aus: Er
ist ständig am Telefon, hört morgens Radio, liest die E-News im Büro und ist dann ohne
Unterlass online. Er tummelt sich vor allem nachmittags und am Abend in den sozia-
len Netzwerken und schaut später in der Nacht Fernsehen. Aber TV und Radio dienen
mehr der Entspannung und Unterhaltung. Printmedien sind fürs Lernen und für Anekdo-
ten gut, die man sich im Freundeskreis erzählt. Das Internet dient der Unterhaltung, dem
Austausch mit Freunden und dem Shopping. Der Vormarsch des Internets hat begon-
nen, die Rolle der traditionellen Medien zu begrenzen und ihre Reichweite einzuschrän-
ken. Immer öfter sind es die sozialen Medien, die in China neue Geschichten, Themen,
Trends, Stars und Mode identifizieren. Traditionsmedien folgen oft nur noch.
Firmen und Markenhersteller beginnen, sich diesen Trend zunutze zu machen. Weibo
zählt mehr als 30.000 Firmen, die dort werben. Sina war eine der ersten Firmen, die es
in Chinas verstanden haben, dass Firmen gutes Geld zahlen, wenn sie die sozialen Platt-
formen in ihre Strategien einbauen können. Das Unternehmen bietet inzwischen sogar
lokalen und internationalen Markenherstellern Auswertungen und Analysen zum neu-
esten Verhalten von Onlinekunden an. Viele Marken haben begonnen, auf Weibo ihre
Geschichte zu erzählen. Multinationale Firmen können über die riesigen Plattformen
aufgrund der verfügbaren User-Informationen sehr zielgerichtet und regional fein abge-
stimmt Kampagnen fahren. Die führende Rolle der Onlineplattformen erlaubt es auch,
eine gute Markengeschichte von dort aus in die klassischen Printmedien zu tragen und
ein landesweites Publikum zu erreichen.
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Indien – Der neue Star
6
Mit 1,2 Mrd. Menschen ist Indien das zweitbevölkerungsreichste Land der Erde nach
China. Hinter China und Japan ist Indien auch die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens. Und
ganz sicher ist das Land einer der interessantesten und am schwierigsten zu navigierenden
großen Schwellenmärkte für internationale Marken. Obwohl es keine allseits verbindliche
Definition dafür gibt, wer in Indien der Mittelschicht angehört, handelt es sich nach den
meisten Schätzungen um 100 bis 300 Mio. Menschen. Mit 5138 US$ Pro-Kopf-Einkommen
zu Kaufkraft-Paritäten ist auf dem Subkontinent das Einkommensniveau niedriger als in
den übrigen BRIC-Staaten. Doch Indien hat einen enormen Vorteil durch seine Demogra-
fie. Hier lebt ein Viertel der weltweiten jungen Menschen – 60 % der Inder sind jünger als
30 Jahre. Das Durchschnittsalter liegt bei 26 Jahren. Diese junge Generation wird Schätzun-
gen zufolge auf absehbare Zeit jedes Jahr zwei Prozentpunkte zusätzlich zur gesamtwirt-
schaftlichen Leistung Indiens beitragen.
Die Gesellschaft und die Märkte des Landes sind komplex und vielfältig. Es gibt
in Indien 28 verschiedene Bundesstaaten und 22 offizielle Sprachen, von den Hun-
derten von anderen Sprachen und Dialekten einmal ganz abgesehen. Und es gibt eine
nicht bekannte Zahl von Variationen und Richtungen in der Küche, an Verhaltensnor-
men, bei den Festlichkeiten, Sitten und Konsumgewohnheiten. Planen Sie eine beliebige
Geschäftsreise oder ein Forschungsprojekt in Indien, und Sie werden auf jeden Fall eines
oder mehrere lokale Festivitäten erleben. Das siebtgrößte Flächenland ist schon immer
eine Klassengesellschaft gewesen, in der neben der Kaste auch Einkommen, Ausbildung
und Beruf darüber bestimmen, welchen „Platz“ man einnimmt, mit wem man am Tisch
sitzt und wen man heiratet.
Indien ist ein Land voller Kontraste und Widersprüche, mit hoch entwickelter Techno-
logie, weltklasse Firmen und einem Spitzenplatz als Zielland für ausgelagerte geschäftli-
che Prozesse auf der einen Seite. Doch auf der anderen Seite müssen sich mehr als zwei
Drittel aller privaten Haushalte und Firmen fast täglich mit Stromausfällen herumschlagen.
Korruption ist ein integraler Faktor bei Investitionen aller Art. Und vier von fünf Men-
schen müssen mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen. Zu jedem beliebigen
Augenblick, sagt der in Indien geborene US-amerikanische Heilexperte und Autor Deepak
Chopra, könne Indien barmherzig oder hitzköpfig, unterwürfig oder arrogant, stolz oder
zutiefst beschämt, spirituell oder grob sein (Chopak 2012). Für jene, die dieses komplexe
Land noch nicht kennen, macht die verwirrende Mixtur von Menschen, Sprachen, Farben,
Göttern und Religionen kaum einen Sinn. Für diejenigen, die Indien bereits kennen, ist es
ein unglaublich faszinierender, attraktiver, inspirierender und reicher Ort, der vor lauter
Leben, Farben und Kontrasten fast zerplatzt – ein lebendes und florierendes Stück Kunst.
Ein genauerer Blick auf die führenden Magazine Indiens zeigt die enorme sprachli-
che Vielfalt. Die größte Publikation, was die Leserschaft angeht, ist Vanitha, ein Blatt,
in dem sich alles um Familie, Fitness, Geld, Schönheit und Mode dreht. Es erscheint
in Malayalam, einer Sprache, die von rund 35 Mio. Indern in Kerala gesprochen wird.
Das größte englischsprachige Magazin ist nur die viertgrößte Publikation, mit einer um
ein Drittel geringeren Auflage als Vanitha. Die beiden nächstgrößeren Magazine werden
in Hindi herausgegeben. Die Sprachen Indiens gehören zu verschiedenen Sprachfami-
lien. Die sogenannten indoarischen, eine Reihe indoeuropäischer Sprachen, werden von
fast drei Viertel der Inder gesprochen. Die sogenannten drawidischen Sprachen, darunter
Tamil, Telugu und Malayalam, werden von etwa 220 Mio. Indern meist im Süden des
Landes beherrscht. Hindi ist die offizielle Sprache der Republik Indien. Englisch, das
etwa 125 Mio. Inder sprechen, ist die zweite offizielle Sprache. Die größten religiösen
Gruppen sind laut der jüngsten Befragung des Innenministeriums Hindus (80,5 %) und
Moslems (13,4 %), gefolgt von Christen, Sikhs und Buddhisten.
In den beiden vergangenen Jahrzehnten hat Indien sein Schulsystem deutlich ver-
bessert. 93 % aller Kinder im schulpflichtigen Alter gehen zur Schule, 2009 hatte die
indische Regierung eine allgemeine Schulpflicht für Kinder von sechs bis 14 Jahre ein-
geführt. Aber der Anteil der höheren Bildung lässt laut dem Papier „The Middle Class
in India“ von der Deutsche Bank Research gegenüber anderen Schwellenländern immer
noch zu wünschen übrig (Saxena 2010). Weniger als jeder fünfte Schüler, der die Sekun-
darausbildung beendet, schreibt sich innerhalb der nächsten fünf Jahre an einer Univer-
sität ein. Zahlreiche Forscher führen dies unter anderem auf die mangelhafte Ausbildung
an einigen indischen Hochschulen zurück. Und weil die Unzufriedenheit der Eltern mit
der Sekundarstufe (bei uns Gymnasium, in den USA High School) weit verbreitet ist,
hat zum Beispiel der Bundesstaat Gujarat mehr sogenannte „cram schools“ – Privatschu-
len, die nach dem regulären Unterricht zusätzlichen Unterricht anbieten – als reguläre
Schulen. Die stark gestiegene Nachfrage für zusätzlichen Unterricht (vor allem in Mathe,
Physik und Chemie) in diesen „cram schools“ ist ein Beleg dafür, wie die Ansprüche der
neuen Mittelschicht wachsen. Einst war der Zusatzunterricht ein purer Luxus, den sich
nur reiche Eltern leisten konnten. Aber jetzt können sich immer mehr Eltern die Zusatz-
ausgaben für den Privatunterricht leisten. Sie wollen ihre Kinder für den Aufstieg des
Landes gut vorbereiten. Das Ergebnis des kollektiven Strebens ist deutlich sichtbar: Laut
der Volksbefragung von 2011 stieg die Alphabetisierungsrate in den 247 Mio. privaten
6 Indien – Der neue Star 125
Haushalten Indiens auf nunmehr 74 % an. Dieser Prozentsatz hat sich seit dem Ende der
britischen Kolonialherrschaft versechsfacht.
Indiens Hauptstadt und politisches Zentrum ist Neu-Delhi. Sein Wirtschafts- und
Finanzzentrum ist Mumbai. Das Land hat auch seine eigene Version eines Silicon Val-
ley. Es ist das IT-Cluster in und rund um Bangalore. Ausländische Investoren und indi-
sche Ökonomen haben acht Tier-1-Städte in Indien gezählt. Sie sind die Drehscheiben
und Umschlagzentren für Einzelhandel, geschäftliches Treiben und Innovationen. Die
Städte sind Mumbai, Delhi, Bangalore, Hyderabad, Chennai, Kolkata, Ahmedabad und
Pune, wo Mercedes-Benz – der größte Luxuswagenhersteller Indiens – seit dem Herbst
2015 den Maybach S500 baut. Zu den 36 Tier-2-Städten mit Einwohnerzahlen zwischen
einer und fünf Millionen zählen unter anderem Surat, Nagpur und Jaipur. Nach jüngstem
Stand gibt es zudem 7900 Städte mit jeweils mehr als 50.000 Einwohnern. Dies ist der
urbane Bereich, in dem zuletzt der Einzelhandel am schnellsten wuchs.
Indiens Urbanisierung beschleunigt sich deutlich, doch seine Einzelhandelslandschaft
bleibt in höchstem Maße unorganisiert. Bei Nahrungsmitteln sind zum Beispiel Indiens
„kiranas“ der dominante Player. Sie sind die indische Version der Tante-Emma-Läden.
Es gibt zudem eine unbekannte Zahl an Gemüse- und Blumenmärkten, auf denen sehr
viele Familien jeweils nur ein bestimmtes Gemüse anbieten. Einkaufszentren und Super-
märkte eröffnen bislang überwiegend in den Tier-1-Städten und vermehrt jetzt auch in
den Tier-2-Städten. Delhi und Mumbai sind noch immer unumstritten die beiden Zen-
tren für Luxusartikel. Deren Markt soll in Indien bis 2017 auf 18 Mrd. US$ wachsen.
Doch das ist immer noch nicht viel, vor allem im Vergleich zu anderen Schwellenlän-
dern. Im Mai 2012 hatten Gucci und Hugo Boss drei Läden in Indien, im Unterschied zu
den 35 und 86 in China. Mit der beschleunigten Urbanisierung und steigenden Einkom-
men wird sich das allerdings schnell ändern. Laut einer Prognose von Goldman Sachs
werden bis zur Mitte des Jahrhunderts 65 % der Inder in einer Stadt wohnen (Goldman
Sachs Asset Management 2010). Das wird zu dramatischem Wachstum bestehender
Städte und zur Neugründung zahlreicher Kommunen führen. Bis 2050 wird demnach
erwartet, dass es in Indien 129 Städte mit jeweils einer bis fünf Millionen Einwohnern
geben wird. Europa hat lediglich 34 solcher Städte. Die Urbanisierung schafft in Indien
also immer mehr Wachstumszentren. Und sie erfasst auch zunehmend das bisherige
Hinterland. Damit hat eine lange währende Wachstumsgeschichte begonnen. Der inzwi-
schen verstorbene Vorstandschef von Louis Vuitton, Yves Carcelle, sagte 2012, es sei
wichtig, sich in diesem Markt an die Spitze zu setzen, er selbst habe diese Entscheidung
schon vor 20 Jahren getroffen. Und er fügte hinzu, Indien werde ein Schlüsselmarkt
sein, in den nächsten drei bis fünf Jahren werde die Zahl der Malls zunehmen (Menoni
7. September 2012).
Indien hat 2015 – im Jahr eins nach der Wahl von Narendra Modi zum Ministerprä-
sidenten – in den globalen Rankings wieder erheblich Boden gutgemacht, vor allem im
„Global Competitiveness Report 2015–2016“ des Weltwirtschaftsforums (Schwab 2015).
Indien steigt in dieser Rangliste gegenüber dem Vorjahr um 16 Positionen auf den 55.
Platz auf, hinter Bulgarien und Rumänien. Dennoch bleibt das Land sieben Plätze hinter
126 6 Indien – Der neue Star
der Platzierung, die es 2007 eingenommen hatte. In puncto Marktgröße konnte Indien
mit einem hervorragenden dritten Rang am besten abschneiden. Doch das Land hat noch
viel aufzuholen, was die Effizienz des Arbeitsmarktes angeht (103. Position) und was
die Korruption betrifft, die als größtes Investitionshindernis gesehen wird. Enttäuschende
Ergebnisse gibt es erwartungsgemäß bei der Infrastruktur (74. Platz). Auch mit Blick auf
die Verfügbarkeit der neuesten Technologien schneidet Indien mit einem 108. Platz noch
nicht gut ab. Erfreuliche Plätze belegt das Land dafür bei der Verfügbarkeit von Lieferan-
ten (54.), der Clusterbildung (29.) und der Kapazität für Innovationen (50.).
Seit in Indien 1991 die Wirtschaftsreformen begannen, hat es deutliche Fortschritte
gemacht, auch wenn immer wieder (zu Recht) bemängelt wird, dass die Schlagzahl der
Reformen höher hätte sein können. Doch in den vergangenen Jahren hat die Zahl der
Probleme zugenommen. Die allgemeine Unzufriedenheit über den Umbau der Wirtschaft
führte 2014 zur Wahl des Reformers Narendra Modi. Laut dem WEF (Schwab 2015)
enttäuscht Indien bei einigen Faktoren, die für seine Wettbewerbsfähigkeit entscheidend
sind, darunter das Transportwesen, IT und die Energie-Infrastruktur. Diese reichen laut
dem WEF nicht aus, um dauerhaft Wachstumsraten von bis zu acht oder zehn Prozent zu
erzielen. Im Gesundheitswesen und in der schulischen Grundausbildung schneidet Indien
noch schwächer ab als in der Infrastruktur. Trotz sichtbarer Verbesserungen ist die Busi-
ness Community noch nicht sehr zufrieden mit dem Tempo der Reformen. Dazu gehört
auch die Tatsache, dass indische Frauen weniger gut ausgebildet und in der Arbeitswelt
integriert sind als in anderen BRIC-Staaten. Laut dem Weltwirtschaftsforum hat Indien
einen kritischen Punkt erreicht, an dem es seine Reformen beschleunigen muss, um wie-
der mehr Vertrauen der Investoren, auch der westlichen, zu gewinnen.
Indiens Bruttoinlandsprodukt hat 2016 nicht nur 2,29 Billionen US$ erreicht, was
dem Land den siebten Rang unter den größten Volkswirtschaften vor Italien und hinter
Frankreich sicherte, Indien hat im ersten Quartal 2015 China beim Wachstumstempo
überholt. Jetzt ist Indiens Wirtschaft mehr als viermal so groß wie zu Beginn des ver-
gangenen Jahrzehnts. Doch um dauerhaft zu wachsen, bedarf es eines mutigen Reform-
schubs. Den haben sich viele von Ministerpräsident Narendra Modi versprochen, als
dieser im Mai 2014 mit seiner als wirtschaftsfreundlich geltenden Bharatiya Janata Party
(BJP) eine stattliche Mehrheit bei den Wahlen gewann. Modi geht zwar entschieden
gegen Korruption und den Wildwuchs bei den staatlichen Subventionen vor: Von 2007
bis 2014 waren die Subventionen jährlich um 19 % gewachsen, bis nach Expertenschät-
zungen bis zu 40 % der Staatsausgaben in verschwenderische Projekte geleitet wurden.
Doch Modi kommt mit den beiden Schlüsselprojekten seines Reformwerks – der Steuer-
reform und einer neuen Gesetzgebung für den Landverkauf – nicht so schnell voran wie
erwartet.
Ohne deutliche Fortschritte bei diesen Reformen können jedoch auch andere poli-
tische Großprojekte wie die „Make in India“-Initiative, die einen größeren Beitrag der
modernen Industrie zum Ziel hat (Sheel 2015), kaum spürbar vorankommen. Das sagt
Alok Sheel, der Chef für Planung und wirtschaftliche Angelegenheiten in der Regie-
rung von Kerala. In einer recht ausgewogenen Analyse zog die Neue Zürcher Zeitung
6 Indien – Der neue Star 127
ein Jahr nach dem Amtsantritt von Modi folgendes Fazit: Modi habe zwar kein neues
Land erschaffen, doch er habe erste Spuren hinterlassen (Pabst 23. Mai 2015). So wur-
den Auslandsinvestitionen in manchen indischen Industrien erleichtert, das Steuersystem
in ersten Punkten vereinfacht, Investitionen in die Infrastruktur forciert, der Staatshaus-
halt „ins Lot“ gebracht und das Wachstum verstetigt. Doch Modi sei Opfer der von ihm
selbst angeheizten und teils unrealistischen Erwartungen geworden. Er hatte vor allem in
den ersten Monaten nach der Wahl schlagzeilenträchtige Großkampagnen versprochen,
darunter, Indien bis zum 150. Geburtstag Gandhis zu einem sauberen Land zu machen,
bis 2022 etwa 100 Smart Citys zu erschaffen und mit der „Make in India“-Kampagne
100 Mio. neue Arbeitsplätze in der Industrie zu schaffen.
Tatsächlich sieht man unter diesem Blickwinkel auch in Indien selbst die ersten Fort-
schritte und ein gutes Potenzial, deutlich mehr zu erreichen. Befürworter von Modi ver-
weisen darauf, dass sein bisher eher gemächliches Reformtempo eine Strategie sei, die
man als „creative incrementalism“ bezeichnen könne, also bedachte, kleine Schritte,
mit denen die vielen Widerstände im Land nicht verstärkt werden. Auch in China wird
bei großen Projekten auf viele kleine Schritte gesetzt, um bei der Umsetzung wegen der
weitreichenden Bedeutung nicht zu viele Betroffene zu überfordern. Indien profitiert der-
zeit von den stark ermäßigten Rohstoffpreisen, die ab 2014 scharf eingebrochen sind.
Zum Beispiel importiert das Land 80 % des Rohöls, das es verbraucht. Außerdem erfreut
sich Indien neben China der größten Diaspora unter den führenden Schwellenländern. So
wird jedes siebte Start-up-Unternehmen in Silicon Valley von Indern gegründet. Unter
den Firmengründungen von Einwanderern gibt es mehr indische als aus den vier nächst-
größeren Herkunftsländern Großbritannien, China, Taiwan und Japan (Chadha 2015). So
sind einige der bekanntesten CEOs der Welt Inder, darunter Sundar Pichai bei Google,
Satya Nadella bei Microsoft, Indra Nooyi bei PepsiCo und Ajaypal Singh Banga bei
MasterCard. Außerdem hat Indien noch viel mehr Aufholpotenzial als China, unter ande-
rem, weil es seine Reformen zwölf Jahre später als China einleitete. So wird China nach
Prognosen der Weltbank etwa 2018 den Status eines entwickelten „high income“-Landes
erwerben, während Indien sich dafür noch etwa bis 2039 Zeit lassen muss (Rhagavan
3. Juli 2015).
Außerdem hat das Land bei der Entwicklung eigener Industrien bis hin zu Forschung
und Entwicklung die ersten großen Erfolge zu verzeichnen. Das gilt nicht nur für das
Auslagern der Geschäftsprozesse westlicher Firmen. Viele Hightech- und Pharmafirmen
sind bereits in den 1990er Jahren entstanden, und zahlreiche von ihnen machen schon
jetzt einen Großteil ihres Geschäfts jenseits der Landesgrenzen. Indiens Generikabran-
che hat sich zum führenden ausländischen Lieferanten auf dem US-amerikanischen Arz-
neimittelmarkt entwickelt. Daraus entstand eine Milliardenindustrie, deren Spezialität es
ist, patentgeschützte westliche Medikamente auseinanderzunehmen und die Bestandteile
dann mit leicht modifizierten Fertigungsverfahren selbst herzustellen. Bharat Forge ist
ein Beispiel aus der Autoindustrie. Das Unternehmen ist einer der führenden Lieferan-
ten der Autobranche für geschmiedete Fahrwerks- und Motorenkomponenten. Bharat
Forge gehört zur Kalyani-Gruppe. Der führende Exporteur von Autoteilen in Indien zählt
128 6 Indien – Der neue Star
unter anderem BMW, VW, Audi und Daimler zu seinen Kunden und ist in der Branche
bekannt für innovative Leichtbaulösungen. Bharat Forge ist zum weltweit führenden
Produzenten von Chassis-Komponenten aufgestiegen. Seinen Vorstoß in die Weltwirt-
schaft hat das Unternehmen mit schneller Umsetzung vom Reißbrett bis zum Fließband
sowie mit niedrigen Kosten und Flexibilität bewerkstelligt. Den Aufstieg zu einem Inno-
vationskraftprotz reflektiert die Veränderung der Belegschaft: 1989 waren es noch 85 %
Arbeiter. Ein Jahrzehnt später hatten Arbeiter nur noch einen Anteil von 15 % an der
Belegschaft. Dafür waren über 700 Ingenieure im Einsatz.
Indiens führende Firmen bauen seit Jahren ihre F&E-Netzwerke im Westen aus.
Dr. Reddy’s, eines der bedeutendsten Pharmaunternehmen auf dem Subkontinent, eröff-
nete das jüngste Forschungslabor nicht in Bangalore, sondern in Cambridge, Großbri-
tannien. Dort werden Zwischenstoffe für eine effizientere Herstellung von Arzneimitteln
produziert und Entwicklungsschritte für die Herstellung von Medizin optimiert, damit
die Zeit bis zur Markteinführung abgekürzt werden kann. Suzlon, der fünftgrößte Her-
steller von Turbinen für Windanlagen auf der Welt, hat den Firmensitz im indischen
Pune. Aber das wichtigste Forschungszentrum steht in den Niederlanden. Reliance
Media Works, das an der Produktion des Kinohits Avatar beteiligt war, betreibt ein
globales Netzwerk von Kreativzentren, darunter in London, San Francisco und Tokyo.
Daher überrascht es nicht, dass Organisationen wie die OECD in den jüngsten Prog-
nosen Indien ein stabiles Wachstums-Momentum in Aussicht stellen (The Hindu 10.
August 2015). Dass die Reformen im Land ein schwieriges Unterfangen bleiben, bestrei-
tet trotz des enormen Potenzials und trotz der erkennbaren Fortschritte kaum jemand. So
rangiert das Land im „Ease of Doing Business“-Bericht der Weltbank 2015 auf Position
130 von 189, weit hinter China (84.) und Brasilien (116.).
Aber das war erst kurz nachdem die ersten Reformschritte von Narendra Modi Wir-
kung erzielen konnten. Es ist unterdessen kein Zufall, dass Modi seine ehrgeizige „Make
in India“-Kampagne auf der Hannover Messe 2015 startete, um internationale Unterneh-
men zur Fertigung in Indien einzuladen (siehe Abb. 6.1 und 6.2).
Indien hat im globalen Markenuniversum bereits tiefe Spuren hinterlassen. Laut Glyn
Atwal (2012), einem Professor an der Burgundy School of Business in Frankreich, ist
Indiens Einfluss auf der globalen Bühne noch nie so groß gewesen. Atwal beschreibt
das Land als eine Quelle der Inspiration, die immer größeren Einfluss auf internatio-
nale Marken nimmt. Die Hollywood-Schauspielerin Deepika Padukone ist Botschafte-
rin für Tissot in einer erfolgreichen weltweiten Kampagne. Typische indische Gerüche
inspirieren derweil bekannte westliche Parfüms. Christian Dior Escale a Pondichéry
benutzt Jasmin, indisches Sandelholz und Schwarztee-Essenzen, um exotische Düfte
zu kreieren. Und Kaffee-Genießer sind bereits vertraut mit einem weiteren Beispiel
von Indiens wachsender Prominenz. Chai-Tee-Variationen bei Starbucks haben sich mit
der Mischung aus Ingwer, indischem Galgant, Sternanis, Gewürznelken und Zimt eine
beachtliche Gefolgschaft erobert. Auch Yoga und Ayurveda (traditionelle indische Heil-
kunst) haben weltweit inzwischen Hunderttausende von Fans.
6.1 Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung 129
Als 1991 die Wirtschaftsreformen begannen, war Indien ein rückständiges Land. Nach
der Unabhängigkeit von Großbritannien hatte sich das Land für ein sozialistisches Ent-
wicklungsmodell entschieden, es beruhte auf Selbstversorgung und einer staatlich kon-
trollierten Wirtschaft. Die Regierungen waren nach innen orientiert sowie skeptisch
gegenüber freien Märkten und internationalem Handel. Fast ein halbes Jahrhundert
lang regierten Mahatma Gandhi, der Führer der Unabhängigkeitsbewegung, Jawaharlal
Nehru, Indiens erster Premierminister, und dessen Tochter Indira Gandhi die am meisten
verstaatlichte Demokratie in der Welt. Bis zum Jahr 1991 konnten Fahrradhersteller nur
dann andere Reifen in der Fertigung verwenden, wenn sie eine Genehmigung der Regie-
rung hatten. Die Folgen waren gravierend: Das Wachstum der Wirtschaft war minimal,
die Armut wurde kaum reduziert, wenn überhaupt. Indiens Firmen wurden vom „license
raj“, einem „surrealen Mix aus sowjetischer Dusselei, britischer Pedanterie und indischer
Improvisierung“ (Foulis 2011; Übersetzung des Verfassers aus dem Englischen) erwürgt,
wie es der Economist 2011 beschrieb.
130 6 Indien – Der neue Star
Abb. 6.2 Ein Beispiel für die Kampagne aus dem „Make in India“ Jahr 2015. Indien betreibt in
den wichtigsten Industrienationen Werbung, um Investoren für Wirtschaftssektoren anzuziehen,
die für die weitere Entwicklung Indiens eine besondere Bedeutung haben. (Quelle: Schaffmeister
2015)
Im Rahmen der Reformen begann Indien, die Einfuhrzölle zu senken, die Regulie-
rungen der Industrie wurden gelockert, zahlreiche Staatsfirmen teilweise privatisiert.
Bestimmungen wurden zuerst im Automobilsektor, in der Infrastruktur und im Finanz-
wesen gelockert. Ein beträchtlicher Teil der staatlichen Kontrollen wurde abgeschafft,
um Wettbewerb herzustellen und die Effizienz zu steigern. Mit Ausnahme von ein paar
umweltrelevanten Industrien wurde das Lizenzsystem abgeschafft. Die Liste der dem
Staat vorbehaltenen Industrien wurde von ehemals 18 auf drei verkürzt. Indien führte
flexible Wechselkurse ein. Reformen des Finanzsektors hatten von Anfang an eine hohe
6.1 Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung 131
Priorität. Die Regierung verstand, dass es wichtig war, das verfügbare Kapital effizienter
in die expandierenden Industrien zu lenken. Dass Indiens Banken heute relativ stark sind,
hat mit dieser frühen Weichenstellung in den 1990er Jahren zu tun.
Die Reformen setzten in Indien rasch Wachstumspotenzial frei. Von 1994 bis 1997
wuchs die Wirtschaftsleistung des Landes jährlich um 7,5 %. Das war mehr als dop-
pelt so viel wie in den vier Jahrzehnten bis 1980. Von 2005 bis 2008 beschleunigte sich
der BIP-Zuwachs noch einmal spürbar auf 9,5 % pro Jahr. Der Anteil der Armen an der
Bevölkerung brach von 45 % im Jahr 1994 auf knapp 22 % im Jahr 2012 ein. Die Spar-
quote stieg im selben Zeitraum von 21,5 % des BIP auf 34 %. Das stellte wesentlich
mehr Kapital für Investitionen zur Verfügung. Diese schossen bis 2011 auf 37 % des BIP
nach oben. Auch wenn Indiens Pro-Kopf-Einkommen immer noch das niedrigste in den
BRIC ist, hat das Land in immer kürzeren Abständen sein Einkommensniveau verdop-
pelt. Die erste Verdoppelung dauerte 40 Jahre ab 1950, dann 15 Jahre nach 1991 und nur
etwas mehr als ein Jahrzehnt bis zum Jahr 2018.
Die wirtschaftliche Liberalisierung hat den Aufstieg zahlreicher Firmen, vor allem in
den Sektoren Software, Pharmazie, Telekom und Stahl, erlaubt. Indien hat sich zu einer
Exportmacht wissensbasierter Produkte und Dienstleistungen entwickelt. Die Firmen des
Landes haben aus dem Zwang, trotz vieler Hürden innovativ zu werden, eine Stärke ent-
wickelt. Auf diese Weise fand der indische Ausdruck „Jugaad“ Eingang in die Manage-
ment-Bücher. Der Ursprung des Begriffs liegt in Indiens riesigem Landwirtschaftssektor.
Bauern, die sich ein richtiges Fahrzeug (jugaad) nicht leisten konnten, befestigten eine
Bewässerungspumpe an einem Stahlrahmen mit vier Rädern. Heutzutage wird dieser
Ausdruck im weiteren Kontext mit sogenannten „frugalen Innovationen“ verwendet.
Gemeint sind Produkte, die gut genug für den Markt sind und mit minimalem Einsatz
entwickelt werden.
Seit dem Beginn der Reformen in den frühen 1990er Jahren hat sich der „Elefant“ in
einen „Tiger“ verwandelt, befand das Cato Institute (2011) in einem Papier über 20 Jahre
Wirtschaftsreformen in Indien. Seitdem hat das Land auch zahlreiche neue Champions
in Industrien wie Computersoftware, Stahl, medizinischem Tourismus und Autozulie-
ferern hervorgebracht. Trotz aller Schwächen und Rückschläge sind die Reformen seit
1991 so erfolgreich gewesen, dass keine Regierung es gewagt hat, sie zurückzuschrau-
ben. Nicht wenige im Land erwarten, dass Indien bis zur Mitte des Jahrhunderts zu
China aufschließen kann. Die Erwartungen werden auch dadurch genährt, dass das viel
bewunderte China nun langsamer wächst. Mancherorts sind die Hoffnungen noch größer.
Mohan Guruswamy, der Leiter des Centre for Policy Alternatives und in den 1990er Jah-
ren ein Top-Berater der indischen Regierung, sagt seinem Land vorher, bis 2035 die füh-
rende Volkswirtschaft in Asien zu werden. In ihrem Buch „Chasing the Dragon“ erklären
Guruswamy und Singh (2010), warum sie so optimistisch sind: Indien ist jünger, es
hat sich weiter zur Welt geöffnet, es spricht englisch und profitiert von der anhaltenden
Urbanisierung mit einer rasant wachsenden Mittelschicht.
Doch es gibt noch sehr viel zu tun, bis das Fernziel, die Nummer eins in Asien zu wer-
den, erreicht werden kann. Keine Regierung hat es bisher gewagt, die sehr restriktiven
132 6 Indien – Der neue Star
Arbeitsgesetze in Indien aufzuweichen. Das ist der wichtigste Grund, warum das Land
bei arbeitsintensiven Industrien nicht weiter vorangekommen ist und von China abgehängt
wurde. Indien konnte sich bei seiner Modernisierung auch nicht auf billige Exporte stüt-
zen, wie es die meisten asiatischen „Tiger“ vermochten. Bis heute ist es in Indien fast
unmöglich, Arbeiter in Firmen mit mehr als 100 Beschäftigten zu entlassen. Dies geht
zurück auf den sogenannten Industrial Disputes Act von 1947, der 1982 noch einmal
verschärft wurde. Dem Gesetz zufolge müssen solche Massenentlassungen oder Schlie-
ßungen von staatlicher Seite genehmigt werden. Die Reformen bleiben auch mit Blick
auf die Privatisierungen unvollendet. Der Finanzsektor ist dafür ein gutes Beispiel. Zahl-
reiche private und ausländische Konkurrenten haben sich in diesen Markt gewagt. Aber
70 % aller Aktiva im Bankensektor werden immer noch von der Regierung kontrolliert.
Die Energiewirtschaft ist ein weiteres Beispiel. Während der Spitzenzeiten des Verbrauchs
fehlen Indien zehn Prozent Stromkapazität. Will das Land in den kommenden zehn Jahren
Wachstumsraten von sechs bis acht Prozent erreichen, muss es laut verschiedenen Pro-
gnosen seine Stromproduktion verdoppeln. Um diese gewaltige Aufgabe bewältigen zu
können, wurde der Energiebereich für private Investitionen zugänglich gemacht. Doch der
Staat scheint nicht gewillt, die Kontrolle abzugeben. Die Produktion von Kohle, der wich-
tigsten Quelle der indischen Kraftwerke, wird ebenfalls von Staatsfirmen dominiert. Das
gilt auch für die Stromnetze, die wegen der hohen Subventionen staatlich bleiben. Das
Resultat ist eine ineffiziente Industrie, die von Verlusten und Blackouts geplagt wird. Der
spektakulärste Stromausfall in der Geschichte der Menschheit stürzte im Juli 2012 rund
700 Mio. Inder in 20 der 28 Bundesstaaten in Dunkelheit.
Indien hat also noch viel vom nötigen Reformwerk vor sich. Doch der Reformdruck,
der neue Premier sowie die Chance, den Erzrivalen China beim Wachstumstempo für
einige Jahre im Rückspiegel verschwinden zu sehen, sind eine starke Motivation. Vor
allem in der Modernisierung der Infrastruktur steckt noch erhebliches Aufholpotenzial.
Studien wie die des Cato Institute (2011) führen die Infrastruktur mit Korruption und
Bürokratie als die drei größten Hemmnisse für Investitionen und Wachstum auf. Wegen
schlechter Straßen erreichen demnach bis zu 40 % der jährlichen Ernte nicht den Ein-
zelhandel. Die Forscher bei Cato vermerken zudem, Indien brauche große Fortschritte
in der Ausbildung, vor allem der dualen Ausbildung, um seine demografische Dividende
einzustreichen. Ein weiterer starker Treiber für Indiens wirtschaftliche Entwicklung ist
die enorme Zahl junger Menschen, die die Früchte der Reformen ohne weitere Verzöge-
rungen genießen und aufsteigen wollen. Daher sind viele Beobachter mit Blick auf die
langfristige Entwicklung des „Elefanten“ unbeirrt positiv gestimmt. In seinem Weltbank-
Papier „Reshaping tomorrow: Is South Asia ready for the big leap?“ warnt der Autor Ejaz
Ghani (2011) davor, Indiens weiteres Wachstum als garantiert zu betrachten. Das ist eine
Anspielung auf die nötigen Reformen. Ghani sieht dennoch eine starke empirische Recht-
fertigung für einen optimistischen Ausblick. Laut Ghani werden die wichtigsten Treiber
künftig die junge Generation, eine bessere Regierung, die wachsende Mittelschicht und
die nächste Welle der Globalisierung sein. Seiner Prognose zufolge werden in den kom-
menden zwei Jahrzehnten weitere 20 Mio. Inder in die Mittelschicht aufsteigen.
6.2 Aktuelle Impressionen 133
Als Starbucks im Oktober 2012 sein erstes Café in Indien eröffnete, mussten Sicherheits-
kräfte wegen des massiven Andrangs für Ordnung sorgen. Begeisterte Kunden aus der
markenbewussten Mittelschicht mussten vor dem kolonialen Gebäude in der Innenstadt
von Mumbai eine Stunde warten, bis sie ihr Getränk bestellen konnten. Die neue inter-
nationale Marke erregte großes Aufsehen, zumal Indien die Heimat des Chai ist, eines
gezuckerten, milchigen Tees, der traditionell von Straßenverkäufern angeboten wird.
Doch in den vergangenen fünf Jahren ist Indiens Kaffeeindustrie dank steigender ver-
fügbarer Einkommen von 40 Mio. auf 230 Mio. US$ gewachsen. In Indien kombiniert
Starbucks (Joint Venture mit Tata Global Beverages) sein Kaffeeangebot mit Wraps, die
mit lokalem Cottage-Käse gefüllt sind, sowie mit Blaubeer-Muffins. Der Eintritt der
weltweit größten Kaffeekette in den indischen Markt ist ein weiterer Beweis dafür, dass
das Land auf dem Weg in eine Konsumgesellschaft einen kritischen Meilenstein erreicht
hat. Laut der Beratungsgesellschaft Tata Consultancy Services (2012) ist Indien auf
Basis der Kaufkraftparitäten bereits die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Interessant
für Konsumgüterhersteller ist, dass der Dienstleistungssektor etwas über die Hälfte des
BIP ausmacht. Ein Blick hinter die statistischen Kulissen gibt dabei den Blick auf eine
wichtige Veränderung frei, die für Markenexperten vielversprechend klingt. Die Zahl der
Call Center ist in den vergangenen Jahren in Indien zurückgegangen, vor allem wegen
wachsender Konkurrenz aus Ländern wie Vietnam und den Philippinen. Der Outsour-
cing-Sektor im Land hat die Chance genutzt, auf der Wertschöpfungsleiter nach oben zu
klettern und in Segmente wie die Software-Entwicklung, den Medizingerätebereich und
das Rechnungswesen vorzudringen.
Indien hat zudem bereits eine beachtliche Basis in Industrien wie traditionelle Tex-
tilien, Landwirtschaft, Bergbau, Maschinen, Eisenbahnen, Schiffsbau, kleine Fahrzeuge
und in der Petrochemie aufgebaut. Es entwickelt sich schnell in den Bereichen Pharma-
zie, IT und Telekommunikation. Viel Potenzial sehen Experten auch in der Nahrungs-
verarbeitung. Und Indien ist bereits der zweitgrößte Markt für Aufzüge. Das Land strebt
außerdem eine Schlüsselposition im Weltmarkt für Elektroautos an. Die indische Tele-
kombranche genießt weltweit Ansehen für ihre innovative Art bei der Bereitstellung
günstiger Geräte und der Verbreitung von Handys selbst in den armen Bevölkerungs-
schichten. Sieben der 15 weltweit führenden Outsourcing-Firmen für Technologie haben
ihren Sitz in Indien, und das Land gilt immer noch als das beliebteste Ziel für Verlage-
rungen nach Übersee, hinter den USA.
Der mittel- und langfristige Ausblick Indiens hat bereits zahlreiche Markenherstel-
ler ins Land gelockt. Eine wachsende Zahl von ihnen bezeichnet Indien als einen der
Schlüsselmärkte für die internationale Expansion. Bei Nokia Indien trugen zur Mitte des
Jahrzehnts die Erlöse über zehn Prozent zum weltweiten Geschäft bei, weil das Unter-
nehmen selbst laut der Konkurrenz eine gute Strategie der Anpassung an die Vorlieben
und Geschmäcke der lokalen Konsumenten eingeschlagen hat. Bei der Standard Charte-
red Bank trägt Indien 20 % zum Geschäft bei. Für Suzuki sind es 23 %. Und sowohl für
134 6 Indien – Der neue Star
Lanxess als auch für die BASF ist Indien ein strategisch wichtiger Markt für das Export-
geschäft. Indien hat sich selbst in einer Nische für höherwertige Lederprodukte breit-
gemacht. Vor allem bei Chemikalien, Additiven, chemischen Zwischenprodukten und
Polymeren tun sich gute Marktchancen auf.
Auch der Einzelhandelssektor legt kräftig zu. Er hat einen wichtigen Meilenstein
erreicht, seit das landesweite Durchschnittseinkommen die Marke von 1000 US$ im Jahr
überschritt. Ab dieser Schwelle hat in zahlreichen Schwellenländern der Konsum stark
zugenommen. Zu der jungen Generation als Treiber des langfristigen Wachstums gesellt
sich in Indien auch das Entstehen einer Konsumgesellschaft in immer mehr kleineren
Städten. Bis zum Ende des Jahrzehnts wird das Land laut Tata Consultancy Services
(2012) 200 Städte mit jeweils über einer halben Million Einwohnern haben. Die Kon-
sumgesellschaft breitet sich im ganzen Land aus. Und dieser Trend wird lange anhalten,
denn binnen zwei Jahrzehnten soll sich die urbane Bevölkerung auf 600 Mio. Menschen
verdoppeln. Luxus-Retailer wie Louis Vuitton und Armani schwärmen bereits über die
großen Metropolen hinaus in mehr traditionelle, lokal orientierte Märkte wie Surat,
Chennai und Kolkata aus, die bisher nur als kleine Flecken auf der Wohlstandskarte
wahrgenommen wurden. Jetzt steigen sie zu heißen Must-be-Destinationen für Premium-
Produkte auf.
Tata Consultancy Services (2012) sagt voraus, dass Indiens Einzelhandel bis zum
Jahr 2020 ein Volumen von 1300 Mrd. US$ erreichen wird. Der prozentuale Anteil des
organisierten Einzelhandels soll sich in dieser Zeit bis auf zwölf Prozent verdoppeln.
Das bedeutet enorme Chancen für neue Retail-Formate. Zwei Drittel des BIP werden in
Indien derzeit vom lokalen Konsum angetrieben. Das macht Indien deutlich resistenter
gegen Schwächeperioden der Weltwirtschaft als die anderen großen Schwellenmärkte.
Die Prognosen sind für einige Branchen sehr gut. Laut dem Research-Unternehmen
Gartner wird Indien mindestens bis zum Jahr 2016 der am schnellsten wachsende Markt
für Firmensoftware bleiben (Gartner 2015). Grund sei die zunehmende Globalisierung
Indiens. Indien soll dank eines Ausbauprogramms auch bald der zweitgrößte Stahlprodu-
zent hinter China und vor Japan sein. Es hat außerdem Thailand als größten Reisexpor-
teur und Australien als führenden Lieferanten von Rindfleisch überholt.
Auch deutsche Firmen setzen langfristig auf Indien. Volkswagen gab im November
2014 die Entwicklung des ersten Fahrzeugs bekannt, das exklusiv für Indien entwickelt
wird. Im Juli 2016 begann die Auslieferung des Budgetautos „Ameo“, das ca. 7800 US$
kostet (Volk 2016), im März 2017 gab Volkswagen bekannt, dass eine langfristige stra-
tegische Allianz mit dem größten indischen Autobauer Tata Motors angestrebt wird. Das
Ziel der beiden Autobauer ist es, gemeinsam Fahrzeugkomponenten bis hin zu kompletten
Autos zu entwickeln (Hartmann 10. März 2017). In der ersten Hälfte des Jahrzehnts hatten
die VW-Verkäufe in Indien drei Jahre in Folge auf zwei Prozent Marktanteil abgenommen.
Der Autobauer aus Wolfsburg hält das Land für zu wichtig, um nicht gegenzusteuern. Der
Verband der indischen Handelskammern hat im Mai 2015 gemeldet, dass deutsche Firmen
Interesse am Hightech-Markt haben, in dem Indien expandieren will. Die Lufthansa kün-
digte im Frühjahr 2015 Verbindungen für ihren neuen Budget-Fernflieger Eurowings nach
6.3 Was Inder als Stärken ihres Landes sehen 135
Indien an. Üblicherweise ist so eine Entscheidung ein gutes Indiz für Expansionspläne von
Firmen aus demselben Land. Das Pharmaunternehmen Merck KgaA meldete im August
2015, dass es Indien als einen der Schlüsselmärkte für seine globale Expansion auserko-
ren hat. Und Daimler erwartet eine Verdoppelung des Marktes für Busse über acht Tonnen
bis zum Ende des Jahrzehnts. Ähnlich optimistisch mit Blick nach Indien sind auch die
auf Expansion getrimmten Unternehmen aus anderen Ländern. So haben Apple und der
neue chinesische Smartphone-Champion Xiaomi im Herbst 2015 fast zeitgleich bekannt
gegeben, dass sie ihre Präsenz in Indien stark ausbauen wollen, weil es der am schnells-
ten wachsende Smartphone-Markt der Welt ist. Xiaomi beginnt mit lokaler Fertigung,
Apple intensiviert seine TV-Werbekampagne, baut das Retail-Netzwerk aus und führt neue
Finanzierungsoptionen für potenzielle Kunden ein.
Die Inder sind sehr optimistisch, was die Perspektiven ihres Landes angeht. Das gilt auch
angesichts einer vorübergehend langsamer wachsenden Weltwirtschaft. Das jüngste Glo-
bal Attitudes Project des US-amerikanischen Pew Research Center (2012) hat in Indien
bei der jüngsten Umfrage „ehr Zuversicht registriert als in den meisten anderen der 17
untersuchten Länder. Auf den ersten Blick überrascht das, weil es nachgewiesene Unzu-
friedenheit über Korruption, Bürokratie und die schlechte Infrastruktur gibt. Doch es
gibt genügend Stärken und Faktoren, die das Land auf absehbare Zeit antreiben werden.
Dazu gehören die größte englischsprachige Bevölkerung auf der Welt, die demokrati-
sche Verfassung und der bereits beschriebene demografische Vorteil. Bis 2030 soll Indien
laut den Vereinten Nationen das bevölkerungsreichste Land der Erde sein. Bis zum
Ende des Jahrzehnts soll das Land sogar die jüngste Bevölkerung haben. Das Durch-
schnittsalter wird 28 Jahre sein, verglichen mit 37 in China und 45 Jahre in Westeuropa.
Wegen der erst jetzt beendeten Ein-Kind-Politik beginnt in China bereits die Bevölke-
rung im erwerbsfähigen Alter zu schrumpfen. Aber in Indien werden bis zum Ende des
Jahrzehnts jedes Jahr 20 Mio. Menschen ins Arbeitsleben eintreten. Das sind 100 Mio.
zusätzliche Arbeitskräfte für die heimische Wirtschaft. Viele von ihnen werden aufgrund
verbesserter Ausbildung, hohen Ehrgeizes, höherer Ansprüche und neuer Jobs in die Mit-
telschicht aufsteigen. Indien ist mit diesem Schwung – und mithilfe ausländischer Inves-
toren – bereits der siebtgrößte Autoproduzent der Welt geworden.
Die steigenden Erwartungen sind gerechtfertigt. In einem Papier der Harvard School
of Public Health wurde 2011 der Zusammenhang zwischen demografischer Verände-
rung und wirtschaftlichem Wachstum in Südasien untersucht (Bloom et al. 2011). Indien
wird in dieser Untersuchung für die kommenden 20 Jahre ein Zuwachs der Erwerbsfä-
higen von jeweils 18 Mio. vorhergesagt, was für ein sehr günstiges Verhältnis zwischen
der Zahl der Erwerbstätigen und den nicht Erwerbstätigen spricht. Nach Meinung der
Forscher verspricht das anhaltendes Wachstum. Der wachsende Zugang der Frauen zur
Arbeitswelt in Indien wird als weiterer Treiber für die Wirtschaft identifiziert.
136 6 Indien – Der neue Star
Ein nicht zu unterschätzender Treiber der indischen Wirtschaft ist die Diaspora. Die
sogenannten non-resident Indians (NRIs) werden derzeit auf etwa 25 Mio. geschätzt.
Jedes Jahr verlassen weitere 300.000 Inder das Land, um in Übersee ihr Glück zu
suchen. Viele von ihnen werden reich oder einflussreich, oder beides, weswegen die Dia-
spora auch von vielen als „wealth diaspora“ bezeichnet wird. Zu den Indern im Ausland
zählen rund 150.000 Millionäre, die zusammen über ein Vermögen von 500 Mrd. US$
verfügen. Viele von ihnen schicken Geld an die Familie daheim, investieren in ihrer
Heimat oder kehren zurück und gründen Firmen. Der Geldbetrag, den sie zurück nach
Indien überweisen, wurde 2014 auf über 70 Mrd. US$ geschätzt, was vier Prozent des
BIP entspricht. Diese Rücküberweisungen in die Heimat nehmen mit zweistelligen
Raten zu und machen inzwischen zwölf Prozent aller Überweisungen aus, die im Aus-
land lebende Menschen weltweit in ihre Heimatländer transferieren. Aber jenseits der
reinen Zahlen sind diese „remittances“, wie sie im Englischen genannt werden, eine stra-
tegisch wichtige Quelle für IT-Investitionen in Indien, aber auch ein Pool von Fachkräf-
ten für die eigene Wirtschaft und ein Quell von Kreativität. Das ist der Grund, warum
sich Narendra Modi während seines Staatsbesuchs in den USA im September 2015 zwei
Tage für einen Besuch im Silicon Valley nahm. Dort trägt eine halbe Million indischer
Expats dazu bei, das Tech-Zentrum der Welt unter Dampf zu halten und mit Firmengrün-
dungen wie auch Investments und einem riesigen Erfahrungsschatz die aufkommende
indische IT-Industrie anzuheizen.
Bharata Ganarajya (der offizielle Name der Republik Indien in Sanskrit) ist Chinas härtes-
ter Wettbewerber, was den Vorstoß neuer lokaler Champions in die internationalen Märkte
angeht. Der IT-Berater Infosys aus Bangalore ist ein globaler Gigant geworden. Suzlon
hat sich als Lieferant für Windturbinen einen internationalen Spitzenplatz erkämpft. Reli-
ance ist bereits der führende Produzent für Polyestergarne und Industriefasern auf der
Welt. ArcelorMittal hat sich die Krone als größter Stahlproduzent geschnappt. Und Tata
Steel, mit mehr als 100 operativen Geschäftseinheiten von Kommunikation über Engi-
neering bis hin zur Energiewirtschaft, machte weltweit Schlagzeilen mit der Übernahme
des Stahlproduzenten Corus sowie der traditionellen Automarken Jaguar und Land Rover.
Tata Steel ist Europas zweitgrößter Stahlkocher. Im Jahr 2012 wurden sechs indische
Marken, darunter Tata, die State Bank of India, Reliance und Infosys, von dem Beratungs-
unternehmen Brand Finance unter den weltweit 500 besten Marken geführt. In seiner
Liste der 50 wertvollsten indischen Marken für das Jahr 2015 (BrandZ India Top 50) führt
MillwardBrown (2015) unter den Top 10 allein fünf Banken, mit der HDFC-Bank („We
understand your world“) an der Spitze der Rangliste, gefolgt vom Telekom-Provider Air-
tel, der State Bank of India, der ICICI-Bank, dem Farbenhersteller Asianpaints sowie den
beiden Automarken Bajaj und Hero. Der kollektive Wertzuwachs aller 50 Marken in der
Indien-Rangliste wurde für das Jahr 2015 mit 33 % angegeben.
6.4 Der Aufstieg indischer Marken 137
Wie rasant das Wachstum im Markenuniversum Indiens derzeit ist, belegt das fol-
gende Zitat aus MillwardBrown (2015; Übersetzung des Verfassers aus dem Englischen):
„Wachstum ist der neue Maßstab. Während der indische Markt wettbewerbsfähiger wird,
sind in diesem Jahr sieben Marken, deren Wert um jeweils 20 % zunahm, in der Rang-
liste der 50 führenden Marken trotzdem zurückgefallen. Und acht Prozent aller Marken,
die es 2014 in die Top 50 schafften, sind jetzt nicht mehr dabei.“ Während viele Massen-
medien Narendra Modi vorwerfen, er könnte seine Reformen schneller vorantreiben, lobt
MillwardBrown (2015) die Segnungen der Reformpolitik für den Aufbau von Marken-
produkten: In weniger als zwei Jahren im Amt habe diese Regierung zahlreiche Initiati-
ven auf den Weg gebracht, die das Markengeschäft unterstützen und neue Wettbewerber
anziehen würden. Ausländische Direktinvestitionen hätten im Haushaltsjahr 2015 laut
der Regierung um 25 % zugenommen. Doch der Markenspezialist warnt auch, dass man
in Indien Geduld haben müsse: Der Markenaufbau erfordere in Indien Geduld. Indien sei
eine Demokratie, die größte auf der Welt. Der Wandel sei oft langsam, und gründliche
Debatten gingen ihm voraus, aber wenn sich etwas ändere, dann handele es sich um eine
stabile und nachhaltige Entwicklung.
Indien hat einen schier unerschöpflichen Pool ehrgeiziger Unternehmer. Sieben
indische Marken gehören zu den 20 bestverkauften Spirituosen auf der Welt, darunter
Officer’s Choice (Whisky), Bagpiper (ebenfalls Whisky) und McDowell’s No. 1 (Rum).
Ein weiteres Beispiel ist Flipkart, das führende E-Commerce-Unternehmen des Landes.
Flipkart rüstet technisch sehr schnell auf und gilt vielen daher als das indische Ama-
zon (Das 24. Mai 2015). Es gibt aber auch viele indische Marken, die seit Jahrzehnten
bekannt sind. Es sind Traditionsfirmen wie Gramophone Co. of India, das 1901 in Kal-
kutta gegründet wurde (heute Kolkata, Hauptstadt von Westbengalen). Air India, die frü-
here Tata Airlines, wurde in den 1940er Jahren eine der ersten globalen Marken Indiens.
Auch Mysore Sandal Soap, vom Maharadscha von Mysore 1916 in Bangalore gegründet,
ist seit Jahrzehnten nicht mehr aus indischen Badezimmern wegzudenken und immer
noch eine starke Marke.
Doch die meisten Schlagzeilen haben in den vergangenen Jahren Indiens neue Mar-
kenchampions in den Sektoren Stahl und Auto gemacht. Die indische Mittal Steel fusi-
onierte 2006 mit Arcelor zum größten Stahlkonzern der Welt, ArcelorMittal. Es war das
erste Stahlunternehmen der Welt mit einer Jahresproduktion von über 100 Mio. Tonnen.
Schon im Jahr darauf beschleunigte das frisch fusionierte Unternehmen seine globale
Expansion mit 35 Übernahmen und Beteiligungen rund um den Globus. Im selben
Jahr – 2007 – kaufte die indische Tata Steel für 7,6 Mrd. US$ den britisch-holländi-
schen Stahlkonzern Corus und wurde damit zur globalen Nummer fünf der Branche.
ArcelorMittal, geführt vom indischen Unternehmer Lakshmi Mittal, kaufte im Dezem-
ber 2013 zusammen mit Japans Nippon Steel für 1,5 Mrd. US$ das drei Jahre alte Werk
von ThyssenKrupp in Calvert, Alabama. ThyssenKrupp hatte mehr als dreimal so viel
Geld in das Werk investiert. ArcelorMittal hat zum Schnäppchenpreis ein modernes
Stahlwerk bekommen und profitiert von der starken Belebung der US-Autobranche, die
40 % des benötigten Stahls bei ArcelorMittal einkauft.
138 6 Indien – Der neue Star
Tata Steel hat sich unterdessen nicht nur als Stahlkonzern einen Namen gemacht. Es
ist Indiens größte Stahlschmiede und in der Branche weltweit die Nummer zehn. Tata
Power ist das führende private Versorgungsunternehmen auf dem Subkontinent. Tata
Global Beverages ist der zweitgrößte Anbieter von Marken-Tee auf der Welt. Durch die
Datenkabel von Tata Communications werden über zehn Prozent der weltweiten Sprach-
Kommunikation abgewickelt. Sie reichen mit mehr als 200.000 km Länge fünf Mal rund
um den Äquator. Tata Motors, das mehrheitlich zur Tata Group gehört, ist der größte
Automobilhersteller Indiens. Unter Ratan Tata – einem der reichsten und mächtigsten
Unternehmer Indiens (und Fan deutscher Schäferhunde) – wurde aus dem indischen
Konglomerat ein Imperium mit einem halben Dutzend Standbeinen: Autos, Beratung,
Software, Stahl, Tee, Chemie und Hotels. In Indien trägt das Konglomerat mit über 100
Firmen sieben Prozent zur Kapitalisierung der Börse bei. Es zahlt drei Prozent aller
Steuern im Land und beschäftigt bei einem Jahresumsatz von mehr als 103 Mrd. US$
660.000 Menschen (Stand 2016).
Nachdem Ratan Tata Anfang der 1990er Jahre das Ruder übernahm, vergrößerte
sich der Umsatz der Gruppe um den Faktor 57. Die Gewinne wurden vervierzigfacht.
2013 hat der Mischkonzern für 28 größere Übernahmen auf der ganzen Welt insge-
samt 18 Mrd. US$ investiert. Die Großattacke auf die Weltwirtschaft führte dazu, dass
inzwischen zwei Drittel des Konzernumsatzes außerhalb Indiens erzielt werden. Inter-
national Schlagzeilen machte Tata nicht nur durch seinen Erfolg beim Turnaround von
Jaguar Land Rover und durch das Billigauto „Nano“, das sich als furchtbarer Flop ent-
puppte, sondern vor allem durch Tata Consultancy Services (TCS), Indiens führendes IT-
Unternehmen. TCS gilt als Asiens größte Software-Firma. Das Unternehmen ist knapp
60 Mrd. US$ wert und wird von der Zeitschrift Forbes in der Liste der 40 innovativsten
Firmen der Welt geführt.
Aber wie sieht es in die umgekehrte Richtung aus? Internationale Marken, die nach
Indien expandieren wollen, müssen sich sehr genau mit den regionalen Kulturen, Spra-
chen, Konsumgewohnheiten und Einkommensverhältnissen vertraut machen. Die Kennt-
nis des „Lokalen“ ist in einem so vielschichtigen und diversen Land ganz entscheidend.
Allgemein gilt: Ausländische Firmen, die in Indien besonderen Erfolg haben, sind oft
solche, die ihre Produkte geschickt adaptieren oder geschickt mit lokalen Partnern in
den Markt gehen – oder beides natürlich. Maruti-Suzuki und Hindustan-Unilever gelten
als gute Beispiele. Internationale Luxusmarken haben in Indien noch viel Boden gut zu
machen. Nur etwa 30 % der 500 führenden Luxusmarken waren bis Anfang des Jahr-
zehnts in Indien präsent, gegenüber 70 % in China. Ein Grund dafür dürfte das niedri-
gere Einkommensniveau in Indien sein. Indien hat am globalen Markt für Luxusartikel
mit etwa einem Prozent einen deutlich geringeren Anteil als China. In Indien gibt es bis-
her kaum Shopping-Mekkas wie die Fifth Avenue in New York oder die Bond Street in
London. Bisher werden High-End-Marken in Indien überwiegend in 5-Sterne-Hotels und
in wenigen exklusiven Malls wie der DLF Emporio in Delhi verkauft.
Doch es gibt noch einen weiteren wichtigen Grund, warum internationale Spitzen-
marken in Indien bisher nicht so viel Land gewonnen haben. Die Notwendigkeit – und
6.4 Der Aufstieg indischer Marken 139
Mittelschicht konzentrieren, die sich höherwertige Produkte eher leisten können. Auch
als Kellogg’s 1990 nach Indien kam, war es überzeugt, dass die indische Mittelschicht
gerne den Aufpreis für fertig produzierte Müslis zahlen würde. Doch das Unternehmen
verstand zu dieser Zeit nicht, dass der Zeitfaktor nicht entscheidend war, weil dank der
billigen Arbeitskraft viele Mittelschichtfamilien Hausmädchen als Hilfe beschäftigen.
Kellogg’s trug auch der Tatsache nicht genügend Rechnung, dass indische Frühstücksti-
sche anders gedeckt sind als im Westen. Noch drei Jahre nach dem Markteintritt machte
Kellogg’s gerade einmal 20 Mio. US$ Umsatz in Indien. Doch dann wurde die Strategie
radikal geändert. Kellogg’s brachte Biscuits auf den Markt, die zu den größten Katego-
rien der Fertignahrung in Indien zählen.
Inzwischen passen immer mehr internationale Marken ihre Strategie für Indien ent-
sprechend an. Sie adaptieren ihre Produkte von vornherein an lokale Gegebenheiten und
positionieren sie entsprechend. Levi’s zum Beispiel startete mit einer leicht erschwing-
lichen Produktauswahl, um preisbewusste Kunden anzusprechen. Oder Shampoos: Viele
Produkte in dieser Kategorie haben Erfolg, weil sie mit kleineren Verpackungen Kunden
ansprechen, die ursprünglich nicht zur Zielgruppe gehörten. Auch McDonald’s hat sich an
die lokalen Bedürfnisse in Indien angepasst, indem es statt Rind vegetarische Menüs und
Huhn ins Angebot nahm. Die weltgrößte Restaurantkette hat in Indien sogar rein vegeta-
rische Restaurants eröffnet. Die Restaurants der Kette in der Nähe bekannter Pilgerstätten
wie Amritsar und Katra haben beispielsweise McVeggies-Pastetchen mit Karotten, Erbsen
und Kartoffeln oder McSpicy Paneers (Panir ist der traditionelle einfache indische Käse)
auf der Karte. Auch deutsche Autofirmen schenken den lokalen Konsumgewohnheiten
und kulturellen Vorlieben in Indien besondere Aufmerksamkeit. Mercedes, BMW und
Audi haben Kompaktwagen und kleinere SUVs auf den lokalen Markt gebracht, um jün-
gere Kunden mit kleinerem Budget zu gewinnen. Daimler ist es gelungen, in seiner Lkw-
Marke Bharat Benz die deutsche Technik und den indischen Markt optimal zu verbinden.
Die „Trucks“ werden von indischen Spezialisten entwickelt und gebaut.
Ein vielsagendes Beispiel, wie man den indischen Markt erfolgreich mit einer west-
lichen Marke aufbricht, ist Nokia. Mitte der 2000er Jahre hatte Nokia die Hälfte des
indischen Handymarktes erobert. Industrieinsider bescheinigen Nokia eine gute Kom-
bination aus Fokussierung auf den lokalen Markt, den Aufbau einer cleveren Distribu-
tionspartnerschaft, rechtzeitige Investitionen in F&E sowie Markenbildung und die
Entwicklung innovativer Produkteigenschaften gefunden zu haben. Nokia war gleich
nach der Öffnung des Marktes 1994 in Indien an den Start gegangen. Dank einer Koope-
ration mit HCL, der ehemaligen Hindustan Computers, war Nokia 2007 in 50.000 der
rund 95.000 Läden, die Handys verkauften, der einzige Anbieter. Mit einer breiten
Modellpalette, die preislich von 37 bis 1125 US$ reichte, konnte das Unternehmen
gleichzeitig in städtischen Märkten, wo die Konsumenten leistungsstärkere Mobilgeräte
verlangen, und im ländlichen Indien punkten, wo 70 % der Bevölkerung wohnen und
die Erschwinglichkeit ein entscheidendes Kriterium für den Kauf ist. Indem Nokia alle
Segmente des Marktes abdeckte, kreierte es eine Produktleiter, auf der die Kunden vom
unteren Ende bis zum High End der Gerätepalette aufsteigen konnten.
6.5 Indiens aufsteigende Mittelschicht 141
Einer McKinsey-Prognose zufolge hat Indiens Mittelschicht das Potenzial, bei konstant
hohen Wachstumsraten bis zur Mitte des nächsten Jahrzehnts auf über 580 Mio. Men-
schen anzuwachsen (Ablett et al. 2007). Vergleicht man verschiedene Studien und Ana-
lysen, muss allerdings festgestellt werden: Die Mittelschicht des Landes wächst zwar
rasant, sie ist aber letztlich eine nicht genau bekannte Größe. Die Definition der Mittel-
schicht ist in Indien eher elastisch, es gibt keine offizielle Definition. Das US-amerikani-
sche Pew Research Center gab in einer Studie zur globalen Mittelschicht im Jahr 2011
die Größe von Indiens Mittelstand mit 40 Mio. Menschen an (Kochhar 2015). Demnach
waren 77 % der Bevölkerung Geringverdiener (zwei bis zehn US-Dollar Einkommen pro
Tag) und 20 % Arme (zwei US-Dollar oder weniger am Tag). Der National Council for
Applied Economic Research (NCAER 2005) rechnet Haushalte zur Mittelschicht, die im
Jahr über ein Einkommen von umgerechnet 4000 bis 21.000 US$ verfügen.
Der Prozentsatz der Gesamtbevölkerung, den Indiens Mittelschicht ausmacht, war
laut der Pew-Analyse nur ein Viertel so groß wie im Schnitt der ganzen Welt. Innerhalb
der BRIC rangiert das Land hinter Russland, Brasilien und China, was den prozentu-
alen Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung angeht. Indien hat also ein
enormes Aufholpotenzial. McKinsey veranschlagte zu Beginn des Jahrzehnts Indiens
Mittelschicht auf 50 Mio. Übereinstimmend wird jedoch in verschiedenen Berichten das
rasante Wachstum der Mittelschicht auf dem Subkontinent beschrieben. Laut dem Welt-
bank-Papier „Addressing Inequality in South Asia“ sind allein in der zweiten Hälfte des
vergangenen Jahrzehnts 100 Mio. Inder in eine breiter definierte Mittelschicht aufgestie-
gen (Rama et al. 2015). Die Weltbank hat die Aufwärtsmobilität in Indien sogar auf eine
Stufe mit der in den USA gestellt.
Dank dieser Aufwärtsdynamik soll Indien bis zur Mitte des kommenden Jahr-
zehnts bereits der fünftgrößte Konsumgütermarkt der Welt hinter den USA, Japan,
China und Großbritannien sein. Bisher wird, wie bereits in diesem Kapitel beschrie-
ben, der Großteil des verfügbaren Einkommens für Nahrung ausgegeben. Doch Märkte
wie Gesundheit, Ausbildung, Freizeit, Körperpflege und Dienstleistungen wachsen
schnell, weil ein zunehmend großer Teil des Einkommens zur freien Verfügung steht.
Indiens Konsumenten sind jedoch nicht leicht zu „erobern“. Sie gehören zu den spar-
samsten und anspruchsvollsten der Welt. Dazu gehört eine sozial rasch aufsteigende
junge Schicht. Rund 40 % der Konsumenten sind zwischen 20 und 49 Jahre alt. Und
weitere 40 % sind jünger als 19 Jahre. Der prozentuale Ansatz von Milliardären an der
Bevölkerung gilt in Indien als besonders hoch. Deren addiertes Vermögen entspricht
laut einem Bericht in Forbes India vom Februar 2015 zwölf Prozent des BIP (Nana-
vati 2015). Trotzdem liegt der Anteil der besonders betuchten Inder bisher noch bei
0,3 % der Bevölkerung. Aber er wächst schnell. Die Reihen der Superreichen haben
sich in den vergangenen zehn Jahren um 30 % erweitert. Damit ist dieses Marktseg-
ment bereits groß genug, um für internationale Luxusmarken interessant zu sein. Hinzu
kommt: Diese High-End-Konsumenten auf dem Subkontinent sind zuverlässig. Indiens
142 6 Indien – Der neue Star
Reiche schränken ihren Konsum auch in schwierigen Zeiten nicht ein. Sie haben sehr
ausgeprägte Vorlieben, und sie wollen sichergehen, dass sie sich von der Masse abhe-
ben. Das soll sich auch in der Auswahl der Marken manifestieren. Zudem ziehen sie es
vor, regelmäßig neue Produkte und Modelle zu kaufen, um en vogue zu sein und sich
von allen anderen zu unterscheiden. Deutsche Autos sind bei dieser Einkommenselite
extrem beliebt, besonders unter jüngeren Käufern.
Doch diesen rasch wachsenden Markt zu erschließen, ist für internationale Marken
trotz aller Vorteile nicht leicht. Coca-Cola ist ein gutes Beispiel. Der weltgrößte Geträn-
kekonzern kündigte 2012 an, in Indien bis zum Ende des Jahrzehnts fünf Milliarden US-
Dollar zu investieren. Damals erklärte Coca-Cola-CEO Muhtar Kent, es gebe großes
Potenzial in Indien. Coca-Cola hatte Indien in den späten 1970er Jahren verlassen, weil
es keinem lokalen Partner das streng geheime Brauserezept des Konzerns aushändigen
wollte. Drei Jahre nach der vollmundigen Ankündigung von Milliardeninvestitionen gab
der Konzern bekannt, er werde seine neue Abfüllanlage in Tamil Nadu nicht bauen, weil
die Bauern am Ort aus Furcht vor einem sinkenden Grundwasserspiegel massiven Wider-
stand gegen das Projekt geleistet hatten. Ein Jahr zuvor hatte Coca-Cola laut dem Bericht
in der Financial Times in Uttar Pradesh einen ähnlichen Rückzieher machen müssen.
Inzwischen ist es fraglich, ob der US-Konzern so viele neue Standorte in Indien finden
kann, wie er für die geplante Expansion im Land braucht.
Doch Indiens Mittelschicht ist ganz unabhängig von der unscharfen Definition bereits
zu einer Größe gewachsen, die gesellschaftlich, wirtschaftlich und auch politisch einen
großen Unterschied macht. Das bedeutet, dass auch internationale Marketingexperten
mit Expansionsplänen nicht mehr um sie herumkommen. Vor allem, wenn man sich die
steilen Winkel der Einkommenspyramide anschaut, die noch viel Zuwachs für die Mit-
telschicht versprechen. An der Spitze dieser Pyramide mit insgesamt 1,2 Mrd. Menschen
gibt es eine kleine Gruppe mit 1,2 Mio. wohlhabenden Haushalten, die sich auf die acht
größten Städte des Landes verteilen. In der Mitte der Pyramide ist die Mittelschicht,
die – je nachdem, wem man glaubt – 50 Mio. bis 300 Mio. Menschen umfasst. Im Erd-
geschoss der Einkommenspyramide findet man 700 Mio. Inder, die noch in die Mittel-
schicht aufsteigen wollen. Viele von ihnen sind arm. In keinem anderen Land der Welt
gibt es so viele Menschen, die unterhalb der Armutsschwelle leben, die die Weltbank bei
1,25 US$ pro Tag gezogen hat. Diese Menschen kaufen (noch) nicht bei Wal-Mart oder
Carrefour ein.
Aber, wie gesagt: Das alles ändert sich sehr schnell. Indien beherbergt erst drei Pro-
zent der weltweiten Mittelschicht, China dagegen 33 %. Wenn man sich einen Eindruck
davon machen will, wie viele Menschen in der indischen Einkommenspyramide nach
oben streben, muss man sich das anschauen, was Investmentbanken als die „entste-
hende Mittelschicht“ („emerging middle class“) bezeichnen. Das ist jene riesige Gruppe,
die zwischen den Armen und der Mittelschicht nach oben strebt. Laut dem McKinsey
Quarterly könnten aus dieser Gruppe in den beiden kommenden Jahrzehnten jeweils
200 Mio. Menschen in die Mittelschicht aufsteigen (Beinhocker et al. 2007). Das wären
20 Mio. pro Jahr. Schon jetzt ist der Konsum von Indiens Mittelschicht so groß wie der
6.5 Indiens aufsteigende Mittelschicht 143
gesamte private Konsum Irlands, und dessen Prozentsatz am gesamten Konsum soll sich
in den nächsten 15 Jahren verdreifachen (Saxena 2010).
Am Aufstieg der indischen Mittelschicht führt für Marketingexperten also kein Weg
vorbei. Die Föderation der indischen Handelskammern hat im September 2016 dem
Markt für Konsumgüter in den kommenden zehn Jahren jeweils zweistellige prozentuale
Zuwachsraten prognostiziert, wenn sich das regulatorische Umfeld verbessert. Die Zahl
der Kreditkarten, die den Konsum neben den Löhnen zusätzlich anheizen, hat sich in der
zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts verfünffacht. Doch die Zahl der in Umlauf
befindlichen Karten ist noch erstaunlich gering. Sie hat sich nach einem Rückgang, der
auf die Finanzkrise folgte, 2015 auf 21 Mio. erhöht.
Die Mittelschicht wird in wenigen Jahren das größte Segment der Bevölkerung sein.
Das träfe selbst dann zu, wenn die Wachstumsraten für einige Jahre geringer wären als
in den 2000er Jahren. Zu den vielen Marktchancen, die sich dadurch auftun, gehören
zum Beispiel die bereits erwähnten Kompaktwagen, deren Verkauf in Indien auch deut-
sche Hersteller forcieren. Im Unterschied zu China, wo eine große Politiker-, Funktio-
närs- und Unternehmerkaste den Markt für Premiummodelle sehr attraktiv gemacht hat,
sind in Indien drei von vier verkauften Fahrzeugen Kleinwagen. Hier haben sich in der
zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts die Verkäufe bereits verdoppelt. Die Mittel-
schicht ist hier ganz klar der Treiber. Laut einer Studie des NCAER gehören nur 13,1 %
der Bevölkerung zur Mittelschicht. Gleichzeitig stellt sie aber 49 % der Autobesitzer,
53 % der Computerbesitzer und 53 % der Besitzer von Klimaanlagen (Hindustan Times
6. Februar 2011).
Als Quelle für eine anhaltende Verstädterung trägt das agrarisch geprägte Hinterland
dabei zum Wachstum der Mittelschicht bei. Ländliche Märkte sind inzwischen einer der
wichtigsten Treiber. Zum einen, weil das agrarisch geprägte Hinterland die Quelle für
die anhaltende Verstädterung ist. Die städtische Bevölkerung repräsentierte 2012 bereits
32 % der Gesamtbevölkerung. Ihr Anteil wächst weiterhin jährlich um 2,5 %. Das sind
jeweils 30 Mio. Menschen. Inder, die aus dem Hinterland in die Städte wandern, verdrei-
fachen in der Regel ihr Einkommen und ihren Beitrag zum BIP. Die urbane Bevölkerung
Indiens soll laut den Vereinten Nationen in den kommenden drei Jahrzehnten um weitere
knapp 400 Mio. Menschen zunehmen (United Nations 2014). Das macht die Urbanisie-
rung zu einem der Megatrends im neuen Indien.
Indiens ländliche Gebiete sorgen aber nicht nur für Nachschub an Arbeitern und
Talenten. Sie erschaffen in einer unbekannten Zahl kleinerer Städte und Gemeinden auch
ein neues Konsumuniversum. Bloomberg (2010) hat über eine staubige Handelsstadt
namens Aurangabad berichtet. Sie liegt sechs Autostunden von Pune entfernt. Der ört-
liche Mercedes-Benz-Händler in Pune erhielt demnach vor einiger Zeit einen Anruf aus
der Handelskammer von Aurangabad. Der Anrufer gab eine Sammelbestellung für 115
Mercedes-Limousinen ab. Bei dem Autohändler hielt man den Anruf zunächst für einen
Scherz. Aber nach Abschluss des Deals lieferte Mercedes auf einen Schlag 148 Fahr-
zeuge an Kunden in Aurangabad aus. Es war zu diesem Zeitpunkt der größte einzelne
Auftrag des Stuttgarter Konzerns in Asien. Doch ein Blick auf Aurangabad zeigt, dass
144 6 Indien – Der neue Star
diese Bestellung keineswegs überraschend groß war. Während der vergangenen zehn
Jahre hat sich die Bevölkerung der Stadt auf fast zwei Millionen Menschen verdoppelt.
Große westliche Unternehmen wie Siemens und der Brauerei-Riese SABMiller haben
Produktionsstätten in der Stadt eröffnet und für steigende Einkommen gesorgt. Es gibt
viele Aurangabads in Indien. Daher werden bis zum Ende des Jahrzehnts voraussicht-
lich weitere 460 Mio. Menschen in Indien zwischen 5000 und 10.000 US$ im Jahr ver-
dienen. Städte wie diese haben laut dem McKinsey Global Institute (Ablett 2007) das
Potenzial, in den nächsten 20 Jahren 70 % zum zusätzlichen Wachstum und den neuen
Arbeitsplätzen beizutragen. Wenn die Prognosen zutreffen, wird Indien in den nächsten
20 Jahren jedes vierte neue Mitglied der Mittelschicht auf dem Planeten beisteuern. In
seiner Studie „Demand Spotting: The Rise of the Indian Small Town“ (Der Aufstieg der
kleinen indischen Kommunen) sagt das Marktforschungsunternehmen Nielsen vorher,
dass „Middle India“, also Städte mit 100.000 bis eine Million Einwohner, die größten
Zuwächse zu Indiens Wirtschaft beisteuern werden (Laungani 2012).
Fazit: Die Aussichten für internationale Marken, die Indiens Mittelschicht ins Visier
nehmen, bleiben außerordentlich gut. Das verfügbare Einkommen eines statistischen
Durchschnittshaushaltes soll laut McKinsey bis zur Mitte der 2020er Jahre jährlich um
5,3 % wachsen (Ablett 2007). Die Boston Consulting Group geht von mehr als einer Ver-
dreifachung der Konsumausgaben in den 2020er Jahren aus (BCG 2017). Einer der zen-
tralen Treiber ist die rasch wachsende Generation von Indern, die in den 1990er Jahren
aufgewachsen sind. Sie werden bis zum Ende der 2010er Jahre etwas mehr als ein Vier-
tel aller Konsumausgaben bestreiten. Und der Verband der indischen Handelskammern
(FICCI) sagt dem Einzelhandel des Landes bis zum Ende dieses Jahrzehnts ein Umsatz-
volumen von 1200 Mrd. US$ vorher (FICCI und PwC 2016).
Wie bereits geschildert, wird die Wirtschaft Indiens überwiegend vom Konsum ange-
trieben. Das unterscheidet das Land stark von den meisten anderen großen Schwel-
lenländern. China zum Beispiel versucht derzeit mit großen Anstrengungen, sein
Wirtschaftsmodell von einer exportgetriebenen auf eine vom heimischen Konsum getra-
gene Wirtschaft umzustellen. Dies ist einer der wenigen zentralen Punkte, bei denen
Indien trotz der mehr als zehn Jahre später begonnenen Reformen einen Vorteil hat.
Dank steigender Einkommen, besserer Ausbildung und beschleunigter wirtschaftlicher
Entwicklung in den ländlichen Gebieten steigen indische Konsumenten immer häufiger
auf hochwertigere Produkte um. Verschiedenen Berichten zufolge sind mindestens vier
von fünf Indern in den vergangenen sechs Monaten bei wenigstens einem Produkt auf
ein teureres Modell umgestiegen. Dieses Klettern auf der Konsumleiter hat im indischen
Hinterland zuletzt die größte Dynamik erreicht und geht schneller voran als in den urba-
nen Zentren. Der indische Markt hat damit einen wichtigen Meilenstein erreicht. Er wan-
delt sich von einem rein kostenbewussten zu einem mehr wert- und qualitätsbewussten
6.6 Trends bei den Einkommen 145
Markt, was für internationale Marken einen sehr wichtigen Schritt bedeutet und einen
großen Sog entwickelt.
Der bereits mehrmals genannte NCAER, Indiens führende Organisation für Wirt-
schaftsforschung, sagt bis zum Jahr 2025 kräftige Einkommensverschiebungen vor-
her (Hindustan Times 6. Februar 2011). Die Einkommenspyramide wird sich demnach
schnell von der für arme Länder typischen Dreiecksform (mit einem breiten Fundament
und einer winzigen Spitze) zu einer diamantartigen Form entwickeln, bei der die Mit-
telschicht ein sehr großes Segment ausmacht und einen breiten „Bauch“ darstellt. Der
NCAER hatte in einer Studie 2005 die indischen Privathaushalte in fünf Segmente ein-
geteilt (Kumar 2011). Die „Globals“ (Einkommen über 20.000 US$ im Jahr), die „Stri-
vers“ (oberer Mittelstand mit 10.000 bis 20.000), die „Seekers“ (Mittelschicht mit 4000
bis 10.000), die „Aspirers“ (noch arm, auf dem Weg in die Mittelschicht, mit 1800 bis
4000) und die „Deprived“ (die mit weniger als 1800 US$ im Jahr gerade so durch-
kommen). Laut der Studie wird sich die Zahl der Globals zwischen 2005 und 2025 auf
6,8 Mio. verzehnfachen. Im selben Zeitraum wird sich die Zahl der Striver auf knapp
30 Mio. um den Faktor 24 vermehren. Die Seekers werden mit knapp über 58 Mio. zehn-
mal so viele sein und damit das größte Segment in der Einkommenspyramide darstellen.
Die Zahl der Aspirer wird dagegen um zwei Drittel auf unter 14 Mio. sinken, während
sich die Zahl der Armen, die ums Überleben kämpfen, auf 5,7 Mio. halbiert.
Dies ist eine massive Verschiebung mit weitreichenden Konsequenzen für das Kon-
sumverhalten und die Kaufentscheidungen. Im Jahr 2005 wurden lediglich zwölf Prozent
der Inder in den Städten und weniger als vier Prozent der Menschen in den ländlichen
Gebieten zur Mittelschicht gerechnet. Doch bis 2025 sollen 80 % der urbanen Haushalte
der Mittelschicht angehören. Jeder vierte Haushalt im ländlichen Indien wird ebenfalls
dazugehören. Die Abb. 6.3 zeigt die beschleunigte Veränderung der Einkommensstruktur
in den Ballungsgebieten Indiens zwischen 2015 und 2025.
Wenn man diese Verschiebung in absolute Zahlen übersetzt, wird deutlich, wie gravie-
rend der Einkommenstrend sein wird. Es geht um nicht weniger als eine Revolution. Die
städtischen Mittelschichthaushalte, die 2005 auf 38 Mio. geschätzt wurden, werden bis
zur Mitte der 2020er Jahre auf über 400 Mio. ansteigen. Damit tut sich ein völlig neues
Universum für Lifestyleprodukte auf. Absehbar ist eine rapide steigende Nachfrage nach
Produkten für die Gesundheit, die Kommunikation, die Unterhaltung und den Transport-
sektor. Hier bahnt sich nichts anderes an als die letzte große Konsum-Story im Schwel-
lenmarktuniversum, nach China, wohlgemerkt.
Das ländliche Indien folgt im Windschatten der Ballungszentren. Aktuell repräsentiert
das Hinterland die Hälfte der wirtschaftlichen Gesamtleistung, bei 70 % der Bevölke-
rung. Dabei unterscheiden sich die Konsumenten jenseits der großen Städte mit Blick
auf ihre Erwartungen und Sehnsüchte nicht sehr von denen in großen Städten. Sie lie-
ben ebenfalls zweirädrige Fahrzeuge, Gebrauchsgüter des täglichen Bedarfs, Handys
und Jeans. Laut einer Prognose des NCAER (Hindustan Times 6. Februar 2011) wird
die Mittelschicht in den ländlichen Haushalten von 30 Mio. im Jahr 2005 auf 210 Mio.
bis zur Mitte des kommenden Jahrzehnts anwachsen. Bis zu diesem Zeitpunkt werden
146 6 Indien – Der neue Star
3%
6%
“Globals“ (>20)
4%
53%
51% “Seekers” (4 - 10)
32% “Aspirers”
12% (1.8 - 4)
8% 5% “Deprived”
(<1.8)
Abb. 6.3 Struktur der Haushaltseinkommen im heutigen urbanen Indien und die bis 2025 prog-
nostizierte Entwicklung. (Quelle: NCAER und McKinsey 2011, zitiert nach Kumar 2011)
die Globals mit dem höchsten Einkommen zwar immer noch einen kleinen prozentualen
Anteil an der Bevölkerung ausmachen, doch ihre Zahl wird auf 30 Mio. anwachsen und
damit fast so groß sein wie die Bevölkerung Kanadas. Bis 2005 hatten dieser Einkom-
mensgruppe lediglich drei Millionen Inder angehört. Aber mehr als 90 % der Globals
werden in den größten Städten wohnen und es Marketingexperten damit einfach machen,
sie anzusprechen.
Das Einkommen im Hinterland von Indien wird von der Preisstützung für Weizen
sowie von besserer Infrastruktur, zunehmenden Exporten und einer Expansion der Wirt-
schaft außerhalb des Agrarsektors angetrieben. Es gibt inzwischen bereits mehr Klein-
unternehmen im bäuerlichen Teil Indiens (etwa 20 Mio.) als in den städtisch geprägten
Teilen des Landes (17 Mio.). Der Beitrag der Einkommen außerhalb der Landwirt-
schaft zum Nationaleinkommen hat 60 % erreicht. Die Volkswirtschaft wird also weni-
ger abhängig von der Landwirtschaft. Das hat weitreichende und wichtige Folgen für
die Zusammensetzung aller Einkommen. Immer mehr private Haushalte im ländlichen
Indien haben mehrere Einkommensquellen, und in immer mehr Familien gibt es mindes-
tens ein Mitglied mit einem festen Einkommen. Unabhängig von der Erntesaison kön-
nen sich also immer mehr Inder das ganze Jahr über den Konsum von Gütern erlauben.
Noch ist der Pro-Kopf-Verbrauch an Gütern des täglichen Bedarfs im Hinterland Indi-
ens deutlich geringer als in den Städten. Aber aus den bereits genannten Gründen wird
schnell aufgeholt. Ein Bericht von McKinsey sagt bis 2017 vorher, dass der Pro-Kopf-
Konsum solcher Güter in Städten und bäuerlichen Landstrichen gleich sein wird (Ablett
2007). Aus diesem Grund ist die Entwicklung von Marketingstrategien auch für das dün-
ner besiedelte Indien in vielen Industrien ein heißes Thema geworden. Solche Strategien
6.7 Konsumverhalten in Indien 147
müssen mit Weitblick entworfen werden. Und sie müssen frühzeitig entwickelt werden,
weil es eines zeitlichen Vorlaufs für die Umsetzung bedarf.
Führende internationale Top- und Luxusmarken haben diesen Schritt bereits gemacht.
BMW zum Beispiel hat sich ein einzigartiges Konzept einfallen lassen, indem das Auto-
unternehmen in kleineren Städten quer durch das Land temporäre Showrooms errichtet,
um künftige Kunden zu erreichen und ihnen eine erste Erfahrung mit ihren Lieblingsau-
tos zu vermitteln. In einem Bericht für die South China Morning Post in Hong Kong mit
dem Titel „Last frontier of luxury retail: small-town India“ (Die letzte große Front des
Retail-Geschäfts) beschrieb der indische Autor Amrit Dhillon (2011) seine jüngste Reise
nach Indien. Er war darüber irritiert, so schrieb er, dass westliche Markenhersteller so
lange brauchten, um diese massive Entwicklung in Indien endlich zu erkennen. Dhillon
beschrieb, wie viel Kaufkraft sich hinter dem Schmutz, der Hässlichkeit und dem Elend
von Indiens kleinen Städten verstecke. Er beschrieb den Besuch in der nordindischen
Stadt Ludhiana, die sich rühmt, die Stadt mit der größten Zahl von Mercedes-Fahrzeu-
gen und 20.000-US$-Uhren im Land zu sein. Und er machte sich darüber lustig, wie
schnell westliche Firmen in chinesische Tier-2-Städte vorstießen, während sie zögerten,
in Indien dasselbe zu tun. Ihm fiel auch auf, dass westliche Marken in China bereitwillig
in Mandarin werben, um mehr Konsumenten zu erreichen, während sie sich in Indien
sichtbar zierten, in Hindi-Magazinen oder -Zeitschriften zu inserieren.
Natürlich hat Dhillon nur eine sehr begrenzte Zahl von Marken beobachtet. Aber
inzwischen sieht man, dass eine stetig wachsende Zahl europäischer und US-amerika-
nischer Firmen ihre Lektion in Indien gelernt hat. Der Wall-Street-Gigant Citibank zum
Beispiel startete seinen jüngsten Vorstoß ins indische Retailbanken-Geschäft mit der
Präzision eines Chirurgen. Der Finanzdienstleister nahm die „angehend Wohlhabenden“
(„emerging affluent“) ins Visier, die mit den „Seekers“ in der Einkommenspyramide des
NCAER übereinstimmen. Sie stellen die am schnellsten wachsende Einkommensgruppe
im Land dar. Lokale indische Marken haben jedoch damit begonnen, ihr Produktport-
folio anzupassen und alle interessanten Einkommenssegmente abzudecken. Reliance
Brands zum Beispiel hat drei verschiedene Positionierungsebenen gewählt. Bei Luxus-
artikeln kooperiert das Unternehmen mit Häusern wie Ermenegildo Zegna und Paul &
Shark, während es bei „erschwinglichen Top-Artikeln“ Marken wie Diesel Jeans oder
Shirts von Thomas Pink anbietet. Im Premiumgeschäft betreibt Reliance Brands Läden
unter Namen wie Quicksilver oder Timberland.
Seit sich Indien für Reformen und mehr Handel zu öffnen begann, hat sich das Land
dramatisch verändert. Dank höherer Einkommen sowie erfahrenerer Konsumenten,
steigender Erwartungen und eines neuen urbanen Lifestyles ist mit hohem Tempo eine
Konsumgesellschaft entstanden. Ein wachsender Teil der Einkäufe gilt nicht Gütern
des Grundbedarfs, sondern der Befriedigung individueller Bedürfnisse. Hinzu kommen
148 6 Indien – Der neue Star
Optimismus, leichter verfügbare Kredite und eine wachsende Beteiligung der Frauen am
Erwerbsleben. All das ist ein idealer Cocktail für zusätzlichen Konsum. Das vielleicht
wichtigste Merkmal der indischen Konsumenten ist ihre Fokussierung auf den Wert
eines Produkts. Seit es ausländische Marken gibt und im lokalen Fernsehen immer mehr
Werbung gezeigt wird, haben die Konsumenten zwischen Delhi, Chennai und Hydera-
bad erkannt, dass sie reichlich Auswahl haben und am längeren Hebel sitzen, wenn es
um Qualität, Service und Preise der angebotenen Produkte geht. Die unaufhörliche Jagd
nach dem besten Preis ist in Indien besonders ausgeprägt. Dhillon (2011) erklärt, dass
die indischen Konsumenten geradezu besessen davon seien, den größten Wert für den
niedrigsten Preis zu bekommen, darin würden sich die Reichen kein bisschen vom Mit-
telstand unterscheiden. Er begründet dieses Verhalten der indischen Konsumenten damit,
dass es vielleicht ein Grundbedürfnis in diesem Land sei, zu feilschen, er habe wohlge-
nährte, reiche Frauen beobachtet, die wegen ein paar Rupien einen Rikscha-Fahrer gna-
denlos weiter runterhandeln.
Der Buchautor Sanjay Kaptan (2003) schrieb in einem Essay über Indiens Konsum-
Revolution, sie hätten vor einem Jahrzehnt nicht eine einzige Shoppingmall gehabt, vor
einem halben Jahr seien es ein halbes Dutzend gewesen, jetzt würden gerade 250 gebaut.
Im August 2013 listete die Times of India bereits 570 Malls auf (Sharma und Dhamijal 8.
August 2013). Einer der kräftigsten Treiber dieser explosionsartigen Entwicklung ist laut
Kaptan (2003) die Begeisterung der indischen Konsumenten für internationale Marken.
Wer es sich leisten kann, schaut ganz genau hin, welche Produkte es aus Übersee in einer
bestimmten Kategorie gibt, was die „swadeshi“, die lokale Ware, unter Druck setzt und
zu Verbesserungen zwingt. Diese wachsende Konkurrenz führt auch zu immer ausgeklü-
gelteren Werbekampagnen.
Indiens Jugend wird neben der wachsenden Zahl erwerbstätiger Frauen zu einer der
zwei wichtigsten Zielgruppen. Wir erinnern uns: Die Mehrheit der Bevölkerung ist unter
25 Jahre jung. Sie haben Internetzugang, sie sind gut informiert, und sie wissen ziemlich
genau, was sie im Leben erreichen wollen. Immer mehr von ihnen treten gut ausgebildet
in den Arbeitsmarkt ein und bekommen gut bezahlte Einstiegsjobs. Sie lieben Marken
und wollen „trendy“ sein. Ihre Markenorientierung nimmt zu. Und sie wollen ihr Geld
für die Freizeit ausgeben und sich für ihren Erfolg belohnen. Damit verändert die junge
Generation ganze Märkte wie Kosmetik, Mobilgeräte und Zubehör. Die „Indies“, finan-
ziell unabhängige junge Inder, prägen einen wesentlichen Teil des Konsums im Land.
Im Buch von Kaptan (2003) erzählt Shumone Chatterjee, der Marketingdirektor von
Levi-Strauss in Indien, wie sich allein in der Stadt Bangalore der Umsatz in drei Jahren
verdreifachte, überwiegend durch das steigende Einkommen der 18- bis 22-Jährigen, die
oft in den Outsourcing- oder IT-Firmen unterkommen. Die Konsumdivision der Standard
Chartered Bank in Indien schätzt, dass jährlich drei Millionen Inder dieser Altersgruppe
ins Arbeitsleben drängen.
Auch immer mehr Frauen in Indien geben zumindest teilweise ihre traditionelle Rolle
in der Familie auf und suchen eine Arbeit. Sie verbringen mehr Zeit mit Freundinnen,
in Boutiquen, in Fitnesszentren und beim Frisör. Sie werden unabhängiger und sind als
6.8 Herausforderungen für ausländische Firmen 149
Konsumgruppe eine treibende Kraft. Selbst in den Seifenopern ist das längst zu sehen.
Und so ändert sich das Konsumverhalten der gesamten Gesellschaft. Traditionell spielte
der Konsum in Indien keine große Rolle. Über Generationen hinweg wurden die Inder
ermutigt, lieber zu sparen. Geld auszugeben, löste eher Schuldgefühle aus. Das begann
sich erst im vergangenen Jahrhundert langsam zu ändern. Die „Passengers & Traffic
Relief Association (PATRA) in Bombay wurde die erste Konsumentenorganisation“.
Dazu passt dann auch, dass Mahatma Gandhi folgendes Zitat zugeschrieben wird: „Ein
Kunde ist unser wichtigstes Versprechen, er hängt nicht von uns ab, sondern wir hängen
von ihm ab.“ Selbst wenn es für dieses Zitat keine gesicherte Überlieferung gibt, steht es
sinnbildlich für Indiens Transformation zu einer Konsumgesellschaft, die sich seit den
1980er Jahren noch einmal rasant beschleunigt hat. Hatte zu Zeiten des Sozialismus nie-
mand die Konsumwünsche der Bevölkerung ernst genommen, waren die Verbraucher auf
einmal umworben. Sie hatten Zugang zu internationalen TV-Programmen und Werbung
aus Übersee, auf deren Grundlage sie ihre Konsumwünsche bilden konnten. Und sie hat-
ten auf einmal die Qual der Wahl zwischen unterschiedlichen Angeboten.
Riesige Weiten, eine komplexe Kultur, eine schwache Infrastruktur und eine wenig effi-
ziente Bürokratie: Sie gehören zu den am häufigsten genannten Beschwerden, wenn
ausländische Investoren zu ihren Erfahrungen in Indien befragt werden. Mit enthalten
im Klagelied ist stets auch der Verweis auf Regulierungen, die so launisch sein kön-
nen wie eine Monsun-Saison. Sogar von nachträglich geänderten Bestimmungen wird
immer wieder berichtet, wenn ausländische Handelskammern ihre Mitglieder befragen.
Der Fairness halber muss man hinzufügen: Indien zählt mittlerweile zu den Schwellen-
ländern mit dem größten Volumen ausländischer Direktinvestitionen. Also gibt es auto-
matisch viele Kommentare zu den Bedingungen, die Investoren in dem Land vorfinden.
Und eines muss ganz klar gesagt werden: Selbst in Anbetracht all dieser berechtigten
Beschwerden überwiegt vielen Umfragen zufolge doch bei einer Mehrzahl von Investo-
ren der Eindruck, dass Indien noch viele gute Marktchancen bietet.
Die Beratungsgesellschaft EY (2015) beschrieb Indien als einen Lichtblick unter den
globalen Volkswirtschaften. Im September 2015 berichtete die Times of India, dass allein
aus dem einen Dutzend Länder, die Premier Narendra Modi in den 16 Monaten zuvor
besucht hatte, knapp 20 Mrd. US$ ausländische Direktinvestitionen (FDI) aufgelaufen
waren. Das waren zwei Drittel aller ausländischen Direktinvestitionen, die wiederum im
Finanzjahr 2014/2015 um 27 % zunahmen. Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass
Indien im Jahr 2011 mit 50 Mrd. US$ einen vorläufigen Rekord bei diesem Investiti-
onszufluss erlebte, dann jedoch Rückgänge sah. Doch Modi hat den Spieß umgedreht.
Indien ist zu Beginn der 2010er Jahre das viertgrößte Empfängerland nach der Zahl der
FDI-Projekte geworden, hat fast halb so viel Kapital auf sich gezogen wie China und war
die Nummer drei hinsichtlich des Investitionsvolumens.
150 6 Indien – Der neue Star
Wie kommt es dann, dass der Doing Business Report der Weltbank Indien im Jahr
2015 lediglich an 142. Stelle von 189 bewerteten Ländern führt, zehn Positionen
schlechter als im Jahr 2012? (The World Bank 2014b) Was die Weltbank vor allem
bemängelt, sind die geringen Chancen, unterschriebene Verträge am Ende auch durch-
zusetzen (186. Stelle), Baugenehmigungen zu bekommen (184.) und überhaupt ein
Geschäft zu starten (158.). Deutlich besser steht Indien in diesem Vergleich in zwei
Punkten da, die aus der Sicht ausländischer Marken in dem Land keine übergeordnete
Rolle spielen. Indien liegt bei der Kreditversorgung an einer guten 36. Position und
nimmt mit Blick auf den Schutz von Minderheitsaktionären sogar einen hervorragenden
siebten Rang ein. In diesen beiden Punkten kann Indien gut mit den anderen BRIC-Staa-
ten mithalten. Für große Investoren ist das allerdings in einigen Fällen nicht gut genug.
Der weltgrößte Retailer, Wal-Mart, hat im Oktober 2013 seine ehrgeizigen Pläne, in
Indien Hunderte von Megamärkten zu eröffnen, erst einmal auf Eis gelegt. Sechs Jahre
zuvor hatte Wal-Mart mit viel Tamtam angekündigt, mit seinem indischen Joint-Venture-
Partner Bharti groß einzusteigen. Doch die Expansion wurde von schwierigen Markt-
bedingungen wie Stromversorgung, Verkehrsinfrastruktur und Bürokratie ausgebremst
(Harris 9. Oktober 2013).
Zu den weiteren möglichen Hindernissen für ausländische Investoren in Indien gehö-
ren die Größe und Komplexität der vielen regionalen Märkte, die Energiekosten, weil
viel Kohle importiert werden muss, dazu die Schwäche des Stromnetzes und die allge-
meine Infrastruktur, bei der das Land laut dem Logistics Performance Index der Welt-
bank in den vergangenen Jahren ein paar Positionen eingebüßt hat. Es rutschte seit 2007
vom 39. auf den 54. Platz (2014) ab (The World Bank 2014a). Die Retail-Landschaft
ist ein weiterer flackernder Punkt auf den Monitoren internationaler Investoren. Kleinst-
händler und Nachbarschafts-Shops wie die Kiranas beherrschen über 90 % des Marktes,
während in vergleichbaren Ländern wie China der moderne Einzelhandel bereits über die
Hälfte des Gesamtumsatzes ausmacht. In China sind es 60 %, in Brasilien 50 %.
Diese Hürden und Herausforderungen in Indiens zahlreichen Märkten nehmen in der
Berichterstattung viel Raum ein. Aber das hat auch damit zu tun, dass die Zahl der Über-
seeinvestoren in dem Land wächst und die Bedingungen für Investitionen mehr Auf-
merksamkeit bekommen. Die hier erwähnten Zeitungsberichte und Umfragen belegen,
dass das Interesse weiter zunimmt. Andrew Holland, der CEO des Investment-Beraters
Ambit Capital in Mumbai, erklärte unlängst, die Konsumstory in Indien werde erhalten
bleiben, man könne die Demografie nicht verändern und man könne die Träume und
Sehnsüchte der Inder nicht aufhalten (Munroe und Williams 2012).
Frauen unabhängiger werden, weil die Inder mehr reisen und mit den Sitten und Pro-
dukten anderer Länder vertrauter werden. Laut dem Global-Attitudes-Projekt des Pew
Research Center (2012) kommt es dazu, dass viele Inder gleichzeitig diesen Wandel
begrüßen und besorgt über die Folgen für die traditionelle Lebensweise sind. In kon-
kreten Zahlen sieht dieser Befund so aus: Mit 49 % der Befragten begrüßt praktisch die
Hälfte der Inder das moderne Leben mit all seinen Begleiterscheinungen wie Individu-
alismus und dem Angriff auf den Zusammenhalt der Familie. Nur noch 37 % lehnen
diesen Wandel ab. Die Akzeptanzrate steigt deutlich an, wenn man Inder in den Bal-
lungszentren und in der jüngeren Generation befragt. Das gilt besonders für Menschen in
den Bundesstaaten des Westens, darunter Maharashtra, Madhya Pradesh, Rajasthan und
Gujarat. Einen Hinweis darauf, wie schnell der kulturelle und gesellschaftliche Wandel
vonstattengehen, gibt die Zahl derer, die sich über den Verlust von Traditionen beschwe-
ren. Er liegt bei 52 %. Und acht von zehn Indern wollen ihre Kultur vor zu vielen westli-
chen Einflüssen geschützt sehen.
Man kann aber auch Indikatoren wie die Nachrichten aus Bollywood heranziehen,
um sich den Wandel anhand von Anekdoten zu veranschaulichen. Als Richard Gere im
März 2008 die Schauspielerin Shilpa Shetty auf die Wange küsste, brach in den indi-
schen Zeitungen ein Sturm los. Viele Inder waren so außer sich vor Empörung, dass das
Magazin Time sich wunderte, wie ein Land, das der Welt das Kama Sutra bescherte, so
prüde sein könne. Richard Geres Verhalten wurde in konservativeren Kreisen des Lan-
des weithin als Attacke gegen Indiens Werte gesehen. Es gab sogar öffentliche Proteste.
Doch fünf Jahre später kündigte die Schauspielerin Sherlyn Chopra an, sie werde sich als
erste Inderin auf dem Titelblatt des Playboy ablichten lassen. Es war eine ungeheuerliche
Ankündigung. Diesmal blieb der Protest aus.
Was lernen wir daraus über die Veränderung von Kultur und Werten in Indien? Indi-
ens Moral scheint sich in Bollywood schnell zu ändern, aber nicht so im Rest des Lan-
des. Ein Kuss auf der Leinwand kann noch immer landesweit zu Schlagzeilen führen,
zumindest in den Lifestyle-Sektionen. Indiens Gesellschaft hat immer noch relativ kon-
servative Wurzeln. Für unverheiratete Paare ist es selbst in Städten wie Mumbai nach wie
vor nicht leicht, eine Wohnung zu finden. Und Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit auszu-
tauschen, ist zumindest noch keine Selbstverständlichkeit. Die Macht der Tradition zeigt
sich auch bei arrangierten Ehen. Sie sind immer noch die Regel, nicht die Ausnahme.
Und Scheidungen sind erst seit Kurzem ein Thema, über das man reden kann. Die feste
Verwurzelung in der Tradition wird auch bei der Bekleidung sichtbar. Vor allem Alltags-
kleidung, wie zum Beispiel der Sari für Frauen, ist meist traditionell gehalten, das gilt
erst recht für formale Anlässe wie Hochzeiten. An den Wochenenden sieht man hingegen
besonders viele Menschen in Jeans und Burberry. Die Essgewohnheiten und Geschmä-
cke ändern sich ebenfalls nur langsam.
Eine der sichtbarsten Veränderungen in der indischen Gesellschaft – falls man nicht
nur als Tourist durch das Land reist – ist die wachsende Zahl von Frauen am Arbeits-
platz. Ihr Anteil ist auf dem Land mit etwa 50 % viel größer als in den Städten, wo der
Prozentsatz lediglich 35 erreicht. Der wichtigste Grund ist, dass aufgrund immer noch
152 6 Indien – Der neue Star
verbreiteter Armut im Hinterland Frauen stark unter Druck stehen, zum Familieneinkom-
men beizutragen. Das führt zu Veränderungen der Familienstruktur. Die Familien wer-
den kleiner, und einzelne Mitglieder haben mehr Einfluss auf den Familienverband, vor
allem, was den Konsum und die Ersparnisse angeht. Unter diesen Umständen haben es
Marken mit ihrer Botschaft leichter, zum Beispiel zu Frauen oder zu der jungen Gene-
ration durchzudringen. Dennoch bleibt die Familie stets im Spiel: Eine E-Commerce-
Studie der digitalen Werbeagentur Sokrati belegt, dass die Familie in 71 % der Fälle die
wichtigste Quelle für Kaufempfehlungen bleibt, weit vor Freunden, die für 64 % eine
wichtige Rolle spielen. Produktbesprechungen im Internet (29 %) und Firmenwebseiten
(24 %) haben einen deutlich geringeren Einfluss.
Egal, ob es um den ersten Job geht, eine Hochzeit, die Geburt eines Kindes oder eine Beför-
derung: Wenn Inder gemeinsam feiern, um sich Glück zu wünschen, dann ist immer etwas
Süßes dabei: Süßigkeiten, Gebäck, Torten. Sie wurden meist mit dem traditionellen Butter-
fett (ghee) zubereitet und enthalten Früchte, Reis und Palmzucker. Cadbury ist es gelungen,
einige seiner Schokoladenprodukte geschickt als passende Bereicherung für indische Festi-
vitäten zu positionieren.
Nationalstolz und patriotischer Konsum spielen eine wichtige Rolle, wenn es um den
Kauf von Geschenken für solche Anlässe geht. In Indien wird die Nationalhymne sogar
vor Kinofilmen gespielt, und die Besucher stehen auf und singen mit. In Märkten, in
denen die ausländische Konkurrenz noch nicht so stark ist, entscheiden sich die Kon-
sumenten oft für lokale Markenprodukte, weil sie Probleme mit der Wartung fürchten.
Indische Konsumenten setzen auch mehr auf Service als beispielsweise die Chinesen,
weil viele Haushalte Diener und Hausmädchen beschäftigen. Die Inder sind es zudem
gewöhnt, maßgeschneiderte Produkte und Lösungen zu bekommen. Von den Betten über
Anzüge bis hin zu Küchen und anderen Möbeln sind viele Produkte in Handarbeit herge-
stellt und damit Einzelanfertigungen. Wenn man in Indien in einen x-beliebigen Möbel-
laden geht und nach einem Standardbett fragt, wird die Antwort sehr wahrscheinlich so
ausfallen: „Was immer Sie brauchen.“
Die Vorlieben der Kunden können sich in Indien zwischen einer Stadt und der nächs-
ten unterscheiden. Wie in anderen BRIC-Ländern auch, können zum Beispiel lokale und
regionale Geschmäcke von stark variierenden Wetterbedingungen beeinflusst werden,
aber auch von Faktoren wie der Infrastruktur, der Wasserqualität oder gar vom Fehlen
einer Versorgungskette für gefrorene Produkte. In Indien gibt es zudem noch eine viel
größere Sprachenvielfalt als in vergleichbaren Ländern. Die enorme Zahl regionaler Dia-
lekte erfordert es, dass Massengüter jeweils in der lokalen Sprache beworben werden.
Indiens Bevölkerung ist außerdem jünger als in anderen großen Schwellenländern. Pro-
dukte für jüngere Generationen haben dort ein riesiges Potenzial. Und die Finanzierung
ist stets ein wichtiger Punkt, wenn Produkte beworben werden. Autoverkäufer halten
selbst für Premiummodelle Finanzierungsangebote bereit.
Indische Konsumenten verlassen sich stark auf den Rat der Familie und von Freun-
den. Sie haben hohe Ansprüche und sie bereiten ihren Kauf sehr gut vor. Laut Nielsen
(Laungani 2012) vertrauen 54 % der Onlinekäufer in Indien den Kommentaren und
Ratschlägen ihrer Freunde. Fast die Hälfte von ihnen (45 %) gibt selbst schriftliche
Ratschläge oder schreibt Produktkritiken. Und sie nehmen viel mehr Quellen zu Hilfe,
offline oder online, bevor sie ihre Kaufentscheidungen treffen. Eine wachsende Zahl von
Konsumenten sucht mehrere Geschäfte auf, bevor sie sich entscheiden. Und laut ver-
schiedenen Studien geben etwa 40 % der städtischen Konsumenten an, die Preise für die
meisten Produkte einer Kategorie zu kennen, in der sie sich umschauen. Für Marketing-
experten ist das eine echte Herausforderung. Sie müssen den Mehrwert ihres Produk-
tes genau herausarbeiten, den lokalen Geschmack genau ansprechen, überzeugend das
Preis-Leistungs-Verhältnis hervorheben und gleichzeitig noch profitabel gegen die starke
– oder erstarkende – lokale Konkurrenz bleiben.
154 6 Indien – Der neue Star
Bequemlichkeit, Zeitersparnis und Vertrauen sind dabei wichtige Teile des Entschei-
dungsprozesses, vor allem, wenn Produkte online gekauft werden. Indische Konsumen-
ten wissen immer genauer über den Westen Bescheid, meist durch eigene Reisen oder
Verwandte, die im Ausland gereist sind oder dort leben. Das hat sie zu besser informier-
ten Konsumenten gemacht. Doch sie haben auch eine größere Vorliebe für ausländische
Produkte als in früheren Zeiten. In den höherwertigen und Luxuskategorien gibt es einen
simplen Zusammenhang: Je internationaler die Wahrnehmung einer Marke, desto posi-
tiver wird die Einstellung ihr gegenüber. In unserer ersten repräsentativen Studie über
die Wahrnehmung ausländischer Marken in Indien haben wir diesen Zusammenhang
bestätigt gefunden. Wir haben mehr als 1000 Konsumenten in Delhi, Mumbai, Banga-
lore, Chennai und Pune befragt. Die Ergebnisse waren eindeutig. Ganz allgemein messen
indische Konsumenten dem Herkunftsland eines Produktes eine sehr hohe Bedeutung
bei. 69 % der Befragten haben das bestätigt. Das Ergebnis der Umfrage belegt auch, dass
mit steigenden Einkommen die Vorliebe für internationale Marken zunimmt. So gaben
47 % der indischen Mittelschicht an, positiv gegenüber deutschen Marken eingestellt zu
sein. In den höheren Einkommenssegmenten der Mittelschicht war dieser Zusammen-
hang mit 71 % der Nennungen sogar deutlich ausgeprägter (globeone 2012). Lokale
Marken in Indien haben damit begonnen, diesen Effekt für sich zu nutzen und versu-
chen sich als Trittbrettfahrer. Zum Beispiel werden ausländische Namen verwendet oder
es wird ein internationales Erscheinungsbild kreiert. Die Bekleidungshersteller Munich
Polo und Da Milano haben das so gemacht oder der Uhrenanbieter Titan.
Indiens Konsumenten stellen nicht nur ein großes Universum mit extremer Vielfalt
dar, sondern auch eine neue Gattung begeisterter Einkäufer. Forschungs- und Marketing-
agenturen sind andauernd damit beschäftigt, die jüngsten Trends und Konsumneigungen
aufzuspüren. Dazu gehört neuerdings auch der Trend zu moderneren Retail-Formaten.
Das geht bereits bis in die hintersten Ecken des Landes. Doch die 14 großen Schlüssel-
märkte in Indien, unter ihnen Mumbai, Delhi, Chennai und Hyderabad, bestreiten immer
noch fast drei Viertel der modernen Formate. Jeder fünfte Konsument im städtischen
Indien kauft regelmäßig in modernen Läden ein.
Indische Konsumenten haben lange Zeit keine globalen Marken gekannt. Viele von
ihnen sind immer noch nicht damit vertraut. Und viele von ihnen verstehen noch nicht,
welche Bequemlichkeit und Vorteile mit guten Marken verbunden sind. In Indien muss
man im Auge behalten, dass es in der Wahrnehmung von Marken große Unterschiede
gibt. Was bedeutet all das für westliche Marken in Indien? Das Branding hat in diesem
Schwellenland viele wichtige Dimensionen. Die Adaption von Produkten an lokale
Geschmäcke und Gewohnheiten ist sicherlich eine davon. Selbst Coca-Cola, ebenso wie
Pepsi, hat in Indien sein Portfolio noch erweitert. Beide Firmen haben lokale Mitstreiter
übernommen, um dies zu erreichen. Coca-Cola hat sogar sein geheimes Originalrezept
an die lokalen Geschmäcke angepasst und bewirbt eine zweite Marke für traditionellere
Kunden.
Funktionalität ist eine der Schlüsseldimensionen für erfolgreiches Branding in Indien.
Der Schweizer Nahrungsmittelgigant Nestlé hat in Indien einen großen Marktanteil erobert,
6.11 Wichtige Konsummotive und Treiber für Kaufentscheidungen 155
indem er es schaffte, den funktionalen Wert seiner Produkte hervorzuheben. Das Unter-
nehmen brachte 1982 seine „Maggi-2-Minuten-Nudeln“ auf den Markt. Die ursprüngliche
Strategie, vor allem erwerbstätige Frauen anzusprechen, war nicht sehr erfolgreich gewe-
sen. Marktforschung zeigte später, dass insbesondere Kinder den Geschmack liebten. Also
wurde Maggi als Fertiggericht für Mütter und als Vergnügungsprodukt für Kinder positi-
oniert. Eine große Promotion-Kampagne pries das Produkt mit der Schlagzeile „Mummy,
bhookh lagi hai“ (Mama, ich bin hungrig) an. Der Anteil von Maggi am Markt für Fertig-
nudelgerichte in Indien schoss in der Spitze auf über 90 % nach oben.
Auch das Preis-Leistungs-Verhältnis kann als wichtige Dimension im kostenbewuss-
ten Indien nicht oft genug betont werden. Levi’s zum Beispiel hatte Erfolg mit einer
erschwinglichen Signatur-Marke. Im ländlichen Indien haben beispielsweise Shampoos
großen Erfolg, wenn sie in kleinen Beuteln anstatt in großen Flaschen angeboten wer-
den, weil sie dadurch erschwinglich sind. Doch Produkte für die Körperpflege sind bei
Weitem nicht die einzige Kategorie, bei der Marketingexperten feststellten, dass sie in
Indien Konsumenten erreichen, die zuvor nicht als Zielgruppe galten. Bestimmte Marken
waren in Indien aber auch erfolgreich, weil sie mit den Konsumenten effektiver kommu-
nizieren konnten. Zum Beispiel, indem sie auf die Sprachenvielfalt mehr Rücksicht nah-
men. Es ist kein Zufall, dass die größten Marken in Indien zu Firmen gehören, die eine
starke Präsenz im ländlichen Teil zu erreichen vermochten. Dazu gehören beispielsweise
Asian Paints, Unilever und Colgate. Sie haben es alle in irgendeiner Weise geschafft,
auch die niedrigeren Preissegmente anzusteuern. Ihre „Eintrittsmarken“ vermochten es,
zu erschwinglichen Preisen vergleichbare Vorteile wie internationale Premiummarken zu
bieten. Der britische Malzpulvermilch-Produzent Horlicks hat sich weltweit als Anbieter
von Drinks für Erwachsene positioniert. In Indien wurde das Produkt als Gesundheits-
drink für Kinder positioniert. Auch McDonald’s hat sich mit seinem Angebot an Indien
angepasst. Die Fastfood-Kette ersetzte ihre Big Macs, weil Hindus kein Rindfleisch ver-
zehren. Stattdessen wird im lokalen indischen Menü der US-Bratereikette der „Maharaja
Mac“ angeboten, belegt mit Lamm oder Huhn. Auch eine vegetarische Burger-Version
ist im Programm, der McAloo Tikki.
Indiens äußerst vielschichtige Kultur mit ihren vielen Religionen, Sprachen und regiona-
len Sitten übt einen großen Einfluss auf das Konsumverhalten aus. Die große Zahl von
variierenden Kulturen in den verschiedenen Regionen des Landes führt auch zu einem
breit gefächerten Spektrum verschiedener Kaufgewohnheiten. Die wissenschaftliche For-
schung dazu ist bisher begrenzt. Aber fest steht, wie es ein Papier des AXIS Institute of
Planning & Management in Kanpur (Uttar Pradesh) geradeheraus formuliert, dass die
Kultur die Konsumenten durch Normen und Werte beeinflusst, die ihre Gesellschaft auf-
stellt (Pandey und Dixit 2011). Der Einfluss der Kultur ist dabei automatisch und praktisch
156 6 Indien – Der neue Star
unsichtbar. Kultur beeinflusst nicht nur das Konsumverhalten, sie spiegelt es auch, heißt
es in dem Papier des Instituts. Diese Definition schließt Wissen, Glauben, Kunst, Moral,
Gebräuche und das gesamte gesellschaftliche Rahmenwerk, das auf Individuen einwirkt,
mit ein.
Die meisten Wissenschaftler und Marketingexperten stimmen darin überein, dass die
Kultur der stärkste einzelne Grund für die Bedürfnisse und das Verhalten einer Person
ist. Die stärkste Gruppe, die das Verhalten einer einzelnen Person beeinflussen kann, ist
die Familie. In Ländern wie Indien, wo viele junge Menschen bei ihren Eltern wohnen,
bis sie heiraten, kann dieser Einfluss besonders ausgeprägt sein. Wer Kulturen wie die
indische studiert, bekommt ein Bild von den Nahrungsgewohnheiten, den Bekleidungs-
regeln sowie den Ritualen und den Kaufentscheidungen. Dazu gehören Einsichten in das
Markenverhalten, wo gekauft wird und wann gekauft wird. Indien ist, wie bereits gesagt,
eine stark familienorientierte Gesellschaft, in der Männer noch immer meist das Sagen
haben. Indien gilt auch als kollektivistisch, weil Menschen von Geburt an stark in Grup-
pen eingebunden werden. Meist handelt es sich dabei um die Familie. Kaufentschei-
dungen basieren in solchen Kulturen oft auf dem Streben nach Konformität oder dem
sozialen Status. Die kollektivistischen Attribute sind in Indien vielen Studien zufolge
trotz ihrer sichtbaren Ausprägung nicht so stark wie in China. Das liegt vor allem an dem
konfuzianischen Einfluss in Chinas Gesellschaft.
Doch die traditionelle Familienstruktur in Indien gerät unter Druck. Das geht auf
hohe Wachstumsraten, die Urbanisierung, bessere Ausbildung und wachsende interna-
tionale Einflüsse zurück. Die wirtschaftliche Liberalisierung und der stärkere Einfluss
der Medien tragen ebenfalls dazu bei. In den Familien wird die traditionell strikte Hie-
rarchie langsam aufgeweicht. Die Männer sind immer noch die einflussreichsten Ent-
scheidungsträger in der Gesellschaft. Aber Frauen haben auf Kaufentscheidungen einen
wachsenden Einfluss, weil ihr Anteil in der Arbeitswelt wächst. Indien war immer sehr
hierarchisch. Das geht vor allem auf das offiziell abgeschaffte, aber immer noch sehr
starke Kastensystem zurück. Es war ursprünglich von Hindu-Priestern entwickelt worden
und hat die indische Gesellschaft mehr als 3000 Jahre lang geprägt. Das Kastensystem
besteht aus vier unterschiedlichen „varnas“, also Klassen. Die gelehrten Brahmanen ste-
hen an der Spitze der Pyramide, gefolgt von den Kshatriyas (Krieger und Herrscher),
den Vaisyas (Händler, Geldausleiher) und den Sudras (Bauern). Unterhalb der vier offi-
ziellen Kasten gibt es eine fünfte Gruppe, die sozial ausgeschlossen ist und als Dalits
(die Unterdrückten, die Unberührbaren) bezeichnet wird.
Eine der Folgen dieser hierarchischen Ausprägung ist, dass soziale Ungleichheit in
Indien eher akzeptiert wird als in anderen Ländern. Eine andere Folge ist, dass indische
Konsumenten sehr statusbewusst sind und leicht motiviert werden können, Luxuspro-
dukte zu kaufen. Denn hochwertige und exklusive Produkte gelten als Ausdruck von Sta-
tus und Klassenzugehörigkeit. Und indische Konsumenten tragen sie gerne zur Schau.
Einige Forscher betonen auch, dass der Wunsch, seinen Staus in der indischen Gesell-
schaft zur Schau zu tragen, von jenen Traditionen des Landes zusätzlich ermuntert wird,
die Objekten eine besondere Bedeutung beimessen. So sind Ikonen und Symbole ein
6.12 Medienlandschaft 157
sehr wichtiger Bestandteil des Lebens. Dank des hierarchischen Charakters der indischen
Gesellschaft, der von gut bezahlten Jobs und der Urbanisierung noch unterstrichen wird,
hat das moderne Indien eine ausgeprägte soziale Aufwärtsmobilität. Das Streben nach
Wohlstand, Macht und Lifestyle ist in verschiedenen Schichten der urbanen Gesellschaft
stark präsent.
Ein Teil der jetzt entstehenden Konsumkultur ist das Essen außer Haus, auch eine
Kneipenkultur entsteht. Und es gibt unter Männern eine unglaubliche Nachfrage nach
Produkten für die Körperpflege und für Hygiene. Weil das Verlangen, gut auszusehen
und sich wohl zu fühlen, zunimmt, schießen Schönheitssalons und Fitnessstudios aus
dem Boden. Und weil es sich immer mehr Inder leisten können, gibt es einen wichti-
gen Wandel: Das bislang eindeutig vorherrschende Kostenbewusstsein gibt oft nicht
mehr alleine den Ausschlag. Immer öfter kommen bei der Kaufentscheidung das Design,
die Qualität und der Modefaktor einer Marke ins Spiel. All dies wird beeinflusst vom
Fernsehen und einer immer aggressiveren Werbung. Das ganze Konzept vom Einkau-
fen gehen ändert sich. Einst war es ausschließlich eine Notwendigkeit. Jetzt ist es mehr
als das. Faktoren wie das Ambiente, die Bequemlichkeit und die Auswahl gewinnen an
Bedeutung. Das spielt großen Shoppingmalls und dem Einzelhandel mit vielen Mar-
ken in die Hände. Die Ansprüche an das Einkaufserlebnis werden spürbar größer. Für
die Markenprodukte bedeutet das, dass sie flexibler und besser an individuelle Ansprü-
che angepasst werden müssen. Aus diesem Grund muss das Marketing für internationale
Marken besser mit Strategien vertraut werden, denen es gelingt, die nötige lokale Anpas-
sung mit der Betonung der internationalen Kompetenz und dem Image einer Marke zu
verbinden.
6.12 Medienlandschaft
Hindi herausgegebenen Zeitung Amar Ujala, sieht Indiens Zeitungen an einem idea-
len Punkt ihrer Entwicklung, wie er im September 2015 dem Wall Street Journal ver-
riet. Dank steigender Alphabetisierung und wachsender Nachfrage nach Printmedien in
lokalen indischen Sprachen sei das nächste Jahrzehnt gesichert (WARC 2015). In dem
Bericht der Webseite WARC.com, die dieses Zitat enthält, wird auch darauf verwiesen,
dass die Auflage der indischen Tageszeitungen sich allein seit 2010 auf 250 Mio. mehr
als verdoppelt hat. Dass renommierte Markenfirmen diesen Trend erkannt haben und für
präzise gesteuerte Kampagnen nutzen, zeigt das Beispiel Mercedes-Benz. Das Unter-
nehmen schaltete zum Beispiel Anzeigen in Hindi-Zeitungen, um potenzielle Kunden in
Städten wie Lucknow, Ghaziabad und Surat zu erreichen. Dort haben unlängst Merce-
des-Händler die Pforten ihrer Showrooms eröffnet.
Indiens Medienlandschaft wächst schneller als die in vergleichbaren BRIC-Ländern.
Das riesige Aufholpotenzial trägt zu der Dynamik bei. Von der Auflage einer Zeitung
entfiel Mitte der 1970er Jahre ein Exemplar auf 80 Inder bei einer Gesamtbevölkerung
von 775 Mio. Zu Beginn dieses Jahrhunderts entfiel dann bei einer Gesamtbevölkerung
von mehr als einer Milliarde ein Exemplar auf 20 Inder. Mitte der 1970er Jahre konnte
nur etwas mehr als jeder dritte Inder lesen. Die Quote der Analphabeten hat sich seit-
dem halbiert. Und 82 % der jungen Generation können heute lesen und schreiben. Vor
allem der Aufstieg der nicht englischsprachigen Presse ist phänomenal. Die Auflage der
Zeitungen in Hindi hat sich seit Beginn der Reformen auf über 25 Mio. verdreifacht.
Es gibt in dieser Sprache inzwischen über 3000 Zeitungen. Wegen der großen Zahl der
Sprachen ist der Zeitungsmarkt allerdings stark fragmentiert. Im Jahr 2011 gab es laut
dem Registrar of Newspapers über 82.000 Publikationen. Die Zahl der Radiostationen
soll sich bis zum Ende der 2010er Jahre von 250 auf 1200 fast verfünffachen. Und das
Rundfunkministerium zählt derzeit etwa 800 Fernsehkanäle. Wie viele Webseiten es
gibt, weiß niemand. Sicher ist nur: Wuchs der digitale Medienmarkt zunächst nur wenig,
explodierte er zwischenzeitlich und holt mittlerweile mächtig auf. Bis 2020 könnte das
digitale Anzeigenvolumen laut einem Bericht von KPMG und der Federation of Indian
Chambers of Commerce im Schnitt um knapp über 30 % pro Jahr wachsen (KPMG und
Federation of Indian Chambers of Commerce & Industry 2015).
Die englischsprachigen Titel sind auf die großen Städte konzentriert. Delhi ist die ein-
zige Metropole auf der Welt mit 16 englischsprachigen Tageszeitungen. Die drei größten
von ihnen, die Times of India, die Hindustan Times und die Economic Times, bestrei-
ten 60 % dieses Segmentes. Indiens Zeitungsmarkt wird von wenigen Gruppen kontrol-
liert. Einige der bekanntesten Pressemagnaten sind Shobhana Bhartia von der Hindustan
Times und Narendra Mohan von der Dainik Jagran, Indiens führender Zeitung in Hindi.
Die Verlagsgruppe dahinter ist Jagran Prakashan, Indiens größte mit Engagements im
Zeitungsbereich, im Internet und im rasant wachsenden Mobilgeschäft. Aber dazu mehr
im nächsten Abschnitt über das Internet. Dainik Jagran hat eine Auflage von mehr als
17 Mio. Exemplaren und eine Leserschaft von 55 Mio. Das klingt nach viel, doch in
Indien werden Zeitungen mit mehreren Freunden und Familienmitgliedern geteilt. Das
bedeutet, dass es wesentlich weniger Zeitungskäufer als -leser gibt. Einige der größten
6.13 Internet und mobile Kommunikation 159
Medienkonzerne sind so profitabel, dass sie auch in medienferne Industrien wie Luft-
fahrt, Zement, Hotels und die Stahlindustrie expandiert sind. Laut einer der jüngsten
Marktuntersuchungen durch die Hongkonger Beratung Media Partners Asia (MPA) im
Herbst 2012 sind die größten Fernseh-Networks Star TV, Zee und Network18. MPA
erwartet, dass sich die indische TV-Industrie in den kommenden Jahren schneller aus-
dehnen wird als die chinesische (Kohli-Khandekar 2012). Vereinzelte Networks wie
Star und Sony übernehmen gezielt einzelne Sprachenkanäle, um weite Teile des Landes
abzudecken. Für westliche Marken bedeutet das ein großes Portfolio von verschiedenen
sprachlichen Kanälen, um die Medienkampagnen gezielter zu formatieren. Indiens TV-
Industrie hat seit Beginn der Reformen eine wahre Revolution erlebt. Damals hatten die
Inder lediglich Zugang zu dem etablierten staatlichen Rundfunkanbieter Doordarshan.
Jetzt gibt es mindestens 300 Kabelanbieter und etwa 30 Nachrichtenkanäle in allen 22
offiziellen Sprachen.
Einige Trends in der indischen Medienlandschaft sollten westliche Manager unbe-
dingt kennen. Erstens: Die Reichweite und der Einfluss von Wirtschaftspublikationen
wachsen, was auch mit dem Markteintritt globaler Anbieter zu tun hat. Es gibt in diesem
Segment sechs Tagezeitungen, sechs Wirtschaftskanäle im Fernsehen und über ein Dut-
zend Magazine. Der redaktionelle Teil dieser Blätter ist nicht länger ausschließlich für
Firmennachrichten, die Börse und die Arbeit der Regierung reserviert. Mehr und mehr
redaktioneller Raum wird den Themen Lifestyle, Freizeit, Gesundheit, Karriere und
internationale Angelegenheiten gewidmet. Internationalen Marken bietet das mehr Gele-
genheit, sich zu positionieren. Zweitens: Die Zahl von Zeitungen und Fernsehsendungen
in regionalen Sprachen nimmt rasant zu. Das erlaubt zielgenauere Kampagnen. Drittens:
Leser und Zuschauer in Indien werden anspruchsvoller. Niemand ist mehr mit reinen
Nachrichten zufrieden. Hintergrund, Zusammenhänge und Einschätzungen sind gefragt.
Das gilt auch für Markenkampagnen. Man muss erklären, warum ein Produkt für indi-
sche Konsumenten interessant und wichtig ist. Und mit dem wachsenden Lifestyle-
Gehalt in den Blättern lassen sich mehr entsprechende Marken platzieren. Viele Firmen,
auch ausländische, gehen dazu über, indische Journalisten mit ihren Produkten vertraut
zu machen, indem sie Markenevents und Reisen veranstalten. In manchen Blättern und
Fernsehkanälen sind gesponserte Berichte sogar die einzige Möglichkeit, unterzukom-
men. Der redaktionelle Raum für die Markenbotschaften kann dabei zweimal so teuer
sein wie Anzeigen auf derselben Fläche.
Im Jahr 2016 verzeichnete Indien bereits über 460 Mio. Internetnutzer. Gemessen an der
indischen Gesamtbevölkerung entsprach das einer Penetration von 34,8 %. Dem rasan-
ten Anstieg an Internetnutzern ist aber noch kein Ende gesetzt. So prognostizierte der
zuständige Telekommunikationsminister ein weiteres jährliches Wachstum von 50 Mio.
Nutzern bis 2020. Und bereits heute ist das Land der zweitgrößte Mobilfunkmarkt der
160 6 Indien – Der neue Star
Welt mit über einer Milliarde Nutzern. Das entspricht auch in etwa der Zahl von Smart-
phonebesitzern in Indien, die 2015 erstmals den Rekord von einer Milliarde gebrochen
hat. Gemessen an 905 Mio. Menschen im Hinterland Indiens wird deutlich, wie enorm
das Wachstumspotenzial ist.
Mit diesen Zahlen ist das Internet bereits zu einem Faktor für die indische Wirtschaft
geworden. Der absolute Beitrag des Internets zum Bruttoinlandsprodukt ist 2015 auf
rund 100 Mrd. US$ gestiegen. Der magische Mix sind eine niedrige Penetration, ein rie-
siges Hinterland, eine große Bevölkerung und das Fehlen einer besseren Infrastruktur
inklusive Festnetz, was dem Internet durch die explosionsartige Ausbreitung von Mobil-
kommunikation einen zusätzlichen Schub verleiht. Auch das geringe Durchschnittsalter
der Bevölkerung spielt hier eine Rolle. Das am schnellsten wachsende Alterssegment
im indischen Internet sind die User von 15 bis 24 Jahren. Der Anteil der Frauen ist im
digitalen Indien mit 40 % der Nutzer deutlich höher als der weibliche Anteil am Arbeits-
leben. Die fünf beliebtesten User-Kategorien sind soziale Netzwerke, Portale, Suchma-
schinen, Unterhaltung und Nachrichtenseiten.
Internationale Marken können von diesem günstigen Mix an Treibern hervorragend
profitieren. Da der Mobilbereich in Indien besonders stark wächst, eignet er sich auch
ausgezeichnet als Experimentierfeld, um neue Formen der Kommunikation und neue
Strategien für Markenkampagnen auszuprobieren. Von hier aus können solche Kampa-
gnen in andere Märkte übertragen werden. Mobext India hat im Rahmen einer Studie
herausgefunden, dass 80 % der Internetnutzer vor allem ihre Mobilgeräte nutzen und
dass fast jeder dritte von ihnen innerhalb der vorausgegangenen 30 Tage mit dem Smart-
phone oder Handy online eingekauft hat (Mobext 2012). Die meisten Mobilfunkanbieter
in Indien – unter ihnen Aircel, Airtel, Vodafone und Reliance Communications – bieten
Verträge mit unbegrenztem Datenverkehr für weniger als zwei US-Dollar im Monat an.
Es gibt auch Betreiber, die täglich oder wöchentlich abrechnen oder Zugang zu speziel-
len Webseiten vereinbaren. Diese maßgeschneiderten und flexiblen Angebote heizen das
Wachstum des Marktes zusätzlich an. Laut Industrieangaben tragen die Ballungszentren
40 % zum mobilen Webtraffic in Indien bei, der Rest geht bereits auf das Konto des Hin-
terlandes.
Facebook Indien konnte seine Nutzerbasis in den zwei Jahren bis 2013 auf 82 Mio.
fast verdoppeln. Bis zum Juni 2015 wuchs sie weiter auf 125 Mio. Facebook konnte in
der Anfangsphase nicht in vollem Umfang vom Wachstum des indischen Mobilsegments
profitieren. Doch inzwischen ist es einer der Schlüsselmärkte für die globale Expansion
der weltgrößten Internetplattform geworden. Erstmals kann Facebook zum Beispiel im
Mobilbereich mit Millionen von Nutzern Erfahrungen beim Einsatz von weniger leis-
tungsfähigen und simplen Geräten sammeln. Das dürfte beim Markteintritt in Brasilien,
Teilen Afrikas und Südostasiens helfen. In Indien sind die Internetnutzer nicht nur ver-
gleichsweise jung, sondern auch besonders aktiv und begeistert.
Kein Wunder, dass immer mehr internationale Firmen für ihre Kampagnen das
indische Internet nutzen. Doch eine simple Nutzung der sozialen Medien reicht nicht
aus. Um die Zielgruppen effektiv zu erreichen, entwerfen immer mehr Firmen ganze
6.13 Internet und mobile Kommunikation 161
Geschäftsmodelle, die sich um die sozialen Medien drehen. Reebok, Fastrack (Indi-
ens führende Jugendmode-Marke) sowie Idea Cellular und ArtistAloud haben durch
besonders clevere Kampagnen und Einsatz der verschiedenen Plattformen von sich
Reden gemacht. Maruti Suzuki zum Beispiel hat seinen neuen Maruti Swift über
eine eigene Facebookseite gelauncht, noch bevor das Auto formal im Rahmen einer
Pressekonferenz vorgestellt wurde. Laut einer Studie des Marktforschungsunterneh-
mens TNS (2010) begünstigt Indiens Kultur den Einsatz der sozialen Plattformen für
Kampagnen, weil die Teenager die meiste Zeit des Tages in der Schule oder im Haus
verbringen und kaum draußen spielen. Teenager, die zu Hause regelrecht festhängen,
nutzen Technologie nicht nur, um mit der Welt da draußen Kontakt aufzunehmen, son-
dern auch, um sich von der unmittelbaren privaten Sphäre in ihren vier eigenen Wän-
den abzukoppeln. Teens in Indien haben selten ein eigenes Zimmer, in das sie sich
zurückziehen können. Doch die simple Kombination eines Smartphones und eines
Ohrhörers kann jede Ecke eines Hauses voller Menschen in eine private Zone verwan-
deln (TNS 2010).
Wenn sie nicht gut geplant und gemanagt werden, können sich Kampagnen in den
sozialen Medien schnell in einen Albtraum verwandeln. Volkswagen geriet in das Zen-
trum eines Sturms in den sozialen Netzwerken, nachdem ein Tweet, der angeblich im
offiziellen Twitter-Account des Unternehmens gepostet werden sollte (und dann wieder
heruntergenommen wurde), eine „vibrierende“ Printanzeige mit einem Sexspielzeug
verglich. Ein Heer verärgerter Konsumenten reagierte umgehend und brachte seinen
Ärger zum Ausdruck. Der Vorfall zeigt, wie kritisch Onlinekonsumenten geworden sind,
wie schnell sie reagieren und wie aktiv sie sein können. Das ist ein Risiko. Aber dieses
Risiko kann in einen klaren Vorteil verwandelt werden.
Im August 2012 veröffentlichte „media2win“ auf der Basis von „Likes“ und Kom-
mentaren eine Liste der führenden Marken in den sozialen Medien Indiens. Tata
Docomo, MTV Roadies Media, Fastrack und Kingfisher schnitten am besten ab. Maruti
Suzuki gewann die Gesamtwertung dank seines guten Abschneidens quer durch alle
Kanäle und Networks. Dem Unternehmen gelingt es, einen hohen Traffic in Autofo-
ren, Blogs, digitalen Anschlagtafeln und Seiten wie Facebook, YouTube und Twitter zu
erzeugen. Samsung Mobile wurde bei diesem Vergleich zweiter. In einer anderen Unter-
suchung bot die MSL Group India, das größte PR-Netzwerk des Landes, Einblicke in
das Denken und die Arbeit indischer Blogger mit Blick auf Marken, Technologie und das
Medium selbst.
Unter den interessantesten Ergebnissen waren folgende: 44 % der Community in
den untersuchten sozialen Medien waren Tech-Blogger, während die übrigen 56 % sich
überwiegend auf Mode, Nahrung und Lifestyle konzentrierten. Facebook und Twitter
erwiesen sich als die beliebtesten Plattformen, mit deren Hilfe Blogger miteinander kom-
munizierten. Flipkart ist demnach die führende E-Commerce-Seite für die Blogger. Bol-
lywood-Schauspieler und -Produzent Aamir Khan gilt demzufolge als der erfolgreichste
Markenbotschafter für indische Blogger, gefolgt von Amitabh Bachchan.
162 6 Indien – Der neue Star
Indische und internationale Marken haben im Internet des Landes schon ungezählte
erfolgreiche Online-Kampagnen gestartet. Reebok kreierte 2010 die sogenannte „Butt
Revolution“. Auf einer interaktiven Webseite bot der Sportschuhhersteller den Besuchern
Antworten von professionellen Reebok-Trainern auf ihre Fragen rund um das Thema
Fitness an. Diese Kampagne katapultierte den Verkauf der Easy-Tone-Schuhe steil nach
oben, hauptsächlich wegen der Teilnahme junger Frauen von 18 bis 24 Jahren. Im sel-
ben Jahr startete der Snack-Food-Hersteller Hippo Chips (Parle Agro) eine Twitter-Kam-
pagne, in deren Verlauf die Teilnehmer angeben sollten, in welchen Ländern im ganzen
Land sie die Snacks kaufen konnten. Die Verkäufe nahmen im Rahmen der Kampagne
um 76 % zu.
Einige Online-Retailer scheuen keinen Aufwand, um die Zielgruppe Frauen anzu-
sprechen. Sie gelten als die nächste große „Welle“ im indischen Internethandel. Einige
Händler versuchen es mit Onlinenischenangeboten. Andere betreiben Plattformen aus-
schließlich für Frauen. Das Onlinesegment im Einzelhandel wächst um mindestens
20 % pro Jahr. In Indien hilft dem E-Commerce natürlich die Tatsache, dass es noch
nicht so viele Shoppingmalls gibt. Männer kommen für etwa 60 % der Verkaufserlöse
auf, aber der Anteil der Frauen wächst sprunghaft. Zu den größten Plattformen gehören
Myntra.com (mit Adidas, Puma und Levi’s im Programm), Fashion&You und Zovi.com.
Zovi hat als erste Plattform eine Funktion namens „ZoviEye“ eingebaut. Eine interaktive
Webcam erlaubt es Frauen, sich selbst in den begehrten Modeartikeln zu sehen, bevor
sie sie kaufen. Für herkömmliche Einzelhändler, die nach Indien kommen, bedeutet dies
mehr Aufwand am Zeichenbrett, wenn eine integrierte Strategie entworfen werden muss,
die traditionelle Verkaufsförderung mit digitalen Netzwerken kombiniert.
Die rasante Ausbreitung des Internets beginnt auch in Indien schon, das Konsum-
verhalten zu ändern. Nielsen (Laungani 2012) hat für Google herausgefunden, dass
sieben von zehn Käufern dank gründlicher Online-Recherche bereits die Marke und
das exakte Modell kennen, wenn sie einen Laden betreten. Das verdeutlicht nicht nur,
dass das Internet Wahrnehmung für eine Marke erzeugt. Es beeinflusst auch erheblich
die Entscheidungen für geplante Käufe. Die Onlineverkäufe nahmen laut der Webseite
Quartz India bei Amazon India und Flipkart im Jahr 2015 in verkaufsstarken Monaten
um 300 bzw. 150 % zu (Punit 2015). Demnach konnte Marktführer Flipkart allein an
einem Tag, am 6. Oktober 2014, zwei Millionen Produkte für insgesamt 100 Mio. US$
verkaufen. Führende Händler wie Welspun (Heimtextilien) machen etwa fünf Prozent
ihres Gesamtumsatzes mit Onlineverkäufen. Dieser Prozentsatz soll sich binnen drei
bis vier Jahren verdoppeln (moneycontrol.com 2015). Tourismusangebote sind im indi-
schen Internet sehr gefragt. Fast ein Drittel aller Reisen wird bereits online gebucht.
Die Reisebranche ist mit großem Abstand der größte digitale Anzeigenkunde. Hausge-
räte wie Klimaanlagen, Kühlschränke und Fernseher sind die zweitgrößte Nachfrage-
kategorie.
Literatur 163
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Russland – Eine Wirtschaftsmacht
jenseits der Rohstoffe? 7
Als der bekannte Schauspieler Gérard Depardieu im Januar 2013 seinen russischen Pass
in Empfang nahm, war er auf der Flucht vor der neuen Reichensteuer von 75 % in seiner
alten Heimat Frankreich. In Russland sank Depardieus Steuersatz auf 13 %. Der Wechsel
der Staatsangehörigkeit einer so bekannten Persönlichkeit verdeutlichte dem staunenden
Zeitungspublikum den wachsenden internationalen Wettbewerb der nationalen Steuer-
systeme. Depardieus Einbürgerung in Russland machte aber auch deutlich, wie sehr sich
das Land verändert hat, seit es sich in den 1990er Jahren auf den Weg von einer iso-
lierten Kommandowirtschaft hin zu einer mehr dem Markt gehorchenden und in globale
Lieferketten eingebetteten Wirtschaft gemacht hat. Russland wurde 2012 das jüngste
Mitglied der Welthandelsorganisation WTO. Im Zuge seiner schwierigen Umstellung
stieg das Land 2011 zur neuntgrößten Volkswirtschaft hinter Italien und direkt vor dem
BRIC-Partner Indien auf. Doch der IWF führte 2016 Russland in der Liste der führenden
Volkswirtschaften nur noch an 14. Stelle, hinter Australien, Spanien und Südkorea. Das
Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist demnach seit 2014 deutlich unter die Marke von zwei
Billionen US-Dollar gefallen und liegt jetzt bei 1,33 Billionen.
Russland steht vor noch größeren Herausforderungen als China und Indien. Die Bevöl-
kerung schrumpft. Die Energiepreise könnten noch jahrelang niedrig bleiben und die
Exporteinnahmen sowie den Staatshaushalt belasten. Die starke Abhängigkeit von den
massiv vorhandenen Rohstoffen wurde in Boomzeiten zu wenig reduziert. Die Sanktionen
des Westens im Rahmen des Konflikts in der Ukraine sowie die eingebrochenen Öl-Notie-
rungen reduzieren den Raum für fiskalische Maßnahmen, um die Wirtschaft anzuschieben
und den Aufbau einer von Rohstoffen weniger abhängigen Wirtschaft zu beschleunigen.
Obwohl die russische Wirtschaft vor diesem Hintergrund in den vergangenen zwei Jah-
ren von einer Rezession erfasst wurde (Rückgang 2015: 3,7 %, 2016: 0,2 %), sollte das
jedoch nicht den Blick auf das großartige Potenzial dieses Landes verstellen. Für 2017
rechnet die Regierung auch wieder mit einem deutlichen Wachstum von 2 %.
mit China den bekannten Liefervertrag für Erdgas aus Sibirien ab. Um seine Vision zu
verdeutlichen, zitierte Medwedew Mao Tse-tung, der einst das Bonmot geprägt hatte:
„Wenn man den Wind der Veränderung spürt, soll man sich nicht verstecken, sondern
Windmühlen bauen.“ Russland kann sich mit seinen 142 Mio. Einwohnern und insge-
samt 14 Nachbarländern, darunter Finnland, Korea, die Mongolei und Norwegen, nicht
verstecken. Nur 86 km Beringstraße trennen Russland zudem von seinem 15. Nachbarn,
den USA. Geografisch ist Russland das größte Land der Welt. Es hat neun Zeitzonen und
ungefähr ein Viertel seines Territoriums liegt in Europa.
Das Land gilt als das wohlhabendste BRIC-Mitglied. Wenn es um Stromversorgung
geht sowie um die Herstellung von Lebensmitteln und den allgemeinen Lebensstandard,
ist Russland näher an westlichen Ländern als auf dem Niveau der BRIC. Das Bruttoin-
landsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung erreichte 2015 laut dem IWF 9055 US$,
womit Russland an 65. Stelle rangiert, fünf Positionen vor Brasilien und sieben vor
China.
Russlands Hauptstadt ist Moskau. Die offizielle Sprache ist Russisch, wobei es unter
den vielen Minoritäten über 100 weitere Sprachen gibt. Etwa jeder siebte Russe spricht
eine Fremdsprache. Englisch wird an russischen Schulen zunehmend unterrichtet. Die
Währung des Landes ist der Rubel. Russen sind mit knapp über 80 % die größte ethni-
sche Gruppe. Die Tataren haben einen Bevölkerungsanteil von 3,8 %, Ukrainer machen
drei Prozent aus. Drei Viertel aller Russen rechnen sich dem russisch-orthodoxen Glau-
ben zu, 19 % sind Muslime.
Eine der größten Stärken des Landes ist das Bildungssystem. Rund 98 % der Bevöl-
kerung im Alter von mindestens 15 Jahren können lesen und schreiben. Mit diesem Bil-
dungsstand sowie fast zehn Krankenhausbetten und über vier Ärzten je 1000 Einwohner
können Russlands Sozial-Statistiken fast mit dem Westen mithalten. Aber vieles davon
ist noch ein Überbleibsel aus Zeiten der Sowjetunion. Seit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion haben viele Institutionen und die Infrastruktur gelitten. Die Schere zwi-
schen den höheren und unteren Einkommen ist größer geworden. Die Gesundheits-
versorgung ist grundsätzlich frei, aber eine angemessene Behandlung hängt stark vom
verfügbaren Einkommen ab. Zwischen den Ballungsräumen und dem weiten Hinterland
gibt es große Einkommens- und Entwicklungsunterschiede. Russlands Bevölkerung
schrumpft mit einer Rate von etwa einem halben Prozent pro Jahr. Prognosen gehen
davon aus, dass sich daran in den kommenden Jahren nicht viel ändern wird.
Die Wirtschaft des Landes stellt das vor eine zusätzliche Herausforderung. Experten
erwarten, dass sich die Zahl der Erwerbsfähigen bis zur Mitte des kommenden Jahr-
zehnts um 13 % verringern wird. Das Schrumpfen der arbeitsfähigen Bevölkerung steht
in direktem Gegensatz zu den BRIC-Partnern Brasilien und Indien, wo wachsende und
junge Bevölkerungen den Arbeitsmärkten auf absehbare Zeit unter dem Strich mehr
Beschäftigte zur Verfügung stellen werden. Der Bevölkerungsschwund ist eine der größ-
ten Hürden, die Russland überwinden muss, will es stetiges Wachstum erzielen. Russ-
land gilt auch als eine Gesellschaft mit starken sozialen Unterschieden. Es gibt eine
kleine Zahl von Großverdienern und Superreichen, denen eine verhältnismäßig kleine,
170 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
aber bis 2014 immerhin gewachsene Mittelschicht gegenübersteht. Doch seit 2013 ist der
Anteil der Mittelschicht an der Bevölkerung nach Regierungsangaben von 18 auf 13 %
gefallen (Bratersky 2015).
Unter Wladimir Putin, der im Jahr 2000 erstmals Präsident wurde, hat sich der Anteil
der Mittelschicht an der Bevölkerung verdoppelt. In Russland wird dem Mittelstand
zugerechnet, wer eine höhere Ausbildung genießt, mehr als das Durchschnittseinkom-
men verdient und keine schwere körperliche Arbeit verrichtet. Putin hatte im Jahr 2008
versprochen, den Anteil der Mittelschicht bis zum Ende dieses Jahrzehnts auf 70 %
in die Höhe zu schrauben (Meyer und Andrianova 2015). Dieses Ziel ist derzeit außer
Reichweite. Etwa die Hälfte der Mitglieder in dieser Einkommensschicht sind Beamte
oder Beschäftigte in staatlichen Unternehmen. Das dürfte viele von ihnen gegen herbe
Einkommenseinbußen oder den Verlust des Arbeitsplatzes schützen. Dennoch bekommen
wichtige Industrien den Gegenwind von fallenden Energiepreisen, einer vom schwachen
Rubel beschleunigten Inflation sowie einer flauen Weltwirtschaft zu spüren. Der Absatz
der Autoindustrie in Russland, das laut Prognosen im Jahr 2016 Deutschland als größten
Markt auf dem Kontinent überholen sollte, ging im Jahr 2015 um über 30 % zurück.
Gebremste Zuwächse wurden in den vergangenen Jahren in Russland wegen des
schwachen Rubels auch am oberen Ende der Einkommenspyramide verzeichnet. Russ-
land gehört zwar dank der vielen „Oligarchen“ zu den Ländern mit den meisten Milli-
ardären. Doch in der internationalen Rangliste der Länder mit den meisten Millionären
schafft es Russland nicht in die Top 15. Es ist das einzige BRIC-Land, in dem zwischen
2007 und 2011 die Zahl der Millionäre sogar abgenommen hat. Das gilt aber nur in US-
Dollar gerechnet, wegen des schlechten Umrechnungskurses des Rubels. Die extrem
ungleiche Einkommensverteilung im Land hat vornehmlich mit dem Energiesektor zu
tun. Dieser wird dominiert von einer kleinen Zahl großer Staatsfirmen, die vergleichs-
weise gut zahlen. Etwa drei Viertel der Russen leben in Ballungsräumen wie Moskau,
St. Petersburg, Nowosibirsk oder Jekaterinburg. Sie repräsentieren 85 % der Kaufkraft.
Rund 60 % der Bevölkerung sind im arbeitsfähigen Alter. Und das 75 Mio. Menschen
umfassende Heer der Erwerbstätigen ist relativ gut ausgebildet.
Es dürfte außer China kaum ein großes Schwellenland geben, das in den vergangenen
20 Jahren so massive Umwälzungen erlebt hat wie Russland. In einem Beitrag für den
Globalist ging unlängst der Nahost-Korrespondent der Middle East Times, César Chelala
(2012), der Frage nach, ob das russische Großreich wieder auferstehen wird. In seinem
Kommentar stellt Chelala fest, dass die Jahre des Kommunismus eine tiefe Spur im Cha-
rakter vieler Russen hinterlassen hätten, sie würden in sich gewandt und desillusioniert
zu sein scheinen. Tatsächlich wurden zu sowjetischen Zeiten die Grundbedürfnisse der
Russen vom Staat gedeckt, und es herrschte großer Druck, sich nicht stark von den Mit-
menschen zu unterscheiden oder kreativ zu sein. Aber im Verlauf des Rohstoff-Booms,
der seit dem Beginn der 2000er Jahre parallel zur Ära Putin verlief, wurden die sozialen
Unterschiede immer größer, und die Russen mussten für sich selbst sorgen. Hohe Preise
für Öl und Gas halfen den meisten von ihnen dabei. Hinzu kamen das wachsende Inte-
resse ausländischer Investoren und die Aufnahme in die WTO. Sie haben geholfen, die
nationale Identität und den Stolz der Russen zu stärken.
7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe? 171
Russland hat zu Beginn der 2010er Jahre einige wichtige Meilensteine markiert. 2011
wurde es größter Ölproduzent vor Saudi-Arabien. Beide Länder wurden 2014 von den
USA überflügelt, die im Verlauf ihres Fracking-Booms die Förderkapazitäten massiv
ausweiteten. Russland ist auch der zweitgrößte Produzent von Erdgas. Das Land sitzt
auf den größten bekannten Gasreserven, dem zweitgrößten nationalen Kohlevorkommen
und dem achtgrößten Ölreichtum. Aber damit macht sich Russland nicht nur von den
Schwankungen der Rohstoffmärkte abhängig. Es riskiert auch die „holländische Krank-
heit“. Diese tritt auf, wenn die Abhängigkeit von Energieexporten so groß wird, dass die
Entwicklung der eigenen Industrie darunter leidet. Innerhalb der russischen Führung
weiß man, wie negativ die langfristigen Konsequenzen einer starken Abhängigkeit von
Energieexporten sein können. Seit 2007 bemüht sich Russland unter Wladimir Putin ver-
stärkt, sich von der Öl- und Erdgasabhängigkeit zu lösen und die nationalen Prioritäten
auf eine stärkere Diversifizierung der Wirtschaft zu legen. Aber der erneute Kollaps der
Öl- und Gaspreise seit 2014 setzt diesem Vorhaben derzeit enge Grenzen.
In der Wachstumsphase vor der aktuellen Flaute verzeichnete Russland eine starke
Einwanderung von Menschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und aus China in
seine Ballungsräume. Die Urbanisierungsrate ist hoch. Sie hat laut der Weltbank im Jahr
2014 74 % erreicht. Das liegt weit über dem globalen Schnitt von 50 %, der am Ende
der 2000er Jahre erreicht wurde. Während der sowjetischen Ära wurde – überwiegend
aus strategischen Gründen wegen des Kalten Krieges – schon ab den 1950er Jahren die
Verstädterung forciert. Damals ging es jedoch um die Verteilung von Risiken bei einem
Angriff auf die Sowjetunion. Als Folge erbte Russland viele Städte mit wirtschaftlich
schwachen Standorten und wenig Infrastruktur. Fast 40 % dieser Städte waren auf einer
einzigen Industrie aufgebaut und überhaupt nicht diversifiziert.
Russland verzeichnet aber auch eine spürbare Abwanderung von Menschen. Viele von
ihnen gehen nach Europa oder in die Vereinigten Staaten. In den 2000er Jahren haben
1,3 Mio. Russen das Land verlassen. Dieser demografische Aderlass trifft zusammen mit
einer niedrigen Geburtenrate und mit Kapitalflucht. Zwischen 1993 und 2010 schrumpfte
die Bevölkerung Russlands von 149 Mio. auf 142 Mio. Einwohner. Putin versucht seit
Jahren, diesen Trend mit Hilfe von Sozialwohnungen und staatlichen Transferleistungen
umzukehren. Zu den Anstrengungen gehört auch eine Verbesserung der gesundheitlichen
Versorgung. Das Gesundheitssystem ächzt unter der Last von exzessivem Tabak- und
Alkoholgenuss.
Russlands öffentliche Infrastruktur gilt als ausgedehnt und engmaschig. Aber sie ist
betagt und reparaturbedürftig. Es fehlen private Investoren. In den USA und vielen euro-
päischen Ländern machen die Investitionen in die Infrastruktur knapp sechs Prozent des
BIP aus. In Russland lag dieser Prozentsatz Ende der 1990er Jahre bei 3,5 %. Er stieg
bis 2010 rasch auf 7,4 % an. Doch seitdem stagniert er unter wachsendem fiskalischem
Druck. Viel von den Investitionen geht durch Bürokratie und Korruption verloren. Russ-
lands Nachrichtenagentur RIA Novosti (die deutsche Webseite heißt seit 2014 Sputnik
News) schätzt, dass der Bau von einem Kilometer Straße in Russland dreimal so viel wie
in den USA kostet. Der Bau von neuen Straßen hielt bis zu Beginn des konjunkturellen
172 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
Rückschlags 2014 nicht mit der zunehmenden Motorisierung Schritt. Laut einem Bericht
der Investmentbank Macquarie wuchs das russische Straßennetz zwischen 1990 und 2008
um ein Prozent. Während dieser Zeit wurden 125 % mehr Pkw zugelassen. Beim Ver-
mögensverwalter Private Equity International (2012) schätzt man im Moskauer Büro,
dass Russland in den kommenden zehn Jahren eine Billion US-Dollar benötigt, um die
alternde Infrastruktur zu erweitern und auf den neuesten Stand zu bringen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Bericht der European Bank for Recon-
struction und Development (2012) (EBRD) mit dem Titel „Diversifying Russia“. Dem
Papier zufolge hat sich in den 2000er Jahren die Zahl der Regionen, in denen mindes-
tens zehn Prozent der Erwerbstätigen in Dienstleistungen mit höherer Wertschöpfung
(vor allem Handel) arbeiten, verdreifacht. Dies widerspricht anderen Berichten, wonach
der wachsende Anteil der Energie an den russischen Ausfuhren zu einem Rückgang der
Wettbewerbsfähigkeit führt und den Ausbau von wirtschaftlicher Tätigkeit mit höherer
Wertschöpfung bremst. Laut dem EBRD-Bericht hat der Anteil von Technologieproduk-
ten an Russlands Industrieausfuhren ein Fünftel erreicht. Doch das Land hat noch einen
weiten Weg vor sich. Bisher arbeiten lediglich zehn Prozent der Beschäftigten in der
Industrie außerhalb des Öl- und Gassektors oder anderer Rohstoffbranchen.
Hilfreich für Marken- und Marketingexperten, die eine Expansion in oder nach Russ-
land erwägen, ist auch eine Publikation von Natalia Zubarevich. Sie ist Direktorin des
regionalen Programms beim unabhängigen Institut für Sozialpolitik in Moskau. Zuba-
revich (2012) schlägt eine neue Aufteilung der nach-sowjetischen Landkarte vor. Sie
schlägt statt der traditionellen Einteilung in verschiedene Regionen eine Unterscheidung
des Landes in vier verschiedene „Sphären“ auf der Basis von sozioökonomischen Krite-
rien vor. Dieser Segmentierung zufolge würde die Sphäre „Russland Nummer eins“ aus
73 Städten bestehen, die jeweils mehr als 250.000 Einwohner haben, davon 14 Städte mit
mindestens einer Million. In diesen Städten reicht die Kaufkraft der Konsumenten an die
westlicher Länder heran, es gibt die höchstbezahlten Jobs und die Bevölkerung ist am
gebildetsten. In der Hauptstadt Moskau, die lediglich sieben Prozent der Bevölkerung
des Landes repräsentiert, werden 20 % von Russlands BIP erwirtschaftet.
In den übrigen Millionenstädten des „Russland Nummer eins“ hängen Perm, Omsk,
Tscheljabinsk und Wolgograd bis heute stark von der Schwerindustrie ab, während die
Industrie- und Universitätsstadt Jekaterinburg, aber auch Nowosibirsk, Rostow am Don
und Kazan – die Hauptstadt der Republik Tatarstan – die schnellste Entwicklung durch-
laufen. Diese Städte führen bei der Neupositionierung als Dienstleistungszentren, nach-
dem sie ihre frühere Rolle als ehemalige Drehscheiben der Schwerindustrie abgeschüttelt
haben. Gemeinsam haben diese führenden Städte laut Zubarevich (2012), dass die Zahl
der Bürojobs steigt und es eine wachsende Zahl von Mittelständlern gibt. Diese Städte
ahmen als erste im Land den neuen Konsum-Lifestyle von Moskau nach. Sie sind die
Heimat der neuen Mittelschicht. Wenn alle Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern in
diesem Segment berücksichtigt werden, entspricht das laut Zubarevich 30 % der Bevöl-
kerung.
In der Sphäre „Russland Nummer zwei“ werden jene Industriestädte erfasst, die zwi-
schen 25.000 und 250.000 Einwohner zählen und mehrheitlich Industriearbeiter beschäf-
tigen. Manche dieser Städte haben ihr Industrieprofil aus Sowjetzeiten überwunden,
aber sie haben ganz überwiegend das Ethos und den Lebensstil aus der damaligen Sow-
jetunion konserviert. In dieser Sphäre gibt es verhältnismäßig wenige neu gegründete
Unternehmen und Mittelständler, es gibt wenig Kaufkraft und relativ viel Korruption. In
diesem „zweiten Russland“ lebt ein Viertel der Bevölkerung. Es ist eine geografisch weit
174 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
gestreute Gruppe von über 330 Städten und stadtähnlichen Kommunen. Doch einige die-
ser Städte, vor allem, wenn sie an wichtigen Verkehrswegen und Handelsrouten liegen,
haben vielversprechende Perspektiven. Zubarevich (2012) nennt als Beispiel Städte an
der Schnellstraße Moskau-Minsk, die eine wichtige Verbindung nach Europa darstellt.
Städte an dieser Strecke haben gute Aussichten, sich in ein Logistik- und Umschlagszen-
trum für den Großraum Moskau zu verwandeln.
„Russland Nummer drei“ ist dagegen ein riesiges Territorium von Vororten und Klein-
städten, die sich über das gesamte Land verteilen und etwa ein Drittel der Bevölkerung
beherbergen. Die meisten von ihnen liegen in Zentralrussland, im Nordwesten sowie in
den Industrieregionen des Urals und Sibiriens. Die meisten Menschen in dieser Sphäre
sind an ihr fruchtbares Land gebunden. Die jungen Menschen wandern auf der Suche
nach Arbeit in die größeren Städte ab, während viele andere im Agrarsektor Arbeit fin-
den. In „Russland Nummer drei“ ist der Anteil älterer Menschen relativ hoch. Russlands
neue Mittelschicht ist in diesen Städten und Orten nicht stark vertreten.
„Russland Nummer vier“ umfasst schließlich die weniger entwickelten Republiken
des nördlichen Kaukasus und Teile des südlichen Sibirien, das seit Jahren eine erhebli-
che Migration aus China erlebt. Hier wohnen nur sechs Prozent aller Russen, und es gibt
kaum Industrie. Laut Zubarevich (2012) weist dieser Teil Russlands die meiste Korrup-
tion auf. Dort kämpfen Clans um die Macht, es herrschen ethnische und religiöse Kon-
flikte. Das Fazit von Zubarevich: Eine russische Landkarte mit diesen Kriterien, die sich
mehr an der Bevölkerung als an den Regionen orientiert, zeige, dass Russland eine ziem-
lich große, gut ausgebildete, mobile und gut bezahlte urbane Bevölkerung habe.
Russland tat sich in den vergangenen Jahren schwer, seine Positionen in internationa-
len „Rankings“ zu verteidigen. Laut World Economic Forum (2015) rangierte Russland
an 45. Position in dem Vergleich von 144 Nationen. Das entspricht einer Verbesserung
von acht Positionen gegenüber dem Vorjahr. Damit liegt Russland 17 Positionen hinter
China (28.), aber deutlich vor Indien (55.) und Brasilien (75.). Dass sich Russland in der
globalen Wettbewerbsrangliste trotz der bekannten Probleme gleich um acht Positionen
auf den 45. Rang verbessern konnte, liegt laut dem WEF daran, dass Russlands BIP auf
Basis der Kaufkraftparität neu berechnet wurde und dabei um 40 % höher ausfiel. Doch
die Experten beim WEF bestätigen Russland auch Verbesserungen bei der Markteffizienz
sowie gelockerte Regulierungen und reduzierte Einfuhrzölle in der Folge des WTO-Bei-
tritts von 2012. Der Regierung Putin wird bescheinigt, sich um eine verbesserte Wettbe-
werbsposition zu bemühen. Doch die Rezession nach der Währungskrise von 2014 habe
zu steigender Inflation, schwächeren öffentlichen Finanzen und sinkender heimischer
Nachfrage geführt.
Russlands unbefriedigende Wettbewerbsposition geht laut dem WEF auf schwache
Gesetze gegen Monopole sowie auf starke Beschränkungen des Handels und ausländischer
7.2 Russlands Positionen in internationalen Rankings 175
Investitionen, aber auch mangelndes Vertrauen in das Finanzsystem des Landes zurück. Die
Folge sei eine unzureichende Bündelung von Russlands Ressourcen, was der Produktivität
Grenzen setze. Zu den Stärken, die der WEF Russland bescheinigt, gehörten seine ziemlich
gute Infrastruktur und sein großer Inlandsmarkt. Alle diese Stärken würden jedoch in den
kommenden Jahren unter wachsenden Haushaltszwängen getestet.
In den zehn Jahren bis 2012 wuchs Russlands BIP jährlich im Schnitt um 4,9 %. In
diesem Zeitraum hat sich das verfügbare Einkommen verdoppelt. Doch im Vergleich der
großen Wachstumsmärkte sieht Russlands Wachstum nicht besonders stark aus. Die Welt-
bank schrieb im Länderbericht Russland 2012, trotz des Überflusses an Rohstoffen sei
Russland nicht so schnell gewachsen wie andere große Schwellenländer (The World Bank
2012). Die Finanzkrise von 2008 sowie der Ukraine-Konflikt haben erneut die Schwächen
von Russlands Wachstumsmodell, das immer noch weitgehend auf Rohstoffen und Ener-
gie beruht, offengelegt. Die Weltbank kritisiert vor allem eine starke Regulierung und Ein-
mischung des Staates in die Wirtschaft. Demnach wenden russische Manager ein Fünftel
ihrer Arbeitszeit für die Einhaltung von Geschäftsvorschriften auf, mehr als doppelt so
viel wie Manager in europäischen Schwellenländern. Die Weltbank lobt Russland jedoch
dafür, dass es in den vergangenen sieben Jahren zu den 30 Ländern mit den größten Fort-
schritten in diesem Punkt gehörte. Zu den russischen Standorten, die in diesem Zusam-
menhang ausdrücklich erwähnt und gewürdigt werden, gehören Irkutsk, Perm, Rostow
am Don, St. Petersburg, Tomsk und die knapp 900.000 Einwohner zählende Universitäts-
stadt Woronesch. St. Petersburg ist demnach die Stadt in Russland, in der es am einfachs-
ten ist, ein Unternehmen zu gründen. Gelobt werden auch die Städte Kirow, Murmansk,
Perm und Stawropol im Nordkaukasus. Die Zeit, die benötigt wird, um ein Unternehmen
zu gründen, liegt zwischen 16 Tagen in Kaliningrad und 33 Tagen in Jekaterinburg.
Russland landete im „Global Dynamism Index“ des Beratungsunternehmens Grant
Thornton (2015) zudem an 46. Stelle. Gemessen werden in dem Index das Geschäfts-
klima, Wissenschaft sowie Forschung und Ausbildung. In der globalen Schulleistungs-
studie der OECD (2015) (PISA = Program for International Student Assessment) liegt
Russland an 38. Stelle der insgesamt 65 beobachteten Länder im Mittelfeld. Die OECD
gibt in dieser Studie russischen Schülern fortlaufend bessere Mathematiknoten als
Schülern in Brasilien und anderen Schwellenländern. Beim Lesen schneiden 15-jährige
Schüler in Russland mit 475 Punkten nur unwesentlich schlechter ab als im Schnitt der
OECD mit 496.
Für sein Gesundheitssystem bekommt Russland im internationalen Maßstab durch-
schnittliche Noten. Laut dem OECD-Bericht „Health at a Glance 2013“ geben die
OECD-Länder im Schnitt 9,3 % ihres BIP für gesundheitliche Leistungen aus. In Russ-
land beträgt dieser Anteil 6,2 % (OECD 2013). In Russland reduziert der Staat seine
starke Rolle im Gesundheitswesen. Er hat seinen Anteil seit Ende der 1990er Jahre von
71 auf jetzt 62 % abgebaut. Die Russen müssen sich immer mehr selbst an den Kos-
ten beteiligen. Weil der Genuss von Tabak und Alkohol in Russland vergleichsweise sehr
hoch ist, ist die Sterblichkeit hoch und die Lebenserwartung gering (69 Jahre, elf Jahre
weniger als im OECD-Schnitt).
176 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
Wladimir Putin hat Russland ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, um seine Wettbewerbsfähig-
keit bis 2018 zu steigern. Das Land soll bis dahin auf den 20. Platz von 185 Nationen
aufsteigen. Noch 2013 hat Russland nur den 112. Rang erreicht. Wegen der wirtschaft-
lichen Probleme infolge niedriger Ölpreise und westlicher Sanktionen ist dieses Ziel
vorerst nicht zu erreichen. Das dürfte auch der Grund sein, warum Ministerpräsident
Medwedew inzwischen betont, die nötigen Veränderungen müssten dem Land in einer
„verdaulichen“ Dosis verabreicht werden. Dennoch halten viele westliche und asiatische
Investoren an ihren ehrgeizigen Expansionsplänen in Russland langfristig fest. Und auch
das Weltwirtschaftsforum befindet, es sei außer Zweifel, dass Russland großes, unreali-
siertes Potenzial habe (World Economic Forum 2011). Dass Russland bis zur aktuellen
Krise trotzdem nicht so schnell wuchs wie vergleichbare Schwellenländer, hat vor allem
mit der geringen Produktivität zu tun, die laut OECD weniger als die Hälfte von deren
Mitgliedern beträgt. Ohne Berücksichtigung der Löhne weist Russland zwar eine höhere
Produktivität als Indien oder China auf. Doch wegen der Löhne produzieren Russlands
Arbeiter nur halb so viel für jeden US-Dollar Lohn wie ihre BRIC-Kollegen in Indien
oder China.
Beim Weltwirtschaftsforum wurde allerdings zugegeben: Russlands Ranking in der
Wettbewerbsfähigkeit verdeckt einige ausgeprägte Stärken (World Economic Forum
2011), die auch unter der Rezession sicher nicht gelitten haben, darunter die enorme
Größe des Inlandsmarktes, die geografisch äußerst günstige Position auf der Eurasischen
Landmasse als Bindeglied zwischen Asien und Europa sowie ein relativ hohes Ausbil-
dungsniveau und vergleichsweise hohe Sparquoten. Das Land ist außerdem stärker
exportorientiert als andere Schwellenländer vergleichbarer Größe. Das dürfte bei einer
Erholung der Weltwirtschaft in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts gute Startvorteile bie-
ten. Russlands Ausfuhren machen auf Basis der neuesten verfügbaren Daten der Welt-
bank knapp 29 % des BIP aus. Das sind vier Prozentpunkte mehr als China und fünf
Prozentpunkte mehr als Indien. Russland grenzt an mehr große Märkte als jedes andere
Mitglied der BRIC. Zu den direkten Nachbarmärkten gehören die EU, China, Indien,
Japan und die USA.
7.4 Eine von Rohstoffen abhängige Volkswirtschaft 177
stand das Land kurz davor, Deutschland als führenden europäischen Automarkt zu über-
holen. Deutsche Premiumhersteller registrierten jahrelang zweistellige Zuwachsraten,
bevor der Markt 2015 um ein Drittel einbrach. Die Autobranche war jahrelang der größte
Magnet für ausländische Direktinvestitionen in Russland, vor Nahrungsmitteln, Maschi-
nen und der Chemie. Die Russen, die es sich leisten können, kaufen bevorzugt westliche
Markenprodukte. Aber dazu später mehr.
Quasi über Nacht verschwand der allgegenwärtige Staat mit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion aus dem Privatleben der Bürger. Gorbatschows Experimente mit der neuen
Offenheit „Glasnost“ und den Reformen („Perestroika“) waren kläglich gescheitert. Die
Modernisierung des Kommunismus endete in einem Desaster. Im Dezember 1991 war
die Sowjetunion in Russland und 14 unabhängige Republiken zerfallen. Die Komman-
dowirtschaft war Geschichte. Russland begann eine der schmerzhaftesten und volatilsten
Transformationen seiner Geschichte. Aus der abgeschirmten und verschlossenen Kom-
mandowirtschaft wurde eine immer noch zentral und autoritär regierte Nation mit einem
erheblichen Einfluss des Staates in der Wirtschaft, aber mit einem wachsenden Einfluss
des Marktes und seiner Kräfte. Trotz Ein-Mann-Herrschaft („one man rule“) wurde
Russland zunehmend in die Weltwirtschaft integriert. Diese Entwicklung gipfelte Ende
2012 in der Aufnahme in die Welthandelsorganisation (WTO).
Geht es nach Fyodor Lukyanow (2011), dem Chefredakteur der Zeitschrift Russia
in Global Affairs, dann hat Russland seit dem Jahr 1991 drei Kapitel seiner Geschichte
erlebt. Gemeint sind die drei Präsidenten, die das Land seit 1991 regiert haben: Boris
Jelzin, Wladimir Putin und Dmitri Medwedew. Laut Lukyanow hat Jelzin sein Amt unter
den Bedingungen einer ständigen Krise ausgeübt. Dabei mussten Grundsatzentschei-
dungen, vor allem politischer Natur, in großer Eile getroffen werden. Dazu gehörten
Russland als Nachfolger der Sowjetunion, das Verhältnis zu den plötzlich unabhängi-
gen Nachbarn und der Status des Landes in der Welt. Am Ende der 1990er Jahre waren
die wichtigsten Entscheidungen gefällt. Jelzin musste beginnen, auch wirtschaftlich
neue Weichen zu stellen. Zu seiner „Schock-Therapie“ gehörten demnach die Liberali-
sierung der Preise und die Stabilisierung des Staatshaushaltes. Ende 1992 verteilte Jel-
zin 10.000-Rubel-Gutscheine für ein Privatisierungsprogramm. Das Programm war ein
Reinfall. Die Gutscheine wurden ein Spekulationsobjekt. Die Wirtschaftsleistung des
Landes brach um die Hälfte ein. Die Arbeitslosigkeit stieg rasant an, die Einkommen
kollabierten. Mitte der 1990er Jahre versuchte Jelzin eine zweite Runde von Privati-
sierungen. Er bot Anteilsscheine an Staatsfirmen im Tausch gegen Kredite. Ein kleiner
Kreis von Wirtschaftsmagnaten wurde reich dabei. Sie wurden als „Oligarchen“ bekannt.
Unter ihnen waren Leute wie Boris Beresowski, Michail Chodorkowski und Roman
Abramowitsch. Doch Jelzin konnte die Krise nicht verhindern. Russland wurde 1998
7.5 Die wichtigsten Phasen der Entwicklung der Russischen Föderation 179
zahlungsunfähig. Der Rubel implodierte. Russlands erster Versuch mit dem Kapitalismus
war gescheitert. Doch die Krise legte „den Grundstein für den Aufschwung der Wirt-
schaft“, wie das Handelsblatt später schrieb (Willershausen 2010).
Laut Lukyanow fiel Putin die Rolle zu, Russlands Sehnsucht in etwas Reales zu ver-
wandeln. Er musste den Schock des Zusammenbruchs der Sowjetunion überwinden, und
er wollte das Land in westliche Institutionen, insbesondere in Europa, einbinden. Putin
wurde erstmals im Jahr 2000 Präsident. Seine Vision lässt sich im Nachhinein an einem
Kommentar zum Zerfall der Sowjetunion festmachen: Wer den Zusammenbruch der
Sowjetunion nicht bedauere, habe kein Herz, wer sie in ihrer damaligen Form wieder-
beleben wolle, habe keinen Verstand. Putin betrieb eine engere wirtschaftliche Verzah-
nung mit den früheren Sowjetrepubliken und begann, den Handel mit Asien, vor allem
mit China, auszubauen. Es gelang ihm, die Wirtschaft zu stabilisieren. Teil seiner Maß-
nahmen war eine Reduzierung der Einkommensteuer, wobei er das gesamte Steuerauf-
kommen wegen einer besseren Eintreibung dennoch anheben konnte. Die Gewinnsteuer
liegt bei 20 % und ist damit eine der niedrigsten in allen großen Volkswirtschaften. Das
Wachstum im Land kehrte Ende der 1990er Jahre zurück und setzte sich bis zur Finanz-
krise fort, als kollabierende Ölpreise Russlands Reformen erneut zurückwarfen.
Medwedew, der in Lukyanows Analyse das dritte Kapitel repräsentiert, regierte in
einer Zeit, die durch die Finanzkrise und eine beginnende Erosion internationaler Insti-
tutionen geprägt war. In Europa nahm die öffentliche Verschuldung deutlich zu, während
der Integrationsprozess ins Stocken geriet. Russlands Interesse an einer Partnerschaft
mit Europa begann nachzulassen, stattdessen wandte sich Russland zunehmend anderen
Regionen in der Welt zu. Die vielen unterschiedlichen Ziele von Medwedews Reiseakti-
vitäten dokumentieren dies genauso wie die Verlagerung des Wirtschaftswachstums von
West nach Ost. Vier Jahre nach Putins Wiederwahl hat sich der zwischenzeitliche Wech-
sel von Putin zu Medwedew als eine geschickt geplante Rochade herausgestellt. Die vom
Westen in Medwedew gesetzten Hoffnungen wurden enttäuscht, die vorsichtigen Moder-
nisierungsbemühungen des vormaligen Präsidenten und jetzigen Ministerpräsidenten
zeitigten kaum Erfolge.
Die aktuelle Amtsperiode von Putin, sagt Lukyanow, werde Russlands Schicksal
entscheiden. Was er meint, zeigt die beschleunigte wirtschaftliche und politische Ver-
zahnung der BRIC-Mitglieder untereinander, mit einer Forcierung des gegenseitigen
Handels, dem Aufbau erster gemeinsamer Institutionen und der Umsetzung der neuen
Seidenstraße, von der Russland massiv profitieren kann. Den von Medwedew in Richtung
Osten eingeschlagenen Weg setzt Putin in seiner dritten Amtszeit als Präsident konse-
quent fort. In seiner alljährlichen Rede zur Lage der Nation im Dezember 2016 bezeich-
nete Putin das russisch-chinesische Verhältnis als harmonisch und bezeichnete es als ein
Beispiel für Beziehungen in einer Weltordnung, die nicht auf der Idee eines dominie-
renden Landes gegründet ist, sondern auf einem harmonischen Interessenausgleich aller
Staaten. Neben China sieht Putin weitere wichtige Partner in Indien und Japan, während
Europa in dieser Aufzählung bezeichnenderweise fehlte (Salzen 01. December 2016).
180 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
Was ist die berühmteste russische Marke? Ist es die Kalaschnikow? Ist es die Vodka-Marke
Smirnoff, die heute zum britischen Spirituosenhersteller Diageo gehört? Ist es vielleicht
einer der Energieriesen wie Gazprom oder Rosneft? Ist es die international rasant expan-
dierende und in mehrheitlich staatlichem Besitz befindliche Sberbank? Oder ist es eine
„menschliche“ Marke wie die Tennisspielerin Marija Sharapowa, der Schach-Champion
Garri Kasparow oder die aus Krasnodar stammende Opernsängerin Anna Netrebko? Die
ehrliche Antwort ist schwierig, zumindest ohne eine seriöse Umfrage. Das hat auch damit
zu tun, dass es sehr viele russische Marken gibt. Doch bisher sind recht wenige russische
Marken außerhalb des Landes berühmt geworden. Anders sieht das in Russland selbst aus,
wo es eine wachsende Zahl von Erfolgsprodukten gibt. Viele von ihnen haben das Zeug,
sich in nicht allzu ferner Zukunft zu einer erfolgreichen globalen Marke zu entwickeln.
Der Vormarsch lokaler Marken wurde in Russland in den vergangenen Jahren durch
das rasante Wachstum der Mittelschicht sowie den großen Inlandsmarkt verstärkt.
Geholfen hat auch die Privatisierungspolitik der Regierung, die den Aufbau von Mar-
ken begünstigt und eine wachsende Zahl von Firmen zu einem Börsengang motivieren
konnte. Um genügend Kapital von privaten Anlegern und großen Investoren anzuziehen,
mussten diese Firmen ihr Profil schärfen und eine überzeugende Markenstrategie präsen-
tieren. Ein Beispiel solcher Börsendebüts ist Russlands zweitgrößte Bank VTB, die im
Mai 2011 an die Börse ging. Ein Jahr zuvor hatte der Öl- und Gasgigant Rosneft seinen
Einstand als Publikumsunternehmen gegeben. Manche der neuen Marken-Champions
waren in den Augen von Börsianern und internationalen Wettbewerbern so erfolgreich,
dass sie aufgekauft wurden, um die lokale Konkurrenz nicht zu stark werden zu lassen,
bevor ausländische Marken ihren Fuß in die Tür bekamen. So akquirierte beispielsweise
Unilever den russischen Kosmetikproduzenten Concern Kalina. Und PepsiCo übernahm
den russischen Saft- und Milchprodukthersteller Wim-Bill-Dann. Diese Akquisitionen
verdeutlichen auch, wie wichtig es ist, in Russland auf lokale Wurzeln zu setzen und sich
ein intimes Wissen des lokalen Premiummarktes anzueignen.
In der 2012 veröffentlichten Liste von Millward Brown (2012) zu den erfolgreichsten
globalen Marken stieg die Sberbank zur wertvollsten russischen Marke auf. Ein Jahr spä-
ter erklärte der Markenberater Interbrand (2013) den Energieriesen Gazprom mit einem
Wert von 39 Mrd. US$ zur stärksten russischen Marke. In der „Brand Finance Global
500“ für das Jahr 2016 wurde an 205. Position (106 im Jahr 2014, 147 im Jahr 2015)
wieder die Sberbank als wertvollste russische Marke ausgewiesen (Brand Finance 2016).
Die Sberbank vereinigt auf sich etwa ein Viertel aller Aktiva im russischen Bankensys-
tem. Sie beschäftigt 240.000 Menschen und hat in den vergangenen Jahren vor allem in
Staaten der ehemaligen Sowjetunion und in Osteuropa ihre Präsenz ausgebaut. Sie hat
mit dem Staat als Mehrheitseigner im Rücken nach der Finanzkrise vom allgemeinen
Vertrauensverlust in das Bankensystem profitiert.
Doch wie erfolgreich sind russische Marken bisher im Ausland? globeone hat 2013
mit einer groß angelegten Umfrage zu ergründen versucht, welche Marken aus den
182 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
!
Rohstoffe /Energie 20% 33% 7% 7%
Haushaltsgeräte und
2% 2% 5% 19%
Elektronik
Lebensmiel und
Getränke 18% 13% 8% 6%
tun, sich eine bessere Position zu erarbeiten. In diesem Umfeld bringen russische Fir-
men neue Marken auf den Markt, oder sie führen alte Marken neu ein. In vielen Fällen
versuchen russische Firmen, ihre Identität mit einem raffinierten globalen Marketing zu
kombinieren. Diese Vorgehensweise wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Einer
von ihnen sind die russischen Konsumenten. Die Reichen und die Mitglieder der neuen
Mittelschicht kennen den Westen inzwischen besser, weil sie vermehrt ins Ausland rei-
sen. Sie kehren mit neuen Shopping-Erfahrungen und Beobachtungen zurück, und ihre
Erwartungen steigen. Ein weiterer Faktor ist die Regierung, die lokale Marken ermutigt
und ihnen Anreize gibt, sich der internationalen Konkurrenz zu stellen. Diese hat inzwi-
schen einen besseren Marktzugang in Russland, weil das Land der Welthandelsorganisa-
tion beigetreten ist. Zudem gibt es mehr russische Unternehmen, die in westliche Märkte
expandieren wollen, um schneller zu wachsen.
Die Sberbank ist ein prominentes Beispiel für die umfassende Neuausrichtung einer
Marke, die vorgenommen wird, um zusätzliche Kunden zu gewinnen und international
zu expandieren. Die Sberbank hat sich als eine Retailbank neu aufgestellt, die die ver-
schiedenen Segmente des heimischen Konsumentenmarktes besser versteht und bedient.
Die Bank hat damit begonnen, ihre mehr als 20.000 Zweigstellen aufzurüsten und zu
modernisieren. Sie passt Erscheinungsbild und Leistungen der einzelnen Zweigstellen
jeweils dem Einkommensniveau und der Kaufkraft der Standorte an. Manche der Zweig-
stellen sind jetzt „VIP Center“, andere fungieren als Vorzeigefilialen und wieder andere
lediglich als Finanzkiosk. Dies ist ein klarer Beleg dafür, wie wichtig gezielte und maß-
geschneiderte Angebote geworden sind. Die Airline Aeroflot und die Bahngesellschaft
Russian Railways sind zwei weitere Beispiele traditioneller Firmen, die ihre Marke neu
ausgestalten und sowohl den Kunden als auch der Kompetenz mehr Gewicht geben.
Auch in der Telekomindustrie ist die Markendifferenzierung eine wachsende Heraus-
forderung. Russlands führende Marken in diesem Markt sind MTS, MegaFon – der auch
im Ausland kräftig wächst und neuerdings als Bankdienstleister operiert – und Beeline.
Sie operieren im Wettbewerb zwischen staatlichen Konkurrenten wie Rostelekom auf der
einen Seite und neuen privaten Unternehmen wie Tele2 und Yota auf der anderen Seite.
Auch in der Bierindustrie bemühen sich große Firmen wie Baltika, mehr Produktvarian-
ten anzubieten, um sich zu differenzieren und die wachsende Zahl von Marktsegmenten
zu bedienen.
Im Januar 2013, ein Jahr bevor sowohl der Konflikt in der Ukraine als auch fallende
Ölpreise und die stagnierende Weltwirtschaft Russlands jüngsten Boom unterbrachen,
berichtete die New York Times aus der Mega-Belaya-Dacha-Shoppingmall in Mos-
kau und stellte fest, das Land sei jetzt nicht mehr für lange Schlangen vor Bäckereien
bekannt, sondern für Konsumtempel, die sich mit Eislaufbahnen, Kinos und anderen
Entertainment-Highlights eher wie „Disneyland“ anfühlen (Kramer 01. January 2013).
184 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
In der Reportage zog der Immobilienmakler Charles Slater von Cushman & Wakefield
mit folgende Bilanz: In den vergangenen zehn Jahren habe sich Russland in eine von der
Mittelschicht geprägte Gesellschaft verwandelt. Slater war in dem Bericht kein zufälli-
ger Zeuge. Er trat als Experte für einen bemerkenswerten Wandel in Russlands junger
Einzelhandelslandschaft auf. Die Malls der ersten Generation, vor allem in Moskau und
St. Petersburg, beginnen seit diesem Jahrzehnt einen vielsagenden Besitzerwechsel. Die
Developer, die die neuen Konsumtempel im vergangenen Jahrzehnt bauten, verkaufen
sie nun mit hohem Gewinn an institutionelle Investoren wie Banken, Versicherungen und
Fonds. Damit wird der enorme Wert deutlich, den diese Einkaufszentren angesichts der
schnell gewachsenen Mittelschicht in Russland darstellen. Nicht nur für die New York
Times war damit klar: Die Russen sind „fanatische Konsumenten“ geworden. Die rus-
sischen Malls – 82 allein in Moskau, als der NYT-Bericht erschien – zählen demnach
inzwischen mehr Besucher als viele ihrer Gegenstücke im Westen. Zu Spitzenzeiten vor
der aktuellen Konjunkturflaute zählte die Mega-Tyoply-Stan-Mall in Moskau 57 Mio.
Besucher im Jahr. Zum Vergleich: Im selben Jahr kamen 40 Mio. Besucher in die Mall of
America in Bloomington, Minnesota, eines der führenden Touristenziele der USA.
Der Mall-Boom wurde von steigenden Löhnen in den Sektoren Energie und IT ange-
heizt, aber auch durch wachsende Beschäftigung, eine niedrige Einkommensteuer und
die Tatsache, dass die meisten Russen Eigentümer des Hauses oder der Wohnung sind,
in der sie leben. Hohe Hypothekenkosten oder Mieten zehren in Russland kaum an der
Kaufkraft. Das ist der wichtigste Grund, warum etwa 60 % des unversteuerten Einkom-
mens in Russland im Einzelhandel enden, verglichen mit 28 % in Deutschland. Die Zah-
len stammen vom Immobilienberater Jones Lang LaSalle. Sie erklären, warum Moskau
mehr Einzelhandelsfläche in Einkaufszentren bietet als jede andere Stadt in Europa.
Russlands Mittelschicht ist seit Beginn des Jahrhunderts stark gewachsen. Die Zahl
ihrer Mitglieder hat sich allein zwischen 2000 und 2006 versiebenfacht. Zu Beginn
dieses Jahrzehnts hat der Anteil der Mittelschicht mit Einkommen zwischen 3000 und
15.000 US$ im Jahr rund 30 % der Bevölkerung erreicht. Die HSBC-Bank erwartet eine
Verdoppelung bis zur Mitte des Jahrhunderts und hat diese Prognose trotz der augen-
blicklichen Schwächeperiode nicht korrigiert. Stimmt die HSBC-Prognose, dann wäre
Russlands Mittelschicht zur Mitte des Jahrhunderts so groß wie die Bevölkerung von
Deutschland. Die Zuwachsraten beim Umsatz des Einzelhandels von 20 % pro Jahr, wie
sie vor 2014 registriert wurden, dürften in den kommenden Jahren allerdings erst einmal
magerer ausfallen. Wie genau, das traut sich derzeit niemand zu prognostizieren.
Doch der Markt hat schon jetzt eine erhebliche Größe erreicht, die man nicht mehr
ignorieren kann. Die neue Mittelschicht hat Russland in den größten PC-Markt Europas
verwandelt. Neben steigenden Einkommen haben dazu sicher auch mehr Erfahrung mit
PCs und die rasche Ausbreitung des Internets beigetragen. Auch im Tourismus hat Russ-
land bereits andere große Schwellenländer überholt. Zwischen 2010 und 2013 stieg die
Zahl russischer Auslandsreisen von 21,1 auf 30,6 Mio. kräftig an. Das entsprach einem
durchschnittlichen jährlichen Wachstum von rund 13 %. Krisenbedingt sank die Zahl der
Auslandsreisen 2014 und 2015 wieder auf 22 Mio., allerdings wird in den kommenden
7.9 Einkommenssegmente und Veränderungen 185
Jahren mit einer Erholung gerechnet. Die russische Kaufkraft, sagen viele Experten, wird
dabei gerne unterschätzt, weil viele Russen über nicht deklariertes Einkommen verfügen.
Es stammt meist aus Schwarzmarktgeschäften, informellen Firmen oder verstecktem
Immobilienbesitz.
Es bleibt dabei: Russland ist auf dem (jetzt etwas längeren) Weg zum größten Konsum-
gütermarkt Europas. Seit 2014 sind die entsprechenden Prognosen zwar etwas vorsich-
tiger geworden. Aber es gibt keinen Zweifel, dass es sich nur um Jahre handelt. Trotz
seiner enormen Größe ist der russische Markt nicht stark konzentriert. Er gilt als eher
fragmentiert. Während es bereits große Retailer wie den Marktführer X5 und die Kette
Magnit (sie gilt als starker Logistik-Innovator) gibt, beherrscht kein einzelnes Unterneh-
men den Gesamtmarkt. X5 ist nach eigenen Angaben Marktführer im Food-Segment in
Moskau und St. Petersburg. Im Juni 2015 führte X5 insgesamt 5971 Läden in Russland.
Das Unternehmen differenziert seine Angebote je nach Standort und operiert wahlweise
mit kleinen Läden, Supermärkten oder Hypermärkten. Im August 2015 erwarb X5 einer
Pressemeldung zufolge weitere 104 Läden von der Rosinka-Gruppe (X5 Retail Group
2015). Trotz der anhaltenden Konsolidierung beherrschen die zehn führenden Food-
Retailer zusammen weniger als 20 % des Marktes.
Führende internationale Retailer wie Henkel und Metro setzen trotz der aktuellen Pro-
bleme, vor allem negative Wechselkurseffekte vom schwachen Rubel, weiter auf Russ-
land. Sie haben bis Anfang der 2010er Jahre Wachstumsraten von bis zu 30 % erlebt.
Henkel sieht Russland als einen seiner Schlüsselmärkte für die globale Expansion. Und
Ikea, der weltgrößte Möbelhändler, hat erst im April 2015 bestätigt, dass es trotz des
scharfen Konjunkturabschwungs keinen Grund gebe, die geplanten zwei Milliarden Euro
Investitionen in neue Läden in Russland bis zum Jahr 2020 infrage zu stellen. Russland
ist für die Ikea Centres der größte Einzelmarkt.
Laut dem Beratungsunternehmen A.T. Kearney betrug die durchschnittliche jährli-
che Umsatzsteigerung im russischen Einzelhandel ab 2009 bis zum Beginn der aktuel-
len Schwächephase zwölf Prozent. Der Markt tritt in seine zweite Entwicklungsphase
ein. Laut Cushman & Wakefield (2012) hat die durchschnittliche Verkaufsfläche je
1000 Einwohner in Russland 95 m2 erreicht, was deutlich unter dem europäischen
Schnitt von 247 m2 liegt. Demnach wird der Einzelhandel als einer der größten Treiber
der russischen Volkswirtschaft gesehen. Der Bericht identifizierte 2013 den Bau von
rund 100 neuen Einzelhandelsgeschäften und Malls mit einer addierten Verkaufsfläche
von 4,6 Mio. m2. St. Petersburg gilt als führender Standort in puncto Qualität, während
Irkutsk und Tula als Städte mit einem großen Volumen neuer Projekte gelten und Keme-
rowo in Westsibirien sowie Nowosibirsk viel Potenzial für Einzelhandel mit höherer
Qualität haben sollen.
Russland gilt unter den Schwellenländern im Einzelhandel bereits als überwiegend
modern. Über 50 % des Umsatzes bei Haushaltswaren und Lebensmitteln kommen aus
modernen Läden. Zum Vergleich: In China macht der „organisierte Einzelhandel“ 62 %
vom Gesamtumsatz aus, in Brasilien etwa die Hälfte, in Indien lediglich um die fünf Pro-
zent. Einige Beobachter von Russlands Einzelhandel sagen bereits eine weitere Welle der
Entwicklung vorher.
7.11 Die Reichen und die Superreichen 187
Moskau hat sich in den vergangenen Jahren einen Namen als neue Welthauptstadt der
Milliardäre gemacht. New York und London wurden auf den zweiten und dritten Rang
verdrängt. Russlands Milliardäre machen regelmäßig internationale Schlagzeilen. Mal
mit redkordteuren Immobilien in London oder New York, mal durch Beteiligungen an
britischen Fußball-Teams oder durch exzentrische Aktionen wie die von Pavel Durow.
Der Gründer von Vkontakte, dem populärsten sozialen Netzwerk in Russland, warf im
Oktober 2013 zahlreiche 5000-Rubel-Banknoten (jede nach damaligem Wechselkurs
157 US$ wert) zu Flugzeugen gefaltet aus dem Fenster seines Büros in St. Petersburg auf
die Straße und verursachte eine regelrechte Straßenschlacht. Schlagzeilen machte auch
der 88 Mio. US$ teure Kauf eines Luxus-Apartments an der ultra-exklusiven Adresse
„15 Central Park West“ im Dezember 2011 durch den russischen Düngemittel-Magna-
ten Dmitri Rybolowlew. Er kaufte die Wohnung für seine studierende Tochter, die damit
Nachbarin von Robert de Niro und Lloyd Blankfein wurde.
Im Westen kennen viele Menschen Namen von russischen Oligarchen, die jetzt unter
dem Eindruck der wirtschaftlichen Flaute Geld ins Ausland bringen, ein paar Zimmer-
mädchen weniger beschäftigen, ein paar Firmenanteile verkaufen oder eine Yacht weniger
benutzen. Die Zeitschrift Vanity Fair zitierte im Juli 2015 den Telekom-Manager Boris
Chirkow, der seine Einsparungen so schilderte: „Bisher habe ich Feta-Käse aus Griechen-
land gegessen, jetzt beziehe ich ihn aus Weißrussland. Das ist natürlich nicht dieselbe
Qualität. Aber sterbe ich davon? Natürlich nicht. Ich kenne niemanden, den die Sankti-
onen umbringen“ (Nguyen 2015; Übersetzung des Verfassers aus dem Englischen). Der
Reichtum ist in Russland extrem konzentriert. Der „Global Wealth Report 2016“ von Cre-
dit Suisse (2016) berichtet, dass das oberste Dezil der russischen Vermögenden rund 89 %
der Haushaltsvermögen halte. Die hohe Vermögenskonzentration, so der Bericht, spiegele
sich dabei auch in der beträchtlichen Anzahl an Milliardären wider. Mit geschätzt 96 Mrd.
liege das Land hinter den USA (582 Mrd.) und China (244 Mrd.) auf Platz drei.
Und Russlands Millionäre? Der Boston Consulting Group zufolge stieg die Anzahl
der russischen Millionärshaushalte um 18,5 % auf 213.000 im Jahr 2013 (Boston Con-
sulting Group 2013). Damit stand das Land zu diesem Zeitpunkt international an 13.
Stelle, was die Zahl der Millionäre angeht. Das Beratungshaus Deloitte hatte aber schon
2011 für Russland 375.000 US$-Mio. gezählt. Russlands Wirtschaft soll demnach 2017
die Rezession verlassen (Barnato 2016). Russland wird immer noch als eines jener Län-
der genannt, in denen die Zahl der Reichen und Superreichen in den nächsten Jahren am
schnellsten wachsen wird. Berichte über das Ausgabenverhalten der betuchten Russen
listen stets Autos, Mode, Schönheitsprodukte, Schmuck und Uhren als die begehrtesten
Produkte der Einkommenselite auf. So steht es auch im „World Luxury Index Russia“
der Digital Luxury Group (2012). Er basiert auf Zahlen von Russlands führender Inter-
netsuchmaschine Yandex. Chanel und Louis Vuitton stehen ebenso ganz oben auf der
Prioritätenskala wie BMW, Audi, Mercedes-Benz und Porsche. Autos machen demnach
74 % aller Suchanfragen der Reichen und Superreichen Russlands im Internet aus.
188 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
Wenn Veteranen aus dem Westen eines über den russischen Markt wissen, dann ist es
das: Westliche Logik funktioniert hier nicht. Man geht nicht einfach nach Russland,
investiert und verkauft. Das Geschäftemachen in diesem Land ist weitaus komplexer
und facettenreicher. Zu den größten Hürden, die es zu überwinden gilt, gehören Korrup-
tion, unsichere Regulierung, parteiische Behörden und Richter – und neuerdings auch
Sanktionen. Ikea gehört zu jenen Firmen, die all das bezeugen können. Die Möbelkette
hatte in Russland erst im dritten Anlauf Erfolg. Beim ersten Anlauf kollabierte die Sow-
jetunion. Der zweite Versuch wurde durch eine Konfrontation zwischen dem russischen
Parlament und der Regierung vereitelt. Als Ikea es erneut versuchte, implodierte der
Rubel. Aber das Unternehmen gab nicht auf. Innerhalb von zehn Jahren eröffnete Ikea
in zehn russischen Städten 13 Läden. Diese wurden unterstützt durch ein riesiges Dis-
tributionszentrum und drei Produktionsstätten. Doch der Erfolg war nicht einfach. Ikea
testete ein völlig neues Geschäftsmodell, indem es nicht nur einfache Möbelläden eröff-
nete, sondern ganze Shopping- und Unterhaltungszentren aufbaute. Das erste dieser Art
wurde mit 50 Mio. Besuchern das meistfrequentierte auf dem Planeten, nur zwei Jahre
nach seiner Eröffnung. Der Mann, der diesen holprigen Weg zum Erfolg in einem Buch
beschrieb, war der erste russische Country Manager von Ikea, Lennart Dahlgren. Er war
für das Unternehmen fast ein Jahrzehnt lang in Russland tätig. Sein Buch trägt ins Deut-
sche übersetzt den bezeichnenden Titel: „Trotz der Absurdität: Wie ich Russland eroberte
und wie es mich eroberte“. Das Buch war ein solcher Erfolg, dass es ins Russische über-
setzt worden ist.
Dahlgrens Buch klingt wie ein Ratgeber, der erklärt, wie man sich Russland nicht
nähern sollte. Die Leute im Westen wüssten erstaunlich wenig über Russland, schreibt
Dahlgren (2010). In dem Buch wird ausführlich beschrieben, wie sich Ikea mit lokalen
Behörden auseinandersetzen musste. Prominentestes Beispiel ist eine Brücke, die über
eine Autobahn gebaut werden sollte, damit Kunden den lokalen Laden besser erreichen
können. Zuerst wurde der Bau genehmigt, dann aber die Erlaubnis aus fadenscheinigen
Gründen zurückgezogen. Erst nachdem Ikea fünf Millionen US-Dollar für die Sportför-
derung von Kindern im Großraum Moskau gestiftet hatte, ging der Bau voran. Das Fazit
in Dahlgrens Buch ist simpel: Man kann in Russland viel erreichen und Erfolg haben,
aber nur, wenn man die üblichen Klischees hinter sich lässt, Geduld mitbringt und flexi-
bel um die örtlichen Hürden navigiert.
Was also sind die häufigsten Herausforderungen und Hürden, auf die Investoren aus
anderen Ländern in Russland treffen? Es gibt dazu viele hilfreiche Analysen und Rat-
geber. An der Spitze der von über 6000 deutschen Firmen in Russland immer wieder
berichteten Probleme stehen eine übermäßige Bürokratie, Korruption, langwierige Zoll-
prozeduren und strenge Zertifizierungsregeln. Die Weltbank führt Russland in ihrem
„Doing Business“-Ranking 2015 an 62. von 189 Stellen. Bekannt unter deutschen Fir-
men sind zum Beispiel Berichte darüber, wie der russische Zoll importierte Güter
nachdeklarieren lässt, um höhere Gebühren zu kassieren. Doch ebenso häufig wird in
7.13 Vom Kommunismus zur Konsumgesellschaft 189
Magazinen wie der Außenwirtschaft und bei den Kammern beschrieben, dass es viele
attraktive Möglichkeiten gebe, in Russland Geld zu verdienen. Sonst wären dort keine
6000 Firmen aus Deutschland präsent.
„Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein
eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land“ – lautet ein weitverbreitetes
Bonmot des russischen Romantikers Fjodor Tjuttschew. Doch selbst das reicht in vie-
len Fällen nicht, denn Russland ist wie ein ganzer Kontinent, riesig und vielfältig. Die
Hauptstadt Moskau ist dabei wie eine Insel im Meer. Die verschiedenen Regionen des
Landes sehen aus, als seien sie Welten voneinander entfernt. Sie reichen von Murmansk
in der Arktis über Wladiwostok am Pazifik und Samara an der Wolga bis nach Krasno-
dar am Schwarzen Meer. Die Einwohner dieser Städte und Ballungsräume leben in völ-
lig verschiedenen Welten und haben völlig unterschiedliche Perspektiven. Ihre Kulturen
sowie ihre Traditionen und Geschichte sind kaum miteinander zu vergleichen. Menschen
in Sibirien sind „Überlebenskünstler.“ Sie haben es gelernt, pragmatisch zu sein und fern
politischer Machtzentren etwas zu bewegen. Aber es gibt nicht nur eine geografische,
historische und kulturelle Vielfalt. Russland ist praktisch seit dem Kollaps der Sowje-
tunion im Ausnahmezustand. Für Millionen von Russen steht die Welt auf dem Kopf.
Unter den Kommunisten wurde praktisch alles für sie geregelt. Die Wohnungen, die
Gesundheit und die Ausbildung sind wohl die bekanntesten Beispiele. Es gab niemals
viele Wahlmöglichkeiten. Heutzutage jedoch ist alles umgekehrt: Es gibt viele Wahl-
möglichkeiten, und die Russen müssen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Das ganze
Land, mit all seinen Industrien, Institutionen und Traditionen, ist mitten in einem funda-
mentalen Umbruch.
Und der Wandel geht noch weiter. Das Internet öffnet riesige Fenster zur Welt da
draußen, jenseits von Russland. Der Tourismus und das Fernsehen bringen fremde Ein-
flüsse ins Land. Junge Menschen stehen nicht mehr ausschließlich unter dem Einfluss
ihrer Eltern und der Schule. Die digitale Welt, elektronische Medien, Markenprodukte
und Werbung beginnen, sie stark zu beeinflussen. Das erste Ziel für die junge Genera-
tion zwischen 18 und 25 ist es jetzt, ihre Ansprüche und Bestrebungen zu erkennen, eine
Karriere zu beginnen und ein Leben in Wohlstand zu führen. Ausbildung wird in diesem
Zusammenhang nach der „Dividende“ beurteilt, die sie verspricht. Das bedeutet, dass
traditionelle Strukturen in dieser konservativen und kollektivistischen Gesellschaft unter
Druck geraten. In seiner Rede an die Nation Ende 2012 beklagte Wladimir Putin, dass
es der russischen Gesellschaft an „spirituellen Klammern“ fehle. Sein Vorschlag lautete,
mehr auf Bildung und traditionelle Werte zu setzen, um die Situation des Landes zu ver-
bessern. Er wies seine Administration an, Vorschläge zu präsentieren, wie man jungen
Menschen Traditionen, moralische Werte und Benimmregeln näherbringen kann. Ganz
so besorgt muss Putin allerdings nicht sein. Denn die Zeitung Moscow Times berichtete
190 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
Gratchev et al. (2007) beschrieben Russland in ihrer Studie als kollektivistische und
durchsetzungsfähige Gesellschaft. Die Russen, so hieß es dort, lebten die meiste Zeit
ihrer Geschichte in einem weiten, offenen Land und halfen sich gegenseitig, während
die orthodoxe Kirche eine starke Familie und die Unterstützung der sozialen Gruppe pre-
digte. Den Autoren zufolge begannen wirtschaftliche Reformen in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert, die kollektivistischen Traditionen auf-
zulösen. Doch dann passierte Folgendes: Während individuelle Freiheiten, Bildung und
Mobilität zunahmen, wurden diese Trends zu mehr individueller Freiheit ersetzt durch
den Gehorsam gegenüber der Kommunistischen Partei. Diese ersetzte weitgehend die
Familie und die Loyalität zur Gruppe. Während des Überlebenskampfes in den volatilen
1990er Jahren wurden kollektivistisches Verhalten und Gruppenorientierung wiederbelebt,
7.13 Vom Kommunismus zur Konsumgesellschaft 191
vor allem unter den Verlierern dieses schwierigen Transformationsprozesses. Das, so die
Autoren der Studie, sei der Grund, warum Russland derzeit so widersprüchliche Entwick-
lungen wie starkes individualistisches Verhalten und geringes soziales Verantwortungsge-
fühl, aber gleichzeitig auch aktive Zusammenarbeit und Kooperation zeige.
Dieser Zusammenstoß der Traditionen wird auch in dem Buch „Culture and the Arts
in the New Russia“ geschildert. Geschrieben hat es Bei Wenli (2011), der stellvertre-
tende Leiter am russischen Forschungszentrum der East China Normal University. Hier
schildert sozusagen ein chinesischer Forscher, der selbst aus einer kollektivistischen und
gruppenorientierten Gesellschaft mit neuerdings starken individualistischen Einflüs-
sen kommt, die Sicht von außen. Wenli schreibt, am Ende der 1990er Jahre sei deutlich
geworden, dass der Aufbau einer marktorientierten Wirtschaft in Russland, verbunden
mit der Eingliederung in die globale Wirtschaft, ohne die Berücksichtigung kulturel-
ler Traditionen und Werte nicht möglich sein werde. Die westliche Kultur mit liberalen
Märkten und Individualismus geriete mit Russlands kulturellen Traditionen und dem
Kollektivismus sowjetischer Prägung in Konflikt.
In diesen unruhigen und unsicheren Zeiten kam ein nostalgischer Blick auf das sozi-
ale Netz, das in Sowjetzeiten gespannt worden war, wieder in Mode. Unsicherheit bezüg-
lich des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Status quo trägt dieser Analyse zufolge
zu der Sehnsucht nach den „guten alten Zeiten“ bei. Das bedeutet aber auch, dass es
kein echtes Verlangen nach einer Rückkehr zur Sowjetunion gibt. Oder anders gesagt:
Der Homo sovieticus als Modell eines hart arbeitenden Menschen, der die materiellen
Entbehrungen durch einen besonders ausgeprägten Kollektivismus und Patriotismus
kompensiert, ist passé. Trotz der mitunter aufkeimenden Nostalgiegefühle und guten
Erinnerungen an die Sowjetzeit wollen die jüngeren Generationen in Russland die post-
sowjetischen Konsummöglichkeiten nicht missen, was letztlich wohl zum „Aussterben“
des Homo sovieticus führen dürfte.
Wie in China gibt es auch in Russland ein ausgeprägtes System sozialer Netzwerke. In
der russischen Kultur ist der Einfluss des Einzelnen geringer als in Europa oder Ame-
rika. Die Institutionen sind schwächer, die Regierung ist stärker. Und die wirtschaftli-
che Entwicklung ist volatiler und unsicherer. Abmachungen und Verträge mit Hilfe von
Familie und Freunden zu schließen, ist nicht nur hilfreich, sondern auch notwendig. Man
muss Menschen mit Einfluss kennen, um etwas zuwege zu bringen. Zumindest muss
man Kontakte zu Menschen haben, die Leute mit Einfluss im System kennen. In seiner
langfristig angelegten Studie „The Soviet Person“ analysierte das Levada Center 2010
wichtige soziale Trends in Russland (Russia Profile 2010). Es kam zu dem Schluss, dass
das moderne Russland eine hochgradig atomisierte Gesellschaft mit einem starken Miss-
trauen ist. Drei Viertel aller Russen vertrauen demnach einander nicht und sagen, dass
sie sich nur auf Mitglieder der Familie stützen könnten.
192 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
In diesem Zusammenhang werden Proteste gegen die Regierung Putin – zum Bei-
spiel die Aktivitäten der Rockgruppe Pussy Riot – als Machtkampf gesehen zwischen
der Regierung einerseits, die die traditionellen Werte verteidigt, und einer Bewegung
andererseits, die größere individuelle Freiheiten einfordert. Eine der interessantesten
Analysen zu diesem Thema stammt vom Carnegie Endowment for International Peace
(Trenin et al. 2012). In dem Papier mit dem Titel „The Russian awakening“ wird diese
Auseinandersetzung als Kampf zwischen einer traditionell autoritären Regierung und
einer erwachenden Gesellschaft geschildert, in der ehrgeizige junge Menschen und die
neue Mittelschicht das Land modernisieren wollen. In den Augen dieser Aktivisten hat
die Regierung ihre Legitimation verloren. Die russische Autorin Elena Rubinowa (2010)
behauptet sogar, es sei bereits in den 1970er Jahren zu erkennen gewesen, dass russische
Konsumenten sich von denen in anderen Ländern trotz der sowjetischen Ideologie und
ihrem Versuch, materielles Streben zu beseitigen, in keiner Weise unterscheiden. Rubi-
nowa zufolge verbreitete sich bereits vor dem Kollaps der Sowjetunion ein Phänomen,
das „veshizm“ genannt wurde. Rubinowa übersetzt das Wort als „Verlangen nach Kon-
sumgütern.“ Demnach sind die Voraussetzungen für eine Konsumgesellschaft in Russ-
land ausgezeichnet.
Abb. 7.2 Alte und neue Welt: Lada erfindet sich mit modernen Modellen wie dem Xray neu.
(Quelle: Lada 2014)
Das zeigt nicht nur, wie lokale Marken in dem wachsenden Markt aufsteigen, sondern
auch, dass besser informierte und anspruchsvollere Konsumenten billige Marken, die
einst beliebt waren, durch weiterentwickelte, qualitativ hochwertige und ansprechendere
Marken ersetzen. Firmen, die hochwertige Markenprodukte und Dienstleistungen anbie-
ten, inserieren auf großen Werbetafeln in Moskaus Straßen. Sie verkaufen Immobilien,
Golfzubehör und Yachten. Sie versprechen prächtige Partys, exklusive Erfahrungen und
einen Service wie einem Zaren gegenüber, dazu Privilegien, die für den Homo sovieticus
noch völlig undenkbar gewesen wären.
Russische Konsumenten lieben ausländische Marken. Nach mehr als 70 Jahren kom-
munistischer Herrschaft und zwei Jahrzehnten schroffer Umbrüche wollen sie beim Kon-
sum nachholen. Natalya Mogutnowa, die Qualitätschefin bei TNS Russland, sagt, die
Leute würden sich noch gut an sowjetische Zeiten erinnern, als sie jahrelang den selben
grauen Mantel tragen mussten, und jetzt würden sie versuchen, sich dafür zu entschä-
digen. In der Studie von TNS (2010; Übersetzung des Verfassers aus dem Englischen)
„Discover BRIC“ beschreibt sie den Appetit ihrer Landsleute für Markenprodukte
so: „Wir wollen sie nicht nur haben, wir wollen viele haben, und wir wollen zwischen
ihnen wählen können. Fast 20 Jahre lang hat der neue russische Staat unseren Hunger
nach Konsum nicht gestillt.“ Laut Mogutnowa ist Prahlerei eine russische Eigenschaft,
und die Russen wollen ihre Mitmenschen mit Produkten wie Autos, Smartphones und
Schmuck beeindrucken. Russische Frauen, erklärt sie, würden sich schminken sich und
Stöckelschuhe selbst dann anziehen, wenn sie bloß Brot kaufen gehen.
194 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
Markenexperten wissen das. Aber sie weisen auf einen wichtigen Unterschied zwi-
schen ausländischen und lokalen Marken in Russland hin. Für viele Konsumenten im
Land vermitteln russische Marken nur wenig sozialen Status. Viele lokale Produkte
haben keine lange Tradition, oder es fehlt ihnen eine klare Positionierung, während inter-
nationale Marken unmissverständlich persönlichen Status und Geschmack signalisie-
ren. Statistiken belegen, dass ausländische Marken in Russland in solchen Kategorien
den meisten Erfolg haben, die Status am besten kommunizieren: Mode, Kosmetik, Autos
und Elektronik. Aber gleichzeitig können russische Konsumenten sehr protektionistisch
sein, wenn es um Produkte geht, die als Teil ihrer Kultur gesehen werden, zum Beispiel
Getränke oder Nahrung.
Aufschlussreich und in dieselbe Richtung argumentiert auch der Marktführer „10
things marketers need to know about Russia“. Hier erklärt der aus Moskau stammende
Konstantin Pinaev (2014) von der Beratungsfirma Think Tank, die Russen würden sich
in einer ganz neuen Welt bewegen, und Moskau sei ein anderes Land. Marken, wie wir
sie in Europa und in den USA kennen, hat es demnach bis in die frühen 1990er Jahre
in Russland nicht gegeben. Daher ist die Markenlandschaft in dem Land viel dynami-
scher als im Westen, argumentiert Pinaev. Das Resultat ist, dass Reputation viel einfa-
cher gewonnen – aber auch verloren – werden kann als in Europa oder Nordamerika.
Pinaev warnt ausländische Markenfirmen, sich auf starke Konkurrenz in Russland ein-
zustellen. Auch er erinnert an die kommunistische Vergangenheit: „Russen hatten über
70 Jahre lang keine Konsumfreuden, also haben sie kein Problem mit materiellen Ambi-
tionen: Wenn Du es hast, zeige es auch!“ (Pinaev 2014; Übersetzung des Verfasser aus
dem Englischen).
Doch die Medienlandschaft, auf die wir in Abschn. 7.14 noch im Detail eingehen, kann
es schwierig machen, die richtigen Zielgruppen präzise anzusteuern. Das überwiegend
staatliche Fernsehen spricht vor allem ein älteres Mainstream-Publikum an. Viele junge
Russen schalten den Fernseher nicht oft ein und schauen sich stattdessen populäre Shows
online an. Freies WiFi an vielen öffentlichen Plätzen und in Transportmitteln bedeutet
auch, dass das mobile Internet wesentlich stärker genutzt wird. Auch mobiles Zahlen ist
in Russland viel weiter fortgeschritten als in westlichen Ländern, sagt Pinaev (2014). Er
warnt westliche Marketingexperten in seinem Marktführer, dass Konsumentenstudien in
Russland viel schwieriger zu erstellen sind als in den meisten westlichen Ländern, weil
die Russen lange Zeit nie nach ihrer Meinung gefragt wurden und mit Antworten bis
heute sehr zurückhaltend sind, wenn sie über ihre Kaufentscheidungen sprechen sollen.
Ganz übereinstimmend weisen viele Experten und erfahrene Expats darauf hin,
dass russische Konsumenten in den vergangenen Jahren kritischer und anspruchsvoller
geworden sind. Einer von ihnen ist der Coca-Cola-Chef für Russland, Weißrussland und
die Ukraine, Zoran Vucinic. Er empfiehlt, nicht länger betagte Produkte auf den russi-
schen Markt zu bringen. Die Ära der Produkte sei vorbei, jetzt herrsche das Zeitalter
der Marken. Von Kategorie zu Kategorie treffen die Konsumenten klare und bewusste
Entscheidungen, sagt der Coca-Cola-Mann. Sie wollen ganz genau wissen, worum es bei
ihrer Marke gehen soll, was sie zu bieten hat und wie sie sich von anderen Marken auf
7.13 Vom Kommunismus zur Konsumgesellschaft 195
dem Markt abhebt. Vucinics Rat ist simpel: Für Produkte außerhalb des Luxus-Segments
sei die Erschwinglichkeit das wichtigste Kriterium, ausländische Marken könnten nicht
mehr einfach einen enormen Aufschlag verlangen, also müssten sie Einsparungen in
ihren Lieferketten erreichen (Vucinic 2012). Das sei der Grund, warum Coca-Cola sein
Vertriebsnetz in Russland gestrafft habe. In den 1990er Jahren seien nur fünf Prozent
des Absatzes der US-Firma durch den „organisierten Handel“ im Land gelaufen. Dieser
Anteil sei auf über 40 % gestiegen und solle bald 80 % erreichen. Aber Russland sei kein
monolithischer, einheitlicher Markt. Jeder, der Russland als ein Land sehe, liege falsch,
erklärt Vucinic, Russland sei ein Kontinent und daher ein Markt, auf dem das Motto
„branding is global“ nicht funktioniert.
Woher kommen die beliebtesten ausländischen Marken in Russland? Meist aus euro-
päischen Ländern, lautet die klare Antwort. In einer Studie der Digital Luxury Group
schafften es 2012 immerhin 37 Herkunftsländer aus Europa in die Top 50 der russischen
Konsumenten für internationale Marken. Der Reihe nach standen Frankreich, Italien, die
USA, Großbritannien, Japan und Deutschland an der Spitze. Unter den zehn beliebtes-
ten internationalen Marken waren mit BMW, Audi, Mercedes-Benz und Porsche gleich
vier deutsche Marken vertreten. globeone hat zur selben Zeit jedoch eine eigene Unter-
suchung angestellt. In der russischen Ausgabe des „BRIC Branding Survey“ analysierten
wir das Image deutscher Marken in Russland. Die wichtigsten Ergebnisse waren ext-
rem positiv für deutsche Marken. Wie Abb. 7.3 verdeutlicht, gibt es in keinem anderen
BRIC-Land eine so positive Wahrnehmung deutscher Marken wie in Russland. Deutsche
Marken erreichen in Russland die höchsten Bewertungen bei den Kriterien „exzellente
Qualität“, „hohe Leistung“, „gute Zuverlässigkeit“ und „Vertrauenswürdigkeit“. Dieses
hervorragende Abschneiden belegt die ausgezeichneten Chancen für deutsche Produkte
bei russischen Konsumenten, wenn sie sich auf das Herkunftsland Deutschland berufen.
Die Studie zeigt, dass etwa 90 % der russischen Konsumenten in urbanen Zentren
eine Reihe deutscher Marken kennen und eine starke Vorliebe für sie zeigen. Deutsche
Marken genießen bei allen drei untersuchten sozialen Schichten ein hohes Ansehen: bei
der aufkommenden Mittelschicht, der Mittelschicht und der gehobenen Mittelschicht.
Es ist auffallend, dass deutsche Marken in der aufkommenden Mittelschicht mit einem
monatlichen Einkommen zwischen 400 und 1200 US$ von 94 % der Russen am stärks-
ten bevorzugt werden. Das signalisiert immenses Potenzial für ausländische Marken,
besonders für deutsche, in der wachsenden urbanen Mittelschicht Russlands. Die Ergeb-
nisse im BRIC Branding Survey stützen sich auf über 4000 Interviews mit Konsumenten
in den 20 wichtigsten Städten in Brasilien, Russland, Indien und China. Die Interviews
wurden von führenden unabhängigen Marktforschern durchgeführt. In Russland wur-
den über 1000 Konsumenten in Moskau, St. Petersburg. Nischni Nowgorod (fünftgrößte
Stadt des Landes), Nowosibirsk und Jekaterinburg interviewt.
196 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
Ich schätze
deutsche 22% 45% 16% 9%
Marken sehr.
Ich schätze
deutsche 59% 43% 33% 38%
Marken.
Ich habe
keine 13% 11% 42% 47%
Präferenzen.
Ich schätze
deutsche 5% 0% 7% 5%
Marken
eigentlich nicht.
Ich schätze
deutsche Marken 1% 1% 2% 1%
in keiner Weise.
Abb. 7.3 Hohe Präferenz für deutsche Marken in Russland (N = 1000 Verbraucher pro Land).
(Quelle: globeone 2012)
Für Marketingexperten enthalten die Ergebnisse eine klare Botschaft: Ein vorteilhaf-
tes Image des Herkunftslandes kann in Russland gut eingesetzt werden, um den Umsatz
zu steigern. Da für 90 % aller Befragten die Herkunft einer Marke ein wichtiges Kri-
terium für die Kaufentscheidung ist, kann eine stärkere Betonung der Herkunft den
Zuspruch für eine bestimmte Marke spürbar steigern. Es zeigt sich aber, dass Unterneh-
men in vielen Fällen davon keinen oder keinen ausreichenden Gebrauch machen.
Wie bereits erwähnt und in Abb. 7.4 illustriert, ist das Internet für russische Konsu-
menten die wichtigste Informationsquelle über ausländische Marken. In Russland – wie
in Brasilien und China auch – spielen Internet-Suchmaschinen eine dominante Rolle,
wenn sich Konsumenten über Markenprodukte erkundigen. Einkaufszentren und das
Fernsehen folgen an zweiter und dritter Stelle der wichtigsten Quellen.
Das Potenzial digitaler und mobiler Informationen für die Konsumenten kann kaum
überschätzt werden, wie wir in den folgenden Abschnitten über Russlands Medienland-
schaft und das Internet zeigen werden. Weil sowohl die Reichweite als auch die Band-
breite des Internets konstant zunehmen, sind digitale und auf die sozialen Plattformen
zielende Marketingstrategien sehr gut geeignet für ein Land wie Russland, das Ausdeh-
nungen wie ein ganzer Kontinent hat. Digitale Kampagnen sind nicht nur kosteneffizien-
ter als herkömmliche Kanäle, sie können auch viel besser maßgeschneidert für einzelne
Zielgruppen und Regionen formatiert werden.
7.14 Medienlandschaft 197
Internet-Suchmaschinen 21
Einkaufszentren/Läden 19
Fernsehen 19
Familie/Freunde 17
Events/Verkaufsshows 7
Zeitungen/Magazine 5
Radio 5
Internetseiten von
Unternehmen 5
Soziale Medien 3
7.14 Medienlandschaft
Wochenblättern gibt es etwa 17.000 Magazine. Etwa 70 % der erwachsenen Russen
lesen regelmäßig oder ab und zu gedruckte Medien. Fast alle Publikationen unterstüt-
zen dabei die Politik des Kremls. Manche Zeitungen werden in Partnerschaft mit führen-
den internationalen Publikationen wie der Financial Times oder dem Wall Street Journal
herausgegeben. Seit der Finanzkrise ging die Gesamtauflage nach Angaben des russi-
schen Grossistenverbandes um etwa 15 bis 20 % zurück. Seit den späten 1990er Jahren
sank der Anteil der Printprodukte am gesamten Anzeigenaufkommen von 50 auf 20 %,
obwohl das Volumen in absoluten Zahlen bis zur jüngsten Rezession weiter wuchs.
Kioske sind mit einem Anteil von 65 % noch immer der wichtigste Distributionskanal
für Printprodukte, doch die Verteilung über den Einzelhandel nimmt zu. Dessen Anteil
ist auf ein Viertel der Gesamtauflage gestiegen.
Die Zahl der Internetnutzer erreichte im September 2016 mehr als 102 Mio. Damit ist
die Internetpopulation Russlands größer als die Einwohnerzahl Deutschlands. Damit ran-
gieren inzwischen alle BRIC-Märkte gemessen an der Zahl der Nutzer unter den sechs
größten Internet-Nationen der Welt. Das Internet in Russland wächst mit Raten von etwa
zehn Prozent im Jahr. Das ist außer Indien (14 % Zuwachs) schneller als in allen fünf
Nationen, die eine größere Internetgemeinde aufweisen. „Russland ist auf dem Weg in
die digitale Gesellschaft“, schrieb in der Ausgabe 3/2015 des Magazins der Deutsch-
Russischen Auslandshandelskammer der Vorstandsvorsitzende Michael Harms (2015).
Der Kammerchef wies darauf hin, dass „in der gesamten Moskauer Metro WLAN kos-
tenlos und schnell verfügbar“ ist. In deutschen Firmen mit Engagement in Russland sieht
man die Entwicklung des digitalen Russlands ähnlich positiv. „Russland ist der größte
Internetmarkt Europas, das wissen viele nicht“, erklärt Christian Graggaber, der Chief
Digital Officer bei Hubert Burda in Russland. Graggaber machte in dem Interview mit
der Kammerzeitschrift Impuls im Sommer 2015 auch deutlich: „Burda hat ein großes
Interesse, in Russland zu investieren. Die Firma ist hier seit knapp 30 Jahren tätig, und
wir planen, auch noch in 30 Jahren hier tätig zu sein“ (Steinmetz 2015).
Soziale Netzwerke sind in Russlands Internet besonders populär und erfolgreich. Das
liegt unter anderem daran, dass die russischen User im Monat rund zehn Stunden auf sol-
chen Plattformen zubringen. Weil das „Web“ von der Regierung weniger scharf kontrol-
liert wird, wenden sich vor allem jüngere Russen diesen Informationsquellen zu.
Russlands Internet – das RuNet, wie es oft genannt wird – ist ein Spätstarter in der glo-
balen Online-Party. Doch dafür wächst es umso schneller. Die Internetverbreitung stieg
von lediglich zwei Prozent zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts auf 43 % zu Beginn
dieses Jahrzehnts an. Im September 2016 hat sie 71,3 % der Bevölkerung erreicht. Motor
der rasanten Entwicklung sind eine relativ junge Online-Community, die Ausbreitung von
PCs, der Vormarsch der Konsum- und Kreditkultur sowie die explosionsartige Ausbrei-
tung von Mobilgeräten und die extreme Beliebtheit (mit langer Verweildauer) der sozialen
7.15 Internet, E-Commerce und mobile Kommunikation 199
Plattformen. In Russland haben Smartphones und Tablets schon 2014 beim Gebrauch des
Internets die PCs überholt. Frauen, Studenten und Russen in ländlichen Gegenden sind
die jüngsten Treiber des Booms. Laut WapStart (2015), dem größten mobilen Anzeigen-
netzwerk in Russland, ist die Beteiligung von Frauen am mobilen Internet seit 2012 von
20 % auf jetzt über 50 % von allen Internetnutzern gestiegen.
Maelle Gavet (2013), die ehemalige französische Geschäftsführerin des russischen
Online-Versandhändlers Ozon, verglich die Entwicklung im russischen Internet vor
ihrem Ausscheiden im März 2015 mit einer Revolution. Ozon ist eines der besten Bei-
spiele für das furiose Wachstum. Das Volumen der russischen Online-Verkäufe ist von
umgerechnet zehn Milliarden US-Dollar zu Beginn des Jahrzehnts auf über 14 Mrd. US$
im Jahr 2014 in die Höhe geschossen. Die Zuwachsrate betrug selbst im konjunkturell
schwierigen Jahr 2014 noch 31 %. Sibirien (130 %), Russlands ferner Osten (92 %) und
kleine Städte im Hinterland registrieren die stärksten E-Commerce-Zuwächse. Natürlich
setzt die wirtschaftliche Flaute auch den Onlinegeschäften zu. Plattformen mit niedrigen
Gewinnraten sowie hoch verschuldete eETailer mussten 2014 und 2015 aufgeben. Doch
an der rasch wachsenden Bedeutung dieses Distributionskanals und seinem Potenzial
ändert das kaum etwas.
Die populärsten Produkte, die in Russland online verkauft werden, sind Bücher, Kos-
metik, Hausgeräte und Kinderspielzeug. Die drei am meisten gesuchten Marken im
Schönheitssegment waren zuletzt Chanel, Lancôme und Guerlain. Guerlain hat in Russ-
land wesentlich mehr Erfolg als in China, unter anderem wegen seiner Partnerschaft
als offizieller Sponsor des Bolshoi-Theaters, in deren Rahmen auch die Hauptbühne
der weltberühmten Kunststätte renoviert wurde. Zu den großen Herausforderungen
beim Ausbau des russischen E-Commerce gehört freilich die Infrastruktur. Denn online
bestellte Ware muss ausgeliefert werden. Russlands Ausdehnung von 8000 km in west-
östlicher Richtung sowie die nicht besonders hohe Reputation der Post stellen eine
Hürde dar.
Ozon hat daher sein eigenes Distributionsnetz aufgebaut. Die Kunden holen bei mitt-
lerweile 1000 Sammelpunkten (es sollen 3000 werden) ihre Ware ab. Und sie bezahlen
bar, weil viele Russen Kreditkarten nicht trauen. So sollen vier Fünftel der Auslieferun-
gen von Ozon noch bar bezahlt werden. Hinzu kommt: Russische Konsumenten zahlen
auch nicht gerne im Voraus, ganz anders als Konsumenten in Europa oder den USA. Das
alles ändert aber nichts daran, dass die Zahl der Start-up-Firmen im russischen E-Com-
merce gewaltig wächst. Seit einiger Zeit kommen auch vermehrt institutionelle Investo-
ren ins Spiel, die den Braten gerochen haben. „E-commerce ist in einem Flächenland wie
Russland eine hervorragende Möglichkeit, um Angebote schnell und zeitgleich überall
hin zu verbreiten“, schrieb Kammerchef Harms (2015), „Versandhäuser machen schon
heute einen großen Teil ihres Umsatzes ausschließlich über Online-Bestellungen, ebenso
wie Hersteller von Konsumgütern und Einzelhändler.“
Maelle Gavet (2013) reibt sich derweil die Hände. Zum ersten Mal in der Geschichte
des Landes, sagt sie, gebe es eine Generation junger Stadtmenschen mit wenig Zeit und
viel Geld, für die es Sinn mache, online einkaufen zu gehen. Der Boom im Onlinehandel
200 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
hat die Leerstandsraten von Lagerhallen in Russland auf ein mehrjähriges Tief gedrückt.
Die Onlinewerbung nimmt rasant zu. Sie macht bereits über ein Fünftel des gesamten
Anzeigenmarktes aus. Die wachsende Präsenz von Marken, vor allem internationalen
Marken, hilft dabei ebenso wie das Mobilsegment.
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202 7 Russland – Eine Wirtschaftsmacht jenseits der Rohstoffe?
Brasilien ist das fünftgrößte Land der Welt und die führende Volkswirtschaft in Süd-
amerika. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 1,53 Billionen US$ war es 2016 laut
dem Internationalen Währungsfonds die neuntgrößte Wirtschaftsmacht, hinter Ita-
lien und Indien und vor Kanada. Doch die jährliche Wirtschaftsleistung pro Kopf der
206 Mio. Brasilianer hat nur ein Drittel von Großbritannien erreicht. Es gibt also noch
erhebliches Potenzial. Bis zum aktuellen Rückschlag, in dessen Mittelpunkt eine Rezes-
sion, eine Herabstufung durch die Ratingagentur S&P sowie ein Korruptionsskandal um
den Ölkonzern Petrobras und die Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff im
Sommer 2016 stehen, hat das Land rasant aufgeholt.
In den fünf Jahren bis 2012 wuchs das BIP um insgesamt 77 %. Die Landwirtschaft
hat an der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes einen Anteil von etwa fünf Prozent.
Die Industrie kommt für etwas mehr als ein Viertel auf. Der Dienstleistungssektor ist mit
zwei Drittel der gesamtwirtschaftlichen Leistung weitaus größer als in den anderen BRIC-
Ländern. Brasilien ist ein sehr junges Land. Fast jeder dritte Einwohner ist höchstens 19
Jahre alt. Und 85 % der Einwohner leben in städtischen Zentren entlang der Ostküste. In
Brasilien hat die Urbanisierung im Vergleich zu anderen großen Schwellenländern früh
begonnen. Schon 1991 lebten 76 % der damals 147 Mio. Einwohner in Städten.
In den nördlichen Landesteilen Brasiliens leben viele Nachfahren der Ureinwohner,
die lokal als „Caboclos“ bezeichnet werden. Sie leben meist entlang der Flüsse im Ama-
zonasgebiet und ernähren sich von Weizen, Fischfang und der Jagd. Im Nordosten des
Landes siedeln vor allem die „Nordestinos“, meist Landarbeiter und Kleinbauern. In die-
sen Teil des Landes brachten die portugiesischen Kolonialherren die meisten Afrikaner
während des Sklavenhandels.
Die Flagge Brasiliens – die „Bandeira do Brasil“ – ist ein Ausdruck des Stolzes in
diesem lebhaften, vielfältigen und kreativen Land. Die blaue Scheibe auf der Flagge
repräsentiert einen Sternenhimmel, der mit 27 Sternen den Himmel über Rio de Janeiro
am 15. November 1889 zeigt. Jeder Stern steht für einen brasilianischen Staat. Auf dem
kurvigen Band der Flagge steht Brasiliens nationales Motto: „Ordem e Progresso“, Ord-
nung und Fortschritt.
Brasiliens Südosten mit dem Dreieck Belo Horizonte, São Paulo und Rio de Janeiro
stellt das wirtschaftliche Zentrum des Landes dar. Im ländlichen Süden Brasiliens kann
man immer noch das Deutsch oder Italienisch der europäischen Einwanderer hören. Aber
die Landessprache Portugiesisch sprechen fast 100 % der Bevölkerung.
Nach Jahrzehnten der Militärdiktatur und galoppierender Inflation hat Brasilien seit den
1990er Jahren eine Periode politischer und wirtschaftlicher Stabilisierung erlebt. Steigende
Preise für die führenden Rohstoffe des Landes sowie Sozialprogramme verschiedener
Regierungen haben Millionen von Brasilianern aus der Armut befreit und eine große Mit-
telschicht entstehen lassen. Das Land wurde ein führender Magnet für internationale Inves-
toren. Die Entdeckung großer Offshore-Vorkommen katapultierte Brasilien im vergangenen
Jahrzehnt in die Liga der ölexportierenden Länder. Mehr als 30 Mio. Brasilianer haben in
den vergangenen zehn Jahren die Armut hinter sich gelassen. Die Mittelschicht machte vor
der wirtschaftlichen Krise nach offizieller Definition etwas mehr als die Hälfte der Bevöl-
kerung aus. Doch es bleibt eine klaffende Lücke zwischen arm und reich. In großen Städten
wie Rio oder São Paulo lebt noch jeder dritte Brasilianer in einer der vielen „Favelas“ oder
Slums. Das vorläufige Ende des von China lange Zeit angeheizten Rohstoff-Booms, die
Verschnaufpause im jüngsten Kreditzyklus, die politischen Turbulenzen um den Petrobras-
Skandal sowie die Absetzung von Dilma Rousseff bremsen die Aufholjagd.
Hier gibt es jedoch zwei gute Nachrichten. Erstens: Brasilien erweist sich in dem Kor-
ruptionsskandal um den Energieriesen Petrobras als Land, das entschieden handeln kann.
Im September 2015 entschied das oberste Gericht des Landes, der Supreme Court, dass
Geldspenden von Firmen an politische Kandidaten und Parteien bei künftigen Wahlen
verboten sind. Weite Teile der brasilianischen Politik sind in den Korruptionsskandal um
Petrobras verstrickt. Und zweitens: Die Brasilianer gelten nicht nur als chronische Opti-
misten, sie haben auch noch viel vor sich. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt
nur knapp über 30 Jahre. Rund 68 % der Menschen in dem Land sind im erwerbsfähigen
Alter von 15 bis 64 Jahren. Nur sieben Prozent sind 65 oder älter.
Die ersten europäischen Einwanderer kamen während der kolonialen Periode zu
Beginn des 16. Jahrhunderts. Sie stammten überwiegend von der Iberischen Halbinsel.
Im 16. und 17. Jahrhundert kamen Einwanderer aus Holland, die sich meist im Nord-
osten niederließen. Die Europäer führten Hunderttausende von Sklaven aus Afrika ein
und zwangen sie zur Arbeit in Zuckerplantagen, Minen und später auch im Kaffeeanbau.
Mit den Europäern kam das Christentum. Katholiken machen heute fast drei Viertel der
Bevölkerung aus, 15 % sind Protestanten. Brasilien gilt daher als das größte katholische
Land der Welt. Im 20. Jahrhundert trugen dann auch Einwanderer aus Japan und dem
Nahen Osten zu dem bunten ethnischen Mix in Brasilien bei. Brasilien wird daher gele-
gentlich als „ethnische Demokratie“ bezeichnet. Doch in der Realität gibt es eine starke
Beziehung zwischen heller Haut und höheren Einkommen.
Im ländlichen Brasilien leben etwa 50 Mio. Menschen, meist in Städten und Gemein-
den mit weniger als 20.000 Einwohnern. Laut Statistiken können 89 % der Brasilianer
8 Brasilien – Der grüne Gigant 205
ab 15 Jahre lesen und schreiben. Die Verfassung von 1988 verspricht Ausbildung als ein
Gründungsprinzip und Recht jedes Brasilianers. Von den Kindern zwischen sieben und
14 Jahren besuchen 98 % die Schule. Aber das garantiert nicht immer eine gute Ausbil-
dung, denn die Qualität des Unterrichts lässt oft zu wünschen übrig.
Brasiliens ethnische Vielfalt hat zu einer der auffälligsten Eigenschaften des Landes
beigetragen. Seit dem 16. Jahrhundert wurden mit der massenhaften Einwanderung aus
verschiedenen Kontinenten zahlreiche Kulturen und deren Werte importiert. Dadurch ist
ein permanentes Spannungsfeld zwischen eingeführten Traditionen und offiziellen Nor-
men entstanden. Um die Distanzen zwischen Traditionen und Normen zu überwinden,
haben die Brasilianer eine besondere Flexibilität und eine starke Fokussierung auf Nütz-
lichkeit entwickelt. Sie mussten sich anpassen und improvisieren lernen. In Brasilien gibt
es einen Spruch, der dies auf den Punkt bringt: „Es gibt einen richtigen Weg, einen fal-
schen Weg und einen brasilianischen Weg.“ Das Motto illustriert die Kreativität und den
Pragmatismus, den die Brasilianer brauchen, um in schwierigen Situationen Auswege zu
finden und zu überleben. Daraus haben sie regelrecht ein nationales Talent entwickelt.
Das geschickte Vermeiden von Vorschriften, das sich daraus ergibt, hat sogar einen
Namen: Es wird „Jeitinho“ genannt. Die Brasilianer sind von offiziellen Normen nicht
sehr begeistert und betrachten viele als Werkzeug, das nur einer kleinen Gruppe dient.
Das Umgehen von Regeln wurde in diesem Land in den Kunststand erhoben. Behörden
und die Regierung genießen in diesem Umfeld nicht viel Vertrauen. Und da man den
Institutionen nicht über den Weg traut, hat die Familie eine besondere Bedeutung. Die
Brasilianer lieben Kinder und bleiben traditionell eng mit ihren Eltern in Kontakt.
Brasilien hat sich mit seinem rasanten Aufstieg zu einem bevorzugten Zielland für
ausländische Direktinvestitionen entwickelt. Etwa 60 % solcher Investitionen kommen
aus den USA, Großbritannien, Japan, Deutschland und Spanien, mit enormen Zuwäch-
sen auch für China, seit dieses 2001 der WTO beigetreten ist und einen immensen Roh-
stoffhunger entwickelte. China ist bereits der größte Abnehmer für Brasiliens Ausfuhren.
Es kauft 70 % mehr Waren in dem südamerikanischen Land als die USA. Im Verlauf des
vergangenen Jahrzehnts kletterte Chinas Anteil an den brasilianischen Exporten von drei
auf 16 %.
Brasilien schneidet bei internationalen Vergleichen zur Attraktivität großer Wachs-
tumsmärkte sehr gut ab. Was ausländische Investoren an dem Land besonders schät-
zen, sind laut Umfragen vor allem sein riesiger Binnenmarkt, die Lebensqualität, die
Telekom-Infrastruktur und der unternehmerische Geist. Brasilien stieg im laufenden
Jahrzehnt zum viertgrößten Automobilmarkt vor Deutschland auf. Es wurde auch der
viertgrößte Markt der Welt für TV-Geräte und LCD-Panels. Bei Mobilgeräten ist es der
fünftgrößte Markt geworden, denn das Land hat inzwischen mehr registrierte Handys,
Smartphones und Tablets als Einwohner. Fast heimlich still und leise ist Brasilien auch
zu einem der sechs größten Software-Entwickler aufgestiegen.
Eine große Zahl berühmter Brasilianer hat geholfen, den globalen „Fußabdruck“ des
Landes und sein positives Image in der Welt bekannt zu machen und zu pflegen. Fußball,
Samba, Schönheit, Kreativität und herrliche Strände gehören zu diesen Botschaften und
206 8 Brasilien – Der grüne Gigant
Botschaftern. Der bekannteste von ihnen ist Edson Arantes do Nascimento, auch bekannt
geworden als Pelé. Die Sportikone wurde 1999 zum Fußballer des Jahrhunderts gekürt.
Der dreimalige Weltmeister Pelé ist einer der bekanntesten brasilianischen Sportler aller
Zeiten. Es ist vor allem ihm zu verdanken, dass Brasilien im Jahr 2014 die Fußball-WM
austragen durfte. Ein weiterer berühmter Sportstar aus Brasilien ist der Formel-1-Pilot
Rubens Barrichello. Der Filmregisseur Fernando Meirelles und der Star-Designer Fran-
cisco Costa (Calvin Klein) sowie die Sängerin und Schauspielerin Carmen Miranda (die
Frau mit dem Tutti-Frutti-Hut) und der verstorbene Architekt Oscar Niemeyer zählen
ebenfalls zu der Riege weltberühmter Brasilianer. Nicht vergessen darf man bei dieser
Aufzählung von Berühmtheiten aus dem Land, dessen Menschen „von Natur aus schön
und von Gott gesegnet“ sind, das Model Gisele Bündchen.
In wirtschaftlichen Kategorien hat sich Brasilien einen Namen als der führende
Exporteur von Eisenerz, Fleisch, Kaffee und Hühnern gemacht. Dem Land ist es wäh-
rend seines jüngsten Aufstiegs gelungen, die Zahl der Armen innerhalb von 20 Jahren
zu halbieren. Die Mittelschicht, offiziell Familien mit monatlichen Einkommen zwischen
690 und 2970 US$, wuchs von 2003 bis zum Beginn der Rezession, die 2015 begann,
um 49 Mio. Menschen an. Brasilien hat dank seines immensen Rohstoffreichtums stark
von den Eisenerz- und Agrarpreisen profitiert, die der Importhunger des aufsteigenden
China seit Beginn des vergangenen Jahrzehnts erzeugt hat. Dass China derzeit in einem
Reformkraftakt die Ausfuhren als Treiber des Wachstums durch heimischen Konsum
ersetzt und sowohl seine Rohstoffintensität als auch seine Wachstumsraten drosselt, hat
einen guten Teil zu den aktuellen Wirtschaftsproblemen in Brasilien beigetragen. Poli-
tische Instabilität und das Stocken des enormen Kreditbooms tragen ein Übriges zu der
Flaute bei, die auch in Brasilien dem langjährigen Aufschwung eine Pause aufzwingt. In
dem Land sind mehr als 600 Mio. Kreditkarten in Umlauf. Das sind drei je Einwohner.
In den Köpfen vieler Brasilianer ist immer noch die Erinnerung an Zeiten der Hyper-
Inflation wach. Sie animiert zu mehr Konsum und zu weniger Ersparnisbildung. Die Bra-
silianer sind aber auch von Natur aus keine fleißigen Sparer. Sie leben im Jetzt. Und so
wollen sie auch konsumieren.
Die Erfolgsgeschichte des Landes hat aber auch viel mit Politik und sozialen Pro-
grammen zu tun. Initiativen wie die „Bolsa Familia“, die von Präsident Lula da Silva
durchgesetzt wurde, haben massiv zu steigenden Einkommen beigetragen. Lula wurde
2003 Präsident und schied im Januar 2011 aus dem Amt. Bolsa Familia startete 2004
und wurde eines der größten staatlichen Transferprogramme der Welt. Die Überweisun-
gen der Regierung an Familien, die unter anderem an den Schulbesuch der Kinder und
an regelmäßige gesundheitliche Untersuchungen geknüpft waren, halfen zwölf Milli-
onen Familien im ganzen Land. An dem Programm teilnehmen können arme Familien
mit Kindern bis 15 Jahre und schwangeren Frauen. Es können bis zu 66 US$ pro Per-
son im Monat überwiesen werden. Für viele Familien in Brasilien entspricht die staatli-
che Hilfe 20 bis 40 % des verfügbaren Einkommens. Der fiskalische Spielraum für die
staatliche Gießkanne hat jedoch in den vergangenen Jahren nachgelassen. Brasilien legte
nach der Abstufung seiner Kreditwürdigkeit auf Ramschniveau durch Standard & Poor’s
8.1 Meilensteine und Positionen in internationalen Rankings 207
46%
São Paulo ist mit über elf Millionen Einwohnern die größte Stadt der südlichen Erdhalb-
kugel. Die Stadt ist der größte industrielle Ballungsraum Lateinamerikas. Im Stadtge-
biet leben knapp zwölf Millionen Menschen, im gesamten Ballungsgebiet fast 22 Mio.
Damit ist São Paulo eindeutig das Geschäftszentrum des Landes und bestreitet zusam-
men mit dem gleichnamigen Bundesstaat fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts.
In der Rush Hour bricht der Verkehr in São Paulo völlig zusammen. Die Reichen und
Superreichen fliegen mit dem Hubschrauber zur Arbeit. Das hat São Paulo zur „Heli-
Hauptstadt der Welt“ gemacht. Auf den Straßen kann es an schlechten Tagen bis zu
150 km Staus geben. São Paulo zieht die größte Aufmerksamkeit ausländischer Direktin-
vestoren auf sich. Etwa jedes vierte FDI-Projekt für Brasilien geht nach São Paulo. Rio
de Janeiro landet mit rund acht Prozent der Projekte an zweiter Stelle. Danach kommt
8.3 Die wichtigsten Branchen und Märkte 209
Curitiba mit zwei Prozent. In den 2010er Jahren hat auch der Nordosten des Landes
seine wirtschaftliche Entwicklung beschleunigt und ist auf dem Monitor internationaler
Investoren aufgetaucht.
Rio de Janeiro ist traditionell das Mekka Brasiliens für Touristen. British Airways
hat kürzlich in einer Liste der 13 beliebtesten neuen Destinationen Rio an zweiter Stelle
geführt. Während der Vorbereitungen für die Fußball-WM hat die Stadt 100.000 neue
Arbeitsplätze im Tourismus geschaffen. Rio ist aber auch die Heimat der nationalen
Ölindustrie und Sitz des größten Minenkonzerns CVRD. Rio ist auch das Zentrum der
landesweiten Telekomindustrie. Belo Horizonte, die Regionalhauptstadt des Staates
Minas Gerais, ist ein schnell aufstrebender Standort, weil es als Rohstoffzentrum und
Minenmetropole des Landes fungiert. In keiner Stadt des Landes kamen während des
Rohstoff-Booms mehr Millionäre hinzu.
Brasilien hat eine der modernsten Industrien in Lateinamerika. Der breit aufgestellte
gewerbliche Sektor umfasst die Autobranche und deren Zulieferer sowie den Maschi-
nenbau, die Textil- und Schuhindustrie, aber auch Zement, Computer, Flugzeugbau
und langlebige Konsumgüter. Im Dienstleistungssektor wird Brasilien stark bei Tele-
kom, Banken, Energie und IT. Das Land stellt sich gezielt als führender Standort des
Kontinents für IT-Outsourcing auf. Aufmerksamkeit weit über seine Landesgrenzen
hinaus gewinnt Brasilien auch für Biokraftstoffe, landwirtschaftliche Forschung, Off-
shore-Ölproduktion und Fernerkundung („remote sensing“). Brasilien ist eine Agrar-
Großmacht und Weltmarktführer in der Produktion von Zucker, Kaffee und tropischen
Früchten. Mit rund 170 Mio. Orangenbäumen bestreitet das Land etwas mehr als die
Hälfte der jährlichen Produktion von Orangensaft auf der Welt. Insider in der Industrie
bezeichnen Brasilien gerne als die „OPEC für Orangen“. Das Land zählt zu den größten
Erzeugern von Sojabohnen, Mais, Tabak, Kakao, Baumwolle und Rindern. Und es ist der
größte Exporteur von Ethanol.
Im Oktober 2012 markierte Brasilien einen wichtigen Meilenstein als Konsumgesell-
schaft. Es zählte erstmals mehr als 70 Mio. Pkw auf seinen Straßen. Brasilien ist vor der
Rezession hinter China und den USA international der drittgrößte Automarkt geworden,
fiel aber nach einem Rückgang der Autoverkäufe von fast 26 % im Jahr 2015 wieder
auf den siebten Platz zurück. Viele internationale Autoschmieden, besonders die deut-
schen Hersteller, bauen vor Ort dennoch Kapazität auf. Die 1400 im Land engagierten
deutschen Firmen, die nach manchen Schätzungen bis zu zehn Prozent zum BIP bei-
steuern, haben bis einschließlich Herbst 2015 keine größeren Investitionsstopps bekannt
gegeben. Das dürfte zum einen mit den Olympischen Spielen 2016 zusammenhängen,
zum anderen aber mit den anhaltend guten langfristigen Perspektiven des Landes. Zwar
haben große Firmen wie Daimler teilweise Stellenstreichungen und Produktionskürzun-
gen bekannt gegeben. Doch die Autohersteller kommen, wie einige Industrien, wegen
210 8 Brasilien – Der grüne Gigant
hoher Einfuhrzölle nicht an lokaler Produktion vorbei. Das hat natürlich auch stark mit
dem enormen Aufholpotenzial des Marktes zu tun. Audi zum Beispiel verzeichnet gegen
den schwachen Trend des Gesamtmarktes kräftige Zuwächse, weil das Premiumsegment
in Brasilien erst zwei Prozent des Pkw-Marktes ausmacht, gegenüber 20 % in Europa.
Die VW-Tochter sieht in Brasilien daher „kurz- und langfristig gute Perspektiven“
(Ismar 31. August 2015). Aber es wird nicht nur am lokalen Markt festgehalten. Auch
die Expansion hält an. Im Herbst 2015 gab die Commerzbank die Gründung einer Toch-
tergesellschaft in São Paulo bekannt. Wenn Banken, die gerne deutsche Firmen nach
Übersee begleiten, solche Schritte bekannt geben, ist das ein positives Signal. Zumal
wenn es dort heißt, die Wirtschaftskrise werde als Anreiz gesehen (Commerzbank 2015).
Große Zuwächse konnten in den vergangenen Jahren im Sog der Autoindustrie deren
Zulieferer verzeichnen. Brasilien ist zu einem der führenden Lieferanten von Hightech-
Kautschuk und leichtem Plastik geworden. Und es registriert einen der weltweit größten
Zuwächse beim Verbrauch von umweltfreundlichen Reifen mit wenig Rollwiderstand und
geringem Abrieb. Im Energiesektor macht man sich derweil große Hoffnungen wegen
der jüngst gefundenen Ölvorkommen. Das sogenannte „Tupi“-Feld ist das größte, das
seit Beginn dieses Jahrtausends gefunden wurde. Das sogenannte „Carioca“-Feld (auch
„Sugar Loaf“ genannt) im Campos-Becken vor der brasilianischen Küste südlich von
Rio enthält laut der National Petroleum Agency mit 33 Mrd. Barrel sogar viermal so
viel Öl wie Tupi. Brasilien kann mit diesen Funden zu den zehn größten Ölproduzen-
ten aufsteigen. In Brasiliens Energiesektor, der als einer der größten Treibriemen für die
wirtschaftliche Entwicklung der kommenden Jahre gesehen wird, gibt es eine wichtige
Besonderheit. Biokraftstoffe haben dort eine herausragende Rolle, vor allem Ethanol.
Das Ethanol-Programm stammt aus den 1970er Jahren und wurde nach der ersten Ölkrise
aufgelegt. Es sollte die Importabhängigkeit reduzieren und gleichzeitig helfen, die Über-
schüsse in der Zuckerproduktion abzubauen. Das Benzin enthält heute in Brasilien 20 %
Biokraftstoff. Dank dieser Umstellung ist Brasilien inzwischen unabhängig von Importen.
Brasilien ist inzwischen auch der viertgrößte Markt für Kosmetik und Körperpflege
auf der Welt. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts betrug die durchschnitt-
liche jährliche Zuwachsrate dieser Branche fast elf Prozent. Die Erklärung hierfür ist
simpel: Der wachsende Anteil von Frauen an den Beschäftigten sowie eine allgemein
höhere Lebenserwartung haben das Verbraucherverhalten stark verändert. Außerdem
wächst der Druck, einen wohlhabenden und jugendlichen Eindruck zu hinterlassen. 15
große Wettbewerber dominieren 72 % dieses Marktes. International aufgestellte Firmen
wie Unilever, Avon, Nivea und Colgate-Palmolive sind die führenden Anbieter, müssen
sich aber wachsender lokaler Konkurrenz von neuen Champions wie Natura und Boti-
cario erwehren. Brasilien ist außerdem der drittgrößte Hersteller von Schuhen und der
fünftgrößte Absatzmarkt für Schuhe. In der Bekleidungsbranche sind lokale Wettbewer-
ber stark. Mit der Mittelschicht ist zuletzt auch der Tourismus stark gewachsen. Eine der
großen Erfolgsgeschichten des Landes ist der Flugzeugbau. Embraer ist der schärfste
Konkurrent der kanadischen Bombardier um die Führung im globalen Markt für Regio-
naljets geworden. Embraer startete in den 1970er Jahren, expandierte erstmals stark nach
8.4 Vom Krisenland zur lateinamerikanischen Führungsmacht … 211
der Privatisierung im Jahr 1994 und eroberte sich nach 2006 eine starke Marktposition.
Brasilien hat um Embraer herum eine ganze Lieferindustrie aufgebaut. Mit über 18.200
Beschäftigten machte das frühere Staatsunternehmen 2015 etwas mehr als 5,9 Mrd. US$
Umsatz. Die Bruttomarge liegt bei fast 20 %.
Brasilien gilt auch als einer der führenden IT-Märkte in den Schwellenländern. Im
Land gibt es mindestens 70 Gewerbeparks für die Techindustrie, einschließlich im Groß-
raum Rio, wo Technologie entwickelt wird, um die großen Offshore-Vorkommen der
Ölindustrie zu erschließen und zu bergen. Eine weitere Techdrehscheibe in Brasilien ist
Campinas, das ungefähr 100 km nördlich von São Paulo liegt. Die Stadt mit über einer
Million Einwohnern gilt als das Silicon Valley Brasiliens. Der Umsatz mit IT-Produkten
hat zur Mitte des Jahrzehnts in dem südamerikanischen Land mehr als 130 Mrd. US$
erreicht. Knapp über 70 % dieser Nachfrage richten sich auf den Telekomsektor. Der
lokale Telekommarkt ist der siebtgrößte der Welt. Die Regierung hat diese Branche in
den 1990er Jahren privatisiert. Der Durchbruch waren die Aufspaltung und der Verkauf
der kontrollierenden Mehrheit des Staates an Telebras im Juli 1998, die als größte Pri-
vatisierung Lateinamerikas in die Geschichte einging. Zuvor hatte Telebras 95 % der
Telekominfrastruktur beherrscht. Im Sommer 2012 kündigte Brasiliens Regierung ein
mehrjähriges IT-Programm an. Das als „Plano Maior“ vorgestellte Projekt soll die Soft-
ware- und IT-Industrien fördern und sowohl Arbeitsplätze als auch Anreize für Firmen-
gründungen in den Sektoren schaffen.
In einem vibrierenden und bunten Land wie Brasilien gibt es auch eine blühende krea-
tive „Industrie“. Ihre berühmtesten Repräsentanten sind weit über die Grenzen Brasiliens
hinaus bekannt und populär. Einer der bekanntesten ist der Bestsellerautor Paulo Coelho,
der sich bei Lesern in Europa und Nordamerika enormer Beliebtheit erfreut. Starbucks-
Kunden dürften auch mit dem Namen der Sängerin Céu vertraut sein. Sie war die erste
nicht-amerikanische Künstlerin, von der ein Album für die Hear-Music-Debut-Serie der
Kaffeekette ausgewählt wurde. Auch der Comicfiguren-Zeichner Mauricio de Souza ist
ein gutes Beispiel. Er hat seine Karriere mit 17 Jahren als Gerichtsreporter begonnen und
später über 200 verschiedene Charaktere entworfen. In China wurde er für ein großes
Projekt angestellt, in dessen Verlauf 180 Mio. Kindern Lesen und Schreiben beigebracht
werden soll. Kinofreunde dürften auch mit dem Namen des Filmregisseurs Fernando
Meirelles vertraut sein. Sein Streifen „City of God“ wurde 2004 für einen Oscar nomi-
niert. Der Film handelte von der Gewalt in den Armenvierteln Rio de Janeiros.
der Börsen verdoppelte sich von 35 % des BIP im Jahr 2000 auf 74 % im Jahr 2010. In
den acht Jahren bis 2004 hatte das Land lediglich sechs Börsengänge erlebt. In den acht
Jahren, die folgten, waren es 138.
Brasilien verdankt seine Stabilisierung in den vergangenen 20 Jahren vor allem vier
wichtigen Faktoren. Erstens: Es gab mehr von seinem neuen Reichtum für die öffent-
liche Infrastruktur aus. Zweitens wurde die Armut drastisch reduziert. Drittens: Redu-
zierte Einfuhrzölle und ein moderneres Einfuhrregime machten es internationalen
Firmen leichter, ihre Produkte in Brasilien zu verkaufen. Viertens sorgten Reformen des
Justizsystems für mehr Vertrauen in die Institutionen. Die durchschnittliche BIP-Wachs-
tumsrate betrug von 2002 bis 2012 im Schnitt jedes Jahr um 4,5 %. Die meisten sozialen
Indikatoren haben sich in diesem Zeitraum deutlich verbessert.
Doch große Herausforderungen bleiben. Investoren, Wissenschaftler und Bankana-
lysten verweisen auf vier wichtige Hausaufgaben. Hohe öffentliche Ausgaben, angeheizt
von den umfangreichen sozialen Programmen, tragen zu relativ hohen Zinsen bei. Viele
brasilianische Konsumenten zahlen auf ihre Schulden monatlich zehn Prozent Zinsen bei
der Bank. Das Land hängt außerdem noch zu sehr vom Export von Rohstoffen ab, was
zu einer starken Währung führt und die Ausfuhren der Industrie verteuert („holländische
Krankheit“). Das hat weitreichende Konsequenzen. Brasiliens Industrie hat Probleme,
international wettbewerbsfähig zu werden. Das wiederum macht es schwieriger, sich von
der Rohstoffabhängigkeit zu lösen. Die Korruption bleibt ein großes Problem. Amnesty
International (2016) führt Brasilien an 79. Stelle von 176 beobachteten Ländern. Auch
umfangreiche Regulierungen und das komplizierte Steuersystem stehen in der Kritik.
Der brasilianische Industrieverband nennt diese Zusatzkosten „Custo Brasil“.
Auch die soziale Ungleichheit bremst die Wirtschaft. Es gibt Berechnungen, wonach
das Land jedes Jahr zwei bis drei Prozentpunkte schneller wachsen könnte, wenn die
Armut eliminiert wäre. Die zehn Prozent Brasilianer an der Spitze der Einkommens-
pyramide kommen für 43 % des gesamten Konsums auf. Die unteren zehn Prozent der
Verdiener bestreiten lediglich 1,1 %. Dass die soziale Ungleichheit groß bleibt, sieht
man auch an den Leistungen des Bildungssystems. In der alle drei Jahre durchgeführten
PISA-Studie liegt Brasilien an 53. Stelle von 65 Ländern.
Einer der zentralen Gründe für Brasiliens rasche Transformation in eine Konsumge-
sellschaft ist, dass das Land eine vergleichsweise frühe Urbanisierung erlebte. Laut der
Weltbank ist das Land in den vergangenen 30 Jahren eine vollständig urbanisierte Nation
geworden. Der Verstädterungsgrad hat über 80 % erreicht. In den drei Jahrzehnten bis
zum Jahr 2000 haben Brasiliens Städte mehr als 80 Mio. Menschen aufgenommen. Für
Brasilien war das ein großer Kraftakt, zu dessen Folgen die extreme soziale Ungleichheit
gehört. Die Urbanisierung vollzog sich über vier verschiedene Perioden. Die erste Runde
fand während der Kolonisierung statt, die zweite im späten 19. Jahrhundert. Die dritte
214 8 Brasilien – Der grüne Gigant
begann in den 1930er Jahren und dauerte etwa fünf Jahrzehnte. Die jüngste Urbanisie-
rungswelle begann in den 1980er Jahren.
Die frühe und rasche Urbanisierung Brasiliens beschrieben 2010 in einem ausführ-
lichen Papier die Forscher Martine und McGranahan (2010). Demnach waren die euro-
päischen Kolonialherren weniger an der Siedlung interessiert als an der Ausbeutung der
Reichtümer in den besetzten Gebieten. Portugiesische und spanische Entdecker entwar-
fen ein urbanes System für die Ausbeutung der Vorkommen. Die rohstoffreichen Regio-
nen wurden Versorgungszentren für die Verfrachtung der Rohstoffe nach Europa. Gold,
Diamanten, Kautschuk, Vieh, Zucker und Kaffee ließen die ersten Ballungsgebiete ent-
stehen. Bis heute ist diese koloniale Landkarte entlang der Küste Brasiliens zu erkennen.
Zwischen 1880 und 1930 kamen vier Millionen Migranten nach Brasilien. Rund 70 %
von ihnen ließen sich im Bundesstaat São Paulo nieder. Das war die zweite Welle der
Urbanisierung. Sie wurde durch bessere Verdienstmöglichkeiten und eine innerbrasilia-
nische Binnenwanderung zusätzlich forciert. Das frühe Entstehen einer Nahrungsmittel-
industrie und der Eisenbahnbau legten in dieser Zeit den Grundstein für die Dominanz
der Achse Rio-São Paulo. Eine dritte Welle der Migration wurde in Gang gesetzt, als die
Große Depression und das Börsendebakel von 1929 die Preise für Brasiliens Agrargü-
ter zum Einsturz brachten. Viele Brasilianer setzten sich in den 1950er und 60er Jahren
in den Westen des Landes und in die Region Amazonas in Bewegung. Viele Einwande-
rer, die wegen des Kaffee-Booms nach São Paulo gekommen waren, wechselten in die
Industrie. Nicht wenige wurden damit reich.
Bei einer Urbanisierungsrate von 2,5 % pro Jahr beschleunigte das Bevölkerungs-
wachstum von 3,5 % pro Jahr in den 1950er Jahren die Urbanisierung dramatisch. Bra-
siliens Regierung fürchtete, dass arme Migranten vom Land die Städte überschwemmen
könnten. Dennoch gab es kaum Pläne für das urbane Wachstum. Das Resultat ist eine
völlig unausgewogene Urbanisierung, bei der große Bevölkerungsteile sich an schlech-
ten Standorten und in schlecht versorgten Siedlungen niederließen. Erst in jüngster Zeit
haben Städte wie Porto Alegre damit begonnen, systematisch an der Reduzierung der
enormen Ungleichheit zu arbeiten.
wirtschaftlichen Weltordnung lauter werden und gab Schwellenländern eine besser hör-
bare Stimme auf der internationalen diplomatischen Bühne.
Brasiliens Aufstieg als eine führende Stimme in der G20 wird von den Gipfel-Doku-
menten der Gruppierung seit 2004 belegt. Seit diesem G20-Treffen in Berlin forderte
Brasilien einen besseren Umgang mit Staatspleiten und verlangte in diesem Zusammen-
hang, dass der IWF eine entsprechende Einrichtung zur Krisenverhütung braucht. Beim
zehnten Treffen der G20-Minister 2008 in São Paulo war Brasilien eines der Länder, die
am vehementesten eine Reform der Bretton Woods-Organisationen forderten. Beim fünf-
ten G20-Gipfel in Toronto im Juni 2010 schloss sich Brasilien Kanada und einigen der
nicht zur G8 gehörenden Länder an, die gegen Frankreichs Forderung nach einer Ban-
kensteuer votierten. Seitdem macht sich Brasilien vor allem, aber nicht nur, gegen eine
zunehmende Nutzung von Wechselkursen als Mittel des Außenhandels stark.
Mehr als acht von zehn internationalen Investoren erwarten, dass sich Brasiliens Pers-
pektiven in den kommenden Jahren verbessern. Das ist eines der wichtigsten Ergebnisse
des jüngsten „Brazil Attractiveness Survey“ der Beratungsgesellschaft EY (2014). Dieser
Bericht wurde zwar vor der aktuellen Flaute erstellt. Doch im Jahresbericht von EY Bra-
zil für 2014 wird betont, dass das Beratungsgeschäft in dem Land im Kalenderjahr um
knapp 27 % gewachsen ist, weil Brasiliens Firmen drastisch Kosten senken und deutlich
mehr Effizienz anstreben. Im Klartext: Sie stellen sich bereits auf die nächste Wachstum-
sphase ein. Die Industrien, von denen in den kommenden Jahren der größte Beitrag zum
Wachstum der Volkswirtschaft erwartet wird, sind nach Öl und Gas der Tourismus, die
Landwirtschaft, Nahrungsmittel, das Transportwesen, die Autoindustrie und Konsumgü-
ter. Nach der Rolle Brasiliens im Jahr 2020 befragt, antworteten über 30 % der Mana-
ger, dass sie Brasilien als einen führenden Energieproduzenten sehen. Knapp jeder Vierte
sieht deutliche Verbesserungen in der Infrastruktur, und fast ein Viertel der Teilnehmer in
der Umfrage sieht Brasilien als neuen „grünen Giganten“.
Im Sommer 2012 publizierte die DB Research ihren eigenen mittelfristigen Ausblick
für Brasilien. Dort wurden die hier bereits erörterten Schwächen der brasilianischen
Wirtschaft aufgelistet, darunter unzureichende Investitionen und langsame Reformen.
Doch der Bericht betonte Brasiliens „solide wirtschaftliche Fundamentaldaten“ – unter
anderem eine vergleichsweise geringe Staatsverschuldung und den wachsenden Kon-
sum. Ausdrücklich wird in dem Papier der Deutsche Bank Research (2012) gewarnt:
die gegenwärtige Schwäche in ein Szenario für die Zukunft zu übertragen, sei ein Feh-
ler. Das Papier listet einige günstige Faktoren auf, die den Konsum in den kommenden
Jahren antreiben werden, darunter das Potenzial für mehr Investitionen und die positive
Rolle der Notenbank. Die historisch geringe Arbeitslosigkeit sollte ebenfalls eine der
Stützen für den Konsum sein. Außerdem hat Brasilien, das seit 2008 ein Netto-Gläubiger
ist, einigen fiskalischen Spielraum, um die Wirtschaft anzuschieben.
216 8 Brasilien – Der grüne Gigant
Noch optimistischer ist der Kolumnist James Dale Davidson (2012) vom Spezial-
Newsletter Newsmax Financial Intelligence Report. Davidson sieht Brasilien in der Rolle,
die die USA vor mehr als 100 Jahren eingenommen hatten. Er erwartet Migration nach
innen, soziale Mobilität nach oben und einen langfristig anhaltenden Rohstoff-Boom.
Nach über 20 Jahren politischer und wirtschaftlicher Stabilisierung ist Brasilien selbst
so etwas wie eine Marke geworden. Das Schwellenland repräsentiert einen der größten
aufstrebenden Märkte, Vitalität, Vielfalt, Freude am Leben, Innovationskraft und Flexi-
bilität. Brasilien ist sehr zuversichtlich, was die eigene Zukunft betrifft. Wenn man Fuß-
ballfreunde konsultiert, dann hat das Land bereits 1958 mit dem Gewinn seiner ersten
Fußball-WM in Schweden die erste international bekannte Marke kreiert. In den Augen
von Musikfans könnte das genauso gut für die populäre Bossa-Nova-Musik gelten, die
den brasilianischen „Swing“ und Optimismus verkörpert. Marketingexperten dage-
gen dürften als die erste globale Marke aus Brasilien den Sportartikler Osklen betrach-
ten. Schon 2012 betrieb Osklen 63 Läden in seinem Heimatmarkt und in zehn anderen
Ländern. Mittlerweile verkauft das Unternehmen seine Markenprodukte in 30 Ländern
weltweit, darunter in Italien, Portugal, Japan und der Schweiz. Mit wachsender Präsenz
in hochwertigen Modegeschäften und regelmäßiger Teilnahme an prominenten Mode-
schauen ist Osklen eine der führenden Sportmarken der Welt geworden.
Und es ist bei Weitem nicht die einzige international bekannte Modemarke aus Brasi-
lien. Über Bikinis, Havaianas und Victoria’s-Secret-Models hinaus gibt es viele weitere
etablierte Marken wie Issa, Carlos Miele, Alexandre Herchcovitch und Lucas Nasci-
mento. Die Zeitschrift Vogue hat im September 2014 den brasilianischen Designer mit
Sitz in London als „Strickwaren-Genie“ bezeichnet (Zarrella 2014). Mode, sagen Insider,
ist in Brasilien längst zu einem Ausdruck von Kultur geworden. Der britische Guardian
(Jennings 2012) stellte unlängst ganz neidisch fest, Brasilien besitze ja schon das Mono-
pol auf all die guten Dinge im Leben – Strände, Sonnenschein, Karneval und Caipirinha.
Die Modeindustrie im Land hat einen jährlichen Umsatz von 63 Mrd. US$ erreicht.
Damit ist Brasilien bereits der viertgrößte Textilproduzent auf der Welt und beschäftigt
in dieser Branche 1,7 Mio. Menschen. Die brasilianische Ausgabe der Vogue hatte im
Herbst 2015 bereits 460.000 Leser. Aber die Herausforderungen der Modeindustrie sind
typisch für viele Branchen in dem südamerikanischen Land: Hohe Steuern und fehlendes
Know-how errichten zusammen Hürden gegen eine Transformation des riesigen lokalen
Fashion-Marktes in einen wahrhaft globalen Markt.
Mode ist nicht die einzige Branche, in der Brasiliens neue Champions versuchen,
weltweit zu expandieren. Nehmen wir Predicta, eines der ersten und vielversprechends-
ten Start-ups in der brasilianischen Tech-Szene. Predicta ist ein Medienberater und
Social-Media-Spezialist. 2012 wurde es zum innovativsten Unternehmen Brasiliens
gekürt. Im selben Jahr präsentierte Predicta in San Francisco eine neue App, mit deren
8.8 Aufstieg lokaler Marken 217
Paulo lockten, umgab sich die Marke mit Eleganz und hob sich geschickt von der Kon-
kurrenz ab, die billiges Bier an die Bars verkauft. Natura landet auf der sechsten Posi-
tion dieser Rangliste von The Brazil Business, gefolgt von Brahma, dem nach Umsätzen
zweitbesten Bier in Brasilien.
Eine der meistbeachteten Ranglisten ist die Most Valuable Global Brands von Mill-
ward Brown (2015). In der Ausgabe 2015 finden sich unter den fünf führenden Marken
Lateinamerikas mit Skol (1.), Brahma (3.) und Natura (5.) drei brasilianische Marken.
Skol wird in der Liste der zehn schnellsten Aufsteiger mit einem Zuwachs des Marken-
wertes von 702 % in den vergangenen zehn Jahren an fünfter Position geführt, vor Veri-
zon, Google und SAP. In der Liste der 50 wertvollsten Marken Lateinamerikas, die WPP
und Millward Brown Ende September 2015 veröffentlichten, überholte Skol die mexika-
nische Biermarke Corona (beide gehören zur AB InBev), weil der Markenwert von Skol
mit 20 % in einem Jahr dreimal so schnell gewachsen ist wie der von Corona mit sechs
Prozent. Multinationale Eigentümer wie AB InBev und SAB Miller hätten es den Bier-
marken erlaubt, sehr präzise Segmentierung und Zielgruppenansteuerung miteinander zu
verbinden, hieß es bei Millward Brown, wo darauf verwiesen wurde, dass in wirtschaft-
lich schwierigeren Zeiten eine stärkere emotionale Bindung zwischen der Marke und der
wachsenden Mittelschicht weiterhin Wachstum erlaubt.
Millward Brown (2015) bestätigt den brasilianischen Konsumenten derzeit eine Art
Katerstimmung und gibt an, dass sie ihr Geld derzeit vorsichtiger ausgeben. Etablierte
Marken werden gewarnt, dass sich die Konsumenten in diesem Umfeld vorerst für Mar-
ken entscheiden könnten, die „gut genug“ sind oder bei vergleichbarer Qualität eine
günstigere Alternative darstellen. Doch diese Offenheit für erschwinglichere Alternativen
sei eine Chance für kleinere oder neue Marken. Zudem würden sich derzeit Marken nach
den hohen Aufwendungen für Werbung während der Fußball-WM verstärkt den sozialen
Medien zuwenden.
Eine Beschreibung von Brasiliens aufsteigenden Marken kann nicht vollständig sein,
ohne die erfolgreiche Schuhindustrie zu würdigen. Brasilianische Schuhe werden von
Frauen überall auf der Welt getragen, von New York bis Shanghai. Die beiden führen-
den lokalen Firmen sind Grendene und Havaianas. Grendene machte erstmals in den
1970er Jahren Schlagzeilen, als es innovative Sandalen mit injiziertem Plastik auf den
Markt brachte. Es war der erste Hersteller von Schuhen, der seine Produkte in Seifen-
opern vorstellte. In den 1980er Jahren feierte das Unternehmen erste Erfolge auf Märk-
ten außerhalb Brasiliens. Läden auf der ganzen Welt haben Markenschuhe von Grendene
wie „Ipanema“ und „Gisele Bündchen“ in ihre Regale gestellt. Grendene exportiert seine
Markenware inzwischen in 90 Länder. 2011 machte der Hersteller mit einer Innovation
Schlagzeilen, als er zusammen mit dem italienischen Designer Gaetano Pesce Stiefel sei-
ner Melissa-Marke herausbrachte, die an die Füße des Kunden angepasst werden kön-
nen.
Havaianas, der andere inzwischen weltbekannte Hersteller aus Brasilien in diesem
Segment, ist am bekanntesten für seine Flip-Flops. Ihr Design basiert auf den „Zori“,
Sandalen, die japanische Einwanderer in Brasilien gerne tragen. Die Schuhe wurden
8.9 Brasiliens aufsteigende Mittelschicht 219
zuerst als billiges Fußwerk für brasilianische Bauern entworfen. Schon in den 1990er
Jahren tauchten im brasilianischen Fernsehen die ersten Stars mit Havaianas auf. 1998
wurde für die Fußball-WM ein Flip-Flop mit der brasilianischen Flagge entworfen. Das
Modell wurde umgehend ein Erfolg. Seit 2003 werden Havaianas bei den Oscar-Verlei-
hungen promotet und an die nominierten Schauspieler vergeben. Selbst Hollywood-Stars
wie Jennifer Aniston und Eva Longoria werden regelmäßig in Beverly Hills in ihren
Flip-Flops gesehen. Inzwischen kann man die berühmten Sandalen sogar an den Strän-
den von Sidney und in Italien aus dem Automaten kaufen.
ihre Gewohnheiten verändern. Weil derzeit wieder mehr auf die Preise geachtet wird, ver-
wenden Marketingprofis mehr Aufmerksamkeit und Zeit auf die Unterscheidung und Ana-
lyse der einzelnen Einkommensschichten sowie auf die regionalen Unterschiede im Land.
Die größte Expansion erlebte die Mittelschicht in jüngster Zeit im Nordosten des Landes,
wo die C-Klasse der Einkommenspyramide seit Beginn des vergangenen Jahrzehnts von
22 auf 42 % der Bevölkerung gestiegen ist. Im hoch industrialisierten und dicht bevölker-
ten Südosten wuchs in dieser Zeit die Mittelschicht um elf Prozentpunkte auf 57 % an.
Brasilien ist laut dem Instituto Target der Getulio-Vargas-Stiftung nun mit seiner Mittel-
schicht an 18. Stelle der 20 größten Konsumgesellschaften. Doch die neue Mittelschicht
ist nicht die einzige große „Story“ für Marketingexperten und Markenspezialisten in Bra-
silien. Laut der Weltbank gibt es auch eine „vulnerable class“, eine Schicht verletzlicher
Einkommensbezieher, die zwar aufsteigen, aber noch nicht zur C-Klasse gehören.
Die Weltbank (World Bank 2012) bescheinigt dieser Beinahe-Mittelschicht eine sig-
nifikante Aufwärtsmobilität. Diese Einkommensschicht war zuletzt der größte Treiber für
das Entstehen neuer Marken in Brasilien. Und Marketingexperten wollen den Fehler, den
sie mit der C-Klasse gemacht haben, nicht wiederholen. Jahrelang wurden sie wie Konsu-
menten behandelt, die nur ein begrenztes Ausgabenpotenzial haben. Sie bekamen die Pro-
dukte mit einfachen Verpackungen und kleineren Portionen präsentiert. Doch das hat sich
gründlich geändert. Inzwischen werden Kosmetik- und Gesundheitsabteilungen sogar in
Kaufhäusern und Märkten mit Kunden aus den unteren Einkommensschichten eröffnet.
Man findet sogar erste Salons in den Slums. Persönliche Ausgaben, die das Erscheinungs-
bild verbessern, nehmen auch in den unteren Lagen der Einkommenspyramide zu.
Denn vor allem der Kauf auf Raten hat viele Marken, die bisher der C-Klasse vor-
enthalten waren, auch für die Bezieher niedrigerer Einkommen erschwinglich gemacht.
Wenn ein günstiges Auto in 60 Raten bezahlt werden kann, sieht es auch für Mitglie-
der der D-Klasse erschwinglich aus. Alberto Serrentino, Seniorpartner bei GS&MD, der
Marketingstrategien für zahlreiche brasilianische Retail- und Konsumgüterfirmen ent-
worfen hat, erklärt, Brasilien sei vielleicht der einzige Markt auf der Welt, wo sie ein
T-Shirt kaufen und in sechs Raten bezahlen können (Ritz G-5 2013). Die Mittelschicht
in Brasilien ist nicht nur sozial sehr mobil, sie zeigt auch angesichts der Flaute in der
Wirtschaft erhebliche Widerstandskraft. Eine Studie der Vargas-Stiftung über die Folgen
der Finanzkrise 2008 stellt eindeutig fest, dass die europäische Krise nicht in Brasiliens
Geldbeuteln ankam. In den zwölf Monaten bis Januar 2012 fiel die Armutsrate um 7,9 %
dreimal so schnell wie in den Milleniumszielen der UN angestrebt (Fundação Getulio
Vargas 2012).
Die meisten Einzelhandelsfirmen würden sich Brasilien anschauen und ein Nirwana
sehen, sagt der brasilianische Retailexperte Alberto Serrentino (Ritz G-5 2013). Sie wür-
den die Größe der brasilianischen Wirtschaft mit den USA oder Europa vergleichen und
8.10 Einkommensschichten und Segmentierung 221
dann ihre Zahlen auf Brasilien projizieren. Das sei ein riesiger Fehler. Laut Serrentino
ist es unerlässlich, die enorme Vielfalt der sozialen Klassen und die unterschiedlichen
Konsumgewohnheiten in diesem riesigen Land sorgsam in eine Markenpositionierung
einzubeziehen, wenn diese effektiv sein soll. Serrentino sagt, es gebe 5565 Städte in Bra-
silien, und nur drei Prozent davon würden 50 % des gesamten Konsums ausmachen. Der
Markt ist riesig, er wächst, aber er ist stark konzentriert. Für internationale Marken mit
Stoßrichtung Brasilien sind das aber gute Nachrichten. Denn sie versprechen vor allem
für den noch nicht stark erschlossenen Norden des Landes viel künftiges Wachstum.
Die brasilianische Gesellschaft ist offiziell eingeteilt in fünf soziale Klassen, die ihren
Ursprung in den 1950er Jahren haben, als das Land schon einmal einen Boom erlebte.
Obwohl manche Wissenschaftler das Konzept sozialer Klassen für überholt halten, fin-
den es Marketingexperten und Markenstrategen für die Navigation des brasilianischen
„Nirwana“ – wie Serrentino das Land nennt – sehr hilfreich. Die übliche Methode der
Unterscheidung bedient sich der Buchstaben A bis E. Die höchste Einkommensklasse ist
„A“. Der offiziellen Unterscheidung zufolge verfügen die Mitglieder der Klasse A über
ein monatliches Bruttoeinkommen von über 4990 US$ (alle Zahlen zu einem Wechsel-
kurs von 1 brasilianischen Real = 0,489 US$ umgerechnet). Im Einkommenssegment
„B“ sind es monatlich über 2500 US$, bei „C“ mehr als 997. In die Einkommensstufe
„D“ fallen Verdiener mit mehr als 498 US$, „E“ liegt unter dieser Schwelle.
Zur obersten Stufe gehören Banker, Investoren, Unternehmer, Landbesitzer und hoch
qualifizierte Spezialisten, die außerordentlich gut bezahlt werden. In B findet man Direk-
toren, Manager, Politiker, Richter, Professoren, Ingenieure und Anwälte. Der Klasse
C gehören meist Menschen an, die Dienstleistungen für die höheren Verdienstgruppen
erbringen. Darunter sind Lehrer, Mechaniker, Elektriker und Krankenschwestern. In D
finden wir Hausmädchen, Bauarbeiter und Verkäufer. In E sind es eher Bezieher von
gesetzlichen Mindesteinkommen: Putzfrauen, Straßenreiniger und Arbeitslose. In Bra-
siliens Norden und Nordosten sowie im zentralen Westen herrschen die Einkommens-
klassen D und E vor. Die Topverdiener in A und B wohnen und arbeiten dagegen ganz
überwiegend in São Paulo oder Rio. Am besten kann man die enormen Einkommensun-
terschiede in den großen Städten sehen. In A und B haben die meisten Einkommensbe-
zieher eine höhere Schulbildung. Vor allem die jüngeren Mitglieder sprechen oft mehrere
Sprachen. In der sozialen Schicht C haben die meisten einen High-School-Abschluss. In
D sind viele ohne einen Schulabschluss. Im Segment E haben viele Menschen nicht die
Grundschule besucht und können weder lesen noch schreiben.
Zwischen den einzelnen Einkommensschichten gibt es teils starke Überschneidungen.
Aber sie unterscheiden sich erkennbar hinsichtlich Lebensstil und Werten. In den bei-
den oberen Einkommensstufen sind viele Unternehmer und Manager, denen es um Geld
und Karriere geht. In der aufstrebenden Mittelschicht findet man viele aufwärts mobile
Brasilianer aus dem Hinterland, aber auch beruflich Ehrgeizige aus den Städten. Die Mit-
telschichtklasse C stellt die meisten Konsumenten. Sie treiben den Verkauf von Autos,
Wohnungen, Handys und Elektronikprodukten an. Sie sind mittlerweile das Hauptziel
von internationalen Marken. Die Shoppingmalls in Brasiliens größten Städten machen
222 8 Brasilien – Der grüne Gigant
über 50 % ihres Umsatzes mit dem Segment C. D und E repräsentieren etwa ein Vier-
tel der Brasilianer. Aber auch die Topverdiener sind eine große Gruppe. Die Klassen
A und B machen 21 % der Bevölkerung aus. Die starke Aufwärtsmobilität in Brasilien
wird durch eine andere Zahl deutlich: In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts
schrumpften die beiden unteren Einkommensstufen D und E um 50 % auf weniger als
48 Mio. Das Wachstum von C betrug beachtliche 62 %, auf 101 Mio. Menschen. Wichtig
für Marketingstrategen: Eindrucksvolle 45 % der Brasilianer in der Einkommensklasse C
sind bereits in den sozialen Medien aktiv. Das ist der Grund, warum immer mehr Marke-
tingleute sich auf Plattformen wie YouTube, Twitter und Facebook konzentrieren.
Nur wer sich auf die spezifischen Gewohnheiten und Konsumwünsche der verschie-
denen Einkommensklassen in Brasilien richtig einstellt, kann Erfolg haben. Vor allem
aus diesem Grund müssen lokale Wettbewerber mit ihren detaillierten Marktkenntnissen
sehr ernst genommen werden. Eine präzise Navigation kann einen großen Unterschied
machen. Manchmal sind es sogar scheinbare Kleinigkeiten, die über Erfolg oder Miss-
erfolg entscheiden. Als die Retailkette Casas Bahia erkannte, dass Kunden aus C Möbel
mit verspiegelten Türen lieben, weil diese ihre kleinen Wohnungen größer aussehen
lassen, legte ihr Umsatz stark zu. Differenzierung ist entscheidend. Die ersten Einzel-
handelsketten wie Casas Bahia haben begonnen, sogar in den Slums Geschäfte zu eröff-
nen. Verbesserte Sicherheit, steigende Einkommen und die Verfügbarkeit von Krediten
haben auch diese letzte Retail-Front zugänglich gemacht. Auch statistisch ist dies nach-
vollziehbar. Ein Beispiel: Etwa 56 % der zwölf Millionen Brasilianer, die in Slums wie
Rocinha, der größten Favela in Rio, wohnen, wurden bereits 2011 im weitesten Sinne
der Mittelschicht zugerechnet. Zehn Jahre zuvor waren es lediglich 29 %. Diese Zahlen
stammen von dem Instituto Data Popular, einer Research-Gruppe in São Paulo (Biller
und Petroff 2012). In diesem Jahrzehnt haben selbst erste Geschäftsbanken wie Bradesco
und Santander Zweigstellen in den Favelas eröffnet, um weiter zu wachsen. Santander
hat jetzt sogar eine Niederlassung in dem Slum Complexo do Alemao, der lange Zeit so
gefährlich war, dass er den Spitznamen „Carioca Gaza Strip“ bekam. Das Geschäft der
Banken wird in diesen Slums von einem wachsenden Bedarf nach Girokonten angetrie-
ben, weil es in den vergangenen Jahren nicht nur mehr Arbeitsplätze in der Wirtschaft
gab, sondern auch immer besser verfügbare Kredite für Kleinstunternehmen wie Bars,
neue Läden und Wasserhändler.
In Brasilien sind nicht nur die meisten Superreichen (High-net-worth individuals, kurz
HNWI) in Lateinamerika zu finden, sondern auch innerhalb der BRIC. Es handelt sich
um Betuchte mit einem frei verfügbaren Vermögen von mindestens einer Million US-
Dollar. Zu Beginn des Jahrzehnts, bevor die Flaute begann, gab es im Land über 194.000
Superreiche. Sie hatten ein addiertes Vermögen von 951 Mrd. US$, was rund 29 % des
Volksvermögens entsprach. Der größte Teil davon – etwa ein Drittel – steckt in Immo-
8.11 Die Reichen und die Superreichen 223
Iguatemi-Mall besuchen. Wer das nicht schafft, dem steht ein Besuch auf dem Mall-eige-
nen Videokanal frei. Auch dort kann man sich davon überzeugen, dass in dem Einkaufs-
Mekka selbst Yachten, Hubschrauber und Luxusautos verkauft werden, Letztere in einem
Laden für Luxus-Spielzeuge.
Ende 2012 waren in Brasilien über 100 neue Malls im Bau. In der Einzelhandelsland-
schaft Brasiliens sind Malls wichtiger als bei uns im Westen. Denn in Brasilien gibt es
kaum Kaufhäuser für hochwertige Waren, und die Straßenkriminalität ist eine bedrü-
ckende Realität. Selbst Cafés in São Paulo beschäftigen Sicherheitspersonal. Dennoch
ist westlicher Luxus selbst für betuchte Brasilianer manchmal noch neu. Und es reicht
ihnen nicht, prestigeträchtige Produkte zu kaufen. Sie wollen dabei auch gesehen wer-
den. Je teurer eine Marke, desto besser. São Paulo ist daher die einzige Stadt mit vier
Tiffany-Läden. Und kein Geschäft von Louis Vuitton macht mehr Gewinn als der in
São Paulo. Wenn Geschäftsleute über die eskalierende Nachfrage der Brasilianer nach
Luxusware sprechen, reden sie vom „Samba Surge“. Diese Welle ist längst auch nach
Übersee geschwappt. Edelkaufhäuser wie Harrods, Mulberry und Burberry in London
wollen nicht auf ihre Kundschaft aus dem südamerikanischen Land verzichten.
Brasilien ist aus den bereits mehrfach genannten Gründen ein Mekka für Shopping-
zentren. Die jährlich mehr als 230 Mrd. US$ Umsatz im Einzelhandel sind jedoch zu
einem guten Teil geliehenes Geld. Konsumkredite waren vor zehn Jahren fast unbekannt.
Inzwischen machen sie fast die Hälfte des BIP aus. Etwa 60 % des Umsatzes in Bra-
siliens Einzelhandel, so schätzen Experten, werden mit Kreditkarten, Debitkarten oder
Kundenkarten getätigt. Der organisierte Handel, also Ketten, Kaufhäuser und Super-
märkte, bestreiten fast 40 % der Verkaufserlöse im Einzelhandel. Laut diesen Kennzif-
fern ist Brasilien im Einzelhandel weiter fortgeschritten als die übrigen Mitglieder der
BRIC-Gruppe. Der aktuelle Marktführer, Companhia Brasileira de Distribuicao (CBD),
der von der französischen Gruppe Casino kontrolliert wird und besser unter dem Namen
Pao de Acucar bekannt ist, hat 1948 als kleine Bäckerei begonnen. Unter den auslän-
dischen Wettbewerbern war Carrefour mit einem Markteintritt 1975 einer der Pioniere
(„early mover“) im Land. Obwohl lokale Firmen wie CBD und der Bekleidungshändler
Lojas Renner seit Jahren schneller wachsen als die internationale Konkurrenz, ist Brasi-
lien unter den BRIC-Ländern inzwischen der internationalste Markt. Die zehn größten
Retailer machen 60 % vom Umsatz.
Die Malls nehmen dabei eine besondere Rolle ein. Weil es an Kaufhäusern, Parkplät-
zen und Sicherheit mangelt, haben sich die Einkaufszentren zu einer Art Lifestyle-Biotop
entwickelt, die aus einer Mischung aus Einkaufs- und Entertainment-Welten bestehen
und als sichere und klimatisierte Oasen abseits der Straße fungieren, wo Diebe, tropi-
sche Hitze und massive Regenstürze eine echte Herausforderung sind. In der Riosul-Mall
von Rio de Janeiro arbeiten 100 Sicherheitsleute in drei Schichten, mehr als in jeder ver-
8.13 Herausforderungen und Hürden für internationale Markteinsteiger 225
gleichbaren US-Mall. Der Erfolg von Brasiliens Mall-Kultur ist so überwältigend, dass
Marken wie Marc Jacobs und Giorgio Armani ihre frei stehenden Läden geschlossen
und in Malls verlegt haben. Viele Topend-Malls in Brasilien gehen weit über das reine
Shopping-Erlebnis hinaus. Die Brasilianer gehen meist zwei- bis dreimal pro Woche in
die Einkaufszentren, öfter als Konsumenten in Nordamerika, wo man einmal im Monat
oder alle zwei Wochen shoppen geht. Für die Brasilianer ist Freizeitgestaltung der wich-
tigste Grund für den Besuch in einer Mall. Deshalb sind in vielen Einkaufszentren Kinos
und nicht große Retailketten die Hauptmieter. Die Konsumenten in Brasilien bevorzugen
Malls mit guten Restaurants, Fitness-Studios, Kinos, schöner Begrünung – und ausländi-
schen Marken.
Dabei werden Malls zunehmend vor den Toren der Stadt gebaut. Prognosen, wonach
sich bis zum Ende des Jahrzehnts weitere 40 bis 45 Mio. Brasilianer der Mittelschicht
anschließen werden, sind zwar kaum zu halten. Doch die neue Konsumgesellschaft ist
nicht mehr aufzuhalten. Die rasante Expansion ausländischer Ketten, deren Direktinves-
titionen 2011 noch um stattliche 92 % wuchsen, verzögern ihre Pläne. Doch sie alle wis-
sen, dass hier langfristig das Wachstum liegt.
Der Economist (2012) publizierte im Mai 2012 eine Analyse über „The B in BRICS“.
In dem Artikel wurden Stärken und Schwächen Brasiliens aufgezählt. Und obwohl
die Schlagzeile „The Brazil backlash“ (Der Brasilien-Rückschlag) lautete, wurde am
Ende ein unmissverständliches Fazit gezogen: Die Stärken sind real. Der Regierung
wurde jedoch nahegelegt, sich mehr mit den bekannten Schwächen zu beschäftigen
(siehe Abschn. 8.2). Die Flaute seit 2013 hat einige dieser Schwächen betont. Die
Sozialprogramme haben einen teuren Wohlfahrtsstaat geschaffen. Die Kreditkultur
hat in vielen Familien zu hohen Schulden geführt. Die Infrastruktur muss weiter ver-
bessert werden. Die Abhängigkeit vom Export der Rohstoffe ist weiterhin groß. Auch
in den Augen ausländischer Investoren gibt es einiges, was verbessert werden muss.
Brasilien ist ein relativ teurer Standort geworden, um Geschäfte zu machen. Vor allem
die Steuern sind recht hoch. Im Schwellenland-Universum liegt Brasilien in diesem
Punkt weit vorn. Die sogenannten „Brasilien-Kosten“ sind jedoch nicht nur eine Folge
hoher staatlicher Transferleistungen, sie sind zu einem guten Teil auch das Ergebnis
von staatlicher Ausgabenverschwendung und hohen Pensionen. Die Mindestlöhne sind
im Rahmen der Sozialprogramme so schnell gestiegen, dass sie jetzt deutlich höher
sind als in Vietnam oder Indien. Auch die Regulierung wollen ausländische Investo-
ren gelockert sehen. Der Economist brachte das Beispiel der Offshore-Ölindustrie, wo
65 % der Ausrüstung für Tiefenbohrungen der Tiefwasserförderung aus lokaler Pro-
duktion stammen müssen. Das verzögert die Ausbeutung neuer Vorkommen und treibt
die Kosten.
226 8 Brasilien – Der grüne Gigant
Doch es tut sich bereits einiges. In der Infrastruktur, wo 2011 schon einmal ein großer
Korruptionsskandal die Regierung erschütterte und lähmte, geht man mehr zu öffentlich-
privaten Projekten (ÖPP) über. Berücksichtigt man in Brasilien die gesetzlich festgelegte
Prozedur zur Genehmigung von Bauvorhaben, dann zieht sich das Bauvorhaben enorm
in die Länge. Unter den Brasilianern hat sich daher eine Art Kunstform entwickelt, um
bürokratische Hürden zu überwinden, von der Ausländer lernen können. Sie nennt sich
„jeitos.“ Brasilianer, die einen Führerschein, einen Pass oder einen Heiratsnachweis
brauchen, setzen gerne sogenannte „despachantes“ ein. Das sind professionelle Vermitt-
ler, die sich mit jeitos gut auskennen und bei den Behörden im Auftrag der Antragsteller
nachhelfen.
Wer sich in Brasilien engagiert, muss sich auch auf mögliche Engpässe im Strom-
netz einstellen. Vor allem im Nordosten des Landes kann das zum Problem werden. Die
Blackouts werden lokal als „apago“ bezeichnet. Knapp sind auch qualifizierte Arbeits-
kräfte. Ein Überblick des Arbeitsvermittlers Manpower vergab kürzlich an Brasilien die
Bronzemedaille unter den Ländern mit dem größten Mangel an Fachkräften. Außerdem
berichten verschiedene Manager, vor allem bei Luxusmarken, dass es auch sprachliche
Probleme geben kann, zum Beispiel, wenn Englisch verlangt wird. In seiner Attraktivi-
tätsanalyse beschrieb EY das Fehlen qualifizierter Arbeitskräfte als eine zentrale Schwä-
che der brasilianischen Wirtschaft.
8.14 Kulturelle Werte – Von Natur aus schön und gesegnet von
Gott
Jorge Duilio Ben Zabella Lima de Menezes (Jorge Ben Jor) wurde im März 1945 in
Madureira, einer Arbeitersiedlung von Rio, geboren. Er sang im lokalen Kirchenchor,
nahm brav an den Karnevals-Paraden teil und wollte ein Fußball-Star werden. Kurze Zeit
spielte er für Flamengo, die populärste Mannschaft in Rio de Janeiro. Als er 18 wurde,
bekam er seine erste Gitarre und brachte sich selbst bei, wie man sie spielte. In den 1960er
Jahren trat er in der „Bottles Alley“ auf, einer Sackgasse mit Nachtclubs, die als Wiege
des Bossa Nova berühmt geworden ist. Jorge nahm den Künstlernamen Jorge Ben an,
änderte ihn aber später in Ben Jor um, weil ein Teil seiner Lizenzeinnahmen irrtümlich
dem Konto von George Benson gutgeschrieben wurde. In den frühen 1960er Jahren wurde
Ben Jor von einem Produzenten bei Philips Records entdeckt und unter Vertrag genom-
men. Er kombinierte Elemente von Samba mit Blues, Rock und Funk. In den 60er Jahren
gelang ihm der Durchbruch in den lokalen TV-Sendungen. Er liebte es zu experimentie-
ren. Er galt als erster Künstler, der Samba mit einer elektrischen Gitarre spielte. Während
der Diktatur war Ben Jor vorsichtiger als seine Zeitgenossen in der Musikszene und ver-
mied Ärger mit den Generälen. Trotzdem waren die Militärs argwöhnisch und vermuteten,
dass sein Hit „Pais Tropical“ (Tropisches Land) eine verdeckte Botschaft enthielt.
Der Song gab Brasilien eines seiner berühmtesten Mottos: Gesegnet von Gott und
von Natur aus schön. In dem Lied hat Ben Jor sogar auf eine deutsche Marke verwiesen:
8.14 Kulturelle Werte – Von Natur aus schön und gesegnet von Gott 227
„Tenho um fusca e um violão Sou Flamengo“ (Ich habe meinen Volkswagen Käfer und
eine Gitarre, ich bin ein Flamenco-Fan), lautete eine der Zeilen. Jorge hat mehr als 700
Songs geschrieben. 1994 kamen mehr als drei Millionen Menschen zu einem seiner Kon-
zerte an der Copacabana. Schön zu sein, ist wahrscheinlich eines der bekanntesten brasi-
lianischen Klischees, obwohl es für seine Landsleute, seine Strände, seinen Fußball, seine
Mode und sein Klima gilt. In einer Untersuchung von Interbrand (2010) über die mögli-
chen Herausforderungen für brasilianische Marken auf dem globalen Markt wird das Land
für seinen Reichtum an Kurven gelobt. Das gelte für Frauen, für Berge, für Strände und
für Flüsse, selbst für die kurvige Poesie in Oscar Niemeyers Architektur. Die berühmteste
Feier für Brasiliens Schönheit und Sinnlichkeit ist bekanntlich die vier Tage währende
kostümierte Parade von Tänzern und Musikern beim Karneval in Rio. Die landesweite
Party erlaubt es den Brasilianern für kurze Zeit, die oft anstrengende und schwierige
Lebenswirklichkeit zu verdrängen. Laut Historikern zeigt der Karneval die vielen Dua-
lismen des brasilianischen Lebens: Reichtum und Armut, afrikanische und europäische
Vergangenheit, Männlichkeit und Weiblichkeit. Jeder kann mit einem Kostüm seiner Wahl
während der Festivitäten in eine imaginäre Rolle schlüpfen. Für ein paar wunderbare Tage
wird jegliche Hierarchie beseitigt und die Armut vergessen. Die schreienden Ungleich-
heiten des täglichen Lebens werden dann in einer riesigen Welle von Farben und Musik
ertränkt. Ein Karnevalstanz, der Frevo, wurde sogar von der UNESCO als Weltkulturerbe
anerkannt.
Kein Wunder also, dass die Schönheitsindustrie in Brasilien eine aufstrebende Macht
ist. Brasilien repräsentiert bereits zehn Prozent des Weltmarktes. Dabei geben Männer
für ihr Aussehen genauso viel Geld aus wie Frauen.
Was sind die wichtigsten Eigenschaften, Werte und Traditionen in dieser schönen
und bunten Gesellschaft? In einer Studie vom Juli 2012 über kulturelle Unterschiede in
Lateinamerika analysierte Jamie Gelbtuch (2012) die vorherrschenden Stereotypen und
fragte die Brasilianer selbst, wie sie von Menschen außerhalb ihres Landes gesehen wer-
den. Das Ergebnis: Die meisten Brasilianer denken, sie werden außerhalb ihrer Heimat
als ethnisch bunt, informell, europäisch und mit amerikanischen Einflüssen wahrgenom-
men. In den „Top 5 values“ wurde immer wieder „glücklich“ und „humorvoll“ genannt.
Gelbtuch erklärt, es gebe eine vorherrschende Meinung unter den Brasilianern, dass das
Land eine große Party und ein großes Durcheinander sei und sich alles auf den Karneval
fokussiere.
In einem Essay über die brasilianische Gesellschaft und Kultur untersuchte Andréa
Novais (2012) von Connection Consulting unlängst, warum sich Brasilianer so beneh-
men, wie sie es tun. Die erste Beobachtung ist, dass Brasilianer keinen großen Unter-
schied zwischen privater und öffentlicher Sphäre machen, weil sie sich durch Familie,
Nachbarschaft und Freundschaften zueinander in Beziehung sehen. Das erklärt unter
anderem, warum sie sich gegenseitig mit ihrem Vornamen ansprechen. Trotzdem geht es
in den meisten Firmen in Brasilien immer noch traditionell zu, mit klaren Hierarchien,
in denen jeder einen Vorgesetzten hat. Viele Unternehmen im Land sind familiengeführt.
Es gibt einen starken unternehmerischen Geist. Brasilien hat demnach die drittgrößte
228 8 Brasilien – Der grüne Gigant
Zahl an Unternehmern weltweit, nach China und den USA. Jeder vierte Erwachsene ist
selbstständig. Kleinunternehmen stellen zwei Drittel aller Jobs in der privaten Wirtschaft.
Frauen führen fast die Hälfte aller Start-up-Firmen im Land, während es weltweit gerade
einmal 37 % sind. Der Economist hatte schon 2008 festgestellt, dass es in Brasilien nicht
an unternehmerischen „Machern“ mangelt. Und eine Geschichte friedlicher Regierungs-
wechsel habe geholfen, die Bühne für ein angenehmes Tempo bei der wirtschaftlichen
Entwicklung zu bereiten (The Economist 2008).
Novais (2012) beschreibt die brasilianische Gesellschaft als Food-orientiert. Wenn
gefeiert wird, gibt es immer etwas zu essen, weil dies als Ausdruck von Wohlstand gese-
hen wird. Dieses Verhalten erstreckt sich auch auf die Wirtschaft, wo Geschäftsessen
eine wichtige Rolle spielen. Die Brasilianer geben laut Novais viel auf das Äußere, weil
sie glauben, dass das Aussehen etwas über die Position, die Bildung und das Alter aus-
sagt, ja sogar darüber, ob man ernst genommen werden kann oder nicht. Novais betont in
ihrer Auflistung auch, wie wichtig der Smalltalk in Brasilien ist. Egal, wie entscheidend
und wichtig ein geschäftliches Treffen ist, man spricht auch über das Wetter und andere
eher belanglose Themen. Die Erklärung für dieses Verhalten ist schlicht: Brasilianer
mögen keinen Überfluss an Formalität, und sie finden gerne heraus, wie jemand wirklich
ist. Deals macht man lieber mit Menschen, die man als Freunde betrachten kann. Wichtig
ist demnach auch: Wenn der brasilianische Partner etwas ernst nehmen soll, muss man es
ihm persönlich sagen und mit einer Umarmung. Pünktlichkeit hingegen ist nicht sonder-
lich wichtig, die Zeit gilt als relativ flexibles Konzept.
Viele Verhaltensweisen und Traditionen in Brasilien können mit dem kulturellen
Mosaik von Einflüssen aus Portugal, Afrika und anderen Teilen Amerikas erklärt wer-
den. Institutionen und Autoritäten wie die Kirche, die Generäle und die Landbesitzer
haben immer wieder versucht, bestimmte Regeln und Verhaltensnormen durchzusetzen,
oft ohne großen Erfolg. Viele Brasilianer ziehen es vor, so auszusehen, als würden sie
die Regeln befolgen, anstatt sie wirklich zu befolgen. Die Wurzeln dieses „brasiliani-
schen Stils“ liegen teilweise in der kolonialen Vergangenheit vieler ethnischer Gruppen
mit fernen Machtzentren sowie dem täglichen Widerstand gegen Kontrolle und Ausbeu-
tung. Lockerheit, Charme und ein gutes Gemüt sind eine Möglichkeit, die Brasilianer zu
beschreiben, Spontaneität und mangelnde Pünktlichkeit sind eine andere. Nicht konform
zu sein, ist jedenfalls eine der herausragenden Eigenschaften. Brasilianer führen einen
ständigen Kampf, um nicht legitimierter Macht zu entkommen, die durch Korruption,
Militärherrschaft oder Kolonialherren ausgeübt wird. Pragmatische Lösungen zu finden,
ohne dabei Wellen zu schlagen, ist daher eine nationale Kunstform geworden.
Die brasilianische Kultur ist vorwiegend kollektivistisch und familienorientiert.
Loyalität gegenüber der Gruppe und der erweiterten Familie ist sehr wichtig. Konfron-
tationen werden vermieden. Die Gruppenzugehörigkeit wird betont. Die Kinder sollen
gehorchen, und von den Lehrern wird erwartet, dass sie streng sind. Die Lebensqualität
hat einen hohen Stellenwert. Brasilien ist eine von Männern beherrschte Gesellschaft, in
der Frauen immer noch benachteiligt werden. Doch Frauen haben eine starke Präsenz im
Erwerbsleben und im Bildungssystem.
8.14 Kulturelle Werte – Von Natur aus schön und gesegnet von Gott 229
Wir haben in diesem Kapitel bereits beschrieben, wie stark Tänze, Rhythmen, ethni-
sche Vielfalt, soziale Mobilität und Optimismus die brasilianische Kultur prägen. Das ist
kaum ein Wunder in einer Gesellschaft, in der die Armutsrate in den sieben Jahren bis
2012 von 35 auf 22 % gefallen ist und in der im selben Zeitraum die Löhne um 40 %
stiegen, während die Arbeitslosigkeit von zwölf auf acht Prozent sank. Doch viele Bra-
silianer hängen weiterhin finanziell von fortgesetzten Sozialprogrammen ab. In diesem
Umfeld bedarf es einiger Leitsätze und Navigationshilfen, um die Konsumenten anzu-
sprechen, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen und ihr Vertrauen zu gewinnen, um erfolg-
reich eine führende Markenposition zu erreichen.
Eine erstaunlich große Zahl von Firmen neigt in Brasilien zu Extremen, indem entwe-
der exklusiv das Luxussegment angesteuert oder erschwingliche Produkte für die unte-
ren Einkommen angeboten werden. Doch die Einkommenspyramide hat sich, wie wir
bereits gezeigt haben, in den vergangenen Jahren drastisch verändert. Die attraktivste
und am schnellsten wachsende Zielgruppe ist die soziale Klasse „C“. Sie ist jetzt einein-
halbmal so große wie die Bevölkerung von Großbritannien und zählt mehr Mitglieder,
als Deutschland Einwohner hat. Die meisten dieser Konsumenten waren bis vor Kurzem
Geringverdiener. Aber jetzt sind sie auf der Einkommensleiter nach oben geklettert und
haben Zugang zu einer ganz neuen Welt mit verschiedenen Marken. Sie sind begeis-
tert von dieser Auswahl und sehnen sich danach, den Konsum, den sie sich früher nicht
leisten konnten, schnell nachzuholen. Ihre Aufwärtsmobilität ist kaum zu überschätzen.
Allein im Jahr 2011 haben 40 % der Bevölkerung Brasiliens neue Handys oder Smart-
phones gekauft. Ganz klar: Wer als Markenhersteller an der Party teilnehmen will, muss
die Klasse C ins Visier nehmen.
Inspiration und Optimismus sind dabei wichtige Schlüssel für die Öffnung brasilia-
nischer Märkte. Brasilianer reagieren nachweislich positiv auf Marken, die emotionale
und optimistische Bindungen herstellen. Zahlreiche Marken hatten einen großen Erfolg
in dem Land, weil sie die positive Haltung der Konsumenten ansprachen. Die Kampagne
8.15 Einflussfaktoren für den Markenaufbau in Brasilien 231
von Omo, „Schmutz ist gut“ (dirt is good), die in Brasilien gestartet und in den Rest der
Welt exportiert wurde, ist ein gutes Beispiel. Natura und Havaianas sind weitere Bei-
spiele. Natura ist sehr innovativ gewesen, indem es anstelle von Supermodels ganz nor-
male Frauen als Markenbotschafterinnen eingesetzt hat. Wenn die Markenidee positiv
und inspirierend ist, wird sie eine Chance haben.
Die Nutzung sozialer Medien kann den Markenaufbau wirksam unterstützen. Diese
Plattformen sind in Brasilien der zweitwichtigste Kanal für die Markenkommunika-
tion nach dem Fernsehen geworden. Die Brasilianer sind geradezu besessen davon, mit
ihren Freunden über die sozialen Medien zu kommunizieren. Sie gelten als die fünft-
größte Bevölkerung in den sozialen Netzwerken. Unterhaltung ist dabei enorm wich-
tig. Im digitalen Brasilien gibt es eine bedeutende Video-Kultur. Twitter und Facebook
sind enorm populär. Aber die Brasilianer wenden sich auch weiteren Kanälen zu, zum
Beispiel wenn es um die Verbesserung ihrer beruflichen Chancen geht. Das hat Lin-
kedIn in Brasilien zum Erfolg verholfen. Und Instagram sowie Pinterest sind unter
Brasiliens Frauen sehr beliebt, vor allem weil sie visuelle Formen der Kommunikation
bevorzugen. „Die Brasilianer wollen nicht wissen, dass sie am Strand sind“, erklärt der
Marketingstratege Rafael Cunha, „sie wollen sehen, dass sie am Strand sind“ (Hollis
2012).
Internationale Marken müssen sich auf ernst zu nehmende lokale Konkurrenz ein-
stellen. Es ist entscheidend, das lokale Wettbewerbsumfeld zu kennen und einen guten
Partner auszuwählen. Lokale Marken haben laut Insidern viel Boden gut gemacht. Brasi-
lianische Konsumenten sind zwar begeistert von berühmten Marken, doch am Ende ent-
scheiden Qualität, der Preis und eine aufregende Marken-Story. Es ist immens wichtig,
die extreme ethnische Vielfalt des Landes gut im Auge zu behalten und die verschiede-
nen Kulturen zu verstehen. Brasilien ist ein riesiges Land, und es ist demografisch viel-
schichtig. Wenn man bei den Konsumenten Erfolg haben will, reicht es nicht, präsent zu
sein, man muss mit dem richtigen Produkt im passenden Segment und auch im richtigen
Landesteil antreten. Nestlé hat vorgemacht, wie das gehen kann.
In einem Wettlauf gegen Unilever um die brasilianischen Kunden im Hinterland
schickte der weltgrößte Nahrungsmittelkonzern 2010 einen schwimmenden Supermarkt
durch das Amazonasgebiet. Eine Barke fuhr wochenlang zwei Zuflüsse des Amazonas,
den Para und den Xingu-Fluss, hinunter und versorgte 18 kleine Städte mit insgesamt
800.000 Einwohnern mit Markenprodukten, die diese bis dahin noch nie gesehen hat-
ten. Das Boot hatte 300 verschiedene Produkte an Bord, darunter Schokolade, Joghurt,
Eiscreme und Säfte. Das Experiment an sich ist schon ein Beweis dafür, wie wichtig
inzwischen auch die armen Landesteile im Norden und Nordosten Brasiliens für die
Konsumgüterindustrie geworden sind und dass Manager globaler Marken ihre Füh-
ler längst dorthin ausgestreckt haben. Das Experiment zeigt aber auch, dass Brasilien
trotz 80 % Verstädterung eher ein Universum als ein homogener Markt mit uniformen
Konsumgewohnheiten ist. Die Superreichen in São Paulo „gehen“ mit dem Helikopter
einkaufen, während die Konsumenten im Erdgeschoss der Einkommenspyramide Versor-
gungsboote brauchen, um moderne Waren zu kaufen.
232 8 Brasilien – Der grüne Gigant
Das Konsumverhalten in Brasilien wird sehr stark beeinflusst von steigenden Einkom-
men, größerer Auswahl, starker Konkurrenz, dem Aufkommen der digitalen Konsumen-
ten und dem Drang der Verbraucher, die besten und neuesten Marken zu erwerben. In
einer Umfrage ermittelte Accenture (2011), dass 55 % der brasilianischen Konsumenten
sich in den zwölf vorausgegangenen Monaten ein neues Handy gekauft hatten, und 35 %
einen neuen PC. Nahezu die Hälfte der Befragten gab an, sich in den kommenden sechs
Monaten ein Smartphone zulegen zu wollen. Der extreme Wunsch, sich das jeweils neu-
este Produkte zuzulegen, lässt in einigen Märkten des Landes das Wachstumspotenzial
über die reinen Einkommenszuwächse hinaus steigen.
Wie bereits beschrieben, legen die Brasilianer sehr viel Wert auf ihr Erscheinungs-
bild. Eitelkeit ist einer der stärksten Treiber für den Konsum. Gut auszusehen, ist ein
integraler Bestandteil der Kultur. Brasilianer vor allem aus den unteren Einkommens-
schichten haben eine Vorliebe für heimische Produkte. Aber wenn sie es sich leisten
können, zeigen sie Schwächen für internationale Marken. Schließlich müssen die ande-
ren sehen können, dass man Erfolg hat und Karriere macht. In den Einkommensklassen
C, D und E ist die Sparsamkeit ein kritischer Faktor. Brasilianer, die es noch nicht in
die oberen Etagen der Einkommenspyramide geschafft haben, sparen gerne für größere
Anschaffungen wie Kühlschränke, Fernseher, Autos und Wohnungen. Für die kleineren
Produkte wollen sie daher weniger ausgeben. Frauen haben dabei dank ihres wachsen-
den Anteils am Erwerbsleben einen zunehmenden Einfluss auf die Kaufentscheidungen
der Familie. Immer mehr Firmen, heimische wie auch internationale, schneiden ihre
Produkte und Dienstleistungen stärker auf die Bedürfnisse und Interessen der brasiliani-
schen Frauen zu.
Über Konsumgewohnheiten und Kaufmotive gut informiert zu sein, kann in Brasilien
einen besonders großen Unterschied machen. Es gibt zahllose Anekdoten und Berichte
unter Marketingfachleuten darüber. Die Financial Times berichtete jüngst darüber am
Beispiel von Procter & Gamble. Demnach war das Unternehmen etwas zerknirscht, weil
es in dem Land nicht mehr Windeln verkaufte. Die Marketingleute des Unternehmens
gingen an die Arbeit und fanden eine wichtige kulturelle Besonderheit heraus: Während
Eltern in den USA viel Wert auf die Klebeklappen, den Geruch und biologisch abbauba-
res Material der Windeln legen, achten Väter und Mütter in Brasilien vor allem darauf,
dass das Baby die ganze Nacht trocken bleibt. Der Grund: Viele Familien sind immer
noch arm oder verdienen wenig, und viele Babys schlafen im Bett der Eltern. Nach-
dem P&G günstige und besonders hermetische Windeln auf den Markt brachte, zog der
Umsatz im Land stark an (Tett 11. Februar 2011).
Doch wie gehen die Brasilianer einkaufen? Laut einer Studie des Institute of Applied
Economics Research aus dem Jahr 2012 geht weniger als jeder fünfte Konsument in dem
Land ausschließlich in Geschäften einkaufen. Von den verbleibenden 83 % bestellen
etwas mehr als die Hälfte auch in Katalogen, während 38 % auch im Internet bestellen
und sechs Prozent ihre Handys nutzen (Novais 2012).
8.17 Medienlandschaft 233
Wenn der frühere Marketingchef von Unilever, Simon Clift, Recht hat (er kennt das Land
gut), dann haben die Brasilianer einen Minderwertigkeitskomplex, was ihre eigenen Mar-
ken angeht, da sie glauben, wenn etwas von woanders her komme, dann müsse es besser
sein (Derrick 2012). In der Brasilien-Ausgabe des „BRIC Branding Survey“ von globe-
one (2013) über die Wahrnehmung internationaler Marken in Brasilien wurde nachgewie-
sen, dass das Image des Herkunftslandes einer Marke (country of origin image, COO) in
dem südamerikanischen Land eine große Rolle spielt. So bestätigten 90 % der befragten
Konsumenten in den Städten Brasiliens die zentrale Bedeutung des COO bei ihren Kauf-
entscheidungen. Die Abb. 8.2 illustriert die am meisten geschätzten Herkunftsländer in
Brasilien, basierend auf dem Schnitt von 15 verschiedenen Imagedimensionen.
Während brasilianische Marken insgesamt die größte Wertschätzung zu genießen
scheinen, ändert sich das Bild jedoch, wenn die Ergebnisse nach den verschiedenen Ein-
kommensschichten differenziert werden. Hier wird – wie in Abb. 8.3 gezeigt – deutlich,
dass die Vorliebe für deutsche, US-amerikanische und japanische Markenprodukte mit
dem Einkommen und der Erschwinglichkeit zunimmt (globeone 2013).
8.17 Medienlandschaft
Als größter Medienmarkt in Lateinamerika ist Brasilien zu einem Treiber in der globa-
len Werbewirtschaft geworden. Die Medienlandschaft des Landes hat drei besondere
Eigenschaften. Eine ist die herausragende Position des Fernsehens als führende Quelle
30%
22,0%
20,1%
18,3% 18,5%
20%
9,0%
10%
4,3%
0%
China Frankreich Japan Deutschland USA Brasilien
Stärkere Präferenz lokaler Marken und die USA als beliebtestes Herkunftsland Deutsche Marken bevorzugt
für Entertainment und Nachrichten, weil es keine Zeitung mit einer landesweiten Ver-
breitung gibt. Das zweite zentrale Merkmal ist die enorme Konzentration, nicht nur
geografisch mit Blick auf die großen Städte, sondern auch, was die Eigentumsverhält-
nisse angeht. Nur sechs Familien kontrollieren 80 % des TV-Netzwerks, sieben der
zehn führenden Magazine werden von einer einzigen Gruppe kontrolliert. Und ledig-
lich zwei Zeitungsverlage im Staate São Paulo beherrschen ein Zehntel der landeswei-
ten Auflage.
Es gibt etwa 500 Zeitungen in Brasilien, die meisten von ihnen mit einer begrenz-
ten regionalen Reichweite. Für das Marketing bedeutet das eine gute Chance, Kampag-
nen sehr präzise zu steuern und zu formatieren. Weil viele Zeitungen sich Inhalte teilen,
besteht aber auch die Möglichkeit, eine größere Reichweite quer durch das Land zu
erzielen. Der Platzhirsch im TV-Segment ist die Globo-Gruppe. TV Globo reicht zurück
bis in die 1960er Jahre. Es spielte eine zentrale Rolle in den 1960er und 70er Jahren,
als das Modernisierungsprojekt der Militärs unterstützt wurde. Globo gehören auch die
zweitgrößte Zeitung und der führende Kabelanbieter in Brasilien. Bis in die 1990er
Jahre hinein wurde Globo – auch als „Rede Globo“ (Globo-Netzwerk bekannt) als das
größte private TV-Netzwerk der Welt gesehen. Bis zur Mitte der 1990er Jahre entfiel die
Hälfte des damals 3,6 Mrd. US$ umfassenden Gesamtetats der TV-Werbung auf dieses
Netzwerk. Das Netzwerk und seine Sendungen durchdringen praktisch jeden Aspekt des
Lebens in Brasilien, was Globo die Macht gibt, politische Ansichten und Verhaltens-
weisen zu beeinflussen oder zu formen. Globo hat großen Einfluss darauf, wie die Bra-
8.17 Medienlandschaft 235
silianer den Rest der Welt sehen und darüber reden. Globo ist assoziiert mit rund 380
TV-Sendern in Brasilien und dem Rest der Welt. Es erreicht sämtliche sozioökonomi-
schen Gruppen im Land und ist die wichtigste Quelle für Nachrichten, Seifenopern, Bil-
dungsfernsehen und Dokumentationen. Die Wohlhabenden und Superreichen können in
den Sendungen des Netzwerks Serien mit internationalen Themen und Angelegenheiten
sehen, während die große Mittelschicht die Telenovelas und Spiele-Shows als ihr wich-
tigstes Unterhaltungsprogramm genießt.
Fast die Hälfte der Bevölkerung liest Zeitungen. In den großen Städten werden tra-
ditionelle Verkaufszeitungen zunehmend von Gratis-Blättern unter Druck gesetzt. Die
Konkurrenzblätter verteilen Transportunternehmen und private Institutionen. Jeder
dritte Brasilianer liest auch Magazine. In den jüngsten Umfragen geben drei Viertel der
erwachsenen Brasilianer zu, nicht mehr täglich Zeitung zu lesen. Die Blätter leiden in
jüngster Zeit verstärkt unter steigenden Druckkosten und der rasant wachsenden Popu-
larität des Internets (Pomela 2015). Die meisten Zeitungsleser sind zwischen 25 und 39
Jahre alt. Das jüngere Publikum wendet sich mehr und mehr Magazinen und dem sich
rasch ausbreitenden Internet zu. Die Auflagen der Zeitungen in Brasilien sind traditio-
nell im Vergleich zu anderen Schwellenländern kleiner, obwohl Brasiliens Presse als leb-
haft und unterhaltsam gilt – und sich nach der Militärherrschaft an der Demokratisierung
beteiligt hat. Es gibt mehrere Gründe für die eher begrenzte Rolle der Zeitungen. Eine
davon ist die enorme Größe des Landes und seine geografischen Besonderheiten, die
hohe Distributionskosten verursachen.
Der größte Teil der Leserschaft von Zeitungen lebt im Südosten von Brasilien. Dort
leben auf elf Prozent der Landfläche 40 Prozent der Bevölkerung. Hier werden 60 % der
gesamten Wirtschaftsleistung erbracht. Die vier führenden Zeitungen im Land sind auf
Basis der Auflage Folha de São Paulo, O Globo, O Dia und O Estado de São Paulo. Sie
erscheinen alle im Südosten Brasiliens, Folha und Estado in São Paulo, Globo und Dia
in Rio. Die meisten brasilianischen Zeitungen geben gleichzeitig Online-Versionen her-
aus. Ein altes Gesetz aus Zeiten der Militärdiktatur verhinderte lange Zeit ausländische
Beteiligungen an lokalen Medien. Das änderte sich 2002, als der lokale Markt per Gesetz
liberalisiert wurde.
Nach dem jüngsten Wachstumsschub ist Brasilien der größte Medienmarkt sowohl für
Investoren als auch für die Werbewirtschaft. Schätzungen von emarketer (2015) zufolge
sollen die Werbeausgaben in Brasilien bis 2020 auf über 17 Mrd. US$ ansteigen. 2015
lagen die Ausgaben noch bei rund 14,92 Mrd. US$, wobei davon rund 73 % auf das Free-
und Pay-TV entfielen. Auf Platz zwei lagen die Printzeitungen mit einem Anteil von 8,2 %
an den Werbeausgaben. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern auf der Welt hat der Zei-
tungsmarkt in Brasilien aber noch Wachstumspotenzial. Es gibt im Land ein paar nationale
Nachrichtenagenturen, die meist von Zeitungen geführt werden. Die führenden sind Agen-
cia Folha, Agencia Globo, Panorama Brasil und Agencia Estado. Estado bezeichnet sich
selbst als die führende Nachrichtenagentur im Land. Unter den größten Rundfunkanstalten
sind neben TV Globo auch die privaten Sender SBT, TV Record und TV Bandeirantes.
Es gibt zudem Hunderte regionaler und lokaler Sender. Satellitenfernsehen, das in den
236 8 Brasilien – Der grüne Gigant
1990er Jahren eingeführt wurde, ist seitdem sehr schnell gewachsen. Beim Anzeigenvolu-
men war Brasilien bis zuletzt einer der internationalen Wachstumsspitzenreiter. Während
das Geschäft in Europa stagniert, erreichen die Schwellenländer inzwischen ein Drittel des
globalen Anzeigenvolumens. Die BRIC-Länder haben in den vergangenen Jahren fast die
Hälfte des globalen Volumenwachstums beigesteuert. Vor der Flaute führte Lateinamerika
beim Wachstum des Anzeigenvolumens jede andere Region der Welt an, mit Zuwächsen,
die bei rund zehn Prozent zu Beginn des Jahrzehnts nahezu dreimal so schnell wie in den
USA und doppelt so groß wie im Rest der Welt waren. Damit ist Brasilien zu einem unwi-
derstehlichen Werbemarkt für Markenmanager und Werbestrategen geworden.
Brasilien rangierte im September 2016 mit etwas mehr als 139 Mio. Nutzern hinter
China, Indien und den USA an vierter Stelle der führenden Internetnationen. Die Nutzer
sind jung. Knapp zwei Drittel von ihnen sind unter 35 Jahre alt. Männliche (51 %) und
weibliche User (49 %) halten sich fast die Waage. Die meisten Teilnehmer gibt es im
Süden und Südosten des Landes, in Minas Gerais, Rio de Janeiro, Rio Grande do Sul
und São Paulo. Nicht nur die Anzahl der Nutzer in Brasilien ist beachtlich. Die Brasilia-
ner sind global betrachtet auch die aktivsten Nutzer des Internets. Mit 29,7 h Online-Zeit
pro Monat liegen sie sieben Stunden über dem weltweiten Durchschnitt.
Mit dieser langen digitalen Verweildauer sind die sozialen Plattformen in dem süd-
amerikanischen Land bereits der zweitwichtigste Kommunikationskanal nach dem
Fernsehen geworden. Mehr als 80 % der Brasilianer geben an, in den vergangenen
sechs Monaten soziale Plattformen besucht zu haben. Das führende soziale Netzwerk
in Brasilien war ab der Mitte der 2000er Jahre das zu Google gehörende Orkut. Doch
Facebook überholte die Plattform nach einer rasanten Aufholjagd Ende 2011. Und im
September 2014 machte Google das abgehängte Orkut dicht. Es war in der zweiten
Hälfte der 2000er Jahre auch in Indien die Nummer eins gewesen. So schnell ändern
sich die Reichweiten und Machtverhältnisse in der digitalen Welt. Schon Ende 2012 war
Brasilien zum zweitgrößten Facebook-Markt der Welt aufgestiegen, mit satten 51 Mio.
Usern. LinkedIn ist in Brasilien ebenfalls populär geworden, die portugiesische Version
ist 2010 an den Start gegangen. Twitter hat es ebenfalls geschafft, Brasilien zu seinem
zweitgrößten Markt auszubauen. Und YouTube kann darauf verweisen, dass schon vier
von fünf Brasilianern im Internet den Videodienst nutzen. Wie in anderen Ländern auch
entwickelt sich die mobile Kommunikation in Brasilien sprunghaft. Von 2012 bis 2015
stieg die Zahl der Handy- und Smartphonenutzer, die das Internet mit ihren Handgeräten
ansteuern, um 50 % auf 98 Mio.
Mit solchen Zuwächsen ist das Land laut eMarketer (2015) Anfang 2015 zum zehnt-
größten E-Commerce-Markt der Welt aufgestiegen. Auf Jahre hinaus soll das Wachstum
im zweistelligen Prozentbereich liegen. Bis 2018 wird damit gerechnet, dass der E-Com-
merce rund fünf Prozent aller Verkaufserlöse im Einzelhandel erreicht. Das wären dann
8.18 Internet, Mobilkommunikation und E-Commerce 237
über 500 Mrd. US$ jährlich. Aus den meisten Brasilianern sind längst Konsumenten
geworden, die alle medialen Kanäle nutzen. Fast die Hälfte der brasilianischen Internet-
nutzer nutzt digitale Angebote mit mehr als einem Gerät. Die meisten online gekauften
Produkte sind Mode, Gesundheits- und Schönheitsartikel, Hausgeräte, Bücher und Kom-
munikationsgeräte.
Brasilien ist damit zu einem Paradies für das Online-Marketing geworden. Die meis-
ten Brasilianer nutzen soziale Plattformen, um sich über Produkte zu informieren, die sie
später kaufen. Das trifft laut jüngsten Zahlen auf über 60 % der Internetnutzer zu. Vier
von fünf Brasilianern erkundigen sich im Internet über neue Produkte. Und drei von vier
suchen Schnäppchen online. Wichtig ist: Knapp 80 % der Internetnutzer in dem Land
verlassen sich beim Kauf mehr auf Empfehlungen von Freunden und Familienmitglie-
dern als auf Produktexperten. Mit 71 % der Internetnutzer gibt es in Brasilien zudem
erstaunlich viele Menschen, die Blogs besuchen, was Marketingexperten einen weiteren
Kanal öffnet, über den mit Konsumenten kommuniziert werden kann. Laut unseren eige-
nen Untersuchungen bei globeone (2013) ist das Internet für die Brasilianer die wich-
tigste Quelle geworden, mit deren Hilfe sie sich über internationale Marken informieren.
Das Fernsehen sowie Zeitungen und Magazine wurden auf den zweiten Platz verdrängt.
Eines dieser Beispiele ist die außerordentlich erfolgreiche Kampagne für „Gina
Indelicada“, die sich im Sommer 2012 zu einer regelrechten Facebook-Sensation ent-
wickelt hatte. Jeder in Brasilien sprach über diesen fiktiven Charakter „Gina“, deren
Beiname sich mit „unhöflich“ oder „taktlos“ übersetzen lässt. Der damaligen Student
Riccky Lopes hatte diese Kunstfigur erfunden und in Anlehnung an den Zahnstocher-
hersteller Rela Gina benannt, ohne dass hier zunächst ein Zusammenhang zwischen
Lopes und dem Unternehmen bestand. Die Idee dahinter: Fans der Seite konnten Fra-
gen an die fiktive Figur Gina Indelicada richten, die von ihr dann möglichst sarkastisch
beantwortet wurden. Ein aufsehenerregender Clou in einem Land, das vor allem auch
für seine Freundlichkeit bekannt ist. Durch rasche Verbreitung in den sozialen Medien
wurde allerdings auch Rela Ginas Management auf diese missbräuchliche Verwendung
des unternehmenseigenen Markennamens aufmerksam. Doch anstatt den Intiator Lopes
dafür gerichtlich zu belangen, entschied man sich für einen erfolgversprechenden Schul-
terschluss: Gina Indelicada wurde das Gesicht für die neue Zahnstocherverpackung.
Und tatsächlich: Die 1,5 Mio. „Likes“ der Facebookseite (zum Vergleich: die Seite des
damaligen Präsidenten Lula de Silva registrierte zu der Zeit 222.000 Likes, die Seite von
Gisele Bündchen 857.000 Fans) boten dem Unternehmen die geeignete Plattform, die
neue Verpackung ihres Produkts öffentlichkeitswirksam zu promoten (Antunes 2012).
Die Anzahl der Internetnutzer wächst in Brasilien aber nicht nur der Zahl nach, son-
dern sie dehnt sich auch stärker über die verschiedenen Einkommensgruppen aus. So
berichten verschiedene Datenanbieter, dass die Zahl der Nutzer in den sozialen Klassen
C und D besonders schnell wächst. Die Aufbruchsstimmung für das Online-Marketing in
Brasilien wird auch durch eine andere Zahl deutlich. 91 % der Brasilianer mit Internet-
zugang haben sich für mindestens einen E-Mail-Marketingdienst registriert. Schon etwas
mehr als jeder vierte Brasilianer, der Twitter nutzt, kommuniziert aktiv mit einer Marke
238 8 Brasilien – Der grüne Gigant
im Internet. Marketingexperten zufolge gehen Brasilianer nur deshalb nicht noch häufi-
ger auf Shoppingtour im Internet, weil sie stark dazu tendieren, Produkte vor allem auch
haptisch zu erkunden, d. h., sie wollen sie vor dem Kauf anfassen. Das kann das Online-
shopping nicht bieten.
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Teil III
Konzeptioneller Rahmen: Strategien für den
erfolgreichen Markenaufbau
Strategien für einen erfolgreichen
Markenaufbau in den wichtigen Märkten 9
der Schwellenländer
China und Indien sind zu führenden Ländern geworden, was die Schaffung neuer
Arbeitsplätze durch international expandierende Unternehmen angeht. Alle BRIC-Län-
der gehören zu den fünf Spitzenländern in dieser Kategorie. Der Grund dafür liegt auf
der Hand. Diese Länder haben sich zu den führenden Verbrauchermärkten für viele Pro-
dukte entwickelt, und sie versprechen auf lange Sicht gesehen einen stetigen Anstieg der
Wachstumsraten. Da die Verbraucherproduktpenetration in den aufstrebenden Ländern
wächst und die obere Mittelschicht sich deutlich vergrößert, wird die Bereitschaft, einen
Aufpreis für Qualitätsmarken zu zahlen, mit dem Anteil der frei verfügbaren Kaufkraft
der Einkommen steigen. Das Ausmaß des Vertrauens in Marken und insbesondere in
westliche Marken, die über starke Traditionen verfügen und emotionale Gewinne ver-
sprechen, ist erstaunlich hoch.
Westliche Unternehmen sollten diese Länder für ihre Expansionsstrategien nicht
außer Acht lassen. Aber das deutliche Wachstumspotenzial in den mittleren Einkom-
mensbereichen dieser aufstrebenden Giganten ist nur einer der Gründe, eine Strate-
gie zu entwickeln, in deren Zentrum diese Märkte stehen. Ein weiterer Grund ist die
beschleunigte Auslandsexpansion einer wachsenden Zahl neuer lokaler Champions, die
in Europa und den USA auf Einkaufstour gehen. Diese Herausforderer agieren aufgrund
von Firmenfusionen und Übernahmen zunehmend global und holen rasch auf. Nehmen
wir das Beispiel der schwedischen Automarke Volvo, die nun zum chinesischen Auto-
mobilkonglomerat Geely gehört, oder der weltweit führende chinesische PC-Hersteller
Lenovo, der 2013 Hewlett-Packard als führenden Computerhersteller überholte. Oder
die indische Tata-Gruppe, der es gelang, die angeschlagenen Marken Jaguar und Range
Rover wieder in der ganzen Welt zu positionieren. Westliche Unternehmen müssen
lernen, mit der Konkurrenz dieser neuen Kolosse in deren Heimatmärkten umzugehen,
bevor sie in wenigen Jahren von diesen in ihren eigenen Märkten angegriffen werden.
Aber wie sehen die besten Strategien aus, um in den BRIC erfolgreich zu sein und
internationale Marken auf eine Weise zu positionieren, die die sehr unterschiedlichen
Kulturen und Wertvorstellungen in den Emerging Markets anspricht? Wie können wir
uns im Wettbewerb mit den lokalen Champions und international ebenbürtigen Unter-
nehmen behaupten? Wo liegen die Wachstumsmotoren und welches sind die vorherr-
schenden Kaufmotive all dieser neuen Angehörigen der aufstrebenden Mittelschicht?
Und wie sehen die effektivsten Marketingkanäle aus, die von diesen Zielgruppen positiv
aufgenommen werden?
Hier ist eine als „marktgetriebene Positionierung“ („market-driven positioning“)
bezeichnete Strategie geboten, die die originale globale Positionierung der Marke mit
intelligenten Anpassungen an die lokalen Verhältnisse und die genau richtige Expansion
des Markenportfolios kombiniert. Laut einer Befragung der London Business School
(2013) räumen erstaunliche 56 % der Führungskräfte ein, das Verständnis der örtli-
chen Geschäftsgepflogenheiten bilde das größte Hindernis bei der Verwirklichung ihrer
Expansionspläne. Das heißt letztlich nichts anderes, als dass westlichen Unternehmen
durch Nachlässigkeit und mangelndes Verständnis der Geschäftskultur vor Ort größere
Geschäftschancen entgehen.
Die folgenden Abschnitte dieses Strategie-Kapitels werden 25 zentrale Überlegun-
gen, Strategien und Rahmenkonzepte darlegen, die von ausschlaggebender Bedeutung
sind, wenn es darum geht, eine erfolgreiche Markenentwicklung in den großen Schwel-
lenmärkten sowohl in einem B2C- als auch in einem B2B-Umfeld zu erreichen. Sie
gründen sich auf konkrete und unmittelbare Erfahrungen bei der Beratung einiger der
erfolgreichsten global agierenden Unternehmen in den vergangenen 15 Jahren sowie auf
wissenschaftliche Forschungen. Diese allgemeinen Strategien werden durch zahlreiche
aufschlussreiche Beispiele und Fallstudien aus den BRIC-Ländern veranschaulicht, die
ihre jeweilige praktische Bedeutung hervorheben.
Es gibt vier unterschiedliche Arten von Strategien, die Unternehmen im Rahmen ihrer
weltweiten Expansionsaktivitäten insbesondere in den BRIC-Märkten einsetzen kön-
nen. Im Grunde genommen hängt die Wahl der Strategie davon ab, in welchem Maße ein
Unternehmen bereit ist, sich den lokalen Marktbedürfnissen anzupassen. Das Ausmaß,
in dem ein Unternehmen bereit ist, globale mit lokalen Elementen zu vermischen, hängt
wiederum von einer sorgfältigen Bewertung der Zielmärkte des Unternehmens ab. Letz-
ten Endes geht es bei dieser Abwägung darum, den nachhaltigsten Ausgleich zwischen
Wirtschaftlichkeit und Flexibilität zu finden.
Globale Integration und Standardisierung des Geschäftsmodells zielen darauf ab,
Skaleneffekte zu erreichen und die Wirtschaftlichkeit zu maximieren. Konzentriert man
sich dagegen auf Anpassung und Lokalisierung, kann dies die Reaktionsfähigkeit auf
besondere Gegebenheiten in den BRIC-Ländern verbessern und den Umsatz sowie den
9.1 Das richtige Modell für die globale Expansion 245
Marktanteil in jedem dieser Märkte erhöhen. Wie man nun die Strategie zwischen die-
sen grundlegenden Erfordernissen – Wirtschaftlichkeit und Reaktionsfähigkeit – ausba-
lanciert, das hängt von dem spezifischen Druck ab, den diese beiden antagonistischen
Faktoren ausüben.
Handelt es sich um eine Branche mit sehr kurzen Innovationszyklen, die einem star-
ken Druck in Richtung weltweiter Integration ausgesetzt ist – wie etwa die Bereiche
Unterhaltungselektronik, mobile Endgeräte (Handy, Tablets etc.) und viele Luxusgüter –
dann ist eine globale Strategie möglicherweise die beste Wahl. Wenn man jedoch in
hohem Maße von Skaleneffekten und hoher Wirtschaftlichkeit abhängt, aber zugleich
auch einem gewissen Anpassungsdruck ausgesetzt ist, dann eignet sich eine transnati-
onale Strategie vielleicht am besten. Operiert man in einer Branche, die zur globalen
Integration zu schwach ist und gleichzeitig kaum Druck zur lokalen Anpassung verspürt,
erweist sich die Home-Replication-Strategie als besserer Weg. Ist die Notwendigkeit von
Skaleneffekten und Standardisierung nicht erdrückend, aber der Druck für eine Lokali-
sierung durchaus gegeben, ist die Multiple-Binnenmarkt-Strategie aller Wahrscheinlich-
keit nach die beste Option.
Ein Unternehmen, das eine globale Strategie einsetzt, versucht, seine weltweite Effi-
zienz bei gleichzeitiger Zentralisierung der Entscheidungsfindung zu maximieren. Die
Konzernzentrale kontrolliert die geschäftlichen Operationen. Skaleneffekte stehen dabei
absolut im Vordergrund. Die Marken und Produkte sind in hohem Maße standardisiert.
Der Zuschnitt auf spezifische Bedürfnisse lokaler Märkte ist begrenzt. Für Manager, die
diesem strategischen Ansatz folgen, ist die Welt, die ihre Branche und Produkte beein-
flusst, eine Scheibe. Alles ist wie in dem Konzept von Theodore Levitt (1983) einheitlich
gestaltet. Die hohe Konvergenz führt dazu, dass die gleichen Produkte und Dienstleis-
tungen in jedem Zielmarkt auf die gleiche Weise verkauft werden können. In diesem
Szenario können Innovationen auf der Konzernebene entwickelt und dann in einem
Land nach dem anderen ohne oder nur mit unbedeutender Anpassung und praktisch
ohne zeitlichen Verzug auf den Markt gebracht werden. Die auf der Hand liegenden
Vorteile der globalen Strategie sind Skaleneffekte, geringere Kosten und eine bessere,
zentralisierte Kontrolle der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten und des Entschei-
dungsfindungsprozesses. Die potenziellen Nachteile sind geringere Marktanteile in
lokalen Märkten und geringeres Feedback durch die lokalen Landesgesellschaften. Mar-
ketingkampagnen, die in diesem strategischen Szenario durchgeführt werden, können
an kulturübergreifenden Problemen scheitern. Die Kooperation zwischen den einzelnen
Ländergesellschaften des Konzerns ist sehr eng und erfordert ein hohes Maß an Kom-
munikation. Wenn man Zement, Sportwagen oder Smartphones verkauft, wäre dies viel-
leicht die zu bevorzugende Strategie.
246 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
nach Ansicht von Analysten bereit sein, auch im Segment für günstigere Smartphones
aktiv zu werden. Beobachter der Branche haben diese Änderung der globalen Strate-
gie von Apple seit Jahren gefordert. Dass Apple bereit ist, seine Herangehensweise
anzupassen, belegt, dass eine ausschließlich globale Strategie sich in den heutigen
globalen Märkten kaum noch aufrechterhalten lässt. In Indien hat Apple Anfang 2013
erstmalig ein Überdenken seiner Strategie signalisiert. Es kündigte die Möglichkeit
von Ratenkäufen für sein iPhone an, um deren Kauf einem größeren Kundenkreis zu
ermöglichen und Marktanteile hinzuzugewinnen. Nach mehr als vierjähriger Präsenz
in Indien hatte das Unternehmen nur einen Marktanteil von fünf Prozent erreicht.
Das damals jüngste Modell, das iPhone 5, kostete 840 US$, wie einer ganzseitigen
Anzeige in der Tageszeitung Times of India zu entnehmen war. Dies entspricht dem
doppelten Monatseinkommen eines qualifizierten Ingenieurs beim Berufseinstieg.
9.1.2 Multiple-Binnenmarkt-Strategie
Die Multiple-Binnenmarkt-Strategie ist das genaue Gegenteil: Sie ist im hohem Maß
dezentral. Geschäftsmodelle und Produkte werden umfassend an die lokalen Verbrau-
cherbedürfnisse und andere Marktbedingungen angepasst. Und die verschiedenen
Ländergesellschaften des Konzerns agieren und entscheiden unabhängig. Die Multiple-
Binnenmarkt-Strategie verzichtet zugunsten einer besseren Akzeptanz und eines größe-
ren Erfolgs in verschiedenen lokalen Märkten auf Skaleneffekte. Die Konzernzentrale
ermöglicht den lokalen Management-Teams mehr oder weniger eigenständige länderspe-
zifische Geschäftstätigkeiten und Aktivitäten. Daher ist es dem Unternehmen möglich,
sich effektiver am Wettbewerb zu beteiligen. Diese Autonomie erlaubt maximale lokale
Flexibilität und manchmal sogar Lokalisierung. Aus dieser Perspektive ist die Welt keine
Scheibe mehr, sie ist ein Mosaik verschiedener unverbundener Märkte. Und um jeden
von ihnen wird individuell gekämpft. Dieser Ansatz erfordert nicht viel grenzüberschrei-
tenden Wissenstransfer. Diese Strategie scheitert, wenn sich die entsprechenden Pro-
dukte in einem stark globalisierten Umfeld im Wettbewerb behaupten müssen, in dem
die Standardisierung hoch ist und Skaleneffekte ein wesentliches Element bilden. Aber
sie funktioniert, wenn die lokale Differenzierung ein wesentlicher Aspekt ist und lokale
Geschmäcke, gesetzliche Bestimmungen und kulturelle Wertvorstellungen oder ein star-
ker Wettbewerb einen stark reaktiven und sorgfältig auf die örtlichen Gegebenheiten
zugeschnittenen Ansatz erfordern. Die Multiple-Binnenmarkt-Strategie ist zum Beispiel
für viele Lebensmittelprodukte, traditionelle Mode und einige Schönheitsprodukte gut
geeignet.
Angebote der Marken in seinem Portfolio in jedem Markt, in den es eintritt, an die
örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Das Unternehmen konzentriert seine Expansi-
onsbemühungen gegenwärtig deutlich auf die schnell wachsende Mittelschicht in den
Schwellenländern. In den fünf Jahren vor 2009 gründete Yum! Brands in Ländern wie
Brasilien, Russland, Indonesien, Vietnam, Indien und China 4000 neue Restaurants.
Jedes dritte dieser neu eröffneten Restaurants befindet sich in China. Das Unterneh-
men erwirtschaftet dort mehr als 40 % seines weltweiten Umsatzes und erzielt etwa
die Hälfte seines operativen Gewinns in der Volksrepublik. Der Restaurant-Mischkon-
zern gehört zu den am schnellsten wachsenden Fast-Food-Konzernen in den gesamten
Schwellenländern. Sein Innovationstempo ist fast noch höher als sein Wachstum. In
jedem Jahr führt das Unternehmen 85 bis 100 neue Gerichte auf seinen chinesischen
Speisekarten ein, verglichen mit ein oder zwei neuen Gerichten in den USA. In Japan
verkauft KFC „Tempura Crispy Stripes“ (eine in Japan verbreitete Zubereitungsart
frittierter Speisen in einem Teigmantel). In England basieren die Gerichte vor allem
auf Bratensoße und Kartoffeln. In Thailand wird frischer Reis mit Sojasoße oder
süßem Chili serviert. Und in China werden die Hühnerfleischgericht umso würziger,
je weiter im Landesinneren sie serviert werden.
In China hat Yum! Brands trotz einiger Rückschläge eine marktbeherrschende
Stellung erreicht. Seit 2012 ist es dabei, auch in Indien Ähnliches zu erreichen. So
hat das Unternehmen 2015 mehr als 100 Mio. US$ investiert, um mehr als 1500 Res-
taurants zu betreiben. Im ersten Quartal 2012 machte Yum! Brands Indien zu einem
eigenen Berichtssegment und zeigte damit seine Absicht, die Geschäfte in diesem
Land so unabhängig wie möglich zu führen. Marketingexperten und Wirtschaftsken-
ner sehen dieses Vorgehen als Schlüssel für den Erfolg des Unternehmens in China.
Yum! Brands ist mit seiner Geschäftstätigkeit in dem schwierigen chinesischen Markt
das bei Weitem erfolgreichste multinationale Unternehmen. Sein Umsatz wuchs von
einer Milliarde US-Dollar im Jahr 2003 auf acht Milliarden im Jahr 2012. Die Zahl
der Restaurants des Konzerns wuchs von 1000 im Jahr 2004 auf über 4000. Der Res-
taurant-Mischkonzern sei vor allem aufgrund seines Imagewechsels und der extre-
men Lokalisierung so erfolgreich, schreibt die China-Kennerin Helen Wang (2012) in
ihrem Buch.
Laut Wang (2012) beschloss Yum! Brands bereits kurz nach Beginn seiner Aktivi-
täten in China Ende der 1980er Jahre, das Unternehmen wolle nicht als ausländischer
Eindringling in China, sondern als Teil des Gefüges der lokalen Community betrach-
tet werden. Yum! Brands griff zwar auch auf einige der besten Konzepte des US-ame-
rikanischen Fast-Food-Modells zurück, aber es verpasste seinen Angeboten nun ein
neues Image als köstlich und sicher, von hoher Qualität und schnell zubereitet, nähr-
stoffreich und ausgewogen, für ein gesundes Leben und fest in China verwurzelt. Der
chinesische Name von Pizza Hut ist ein weiterer Beleg für diese Strategie: „Bi Sheng
Ke“ bedeutet so viel wie „soll den Kunden zufriedenstellen“. In China bietet Pizza
Hut ein hochwertiges Gourmet-Erlebnis zu einem gemäßigten Preis an. Das Innere
der Restaurants ist zeitgemäß und elegant. Ein Gast aus den USA in einem solchen
9.1 Das richtige Modell für die globale Expansion 249
chinesischen Pizza Hut würde große Schwierigkeiten haben, sich in der Speisekarte
zurechtzufinden. Dort werden Hähnchenflügel, gebratener Tintenfisch, eine Mee-
resfrüchte-Pizza belegt mit Taschenkrebsstreifen, Lachsröllchen und Schnecken in
Knoblauchöl angeboten. Auf der 30 Seiten langen Speisekarte stehen auch Muschel-
suppe und Crêpes nach französischer Art.
Kein Wunder, dass derartige Angebote für viele junge und aufstrebende Chinesen
ein attraktives kulinarisches Erlebnis darstellen. KFC hat auch seine Gerichte stark
lokalisiert. „Super-Size“-Menüs, wie sie von den Kunden in den USA bevorzugt wer-
den, wurden abgeschafft. Hinzu kamen Sandwiches, Garnelen und Wraps. Mitte der
2000er Jahre begann KFC damit, auch Frühstück anzubieten. Im Angebot ist unter
anderem Congee, der beliebte chinesische Reisbrei. Die Restaurantkette versuchte,
auch für Familien mit Kindern attraktiv zu sein, indem sie spezielle Gerichte für Kin-
der anbot und in den Restaurants Spielecken einrichtete. Wang berichtet, viele Res-
taurants beschäftigten Hostessen, die zur Unterhaltung der Kinder Aktivitäten wie
das Lernen englischer Lieder und Tänze anböten, während die Eltern in Ruhe essen
könnten. Der Erfolg dieser Strategie – die Entwicklung von Freizeitrestaurants als
Mittelweg zwischen Fast Food und Gourmet-Tempeln – ist phänomenal. Das Ver-
triebssystem von Yum! Brands ist so personalintensiv, dass es nur noch von der chine-
sischen Volksbefreiungsarmee übertroffen wird.
Yum! Brands hat sich erfolgreich in der Volksrepublik „neu erfunden“, indem es
sich in einen gehobenen, trendigen und modernen Restaurant-Dienstleister verwan-
delte und das amerikanische Erbe als Niedrigpreis-Fast-Food-Kette hinter sich ließ.
Mittlerweile hat sich das Geschäft von Yum! Brands in den Schwellenländern auch
zur Innovationsquelle für den Heimatmarkt USA entwickelt. So begann KFC damit,
auch in den USA Frühstück anzubieten und definierte Fast Food neu als „zwanglo-
ses Dinieren“. Diese Entwicklung belegt, dass sich in Bezug auf Innovationen zuneh-
mend ein globaler Richtungswechsel vollzieht. Immer mehr Innovationen finden ihren
Weg aus den Schwellenländern in die Industrienationen. Dies stellt eine der großen
Herausforderungen in der postglobalisierten Welt der Zukunft dar: Die Integration der
aufstrebenden Märkte in internationale Expansionsstrategien – sei es durch Branding,
Forschung und Entwicklung, Sourcing oder lokale Hersteller – wird die Chancen der
Unternehmen vergrößern, in ihrer Heimat in Europa oder den USA zu überleben.
Der Beitrag der BRIC und insbesondere Chinas zur wachsenden Zahl innovativer
Produkte ist unübersehbar. Der weltweite Anteil an Patenten, die chinesischen Erfin-
dern erteilt werden, hat sich seit 2005 verdoppelt. China nimmt nun im Bereich der
Wind- und Solarwirtschaft eine führende Rolle ein. Unternehmen aus den Bereichen
Unterhaltungselektronik, Smartphones und Telekommunikation aus der Volksrepub-
lik nehmen zunehmend Einfluss auf internationale Standards. Nach Schnelligkeit und
Preis sind nun Innovationen dabei, ein weiteres Alleinstellungsmerkmal für China zu
werden, was sich in wachsendem Maße auch auf die restliche Welt auswirken wird.
Der Beitrag der Multiple-Binnenmarkt-Strategie für die Wachstumsaussichten von
Yum! Brands ist außerordentlich. Das Unternehmen hat zwar seinen Umsatz in den
250 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
zehn Jahren nach 2002 verdoppelt, aber die internationalen Märkte sind keineswegs
saturiert. Weltweit gesehen kommen auf eine Million Menschen gerade einmal zwei
Yum!-Brands-Restaurants. In den USA liegt dieses Verhältnis bei 58 Restaurants auf
eine Million Einwohner. In Indien, dem bisher jüngsten Markt, in den das Unterneh-
men eintrat, wächst KFC bereits schneller als alle seine Mitbewerber. Auch hier bildet
die Lokalisierung das wichtigste Element der Expansionsstrategie: Taco Bell, eine der
drei Marken unter dem Dach von Yum! Brands, hat seiner Kampagne in Indien nach
anfänglich schwachem Start neuen Schwung gegeben, indem man den Anteil lokali-
sierter und vegetarischer Angebote auf 60 % erhöhte. Zum ersten Mal hat die mexi-
kanische Kette damit ein derart hohes Maß an Lokalisierung in einem Markt erreicht.
Die transnationale oder länderübergreifende Strategie verbindet die Stärken sowohl der
multiplen Binnenmarktstrategie wie auch der globalen Strategie miteinander. Sie kommt
der „Eine-Welt-Strategie“ am nächsten, auf die schon in Kap. 2 hingewiesen wurde und
die große aufstrebende Märkte wie die BRIC in eine internationale Expansionsstrategie
integriert. Aber die Umsetzung ist alles andere als einfach. Die einander widersprechen-
den Zielvorgaben Flexibilität und Effizienz gleichzeitig umzusetzen, ist schwierig. Der
beste Weg besteht darin, operative Effizienz auf Konzernebene mit substanzieller Loka-
lisierung bei der Produktgestaltung, der Markenpositionierung und dem Marketing zu
verbinden. Ein angemessenes Motto könnte lauten: „Standardisieren, wenn möglich,
und anpassen, wenn die Märkte es erfordern“. Diese Strategie eröffnet gute Chancen für
Autobauer, die die Anziehungskraft globaler Marken und ein berühmtes Design verkau-
fen und das Renommee des Herkunftslandes für sich nutzen wollen, sich zugleich aber
noch weiter an die lokalen Bedürfnisse anpassen müssen, also zum Beispiel unterschied-
liche Farbpräferenzen und mehr Beinfreiheit im Fond, wie in China, oder die Nutzung
nur mit Chauffeur, wie in Indien. Bei richtiger Handhabung ermöglicht es die transnatio-
nale Strategie, Produkte und Marken denjenigen Konsumenten anzubieten, die den Ein-
druck haben, die Marke repräsentiere einerseits das Flair der großen weiten Welt und sei
andererseits auch auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten.
Beispiele für diese Strategie wären die Mobiltelefone von Nokia, die zwar als Welt-
marke verkauft werden, aber dennoch etwa für das ländliche Indien mit einer staubabwei-
senden Tastatur und einer langlebigen Batterie ausgestattet wurden. Ein weiteres Beispiel
ist die Marke Danone, die für laktoseintolerante Chinesen einen Joghurt mit weniger Lak-
tose anbietet. Oder Volkswagen, das seine weltweit vertriebenen Fahrzeuge für Fahrer aus
dem Nahen Osten mit einem Kompass versieht, der in Richtung Mekka weist.
9.1.4 Home-Replication-Strategie
sogenannten Vororte oder Vorstädte, da sich nicht viele Chinesen ein Kraftfahrzeug
leisten können. Als Folge musste Wal-Mart das Format seiner Filialen ändern und
auch Laufkundschaft ansprechen. Daher änderte Wal-Mart seine Herangehensweise
und eröffnete stattdessen in den Großstädten Ladengeschäfte. Aber diese strategischen
Anpassungen brachten das US-amerikanische Unternehmen in direkte Konkurrenz zu
lokalen chinesischen Wettbewerbern. Der resultierende Druck auf die Gewinnmargen
stellte für das Unternehmen keineswegs die einzige Herausforderung in China dar.
Es erwies sich als äußert schwierig, die Preise zu senken. In den USA konnte Wal-
Mart die Kosten senken, indem es immer mehr billigere Produkte in China einkaufte.
Aber auf dem chinesischen Markt sind Chinesen immer die billigsten Händler. Hinzu
kamen Vertriebsprobleme. In den USA gehört der Aufbau von Auslieferungslagern,
die viele Standorte beliefern können, zu den effektivsten Methoden der Kostensen-
kung. Aber in China befanden sich die Einkaufzentren von Wal-Mart in Städten, die
in der Regel sehr weit voneinander entfernt waren. Es erwies sich als unmöglich, Ska-
leneffekte aufgrund großer Auslieferungslager zu erreichen. Erst in den letzten fünf
Jahren begann Wal-Mart, derartige Auslieferungslager zuerst in Shenzhen und später
in Tianjin aufzubauen.
Das Einkaufsverhalten war ein weiterer Faktor. Chinesische Verbraucher sind es
gewohnt, täglich in kleinen Ladengeschäften im Viertel und in den Läden regionaler
Ketten einzukaufen. Auch den Kauf größerer Mengen an Produkten sind sie nicht
gewohnt. Oft öffneten sie Pakete mit einer großen Menge eines bestimmten Produkts
und nahmen sich dann die Portion, die sie brauchten. Wal-Mart musste sein Produkt-
portfolio radikal anpassen und sich auf chinesische Konsumbedürfnisse einstellen. So
integrierte das Unternehmen in seine Läden Märkte, in denen die Kunden frischen
Fisch oder frisches Fleisch auswählen konnten, das dann von Metzgern nach ihren
Wünschen zugeschnitten wurde. Zugleich musste Wal-Mart Kühltruhen mit Kellen
und Beuteln bereitstellen, damit die Kunden die gewünschte Menge abfüllen konnten.
Best Buy wurde in China von lokalen Wettbewerbern wie Gome und Suning
ausmanövriert. Diese eröffneten kleinere Ladengeschäfte in direkter Nähe der Fili-
alen des US-amerikanischen Unternehmens. Media Markt entschied sich für Laden-
geschäfte in erstklassigen Lagen an Standorten in den Innenstädten – wie etwa der
Media-Markt-Flaggschiffladen in der Huaihai Lu, einer der beiden großen Einkaufs-
straßen in Schanghai – und musste dann mit hohen Fixkosten kämpfen. Dazu gehör-
ten die relativ hohen Löhne für qualifiziertes Verkaufspersonal, das in der Lage sein
sollte, die Kunden auf hohem Niveau fachgerecht zu beraten und zu bedienen. Aber
in einem einkommensschwachen Land wie China mit einer jungen Mittelschicht spie-
len Preise bei der Kaufentscheidung eine größere Rolle als fachliche Beratung. Media
Markt steckte in einer Zwickmühle aus hohen Kosten und einem Markt, in dem die
lokalen Wettbewerber immer Möglichkeiten fanden, ihre Preise weiter zu senken. Es
sei von vornherein ein Fehler gewesen, Media Markt nach China zu bringen, erklärt
Rein (2012). Für ausländische Unternehmen ist es immer schwierig, im Wettbewerb
auf der Preisebene mitzuhalten. Aber im Falle von Media Markt half nicht einmal das
256 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Label „Made in Germany“, da deutsche Produkte in China insgesamt als teuer gelten.
Media Markt zog sich Anfang 2013 ganz aus dem chinesischen Markt zurück. „Glo-
baler Markenaufbau, lokale Positionierung“ – dies wäre die richtige Strategie für alle
genannten Unternehmen gewesen. Die meisten von ihnen haben allerdings den zwei-
ten Aspekt sträflich vernachlässigt.
Bei der Entscheidung für eine dieser vier Strategien muss noch ein weiterer entscheiden-
der Faktor berücksichtigt werden: Der richtige Zeitpunkt ist ebenfalls enorm wichtig. In
den aufstrebenden Märkten können diejenigen, die früh eingestiegen sind, reich belohnt
werden. „Der frühe Vogel fängt den Wurm“, sagt ein Sprichwort. In der Geschäftswelt
kann der frühe Eintritt in einen neuen Markt – und damit vor einem möglichen Wett-
bewerber – einen großen Marktanteil, hohe Gewinnmargen und ein besseres Verständ-
nis der besonderen örtlichen Gegebenheiten nach sich ziehen. Für später Kommende
kann es sehr kostspielig werden, mitzuhalten, wenn sich der Wettbewerb verstärkt und
Kostenstrukturen und Werbeträgerpreise nachziehen. In der jüngeren Geschichte fin-
den sich zahlreiche Pioniere, die das Risiko auf sich nahmen, frühzeitig in vielverspre-
chende Märkte vorzustoßen, und oft wurden sie für ihre Weitsicht und ihren Wagemut
belohnt. Volkswagen ist ein Beispiel dafür. Der Autobauer errichtete bereits 1985 seine
erste Produktionsstätte in China, als die japanische Konkurrenz noch zögerte, in diesem
gigantischen und vielversprechenden, aber noch jungen und schwierigen Markt aktiv
zu werden. Drei Jahrzehnte später ist Volkswagen die absatzstärkste Automobilgruppe
in der Volksrepublik und auf dem Weg, mit China als seinem größten nationalen Markt
und wichtigstem Motor seiner weltweiten Expansion der größte Autobauer zu werden.
Zumindest sah es bis zum Abgas-Skandal im Herbst 2015 danach aus. Vor dem Hin-
tergrund der schwierigen Marktumgebung in Europa verdoppeln die Konkurrenten von
Volkswagen ihre Anstrengungen, in den Emerging Markets und insbesondere in China
aufzuschließen. Aber heute müssen sie sich in einem sehr viel härteren Wettbewerb
behaupten, als Volkswagen dies tun musste, als es in den 1980er Jahren voranging.
Der Wirtschaft ist dieser wichtige Aspekt internationaler Expansionsstrategien nicht
entgangen. In seinem „Business Perspectives on Emerging Markets Survey“ listete das
Beratungsunternehmen Global Intelligence Alliance (2012) einige Aspekte auf, die die
befragten Unternehmen aus heutiger Sicht anders angehen würden. Dazu gehört nach der
Notwendigkeit einer besseren Lokalisierung als zweitwichtigstes Problem ein verspäte-
ter Markteintritt. Erstaunliche 21 % der befragten Manager gaben an, sie bedauerten es,
nicht viel früher in die entsprechenden Märkte eingestiegen zu sein.
Aber die Erwartung, die Pioniere in einem Markt würden automatisch reich belohnt,
wird durch eine Reihe wissenschaftlicher Studien erschüttert. Tellis und Golder (1993)
veröffentlichten ihre Ergebnisse zu diesem Sachverhalt im Journal of Marketing Research.
Bei einer historischen Analyse von 500 Marken in 50 Produktbereichen versuchten sie, die
9.1 Das richtige Modell für die globale Expansion 257
Movern gelingt, Verfahren zu optimieren und dies in Produkte auf einem moderaten
Preisniveau umzumünzen. Weitere bedeutende örtliche Bedingungen, die man unbedingt
kennen muss, betreffen die Rechtssicherheit und deren Durchsetzung, den Patentschutz
und die unterschiedlichen Bildungsgrade. Sind diese Faktoren eher schwach ausgeprägt,
geht ein First Mover ein erheblich höheres Risiko ein.
Wenn man sich der Markenentwicklung in einem großen Wachstumsmarkt widmet, ist
es von großer Bedeutung, sich ein fundiertes Verständnis nicht nur des Marktes und der
Bedürfnisse und Wünsche der lokalen Verbraucher zu verschaffen, sondern auch die
Leistungen und Defizite der eigenen Marke sowie die Stärken und Schwächen der welt-
weiten und lokalen Konkurrenten in dem lokalen Markt umfassend zu verstehen. In vie-
len Fällen widerspricht diese lokale Markenwahrnehmung grundlegend den Erwartungen
des Managements.
Berücksichtigt man die vielen Markenforschungsprojekte für alle Arten von Marken
in den BRIC, so drängt sich eine Erkenntnis auf: Praktisch keine Marke kann für sich in
Anspruch nehmen, eine vollständige und durchgängige weltweite Positionierung erreicht
zu haben – dies gilt insbesondere für die großen Wachstumsmärkte mit ihren jeweiligen
aufstrebenden Mittelschichten.
Wenn man eine „Marke“ als „die Vorstellung eines Verbrauchers von einem Produkt
oder einer Dienstleistung“ (Meffert et al. 2002) definiert, dann hängt die Positionie-
rung einer Marke immer davon ab, wen man dazu befragt. Und da die Verbraucher in
den großen, sich im Umbruch befindlichen Märkten in der Regel extrem unterschiedliche
Erfahrungen, Wertorientierungen und Weltsichten aufweisen, gehört es zu den größten
Illusionen der Geschichte des Marketings, dass es so etwas wie eine wahrhaft globale
Marke gibt, die durchgängig zu 100 % weltweit positioniert werden kann. Die Abb. 9.1
verdeutlicht diesen Aspekt mit einem anschaulichen Beispiel der lokalen Wahrnehmung
der US-amerikanischen Automarke Ford in China.
Der US-amerikanische Autobauer Ford ist seit 2001 in China präsent, seit er ein Joint
Venture mit einem chinesischen Partner, Changan Automotive, einging. Insgesamt ver-
kaufte Ford in China im ersten Quartal 2014 271.000 Fahrzeuge – ein Anstieg um 45 %.
Trotz dieses geschäftlichen Erfolges unterscheidet sich die Wahrnehmung der Marke
Ford in China offenbar in Abhängigkeit von dem Verbrauchersegment, auf das man zielt,
sehr stark. Während die untere Mittelschicht Ford anscheinend als ziemlich teure auslän-
disch-chinesische Marke betrachtet, die außerhalb der eigenen finanziellen Möglichkeiten
liegt, schätzt die urbane Mittelschicht Ford als anspruchsvolle und erstrebenswerte Presti-
gemarke. Und noch weiter oben in der Einkommenspyramide halten viele Chinesen Ford
für eine zugängliche qualitative „Massenmarke“ mit einem US-amerikanischen Hinter-
grund. Darüber hinaus sieht die wohlhabende Oberschicht Ford offenbar nicht als maß-
geblich an, da sich ihre Aufmerksamkeit vor allem auf deutsche Premiummarken richtet.
9.2 Die lokale Wahrnehmung der eigenen Marke verstehen 259
30% US-amerikanische
hauptsächlich Premiummarke mit
Ebene 1 und 2 starken Wurzeln in China
Ausländische
55% Qualitätsmarke
hauptsächlich die außer Reichweite
Ebenen 3-6
Es sind vier Schritte erforderlich, um die Performance der eigenen Marke in den BRIC
gegenüber wichtigen Wettbewerbern zu evaluieren, um daraus dann Empfehlungen für
die eigene Marktstrategie, das eigene Marketing und die Kommunikation abzuleiten. In
einem ersten Schritt muss man den Umfang der erforderlichen Erhebung und Untersu-
chung eingrenzen. Dazu müssen die richtunggebenden Themenfelder herausgearbeitet
260 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
und formuliert werden. Zudem muss die Zielgruppe so genau wie möglich definiert wer-
den. In einem zweiten Schritt muss die Umfrage konzeptionell gestaltet werden. Dies
schließt etwa ein, die möglichen lokalen Markttreiber zu bestimmen und einen detail-
lierten Fragenbogen zu erstellen. Der dritte Schritt betrifft die Umsetzung. Wie wird
das Projekt geleitet und von wem? Wie wird der Interviewprozess kontrolliert und über-
wacht? Im letzten Schritt werden die gesammelten Daten analysiert und ausgewertet,
was zu Schlussfolgerungen und Empfehlungen führt. Ein ausführlicher Lagebericht ist
unbedingt erforderlich. Die Markentreiber müssen herausgearbeitet und erläutert werden.
Nur wenn es gelingt, Daten hoher Qualität zu sammeln und vergleichbare und ganzheit-
liche Ergebnisse vorzulegen, kann man zu wichtigen Einsichten kommen und den nächs-
ten Schritt hinsichtlich der Wachstumsstrategie der betreffenden Marken in den BRIC in
Angriff nehmen.
In der ersten Phase, in welcher der Umfang festgelegt wird, muss eine klare Ent-
scheidung hinsichtlich der Inhalte der Befragung getroffen werden. Die Ziele und die
Zielgruppe müssen genau definiert werden. Die Umfrage muss sich an Verbraucher und
wichtige Branchenexperten richten. Bei Business-to-Business-Befragungen ist entschei-
dend, dass ein wesentlicher Teil (zum Beispiel 50 %) der interviewten Experten tatsäch-
lich für den Kaufentscheidungsfindungsprozess verantwortlich oder zumindest an ihm
beteiligt ist. Denn nur dann werden sie über fundierte Kenntnisse über den Markt und
seine inneren Abläufe verfügen. Aber vielen Marktforschern gelingt es nicht, eine aus-
reichende Zahl relevanter Zielpersonen (wie etwa Einkaufsmanager) zu interviewen, da
dieser Personenkreis in der Regel sehr viel schwieriger dazu zu bewegen ist, an einem
Marktforschungsprojekt teilzunehmen. Da praktisch alle weltweiten und lokalen Unter-
nehmen in irgendeiner Weise Marktforschung betreiben, kann es zu einem Übermaß an
Datensammelaktivitäten kommen. Dies kann dazu führen, dass in einigen Zielgruppen
(insbesondere im Business-to-Business-Bereich) die Ausfallquoten sehr hoch ausfallen.
Die Umfrage muss auch hinsichtlich des Inhalts, der Methode und des Zeitpunkts
abgestimmt sein. Die Herangehensweise sollte ganzheitlich sein und es ermöglichen,
die Performance der Marke in allen BRIC-Ländern und anderen globalen Märkten zu
beurteilen. Bei der Festlegung des Umfangs der Befragung muss eine Reihe wichtiger
Themen eingeschlossen werden. Der Markenstatus gehört dazu. Auch die gestützte und
ungestützte Markenbekanntheit, die Reputation, das Wissen um die Markenherkunft und
die Kommunikationsleistung müssen berücksichtigt werden. Das Markenimage ist ein
weiteres zentrales Anliegen: Es setzt sich aus den funktionellen und emotionalen Aspek-
ten zusammen, die ein Verbraucher mit einer bestimmten Marke oder einem bestimmten
Produkt bewusst und unbewusst assoziiert. Und zuletzt muss man die Informationskanäle
lokalisieren oder erkennen, die von den Endverbrauchern oder der B2B-Zielgruppe –
online oder offline – bevorzugt genutzt werden.
Wie kann man darüber hinaus den Markenwert aus Sicht des Verbrauchers messen?
Meistens prägen fünf unterschiedliche Dimensionen den Wert einer Marke. Der funk-
tionelle Wert verkörpert den Verwendungszweck und die Nützlichkeit einer Marke und
hängt davon ab, wie viel Sicherheit, Kontinuität und Vertrauen eine Marke ausstrahlt.
9.2 Die lokale Wahrnehmung der eigenen Marke verstehen 261
Der Prestigewert wiederum hängt davon ab, welchen Status eine Marke ihrem Nutzer
verleihen kann. Die Einzigartigkeit einer Marke bemisst sich daran, inwieweit sie dazu
beiträgt, ihre Nutzer von anderen zu unterscheiden. Wie und in welchem Ausmaß kann
eine Marke das Bedürfnis des Nutzers nach Individualität befriedigen? Der Selbstver-
wirklichungswert hängt von dem Ausmaß ab, in dem die Marke es ihrem Nutzer ermög-
licht, sich selbst zu entfalten und seine eigenen Werte und seinen eigenen Lebensstil zu
leben. Und zu guter Letzt ergibt sich der hedonistische Wert aus der emotionalen und
ästhetischen Funktionalität einer Marke. Er steigt mit der Fähigkeit der Marke, polysen-
sorische Erfahrungen zu ermöglichen und Gefühle wie Freude, Genuss und Vergnügen
freizusetzen und auszulösen (Wirtz und Göttgens 2004).
Sobald der Umfang und die Tiefe des Marken-Monitorings festgelegt wurden, muss
über die Befragungsmethode entschieden werden. Die entscheidende Frage bei die-
ser Herangehensweise lautet: Welches Instrument eignet sich am besten, um zutreffende
Antworten zu erhalten? Ein Fragebogen muss entwickelt werden, in dem die relevanten
lokalen und globalen Konkurrenzmarken und -produkte enthalten sein und auch länder-
spezifische Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen. Der Fragebogen muss korrekt
übersetzt werden und alle notwendigen Anpassungen globaler Elemente an den lokalen
kulturellen Kontext berücksichtigen. Deutliche Screening-Fragen spielen eine wesentliche
Rolle. Bei einem großen Anteil geschlossener Fragen sind die Ergebnisse weitaus präzi-
ser und belastbarer. Bei einer quantitativen Befragung bilden 15- bis 20-minütige Befra-
gungen die geforderte Obergrenze; Befragungen, die länger dauern, bergen das deutliche
Risiko, die Qualität der Daten signifikant zu senken. Aber die Fragen sind nicht das ein-
zige entscheidende Element. Die Gestaltung der Befragung ist von gleicher Bedeutung
und muss sehr sorgfältig überlegt werden. Welche Methode der Befragung wird ange-
wandt? Computerunterstützte Telefoninterviews (CATI)? Oder setzt man auf computer-
unterstützte Internet-Interviews (CAWI) oder ein Panel? Und wie steht es mit der Zahl
der Befragten? Bei weniger als 80 bis 100 Befragten sind die Ergebnisse unzuverlässig
und hinsichtlich ihrer Bedeutung schwer einzuschätzen. Und wenn man versucht, die
Unterschiede zwischen Städten oder Regionen zu berücksichtigen, wird man mehr als
1000 Befragte pro Land benötigen. Die Zahl der zu befragenden Menschen hängt von
der Bevölkerung und ihrer Diversität ab. Indien, Brasilien und Russland weisen jeweils
eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer Gruppen auf. Und angesichts der zunehmen-
den Urbanisierung muss der regionale Fokus sorgfältig ausgewählt werden: Reicht es
aus, Befragungen lediglich in den Metropolen und Ballungsräumen durchzuführen? Oder
sollte man sich eher an den Wachstumspotenzialen in den nachgeordneten Städten orien-
tieren? Und wie sieht es mit den großen Wirtschafts-Clustern aus? Nicht zuletzt ist auch
das Timing wie immer von entscheidender Bedeutung. Man sollte die Zeit großer Festtage
und Festlichkeiten in den Zielländern vermeiden, da die Menschen dann meistens weniger
bereit sind, an einer Befragung teilzunehmen. Aber dies ist gar nicht so einfach, da es etwa
in multiethnischen Ländern wie Indien über das ganze Jahr verteilt zahlreiche regionale
und nationale Festlichkeiten gibt. Wenn man diese Phase der Vorbereitung abgeschlossen
hat, wird man über einen ausgearbeiteten Entwurf des Fragebogens verfügen und kann in
einem Testlauf mögliche systemische Fehler erkennen und beheben.
262 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Aber wie kann man Feldforschung hoher Qualität in zuvor unbekannten Märkten leis-
ten? Die Umsetzung der Befragung muss angemessen erfolgen. Andernfalls wird keiner
der vorangegangenen Schritte wirksam oder erfolgreich sein. Der erste wichtige Schritt
im Forschungsprozess betrifft die sorgfältige Auswahl vertrauenswürdiger Mitarbeiter
für die Feldforschung. Um einen effektiven Ablauf zu gewährleisten, ist es ratsam, mit
einem etablierten Akteur oder einer renommierten Einrichtung zusammenzuarbeiten.
Günstige Angebote, die von unbekannten Einrichtungen vorgelegt werden, sind zwar
verlockend, aber sie enthalten oft versteckte Kosten und es mangelt an Qualität. In vie-
len Fällen sind diese scheinbar günstigen Angebote deshalb so niedrig, weil sie letztlich
nicht die relevanten Zielgruppen, sondern nur scheinbar gleichrangige Personen befra-
gen. Und dies kann leicht in eine falsche Richtung führen, was sehr viel Schaden anrich-
ten würde. Die Qualitätskontrolle und die Aufsicht des tatsächlichen Interviewprozesses
spielen eine Schlüsselrolle. Die Zusammenarbeit mit einem Marktforschungsinstitut
während der Feldforschung wird sich hinsichtlich regelmäßiger Aktualisierungen und
Anpassungen der Forschungsergebnisse als wertvoll erweisen. Die Auswahl eines sol-
chen Forschungspartners sollte mit Blick auf eine möglicherweise langfristige partner-
schaftliche Zusammenarbeit in vielen Ländern getroffen werden.
Nachdem dies alles abgeschlossen wurde, müssen die Daten analysiert und ausgewer-
tet werden, erst dann können auf ihrer Grundlage Empfehlungen ausgesprochen werden.
Was genau besagen die gewonnenen Erkenntnisse und welche weltweiten Auswirkungen
für die Marke ergeben sich aus den gesammelten Daten? Ein umfassender Forschungsbe-
richt mit einer sachgemäßen Datenanalyse und grafischen Auswertungen wird die wich-
tigsten Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Vorschläge zusammenfassend darlegen. Der
Bericht muss mit den weltweiten Berichtsstandards für bessere Transparenz und eine
effektivere Umsetzung abgestimmt werden. Wenn alle Hausarbeiten sorgfältig erledigt
sind, werden die Markentreiber, die vielversprechendsten Marktlücken und die wichti-
gen Medienkanäle herausgearbeitet worden sein. Jetzt müssen noch umsetzbare strategi-
sche Empfehlungen für das Führungsmanagement erarbeitet und formuliert werden. Die
sich daraus ergebenden Folgen für das lokale und globale Marketing, die Kommunikati-
onen und Medienplanung sollten eindeutig und unmittelbar dargelegt werden. Auf die-
ser Grundlage kann nun die Agenda für höheres Wachstum in den Schlüsselregionen des
neuen Marktes entwickelt werden.
1 Herausforderung: Bekanntheit
100% – BRIC Marken-Performance – Unternehmen – Zentrale Herausforderungen –
mit geringer • Fehlen einer fundierten „One-World-Strategie“ für BRIC
75% Bekanntheit und • Lokale organisatorische Aufstellung nicht ausreichend
daher schlechter • Langsame Expansion über die Primärstädte-Cluster
allgemeiner hinaus
50% • Abstand zwischen Firmenzentrale und
Markenperfor-
Landesbereichsleitung lässt sich kaum überbrücken
mance in allen • Unklare Festlegung einer marktgetriebenen Strategie
25% wichtigen auf Basis von Zielgruppen und Bedürfnissen in den BRIC
Dimension in • Unwirksame Aktivierungsstrategie und
den BRIC Medieninvestitionen, um die „Wahrnehmungsschwelle“
0%
Bekanntheit Image Wieder- Kauf Loyalität zu überwinden
erkennung
• Ineffektive Nutzung von Werbeträgern
2 Herausforderung: Image
100%
– BRIC Marken-Performance – Unternehmen – Zentrale Herausforderungen –
mit hoher • Unzureichende Nutzung lokaler Verbraucher-
75% Bekanntheit, kenntnis und daher keine raschen Zuwächse
aber einem • Fehlen einer relevanten, an die Erwartung der
schwachen lokalen Zielgruppe angepasste Positionierung (z.B.:
50%
Image Prestige-Wirkung)
gemessen an • Nur geringe Unterschiede zu wichtigen Wett -
25% Branchenmaß- bewerbern oder starken lokalen Marken in BRICs
stäben • Fehlen einer kreativen Umsetzung und wirksamen
Werbeträgerstrategie
0%
Bekanntheit Image Wieder- Kauf Loyalität • Mängel bei lokal relevantem Storytelling
erkennung
Performance auf eine Weise zu verbessern, die das Geschäft entscheidend beflügeln
kann. Die häufigsten Herausforderungen für ausländische Marken in den BRIC, die sich
aus einer elementaren Analyse der Marken-Performance ergeben, sind die folgenden:
• Anfängliche Markenbekanntheit
• Image
• Wahrnehmung und Kenntnis des Herkunftslandes
• Kaufaktivierung und Loyalität
vertreten und streiten um einen Platz im Bewusstsein und in der Erinnerung ihrer spe-
zifischen Zielgruppe. Dieser Konkurrenzkampf treibt die Preise für Werbeträger ständig
in die Höhe. So kann beispielsweise eine Werbetafel in der berühmten Einkaufsstraße
Huaihai Lu in Schanghai für einen Zeitraum von sechs Monaten leicht 750.000 US$ kos-
ten und ist damit möglicherweise teurer als ein entsprechender Werbeplatz in New York.
Vielfach sind diese Kosten unerschwinglich, sodass viele Markeneigentümer versucht
sind, Alternativen zu kostspieliger Außenwerbung und Fernsehspots zu finden. Aber
dann läuft der Markeneigner Gefahr, unterhalb der kritischen Wahrnehmungsschwelle zu
kommunizieren, d. h. unterhalb der Mindestschwelle, die notwendig ist, um die poten-
ziellen Kunden anzusprechen, die manchmal mit hunderten Werbebotschaften täglich
überhäuft und davon abgelenkt werden.
Das Problem der Wahrnehmung resultiert oft daraus, dass sich die Strategie für
einen Markteintritt auf unbestätigte Fakten und unzureichende Vorbereitung grün-
det. Das Unternehmen hat möglicherweise seine wichtigsten Zielgruppen bei der Fest-
legung der Strategie aus dem Auge verloren, oder es verließ sich bei der Entwicklung
der Eintrittsstrategie und der Festlegung des damit verbundenen Mediabudgets mehr
auf Wunschdenken. In den meisten Fällen gelingt es deshalb nicht, einen ausreichen-
den Bekanntheitsgrad zu erreichen, weil man dem Markt zu wenig Aufmerksamkeit
9.2 Die lokale Wahrnehmung der eigenen Marke verstehen 265
geschenkt hat, was sich in einer unzureichenden Organisation vor Ort, einer zu starken
Konzentration auf ausländische Managementfähigkeiten, fehlenden finanziellen Ressour-
cen sowie einer unzureichenden Aufmerksamkeit in der Unternehmenszentrale äußert. In
einigen Fällen war die Geschwindigkeit der Expansion und des Ausbaus der Ladenge-
schäfte vielleicht einfach zu langsam, da das Unternehmen es versäumte, über die Clus-
ter der Primärstädte hinaus schnell genug zu expandieren. China, Brasilien und Indien
bieten bereits jetzt große Möglichkeiten, in die ländlichen Regionen zu expandieren,
in denen Sekundär- und Tertiärstädte aus dem Boden schießen. Die chinesische Zent-
ralregierung ermuntert zu höheren Löhnen, um auf diese Weise den Übergang zu einer
Volkswirtschaft zu bewerkstelligen, die mehr von der Binnennachfrage gestützt wird. In
Indien haben die führenden Cluster und Primärstädte aufgrund der hohen Immobilien-
preise damit begonnen, Löhne und Mieten ihre Investitionen in das ländliche Hinterland
zu verlagern.
Nicht zuletzt ist auch das völlige Fehlen einer marktgetriebenen Positionierungsstrate-
gie auf der Grundlage der entsprechenden Zielgruppen und der Bedürfnisse in den BRIC
eine mögliche Erklärung für ein Problem mit der Markenbekanntheit. In einem solchen
Fall wurde vielleicht in die richtigen Werbeträger investiert, aber die allgemeinen Mar-
kenversprechen und die damit zusammenhängende kreative Vermittlung von Markenbot-
schaften fielen so schwach aus, dass der Großteil der Zielverbraucher sie nicht bemerkte.
Herausforderung 2: Image
Die zweite Herausforderung, die sich aus einem gründlichen und sorgfältigen Marken-
Monitoring ergeben könnte, ist ein Image-Problem. In diesem Fall ist es dem Unterneh-
men zwar gelungen, eine beachtliche Bekanntheit zu erreichen, aber gemessen an den
wirtschaftlichen Bezugsgrößen ist das Image noch zu schwach ausgeprägt. Die Verbrau-
cher oder B2B-Käufer eines BRIC-Marktes kennen zwar das zwar Unternehmen – aber sie
mögen es nicht oder halten es für arrogant.
In einem solchen Fall wurden die Kenntnisse über die lokalen Verbraucher zu wenig
genutzt. Dies kann zu großen Schäden führen, da ein klares Verständnis der Markentrei-
ber (die wichtigsten Entscheidungsfaktoren für eine Marke) in einer von starkem Wett-
bewerb geprägten Umgebung, die schnellen Veränderungen unterliegt, von wesentlicher
Bedeutung ist. Als Folge kann es zu einem Bedeutungsverlust der Marke und ihrer Ver-
sprechen für die lokalen Zielgruppen kommen. Sie erfüllte einfach nicht die Erwartun-
gen in dieser Produktkategorie – oder noch schlimmer – die Zielgruppe verstand nicht,
was die Marke bieten kann.
In vielen Fällen kann ein Imageproblem auch darauf hindeuten, dass die Abgrenzung
und Unterscheidung von starken und wichtigen Konkurrenten vernachlässigt wurde.
Wenn sich eine ausländische Marke zu sehr wie eine lokale Marke positioniert, ist es
wahrscheinlich, dass sie nur als eine von vielen gesehen wird und keine hervorgeho-
bene Bedeutung genießt. Die vorhandenen Verbindungen mit der lokalen Marke können
dann zu stark sein. Und nicht zuletzt gab es auch viele Fälle, in denen das Produkt und
die festgelegte Markenstrategie perfekt geeignet waren, auf dem lokalen Markt eine
266 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Wirkung zu erzielen; aber die tatsächliche Werbebotschaft, das Storytelling und die kre-
ative Umsetzung erfüllten die Ansprüche der Kunden nicht. Ein bestimmter Bekannt-
heitsgrad wurde zwar erreicht, aber der Kampagne gelang es nicht, einen maßgeblichen
und nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen.
Ein weiteres häufiges Problem könnte auch die begrenzte Zahl lokaler Vertriebsstellen
über die eigenen Markenladengeschäfte und internationalen Einzelhandelsketten hinaus
sein. Um Verbraucher auch außerhalb der Megastädte zu erreichen, sind Absprachen und
Vereinbarungen mit lokalen Supermärkten, Händlern oder Agenten entscheidend. Seit
Kurzem erweist sich der Verkauf über digitale Kanäle und die Lieferung des Produkts
durch Eilzustellung als tragfähige Alternative, um Lücken im Vertriebsnetz zu füllen.
Eine weitere in allen BRIC-Ländern vorhandene Herausforderung bildet die mangelnde
Auslastung und Einbeziehung grundlegender Elemente des Managements von Kunden-
beziehungen (CRM) und damit zusammenhängender Systeme in den lokalen Märkten.
So haben beispielsweise viele Autobauer in den BRIC in der Anfangsphase sogenannte
Kleinmarkt-CRM-Lösungen umgesetzt. Angesichts eines dramatischen Wachstums und
des raschen Anstiegs der Zahl der Autohäuser und des Fahrzeughandels insgesamt reich-
ten diese Lösungen nicht aus, um sowohl die Kunden als auch die Fahrzeughändler über
den gesamten Lebenszyklus hinweg zu unterstützen. Ein gelungener Markenaufbau, aber
schlechte Verkaufszahlen lassen sich auch durch das Fehlen wirksamer Kaufaktivierun-
gen in den Verkaufsstellen erklären. Die Arbeitskosten liegen in den BRIC deutlich unter
denjenigen in den meisten entwickelten Märkten. Daher ist es üblich, in den Ladenge-
schäften verkaufsfördernde Maßnahmen (In-Store-Promotion) einzusetzen, die die Auf-
merksamkeit aggressiv auf die Produkte lenken und den Kunden einen Anreiz geben, ein
neues Produkt auszuprobieren.
Bevor wir im nächsten Kapitel ausführlich unser Konzept einer erfolgreichen Anpassung
einer globalen oder internationalen Marke an lokale Wachstumsmärkte darlegen, werden
wir auf die drei elementaren Möglichkeiten eingehen, wie eine Marke oder ein Unter-
nehmen sich in einem neuen Markt hinsichtlich ihrer Herkunft positionieren und im
lokalen Markt behaupten kann. Da dies zu den wichtigsten Entscheidungen gehört, die
bei einer Expansion in den Weltmarkt getroffen werden müssen, werden wir in diesem
Abschnitt systematisch auf die ausschlaggebenden Faktoren eingehen, die eine solche
Entscheidung beeinflussen.
In allgemeiner Hinsicht wird Markenpositionierung als die „hohe Kunst des Mar-
ketings“ bezeichnet. Sie umfasst die aktive Gestaltung der Position einer Marke in den
Köpfen der Verbraucher, die den Zielmarkt bilden (Esch 2002). Bevor eine Entscheidung
über die spezifischen funktionellen und emotionalen Charakteristika getroffen wird, die
eine Marke ausmachen sollen, stellt sich die Frage: Woher kommt diese Marke in kon-
zeptioneller Hinsicht? Handelt es sich um eine globale Marke, die ihre weltweite Ein-
heitlichkeit und Beständigkeit in den Vordergrund stellt? Oder geht es um eine lokale
Marke, die eng auf die lokalen Vorstellungen und Gefühle der Verbraucher abgestimmt
ist? Oder handelt es sich gar um eine Mischung aus globaler Anziehungskraft und loka-
len Vorzügen?
268 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Die Entscheidung sollte in theoretischer Hinsicht ziemlich einfach zu treffen sein. Die
Wahl einer globalen Positionierung könnte aufgrund der damit verbundenen Skalenef-
fekte das kostengünstigste Vorgehen darstellen. Zugleich wäre sie einfacher von der Fir-
menzentrale aus zu steuern und zu kontrollieren. Im Gegensatz dazu kann die sogenannte
Hybrid-Positionierung, die versucht, den gesamten globalen Markenkern beizubehalten
und gleichzeitig besondere Aspekte der Positionierung und des Marketingmix zu loka-
lisieren, zu einer besseren Akzeptanz und einer tieferen Durchdringung des Marktes
beitragen. In einigen Fällen kann man mit genau auf die regionalen oder lokalen Präfe-
renzen zugeschnittenen Marken Schwierigkeiten vermeiden und höhere Umsätze sowie
Marktanteile erzielen. Aber natürlich gibt es klare Zielkonflikte zwischen den unter-
schiedlichen Positionierungsoptionen.
Vor allem vier wichtige Faktoren beeinflussen das Ausmaß einer nötigen Anpassung
einer ausländischen Marke an lokale Märkte:
1. Die Produktkategorie,
2. die Statusrelevanz,
3. der Verbraucherpatriotismus im Zielmarkt und
4. das Einkommensniveau der lokalen Zielgruppe.
Wenn man eine lokale und eine ausländische Positionierung gegeneinander abwägt,
muss man herausfinden, wie eng die Produktkategorie mit der lokalen Kultur verwo-
ben ist. Produkte wie Nahrungsmittel, Medikamente, mit bestimmten Festen und Feier-
lichkeiten verbundene Spirituosen und traditionelle Kleidung sind in der Regel eng in
lokale Kulturen und Wertvorstellungen eingebunden. In diesen Kategorien werden die
Verbraucher dazu neigen, lokale Marken oder internationalen Marken mit einem star-
ken lokalen Bezug zu bevorzugen. In anderen, innovativeren Kategorien wie Fahrzeuge,
Elektronik- und Sportartikel werden sich die Konsumenten in den aufstrebenden Märk-
ten eher gegen lokale Produkte und für globale Marken entscheiden. Aber noch ein wei-
terer Aspekt steht im Zusammenhang mit der Produktkategorie – das Ausmaß, in dem
lokale Verbraucher überzeugt sind, heimische Marken hätten sich bereits in dieser Pro-
duktkategorie bewährt. Da Nahrungsmittel beispielsweise eine Produktkategorie bilden,
deren Verbindung zur lokalen Kultur sehr eng ist, verfügen dort lokale Positionierungen
über einen natürlichen Wettbewerbsvorteil. Andererseits genießen ausländische Marken
in Regionen, in denen es lokalen Produzenten an entsprechenden Technologien oder am
Vertrauen der Verbraucher mangelt, einen Vorteil. Der Milchpulvermarkt in China liefert
ein überzeugendes Beispiel. Nachdem zahlreiche Skandale mit verunreinigtem Milch-
pulver das Vertrauen der Verbraucher in die lokalen Erzeuger zerstört hatten, wuchs die
Nachfrage nach Milchpulver aus Neuseeland und Deutschland massiv. Den Verbrauchern
war daran gelegen, ihre Kinder vor dem Genuss schädlichen Milchpulvers zu bewahren.
Abb. 9.4 veranschaulicht die unterschiedlich engen Verbindungen verschiedener Pro-
dukte zu ihrem jeweiligen kulturellen Umfeld.
9.3 Positionierung als globale, hybride oder lokale Marke 269
Traditionellere Kategorien
Innovativere Kategorien
Die zweite entscheidende Frage lautet: Wie sichtbar ist das Produkt und welche Rolle
spielt es dabei, den Status des Verbrauchers zu reflektieren und sichtbar zu machen? In
den Wachstumsmärkten nutzen Verbraucher gerne ausländische Marken als Mittel, um
einen bestimmten Status zu demonstrieren. Hinter diesem Verhalten stehen einige starke
Treiber und Motivatoren. Dazu können Erinnerungen an Probleme und Unzulänglichkei-
ten aus der Vergangenheit zählen (etwa die sozialistische Ära in Indien und die Verhält-
nisse in China unter Mao), als Privateigentum verpönt oder sogar verboten war. Viele
Verbraucher sehnen sich nach sozialem Ansehen („Seht her, was ich mir leisten kann!“)
oder wollen Teil des „globalen Dorfes“ sein. Chinesische Verbraucher, so scheint es, sind
oft zwischen zwei extremen Standpunkten hin- und hergerissen. Einerseits streben sie
nach westlichen Statussymbolen, um „mianzi“ („Ansehen“ oder „Gesicht“) zu erreichen,
andererseits hängen sie einem eher nationalistischen Bestreben an, chinesische Werte, zu
vertreten, wie dies in einem berühmten Artikel von Zhou und Belk (2004) im Journal of
Advertising beschrieben wurde.
Bei der Kaufentscheidung von Konsumenten in den Schwellenmärkten spielt auch
Verbraucherpatriotismus eine wichtige Rolle. Die Präferenz für ausländische gegenüber
lokalen Marken wird teilweise durch das Ausmaß des Verbraucherpatriotismus in einem
Land oder einem spezifischen Marktsegment geprägt. Einige gesellschaftliche Grup-
pen sind patriotischer als andere. In der Regel verhalten sich die traditionellen Eliten,
Verbraucher aus niedrigen Einkommensschichten und ältere Menschen patriotischer. In
einigen Fällen geht dieser Patriotismus auf historische Konflikte zurück. Aufgrund der
270 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Einkommensniveau vermögend
Und betrachtet man die Positionierung der Marke und die Prominenten und Popstars, die
Coke einsetzt, sowie die Behauptungen, die in der Werbung aufgestellt werden, findet
man kaum globale Elemente oder Bezüge zu westlichen Lebensstilen. Die Marke wurde
teilweise an die örtlichen Gegebenheiten angepasst und wird auch auf lokale Weise dar-
gestellt, um die Marktakzeptanz und den Umsatz zu maximieren. Fachlich gesprochen
handelt es sich bei Coke in China oder Indien um eine hybridisierte Marke (d. h., sie ist
eine Mischform aus globaler und lokaler Marke) – so global wie möglich und so lokal
wie funktionell erforderlich. Abb. 9.6 liefert einen Überblick über die Komplexität der
Anpassung der wichtigsten Markenmerkmale an die lokalen Bedingungen. Man erkennt,
dass es viele unterschiedliche Faktoren oder Niveaus gibt, die bei einer Marke mehr oder
weniger angepasst oder lokalisiert werden können.
In einigen Fällen ergibt sich eine Situation, die wir bei globeone als das „Lokali-
sierungs-Paradox“ bezeichnet haben. Was ist darunter zu verstehen? Wir sprechen von
einem Lokalisierungs-Paradox, wenn sich im Rahmen einer probeweisen Markenan-
passung an die Erwartungen und Bedürfnisse der lokalen Zielgruppe und die lokalen
Marktbedingungen herausstellt, dass die optimierte Marke ihre globale Markentradition
und ihr Herkunftsland noch deutlicher herausstellen, ausländische Prominente zu Werbe-
zwecken einsetzen und ihren weltweiten technologischen Vorsprung noch stärker als im
heimischem Markt betonen sollte. Im Prinzip geht es dann im Ergebnis um eine „lokale“
272 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Anpassung, die letzten Endes der Marke ein noch ausländischeres und globaleres Image
verpasst. Dies kann zu einer höheren Wertschätzung führen und in der Wahrnehmung
der lokalen Zielgruppe ein Preispremium rechtfertigen. Wir empfehlen daher, sorgfältig
zwischen den beiden Begriffen „lokale Anpassung“ (was eben auch bedeuten kann, dass
eine Marke ein globaleres Image erhält) und „Lokalisierung“ (unter der man allgemein
versteht, dass eine Marke so positioniert wird, dass sie vom Zielland als lokale Marke
wahrgenommen wird) zu unterscheiden. Bisher haben die meisten Autoren diese wich-
tige Unterscheidung nicht im erforderlichen Maße hervorgehoben und auf diese Weise
bei den Lesern ihrer Umfragen und Artikel für Verwirrung gesorgt.
Aus diesem Grund konzentrieren wir uns bei globeone auf die Begriffe „lokale
Anpassung“ und „marktgetriebene Positionierung“, was in der Folge auch zu einer mehr
globalen/ausländischen oder aber einer hybridisierten Positionierung, also einer Misch-
form aus lokaler und globaler Positionierung in den heutigen Wachstumsmärkten führen
kann. Leider haben viele globale Marken diesen pragmatischen Ansatz noch nicht auf-
gegriffen und daher ihre Marken und Angebote nicht angemessen auf die Bedürfnisse
derjenigen Zielgruppen in den BRIC zugeschnitten, die die zukünftigen strategischen
Wachstumschancen verkörpern.
9.3 Positionierung als globale, hybride oder lokale Marke 273
In Indien mit seinem ausgeprägten Geschmack für Gewürze und Aromen haben viele
ausländische Konsumgüterunternehmen erfolgreiche Markenkampagnen mit einer hybri-
den Positionierung geführt und dabei die globalen Markenversprechen und geschützten
Markenzeichen, Namen, Symbole und Logos der Marken eingesetzt, sich aber zugleich
an die lokalen Werte, Geschmäcke, Farben und Inhaltsstoffe angepasst. McDonald’s hat
seine Menüs bis zu 70 % „indisiert“ und verwendet mehr Geflügelfleisch, Fisch, Lamm
und indischen Hüttenkäse. Das Unternehmen hat sich als ein einladendes und erschwing-
liches Familienrestaurant positioniert, das ein außerordentliches Speiseerlebnis anbietet,
welches den Gast in eine gelöste Stimmung versetzt und ihm den Eindruck vermittelt,
etwas Besonderes zu sein. Die US-amerikanische Herkunft hat hier keine große Bedeu-
tung mehr.
Andere Unternehmen sind noch weiter gegangen und haben sich entschieden, mas-
sive lokale Anpassungen zu vollziehen. Frito-Lay hat die Geschmacksrichtung seiner
Kartoffelchips mit Produkten wie „Magic Masala“ an den lokalen Geschmack angepasst.
Nestlé hat in Indien eine große Instant-Nudel-Marke auf dem Markt gebracht, deren am
meisten nachgefragte Geschmacksrichtung den Namen „Indian Masala“ trägt. Unile-
ver etablierte unter dem Namen „Kissan“ ein führendes Ketchup- und Tomatensoßen-
Unternehmen, das u. a. auch die Geschmacksrichtung Tamarinde anbietet. Cadbury hat
Schokoladenköstlichkeiten unter der Markenbezeichnung „Dairy Milk“ mit der regional
bekannten süßen Füllung „Kalakand“ im Angebot. In einer Fernsehwerbung aus dem
Jahr 2013 wurde Dairy Milk in einem typisch indisch eingerichteten Apartment gefeiert,
wobei die beteiligten Personen in traditioneller Kleidung nach Bollywood-Art tanzend
und singend die Schokolade lobten.
In einem anderen Fall einer hybriden Positionierung gelang es Kraft Foods, mit
lokalen Anpassungen seiner bekannten Keksmarke Oreo Kunden in China und Indien
für sich zu gewinnen. Der mit Creme gefüllte Doppelkeks kam 1996 in China auf den
Markt. Ursprünglich hatte man angenommen, der Erfolg Oreos in anderen Ländern
werde sich auch in China problemlos wiederholen lassen. Aber der Keks wurde von den
chinesischen Konsumenten nicht angenommen. Daraufhin unternahm Kraft Feldfor-
schung im lokalen Markt. Wie sich herausstellte, mögen chinesische Verbraucher zwar
durchaus den Kontrast von bitter und süß, aber Oreo war ihnen eine Spur zu süß. Dar-
über hinaus war ihnen der Keks zu teuer. Kraft reagierte und brachte 2006 ein verän-
dertes Produkt auf den Markt. Eine Variante des neuen chinesischen Oreo bestand aus
vier knusprigen Waffelschichten, die mit Vanille- und Schokoladencreme gefüllt und mit
Schokolade umhüllt waren. Kraft informierte die Chinesen auch über die Angewohnheit
der US-amerikanischen Verbraucher, zuerst die Biskuit-Waffeln voneinander zu tren-
nen, dann die Cremefüllung abzulecken und den Keks anschließend in Milch zu tau-
chen, bevor sie ihn verzehren. Die Strategie, das Produkt auf den chinesischen Markt
zuzuschneiden, im Marketing aber auf die US-amerikanische Gewohnheit zu verweisen,
erwies sich als sehr viel erfolgreicher. Oreo wurde zum meistverkauften Keks in China.
Die 19,1 Mrd. US$ teure Übernahme von Cadbury ermöglichte Kraft nicht nur
den Zugang zum indischen Markt, sondern bot auch die Chance, die Lehren aus der
274 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Erfolgsgeschichte in China dort anzuwenden. Kraft wusste, dass Oreo zu einem sehr
wettbewerbsfähigen Preis angeboten werden musste. 2011 kam das Produkt als Cad-
bury Oreo auf den Markt. Die Kekse waren stärker gesüßt, und es wurden auch Inhalts-
stoffe aus der Umgebung hinzugefügt, um dem indischen Geschmack zu entsprechen.
Oreo wurde in verkleinerter Größe und mit einer Füllung mit Vanille-Creme auf den
Markt gebracht. Die Tradition, bittere Schokolade zu verwenden, wurde beibehalten,
und der Keks ähnelte seinen internationalen Pendants, um den indischen Verbrauchern
deutlich zu machen, dass sie das „Original“ kaufen. Die Marke wurde in Indien mit
einem Zusammengehörigkeits-Motiv vermarktet. Im Wesentlichen stützte man sich
dabei auf das Fernsehen, aber auch soziale Medien wurden einbezogen. Die Facebook-
Seite Oreos gehörte zu den am schnellsten wachsenden Seiten weltweit. Der Marktan-
teil der Marke für cremegefüllte Kekse wuchs von einem Prozent auf 30 %. Zusätzlich
ließ das Unternehmen Busse in einige hundert der kleinen Städte fahren. In einem lus-
tigen und zugleich auch anrührenden Oreo-Werbeclip ist zu sehen, wie ein Vater nach
der Arbeit nach Hause zurückkehrt. Seine kleine Tochter erwartet ihn mit den Schuhen
ihrer Mutter an den Füßen und überrascht ihn mit einem Teller mit den Keksen. Dann
zeigt die kleine Prinzessin ihrem Vater, wie der Keks gegessen wird. In einer lustigen
Wendung nimmt sie ihrem Vater den Keks, nachdem sie ihn in Milch getaucht hat, wie-
der weg und isst ihn selbst.
In Brasilien haben wohlhabende Verbraucher aus den oberen Bereichen der Mittel-
schicht in ihrem Verhalten und den Einkaufsgewohnheiten viele westliche Sitten über-
nommen. Sie gehören vermutlich zu den aufgeschlossensten Verbrauchern in den BRIC,
wenn es um den Kauf ausländischer Produkte und Marken geht. Acht der führenden zehn
Marken in Brasilien gehören laut einer TGI-Studie zu internationalen Unternehmen.
Ein letztes Wort zur Warnung: Die hier vorgeschlagenen Modelle geben zwar einen
gewissen Rahmen vor, um eine Anfangsstrategie festzulegen, aber natürlich gibt es viele
Ausnahmen und Sonderfälle. Dies gilt für spezifische Marktnischen und insbesondere im
Luxusgüter-Bereich. So entwickelte das französische Modehaus Hermès International
vor Kurzem seine eigene chinesische Luxusmarke mit Namen „Shang Xia“, obwohl sich
die meisten Luxusmarken selbst als globale Marke positionieren. In zwei Boutiquen in
Schanghai und Peking werden Kleidung, Juwelen, Möbel und Kunstwerke angeboten,
die vom traditionellen Kunsthandwerk inspiriert sind. Die Produkte richten sich an die
oberste Schicht der chinesischen Luxus-Verbraucher und sind alle handgefertigt. Her-
mès verkauft die sorgfältig gearbeiteten Shang-Xia-Produkte zu einem Preis, der knapp
unterhalb der Preise liegt, die es selbst in seinen eigenen Luxus-Ladengeschäften ver-
langt, und versucht, die Eleganz der traditionellen chinesischen Lebensweise mit dem
modernen Stadtleben zu verbinden. In den Geschäften werden aus seltenem Zitan-Holz
gefertigte Stühle und Teetische und Kaschmir-Kleidung im traditionellen Qipao-Stil
angeboten. Der Erfolg dieser Marke ist so groß, dass Hermès damit 2012 ins Ausland
expandierte und 2013 ein Ladengeschäft in Paris eröffnete.
9.4 Der marktgetriebene Positionierungsprozess 275
Wie bereits in den ersten Kapiteln dieses Buches dargelegt, mehren sich die Belege
dafür, dass Anpassungen in der Markenpositionierung sowie der allgemeinen Marke-
tingstrategie notwendig sind, um die Möglichkeiten, die die großen Wachstumsmärkte
bereitstellen, auch erfolgreich nutzen zu können. So listet zum Beispiel die Studie „Busi-
ness Perspectives on Emerging Markts 2012–2017“ einige Schlüsselfaktoren auf, die
entscheidend zum Erfolg ausländischer Unternehmen bis 2017 in den aufstrebenden
Märkten beitragen können (Global Intelligence Alliance 2012). Demnach handelt es
sich bei den drei wichtigsten Erfolgsfaktoren um den Zugang zum Kunden, gefolgt von
der Anpassung an die lokalen kulturellen Gegebenheiten und dem Aufbau einer starken
Marke. Der Anpassung an die lokale Kultur wurde von den Befragten größere Bedeu-
tung beigemessen als den Faktoren guter Partner vor Ort, gute Beziehungen zu Behörden
und der Regierung oder Preisgestaltung. Unter den zwölf wichtigsten Erfolgsfaktoren
stehen sechs in direktem Zusammenhang mit der Anpassung oder Lokalisierung von
Schlüsselelementen einer Marketingstrategie. Dazu gehören eine lokale Wettbewerbspo-
sitionierung, die Lokalisierung von Produkten und eine lokalisierte Promotion. Mehr als
20 % der Unternehmen erklärten in der Umfrage, sie hätten sich besser an die lokalen
Gegebenheiten des Marktes angepasst, und das Fehlen einer stärkeren Anpassung an die
lokalen Bedingungen und Preise wurde zum häufigsten Fehler in aufstrebenden Märk-
ten erklärt. Die Frage allerdings bleibt, wie man nun tatsächlich eine Marke an örtliche
Erwartungen und Erfordernisse anpasst, ohne die Wahrnehmung der Marke notwendiger-
weise in die einer lokalen Marke zu verwandeln.
globeone nutzt eine besondere analytische Planungsmethode mit der Bezeichnung
„Marktgetriebener Markenpositionierungsprozess“ (Market-Driven Brand Positioning
Process, kurz: MDBP), um Unternehmen und Markeneigentümer bei der marktgetrie-
benen Positionierung zu beraten und zu unterstützen. Abb. 9.7 zeigt die grundlegende
Struktur dieses Prozesses. Im Rahmen dieses Prozesses werden komplexe Datensamm-
lungen angelegt und ausgewertet, um sicherzustellen, dass das Markenversprechen für
die lokale Zielgruppe relevant ist und sich von denen der lokalen Konkurrenten unter-
scheidet, sich gleichzeitig aber immer noch im Rahmen der globalen Markenpositionie-
rung bewegt, um Inkonsistenzen oder Konflikte zu vermeiden. In vielen Fällen bietet der
marktgetriebene Positionierungsprozess globalen Unternehmen die Möglichkeit, ihre
Geschäftsgrundlagen und Geschäftsmodelle im Hinblick auf die weltweiten sich vollzie-
henden Veränderungen der Spielregeln zu überdenken. Nicht jedes Unternehmen ist dazu
bereit oder beherzt genug, zu handeln, solange noch die Möglichkeit zu Veränderungen
besteht, ohne eine existenzielle Krise heraufzubeschwören.
Die Daten, die in das Modell eingefüttert werden, stammen aus unterschiedlichen
Quellen. Neben der Nutzung von Forschungsergebnissen zum primären und sekun-
dären Markt sowie der Verbraucherforschung werden auch die Wahrnehmung der
Marke in sozialen Medien oder Kenntnisse aus internen CRM-Daten verwendet, um
eine optimierte Positionierung für den lokalen Markt zu entwickeln. Das Ziel ist immer
276 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Progressive Elaborate
das gleiche: die Begehrlichkeit einer Marke zu erhöhen und die Akzeptanzhürden in
den BRIC und anderen Emerging Markets wie Mexiko, Indonesien und der Türkei zu
senken.
Der erste Schritt in diesem Prozess umfasst die Sammlung und Sichtung des relevan-
ten Materials, das bereits innerhalb der Organisation verfügbar ist, sowie dessen erfor-
derliche Ergänzung durch zusätzliche Markt- und Verbraucherkenntnisse in der Phase,
die man als Marktscan bezeichnet. Die Ergebnisse dieses Scans liefern einen Überblick
über den Markt auf der Grundlage der verfügbaren Daten des Unternehmens und der
Konkurrenten sowie von Marktstatistiken und relevanten Medienberichten. Im Allge-
meinen ergibt sich hieraus bereits ein hinreichendes Bild, das es ermöglicht, viele sach-
dienliche Fragestellungen in die Gestaltung der folgenden Untersuchung des primären
Marktes oder eine Marktsegmentierung zu integrieren. Nach unserer Erfahrung verfügen
Unternehmen in vielen Fällen in ihren lokalen Organisationen und in der Unternehmens-
zentrale bereits über erhebliche Kenntnisse und Daten. Aber oft wird dieses verfügbare
9.4 Der marktgetriebene Positionierungsprozess 277
Wissen nicht angemessen genutzt oder nicht auf eine Art und Weise aufbereitet, die die
Entwicklung sinnvoller und umsetzbarer Strategien befördert.
Nach Abschluss des Marktscans besteht der nächste Schritt in der Relevanzanalyse.
Sie arbeitet die wichtigen Entscheidungstreiber für die Marke in den unterschiedlichen
Zielgruppen, die den Markt ausmachen, heraus. Wenn zum Beispiel Kunden dabei sind,
sich für ein neues Kraftfahrzeug aus dem Bereich der Premiummarken zu entschei-
den, sind sie dann eher an einem „dynamischen Fahren“ interessiert, oder wollen sie
ihre „Dominanz“ oder ihre „Eleganz“ oder ihr „hohes Niveau“ zur Schau stellen? Oder
geht es dieser Zielgruppe bei ihrer Entscheidung eher um das „hohe Sicherheitsniveau“
des Fahrzeugs? Bevorzugt sie vielleicht gar „luxuriösen Komfort“ oder ein „exquisites
Design“? Dies sind wichtige Unterscheidungen. Und welche Rolle spielen Faktoren wie
„Vernetzung“, „Innovation“ und „Nachhaltigkeit“ bei der Entwicklung von Markenprä-
ferenzen und Umsätzen in den einzelnen Zielmärkten? Wie kann eine Marke am bes-
ten zum Aufbau dieser Präferenzen beitragen? Es erscheint vielleicht schwer vorstellbar,
aber die wichtigsten Argumente für oder gegen eine bestimmte Automarke variieren
unter den einzelnen BRIC-Ländern stark, und auch die speziellen Erfordernisse, die an
die Fahrzeuge gestellt werden, fallen sehr unterschiedlich aus. Einige Beispiele:
Sicherheitsniveau
Wie gefährlich ist das Fahren? Wäre die Anschaffung eines größeren Fahrzeugs oder
SUVs angeraten? Wie wichtig sind aktive oder passive Sicherheitsausstattungen?
Fahrgewohnheiten
Wird selbst gefahren oder ist ein Chauffeur vorhanden? Kann also ein dynamisches Fah-
ren überhaupt am Steuer erlebt werden? Parkt, wäscht oder wartet die Zielgruppe das
Fahrzeug selbst?
278 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Sitzpräferenzen
Sitzt der Eigentümer oder Nutzer auf dem Rücksitz oder vorne? Wie geräumig und
gut ausgestattet muss der Fond sein? Wie viel Beinfreiheit wird mindestens erwartet?
Können die Komfort- und Kommunikationsfunktionen auch vom Rücksitz aus bedient
werden?
Technische Ausstattung
Sollte das Fahrzeug über die jüngsten Vernetzungs- und Unterhaltungsschnittstellen
verfügen? Wie vernetzt ist die Zielgruppe? Und welche Ausstattungen sind obliga-
torisch? Welche Gadgets sind zwar interessant, aber nicht ausschlaggebend für die
Kaufentscheidung?
Lokale Automobiltradition
Sind auf dem Markt wie etwa in Indien viele Kleinwagen vertreten? Gibt es nur drei-
oder fünftürige Fahrzeugtypen? Oder gilt – wie in Russland – das Motto „big is beauti-
ful“? Sind Heckklappen üblich oder dominiert der klassische Kofferraum?
Da sich die BRIC hinsichtlich dieser Aspekte deutlich unterscheiden, ist die Kenntnis
der unterschiedlichen Gegebenheiten entscheidend und muss bei der Entwicklung der für
die eigene Marke und ihre Produktlinie sprechenden Vorzüge einbezogen werden. Wenn
die Unterschiede zu gravierend sind, wird eine Anpassung der Markenpositionierung und
der Markenbotschaft allein nicht ausreichen. In einem solchen Fall müssen auch das Pro-
dukt und die Serviceangebote entsprechend den Markterwartungen angepasst werden.
In der Regel werden die relevanten Daten im Rahmen gezielter Zielkundenbefragun-
gen erhoben, die auch eine Relevanz-Performance-Analyse einschließen. Ein solcher
Ansatz zeigt, welche Faktoren für die Zielgruppe von erheblicher Bedeutung sind. Er
stellt diese Faktoren der aktuellen Performance der eigenen Marke und ihren wichtigsten
Konkurrenten gegenüber. Wenn eine umfassende Befragung der Kundenzielgruppe aus
Zeit- oder Kostengründen nicht machbar ist, kann man belastbare Ergebnisse auch aus
einer geringen Zahl von semiquantitativen Fokusgruppen herausarbeiten und diese mit
Befragungen interner und externer Fachleute kombinieren.
Globales Management neigt zwar im Allgemeinen dazu, einen einheitlichen globalen
Ansatz zu propagieren, aber viele Unternehmen mussten die bittere Erfahrung machen,
dass es einen gewaltigen Unterschied macht, welche Aspekte des globalen Markenmo-
dells auf lokaler Ebene betont werden; die richtige Auswahl kann Hindernisse aus dem
Weg räumen und eine lokal relevante Wahrnehmung der Marke entstehen lassen. Manch-
mal ist es praktisch unmöglich, erfolgreich zu sein, wenn man auf einem einheitlichen
weltweiten Ansatz beharrt; in anderen Fällen ist es zwar möglich, aber mit sehr viel
höheren Kosten verbunden: Diese Mehrkosten ergeben sich aus den erheblich umfang-
reicheren Marketing- und Media-Investitionen, die erforderlich sind, um die Menschen
davon zu überzeugen, ein Produkt zu kaufen, nach dem sie nicht gesucht hatten, aber
auch aus der schwachen Nachfrage und dem daraus folgenden Verlust der Preissetzungs-
macht im lokalen Markt.
9.4 Der marktgetriebene Positionierungsprozess 279
Eine weitere Frage von ähnlicher Bedeutung in den sich rasch verändernden Verbrau-
chermärkten der BRIC befasst sich damit, welche der wichtigsten Marktsegmente die
besten Wachstumsaussichten versprechen. Die Wahl des richtigen Wachstumssegments
ist eine wichtige Entscheidung in Märkten, die sich einem steigenden Wettbewerbsdruck
gegenübersehen. In vielen Wachstumsmärkten waren die traditionellen Verwaltungseliten
stark daran interessiert, Premiumfahrzeuge zu erwerben. Diese Leute, die über Bezie-
hungen zur Regierung verfügen, sind sehr gut vernetzt und nutzen diese Netzwerke auch
geschäftlich. Was nun ihre Orientierung angeht, handelt es sich bei den Angehörigen die-
ser Segmente um eher traditionelle, statusorientierte und manchmal patriotische Perso-
nen. Das Vorgehen von Audi in China liefert ein Beispiel für eine Strategie, die speziell
auf dieses Segment ausgerichtet ist. Zwischen 2000 und 2010 wich die Kampagne von
Audi in China deutlich von der allgemeinen, auf innovativer Technologie basierenden
Positionierung ab, die sonst weltweit zum Einsatz kommt. Für ausgewählte Modelle, ins-
besondere den A6 mit langem Radstand, konzentrierte sich die Marke mit maßgeschnei-
derten, an chinesische Verhältnisse angepassten Kommunikationen, die die chinesische
Kultur ins Zentrum rückten, auf die eher traditionellen Eliten. Diese Anzeigen verwiesen
auf die großen Errungenschaften der chinesischen Zivilisation, beispielsweise die Kal-
ligrafie, und verbanden diese Künste mit bestimmten Eigenschaften des Fahrzeugs wie
etwa harmonisches Design und dynamische Beschleunigung. Auf den ersten Blick unter-
scheidet sich diese Herangehensweise sehr von der sonst Audi-typischen Positionierung
„Vorsprung durch Technik“. Aber sie wurde in den traditionellen Verwaltungseliten sehr
gut aufgenommen. Abb. 9.8 und 9.9 zeigen die sehr unterschiedlichen Ansätze, derer
sich Audi damals bediente.
Als sich eine moderne und aufgeschlossenere Wirtschaftselite im Land herausbildete,
nahm die Vorherrschaft der politischen und Verwaltungseliten in den vergangenen Jah-
ren ab. Heute konzentrieren sich Audi wie auch Mercedes-Benz und BMW mehr auf die
jüngere, aufgeschlossenere und lifestyleorientierte Zielgruppe. Die jüngsten Kampagnen
reflektieren diese strategische Neuausrichtung. Heute bilden der individuelle Stil, die
modernsten Technologien und die individuelle Freude am Fahren nachweislich die Posi-
tionierungsthemen, die effektiver wirken und daher gegenwärtig häufiger als Werbever-
sprechen eingesetzt werden.
Um die in diesem Kapitel bisher geäußerten Gedanken zusammenzufassen, lautet
die mit Abstand wichtigste Frage: Welches sind die relevantesten Markentreiber für die
Menschen in den attraktivsten Marktsegmenten? Was führt mit anderen Worten dazu,
dass die Konsumenten der Zielgruppe eine bestimmte Marke oder ein bestimmtes Pro-
dukt kaufen? Wie sehen die funktionellen Erwartungen gegenüber der Marke, dem Pro-
dukt und damit verbundenen Servicedienstleistungen aus? Welche Schlüsselemotionen
beeinflussen das Segment am stärksten?
An dieser Stelle ist es wichtig, hervorzuheben, dass der von globeone entwickelte Pro-
zess der marktgetriebenen Positionierung (MDBP-Prozess) immer mit „Relevanz“ beginnt
und alle wichtigen funktionellen und emotionalen Markentreiber von Anfang an einbezieht.
Viele ausländische Unternehmen beginnen nicht mit diesem Schritt der Relevanzanalyse,
280 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Abb. 9.8 Beispiele aus einer Kampagne für den Audi A6, die sich gezielt an die traditionelle chi-
nesische Elite richtete. (Quelle: zur Verfügung gestellt von Audi)
sondern gehen von einer sehr viel enger gefassten Ausgangsposition aus. Diese bezieht
sich oft auf die Produkte, die auf den Markt gebracht werden sollen, oder auf ihre Planun-
gen zur ihrer eigenen Positionierung (viele Unternehmen zum Beispiel, die eine Home-
Replication-Strategie einsetzen, lassen in der Anfangsphase nur geringe Flexibilität bei der
Anpassung an lokale Bedürfnisse zu). Doch von Anfang an einen zu eng gefassten Ansatz
zu verfolgen, birgt substanzielle Risiken für einen langfristigen Erfolg in den BRIC, da die
Produkte, Lösungen und Markenversprechen, die möglicherweise tatsächlich den Markt
ansprechen, vielleicht nie ernsthaft als eine Angebotsoption in Erwägung gezogen werden.
Ein Unternehmen kann seine Erfolgsaussichten etwa dadurch schmälern, dass es versucht,
einen neuen Markt mit bereits existierenden Konzepten zufriedenzustellen, die den konkre-
ten Erwartungen in keiner Weise entsprechen. Eine solche naive Herangehensweise an glo-
bales Marketingmanagement entspricht nicht dem ursprünglichen Unternehmergeist, der
oft die Grundlage des Anfangserfolges eines Unternehmens bildete.
Die Abb. 9.10 zeigt beispielhaft die Bedeutung von Markentreibern in einem beson-
deren Zielsegment. In diesem Beispiel sind die Mitglieder des Segments „moderne
Wirtschaftselite“ in China sehr daran interessiert, ihren neuen sozialen Status zur
Schau zu stellen. Sie wollen ihre Überlegenheit über das alte System demonstrieren,
das es ihnen in der Vergangenheit nicht ermöglichte, ihre unternehmerischen Träume
9.4 Der marktgetriebene Positionierungsprozess 281
Abb. 9.9 Beispiele aus Kampagnen für den Audi A4 bzw. A8, mit denen die moderne Wirtschaft-
selite Chinas angesprochen werden sollte. (Quelle: zur Verfügung gestellt von Audi)
1
1 Distanz zum alten
1
2 System
Social status
2 Social status
Sozialer Status
2Demonstration of
3 superiority
Demonstration of
3 superiority
Demonstration
3Outstanding
der Überlegenheit
4 security
Outstanding
4 security
Spaß und
4
5 Freude
Technology
5 Technology
5 Technologie
zu verwirklichen oder viel Geld zu verdienen. Sie wollen Spaß und Vergnügen als will-
kommene Ablenkung von ihrer harten Arbeit und als Mittel zur Entspannung.
Erst und nur nachdem ein Unternehmen einen Markt und die Zielgruppe unvoreinge-
nommen analysiert hat, sollte es damit beginnen, zu entscheiden, welche der relevanten
Bedürfnisse und Wünsche es am besten befriedigen kann. In einigen Fällen bedeutet
dies zugleich, dass einige neue Kompetenzen entwickelt oder erworben werden müssen
(zum Beispiel durch gezielte Entwicklung oder Zukäufe). Was tatsächlich realisiert wer-
den kann, hängt möglicherweise nicht nur von konkreten Fragen wie einem relevanten
Produktportfolio oder produktionstechnischem Know-how ab, sondern auch vom gegen-
wärtigen Image der Marke. Manchmal sind globale Unternehmen überrascht, wie unter-
schiedlich sie – verglichen mit ihrem Image im heimischen Markt – im lokalen Markt
wahrgenommen werden. Es spielt also durchaus eine Rolle, ob die Stärke der Marken-
wahrnehmung und des Markenimages in einem Wachstumsmarkt spezifisch oder groß
genug ist, um die Zielgruppe davon zu überzeugen, dem angebotenen Produkt oder der
offerierten Dienstleistung zu vertrauen. Wenn dem Unternehmen oder der Marke die
erforderliche Markenstärke oder relevante Image-Assoziationen fehlen, ist eine systema-
tische Markenentwicklung erforderlich.
Neben der Frage der Lieferbarkeit in dem lokalen Markt kommt auch der Anpassung an
das globale Markenversprechen erhebliche Bedeutung zu. Die angepasste Markenposi-
tionierung oder das angepasste Angebot in dem betreffenden Wachstumsmarkt muss
sich immer noch nahtlos in die globale Marke einpassen. Ist dies nicht der Fall, wird
es aller Wahrscheinlichkeit nach später zu Konflikten mit der globalen Organisation und
der Gesamtkomplexität im Zusammenhang mit dem Management der Marke kommen.
Ein bestimmtes Maß an Anpassung ist im Allgemeinen notwendig. Fällt die erforderliche
Anpassung aber zu stark aus, wäre man gut beraten, in dem Markt eine separate Marke
aufzubauen, anstatt die schon existierende Marke oder das Markenportfolio zu überdeh-
nen. Man muss sich immer klar darüber sein, dass sich die Anpassung einer Marke auch
erheblich auf die interne Organisation auswirkt. Im besten Falle verstärkt die Anpassung
der Marke innerhalb der Organisation die Wahrnehmung, dass es wichtig ist, in erster
Linie den Kunden und die zentralen Bedürfnisse des Marktes im Auge zu haben. In
Unternehmen, die durch strikte zentrale Lenkung geprägt sind, kann eine radikale lokale
Anpassung auf das Management und andere Angestellte verwirrend wirken. Dies gilt
insbesondere dann, wenn der Prozess und seine strategischen Implikationen intern nicht
angemessen kommuniziert werden.
9.4 Der marktgetriebene Positionierungsprozess 283
Auch nach den ersten vier Schritten besteht immer noch die Notwendigkeit, die Positi-
onierungen der lokalen und globalen Konkurrenten in den lokalen Märkten zu verste-
hen. Warum? Zunächst einmal unterscheidet sich in den einzelnen Wachstumsmärkten
die Zusammensetzung der Wettbewerber oft grundlegend. So ist etwa der chinesische
Autobauer JAC, eine Marke, die den meisten Menschen in Europa oder den USA völ-
lig unbekannt sein dürfte, bereits mit vielen großen Autohäusern und einer aggressiven
Marketingtaktik in Brasilien präsent. Das chinesische Management von JAC hat Latein-
amerika aufgrund der dortigen niedrigeren Standards zu einem Prioritätsmarkt erklärt
und dort sehr aggressiv expandiert. Daher ist es geboten, die lokalen Märkte sorgfältig
nach den wichtigsten Konkurrenten zu durchforsten, selbst wenn sie auf dem heimischen
Markt praktisch keine Bedeutung haben.
Das sorgfältige Screening der Positionierung der Wettbewerber sollte auch noch aus
einem anderen Grund in jeder Positionierung geboten sein. Globale Wettbewerber, deren
Manager mit ihren Heimatmärkten sehr vertraut sind, entwickeln manchmal in den
BRIC-Märkten sehr unterschiedliche Positionierungen im Vergleich mit ihren Heimat-
märkten. Ein Beispiel dafür ist Hyundai. Der koreanische Autobauer positioniert sich in
Europa und den USA als eine kluge Wahl mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis.
Seine Positionierung in Wachstumsmärkten kann sich davon grundlegend unterschei-
den. In China zum Beispiel ist Hyundai auch im Bereich der oberen Mittelschicht auf
dem Vormarsch und positioniert viele seiner hochwertigeren Modelle mit einem ent-
sprechend höheren Preispremium als prestigeträchtig und wertvoll. Eine solche Posi-
tionierung wäre gegenüber der anspruchsvolleren Klientel in den Automobilmärkten
der Industrienationen wie etwa den USA oder Deutschland nur schlecht zu verkaufen.
Aber weniger erfahrene Zielgruppen in den BRIC schenken dieser Premiumpositio-
nierung eher Glauben. So wird Hyundai von deutschen Premiumproduzenten auf den
heimischen Märkten zwar nicht als Konkurrent wahrgenommen, doch in einigen der
BRIC-Märkten sollte er durchaus als ernst zu nehmender Mitbewerber betrachtet wer-
den. Ausländische Automobilmarken sind daher gut beraten, Wettbewerbsmarken wie
Hyundai als Konkurrent nicht aus dem Auge zu verlieren – und dies schließt die Pre-
miumsegmente ein. Ähnliches gilt für den koreanischen Reifenhersteller Hankook.
Diese dynamische Marke hat sogar eine spezielle Kampagne für China entworfen, die
besonders auf den Prestigefaktor und die Premiumqualität der Marke hinweist. Da eine
solche emotionale Prestigepositionierung im deutschen oder US-amerikanischen Markt
weniger überzeugend wäre, konzentriert sich Hancock hier stattdessen auf die Faktoren
„dynamisches Fahren“ und „Motorsport“.
Was hat man sich nun unter einer Analyse der wettbewerbsorientierten Kommunika-
tion vorzustellen? Es geht hierbei um die Analyse der Positionierung der Wettbewerber,
wie sie in allen Bereichen der Kommunikation (Anzeigen in Printmedien, Werbekam-
pagnen im Fernsehen, Internetseiten, Internetspecials, Materialien in den Verkaufsorten,
284 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Arakves Design
Hochqualitaver Service
Exklusiver Sl
Hohe Effizienz/treibstoffsparend
20% 40% 60% 80%
Sobald die Daten in den vorangegangenen fünf Schritten gesammelt und ausgewertet wur-
den, kann man die vielversprechendste Marke und die entsprechenden Produktangebote
auswählen. Bei jedem weiteren Schritt des marktgetriebenen Positionierungsprozesses kön-
nen Optionen ausgeschlossen werden. Die verbleibenden Optionen, die sich aus diesem
9.4 Der marktgetriebene Positionierungsprozess 285
rigiden Prozess ergeben, sind den ausgeschlossenen Positionen deutlich überlegen. Auf der
Grundlage der besten Konzepte und den damit verbundenen Markenversprechen ist es dann
möglich, konsistente Positionierungsrouten zu entwickeln, die an den Zielgruppen erprobt
und ggf. weiter optimiert werden können. Zusätzlich kann ein solcher Prozess auch dazu
beitragen, auf ähnliche Weise überzeugende Produkt- und Servicekonzepte zu entwickeln.
Um ihr Wachstum zu maximieren, müssen viele ausländische B2B- und B2C-Mar-
ken eine größere Herausforderung bewältigen. Einerseits verfügen sie über eine starke
globale Unternehmensmarke und globale Produktmarken, die global definiert sind und
in der Regel von der Konzernzentrale aus kontrolliert werden. Andererseits gibt es den
lokalen Markt mit lokalen Zielgruppen, unterschiedlichen lokalen Wettbewerbern und
einer völlig anderen Wirtschaftsumgebung. Infolgedessen muss man davon ausgehen,
dass die Zielgruppen ein Produkt möglicherweise aus unterschiedlichen Gründen vor-
ziehen. Nehmen wir als Beispiel die Automobilmarke Smart. In einem neuen Wachs-
tumsmarkt wäre es wichtig, die Zielgruppen über die deutsche Herkunft von Smart zu
informieren, um Vertrauen in die Qualität und Haltbarkeit des Fahrzeuges zu schaffen.
Trotz der Tatsache, dass Mercedes-Benz und Smart in den meisten Märkten der Industri-
eländer deutlich voneinander getrennt auftreten, ist es für die Verbraucher in den BRIC-
Ländern wichtig zu wissen, dass die Daimler-Gruppe hinter der Marke Smart steht, da
dies ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb mit anderen regional produ-
zierten Mikro-Fahrzeugen ist. Darüber hinaus stellen die hohen Sicherheitsstandards von
Smart bei Verkehrsverhältnissen, in denen Millionen unerfahrene Fahrer auf den Straßen
unterwegs sind und viele Unfälle geschehen, ein zentrales Anliegen der lokalen Verbrau-
cher dar, während dieser Aspekt der Smart-Fahrzeuge in den westlichen Märkten bereits
zu einem akzeptierten Bestandteil der Marke geworden ist. Und nicht zuletzt könnte es
wichtig sein, auf den großen Erfolg des Fahrzeuges in Städten auf der ganzen Welt hin-
zuweisen, in denen anspruchsvolle urbane Eliten das Fahrzeug zu einem Modeartikel
gemacht haben.
Dieses hypothetische Beispiel zeigt, dass es viele gute Gründe für eine Anpassung der
Positionierung und der damit verbundenen Wertzuweisungen einer globalen Marke oder
eines globalen Produkts an einen lokalen Markt geben kann. Wie bereits dargelegt, kann
diese lokale Anpassung paradoxerweise die besondere Hervorhebung der ausländischen –
oder in diesem Fall deutschen – Herkunft einer Marke beinhalten. Lokale Anpassung kann
also bedeuten, die ausländische Herkunft einer globalen Marke zu betonen, wenn die lokale
Zielgruppe eine solche Positionierung bevorzugt.
Ein lokaler Anpassungsprozess kann durchaus wesentliche Produktcharakteristika
beeinflussen: Der deutsche Autobauer BMW hat sich an die Marktrealitäten in China
angepasst. Die mit einem längeren Radstand versehene Version der neuen BMW 3er-
Serie wird als Modell, das exklusiv für den chinesischen Markt entwickelt wurde, bewor-
ben, da die chinesischen Eliten oft Chauffeure beschäftigen und im Fond mehr Platz
und Kontrolloptionen wünschen. Häufige – und in ihrer Zahl zunehmende – Staus in
286 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
großen chinesischen Städten verwandeln das Fahrzeug oft in ein mobiles Büro, in dem
bestimmte Tätigkeiten wie Telefonkonferenzen und der E-Mail-Verkehr abgewickelt
werden. Darüber hinaus wird das Fahrzeug auch in anderer Hinsicht als Business-Tool
genutzt und gewertet, da man damit Gastlichkeit demonstrieren und Kunden abholen
kann. Die Modelle mit dem längeren Radstand waren ursprünglich auf die 7er-Reihe
begrenzt. Aber die Anpassung an die Marktrealität führte dazu, dass BMW auch in der
5er-Reihe und seit Kurzem auch in der 3er-Reihe Modelle mit einem längeren Radstand
anbietet.
junge qualifizierte Fachkräfte, Karrierefrauen und die Wohlhabenden aus den ländlichen
Regionen – fragen stark Luxusgüter nach. Die stärkste Gruppe, die die Abkehr von einer
eher bescheidenen Lebensweise betreibt, sind die jungen Inderinnen und Inder, die in den
1990er Jahren zu Beginn der Reformen geboren wurden. Sie verdienen jetzt ihr erstes
Geld – und sie wollen es ganz groß ausgeben. Es gibt Millionen dieser Menschen, die nun
zum ersten Mal Gelegenheit haben, „richtig Geld auszugeben“, und dies wird für viele
Jahre ein starker Wachstumsmotor sein.
Ausländische Marken, die sich an diesem Goldrausch beteiligen wollen, müssen mit
den Präferenzen der Verbraucher vor Ort sowie dem örtlichen kulturellen Umfeld, in dem
sich diese Präferenzen entwickelt haben, vertraut sein. Aber was ist Kultur überhaupt?
Was sind kulturelle Werte und warum sind sie für eine erfolgreiche Markenentwick-
lung und Marketingstrategien wichtig? Im Folgenden wollen wir Licht auf diese Fragen
werfen. Zusätzlich werden wir ein Grundmodell wichtiger kultureller Werte und damit
zusammenhängender Konsummotivatoren für jeden der vier BRIC-Märkte darlegen.
Die Suche nach dem Wesen der jeweiligen Kultur ist eine fast beängstigende Auf-
gabe. In einem umfassenden Überblick listen Kroeber und Kluckhohn (1952) 164
unterschiedliche Definitionen auf. Da der Begriff „Kultur“ in vielen und sehr unter-
schiedlichen Bereichen benutzt wird, hat er auch sehr unterschiedliche Bedeutungen
und reicht von Mode bis zu antiken Gebräuchen, von Artefakten bis hin zu traditionellen
Ritualen, von traditionellen Verhaltensweisen zu Hause und in der Familie bis zu Ikonen,
denen in großen nationalen Palästen gehuldigt wird. Konkret könnte man Kultur als „die
Antwort des Menschen auf seine inneren Triebe“ bezeichnen. So ist zum Beispiel die
Nahrungsaufnahme an sich eine biologische Notwendigkeit. Aber die spezifische Art und
Weise (Rokeach 1973), wie wir sie als Gesellschaft befriedigen, wird zur „Esskultur“
(Ying 1999) Allgemein gesprochen könnte man Kultur als erlernte gemeinsame Vorstel-
lungen hinsichtlich Glauben, Wertorientierungen und Verhaltensmustern sowie als Sym-
bole der Kommunikation, der gemeinschaftlichen Beziehungen und Rituale bezeichnen,
die von den meisten Mitgliedern der Gemeinschaft ungeachtet einiger Abweichungen
zwischen gesellschaftlichen Schichten, Regionen, Gruppen und Einzelpersonen geteilt
werden (Kroeber und Kluckhohn 1952).
Während sich Kultur auf die Gesamtheit des menschlichen Verhaltens in einer Gesell-
schaft bezieht, werden kulturelle Werte als eine Reihe beständiger Überzeugungen
hinsichtlich vorzuziehenden Verhaltens oder eines Endzustands der Existenz, die von
Menschen aus dem gleichen kulturellen Hintergrund geteilt werden, bezeichnet. Kurz
gesagt drücken kulturelle Werte gemeinsame Vorstellungen von dem aus, was in einer
bestimmten Kultur gut und erstrebenswert ist, oder kulturelle Ideale (Schwartz 2006).
Dementsprechend bildete sich im Marketing die Überzeugung aus (Tse et al. 1989), dass
es sich bei Werten um einen mächtigen Faktor handelt, der die Motive der Verbraucher
sowie ihren Lifestyle und ihre Produktauswahl prägt (McCracken 1989).
Neben Familie, Gesellschaft, Religion und Schule haben sich im nachindustriellen
Zeitalter Massenmedien sowie digitale und soziale Medien zu weiteren wichtigen Ver-
mittlern dieser Werte entwickelt. Insbesondere stellte sich heraus, dass Werbung großen
288 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Einfluss auf die Darstellung und Vermittlung kultureller Werte besitzt. Im Zentrum der
Werbebotschaften (Cheng 1994) steht die Unterstützung, Verherrlichung und Verstär-
kung kultureller Werte (Pollay und Gallagher 1990). Da Marketingkommunikation und
Werbung auf Sprache und Bildern beruhen, werden sie durch kulturelle Werte stark
geprägt (Usunier 2000). Die kulturelle Umgebung, in der Menschen sozialisiert werden,
beeinflusst ihre Kommunikation. Man kann sagen, dass Menschen in einem gewissen
Ausmaß durch ihre Kultur und Gesellschaft konditioniert werden. Daher unterscheidet
sich das, was, wie und in welcher Situation gesagt wird, in verschiedenen Kulturen deut-
lich. Im Marketing hat man erkannt, dass kulturelle Unterschiede ein Grund dafür sind,
dass Verbraucher aus verschiedenen Ländern mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen
auf sie zugeschnittene Markenimages erforderlich machen (Roth 1995). In allen BRIC-
Ländern und auch in anderen Wachstumsmärkten reagieren Verbraucher auf Marketing-
kommunikation in einer Art und Weise, die mit ihren kulturellen Werten und Normen
übereinstimmt. Um eine wirkungsvolle Kommunikation zu erreichen, muss man das
soziale und kulturelle Umfeld, in dem diese Kommunikation stattfindet, kennen und ver-
stehen. So geben beispielsweise die kulturellen Charakteristika und Werte deutliche Hin-
weise, welcher Ansatz bei der Markenpositionierung oder welches Werbethema in dem
Markt eines bestimmten Landes besser ankommt.
Aber welche spezifischen kulturellen Dimensionen sind für das Marketing von beson-
derer Bedeutung? Es wurden bereits einige einflussreiche „Wertekataloge“ (sogenannte
„Value Frameworks“) erarbeitet, so etwa das Value Framework von Hofstede (1980), der
sich insbesondere auf arbeitsbezogene Werte stütz. Während Hofstede in vielen verschie-
denen Kontexten angewandt wurde, war seine Aussagekraft in Bezug auf Marketingfor-
schung doch eher begrenzt. Der Soziologe Shalom Schwartz (2006) entwickelte einen
komplexen Wertekatalog, der sich bei der Beschreibung systematischer Wertevariationen
in verschiedenen Ländern als sehr hilfreich und sinnvoll erwies. Auf der Grundlage von
Daten aus 73 Ländern konnte Schwartz sieben wichtige kulturelle Wertedimensionen
herausarbeiten, um Kulturen voneinander zu unterscheiden. Dabei handelt es sich um die
folgenden Wertedimensionen (siehe dazu auch Abb. 9.12, die diese Dimensionen zweidi-
mensional darstellt):
In der umfassenden Überprüfung seines Wertemodells verglich Schwartz für jedes Land die
wichtigsten Werte in allen sieben Dimensionen und verortete die Daten der einzelnen Län-
der in einer Karte von sieben kulturellen Orientierungen, die man in Abb. 9.13 sehen kann.
9.5 Lokale kulturelle Werte als Kauftreiber nutzen 289
Ägypten Kamerun
Einbettung (.98)
Äthiopien
Harmonie (.79) Jemen
Senegal
Lettland
Slowenien Slowakei
Nigeria
Egalitarismus (.75) Tschech. Rep. Bosnien-H. Georgien Fidschi
Estland
Italien Ungarn Zypern GR Philippinen
Bolivien
Finnland Malaysia
Spanien Polen Indonesien
Schweiz Norwegen Chile Mexiko Ghana
Singapur Südafrika
Belgien Uganda
Schweden Mazedonien
Rumänien
Venezuela Jugoslawien Nepal
Deutschland Iran
Dänemark Türkei Namibia
Österreich Argentinien Brasilien Russland Peru
Kanada FR Portugal Costa Rica Bulgarien Israel (arab.)
Jordanien
Niederlande Ukraine Taiwan
Frankreich Griechenland Australien Kroatien Zimbabwe
Irland Hongkong Indien
Canada
Intellektuelle UK ENG Japan Südkorea
Neuseeland
Autonomie (.93) Israel Thailand
(jüdisch) USA Hierarchie (.78)
China
Affektive Autonomie (.92) Können (.88)
Es wäre an dieser Stelle zu zeitaufwendig, das ganze Modell im Detail zu erklären, aber
einige wenige Schlüsselergebnisse im Zusammenhang mit den betreffenden BRIC-Märkten
sollten doch hervorgehoben werden.
Zunächst einmal ist deutlich zu erkennen, dass es substanzielle Unterschiede hinsicht-
lich der Wertorientierung zwischen den meisten westeuropäischen Ländern einerseits
und den BRIC – und hier insbesondere China und Indien – andererseits gibt. In China
und Indien wird „Hierarchie“, aber auch der benachbarten Dimension „Einbettung“ ein
sehr hoher Wert beigemessen. Die hohe Wertschätzung für Hierarchie bezieht sich auf
die Tatsache, dass in den meisten asiatischen Kulturen eine eher ungleiche Verteilung
von Macht, Positionen und Ressourcen als legitim angesehen wird. Die Menschen wer-
den so sozialisiert, dass sie die hierarchische Verteilung ihrer gesellschaftlichen Positi-
onen als gegeben akzeptieren und versuchen, die Verpflichtungen und Regeln, die mit
ihrem sozialen Status einhergehen, zu erfüllen. Das Kastensystem in Indien, das formell
zwar 1950 abgeschafft wurde, aber noch immer die sozialen Beziehungen des heutigen
Indien prägt, ist wahrscheinlich eines der besten Beispiele für eine hierarchische Sozi-
alordnung. Die zweite Dimension, die „Einbettung“, bezieht sich darauf, dass die Men-
schen stärker als Einheiten betrachtet werden, die in das Kollektiv einer Familie oder
Institution eingebunden sind. In solchen Kulturen ergibt sich der Sinn des Lebens zum
großen Teil aus den sozialen Beziehungen und Gruppenidentitäten. In Kulturen wie
China und Indien, die diese Dimension sehr schätzen, ist der Respekt von Tradition,
Gehorsam und Weisheit stärker als ein hohes Maß an Autonomie, Individualität oder
Selbstverwirklichung verankert.
Die Werteprofile Russlands und insbesondere Brasiliens sind weitaus ausgeglichener.
Allerdings weisen sie verglichen mit Europa immer noch ein deutlich höheres Niveau an
„Hierarchie“ und „Einbettung“ auf. Interessanterweise genießen „Können“ und „affek-
tive Autonomie“ in China einen relativ hohen Stellenwert. Dies ist vermutlich auf den
beeindruckenden Transformationsprozess zurückzuführen, den das Land seit Anfang der
frühen 1980er Jahre erlebt. Für den durchschnittlichen Chinesen ist es ein Allgemein-
platz, dass individuelles Wohlergehen eng mit individuellen Anstrengungen, Bildung und
Unternehmergeist verknüpft ist.
Die wichtigsten Unterschiede zwischen den BRIC und Westeuropa treten in den
Dimensionen „intellektuelle Autonomie“ und „Egalitarismus“ zutage. Länder wie
Deutschland, Italien und Schweden punkten vor allem, wenn es beispielsweise um das
Verfolgen eigener Ideen und persönlicher intellektueller Orientierungen geht. Zusätzlich
weist ein hohes Maß an „Egalitarismus“ darauf hin, dass die Menschen dort eine Bereit-
schaft und Verpflichtung zur Zusammenarbeit (auch außerhalb der eigenen Gruppe)
verinnerlicht haben und ihnen das Gemeinwohl ein Anliegen ist. Dies macht auch den
wichtigsten Unterschied zwischen Westeuropa und den USA aus. Während in den USA
Dimensionen wie „Können“ und „affektive Autonomie“ hoch angesehen sind, stehen in
Westeuropa deutlich „Egalitarismus“, „Harmonie“ und „intellektuelle Autonomie“ im
Mittelpunkt.
9.5 Lokale kulturelle Werte als Kauftreiber nutzen 291
Der von Schwartz (2006) gelieferte Rahmen spiegelt zugegebenermaßen nur die grö-
ßeren Wertorientierungen wider, aber er liefert wichtige Ausgangspunkte für eine tiefere
Analyse segmentspezifischer Verbraucherwerte, mit denen jeder globale Vermarkter ver-
traut sein sollte.
Nachdem wir nun die unterschiedlichen Ausprägungen derwichtigeren Wertorientie-
rungen in verschiedenen Ländern und wichtigen Untergruppen innerhalb dieser Länder
betrachtet haben, bleibt noch die Frage zu beantworten, in welchem Ausmaß es eine
positive Beziehung zwischen den (kulturellen) Werten, die eine Marke kommuniziert,
und der Akzeptanz dieser Marke durch Angehörige einer bestimmten Kultur gibt. In der
Marketingforschung ist diese Beziehung auch unter der Bezeichnung „Ähnlichkeits-
Akzeptanz-Hypothese“ bekannt. Sie besagt: Je ähnlicher die Werte, die eine bestimmte
Marke kommuniziert, den Werten sind, die von den Mitgliedern einer bestimmten
Gruppe geteilt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Marke für diese
Gruppe attraktiv ist.
Die meisten globalen Vermarkter und Markenexperten werden zwar einige gute Bei-
spiele für eine solche Beziehung kennen (Beispiele, in denen angemessen angespro-
chene, zentrale kulturelle Werte den Schlüssel für den Markterfolg bildeten), aber die
Forschung lieferte bisher noch keine nachhaltigen empirischen Belege. Dies geht wahr-
scheinlich darauf zurück, dass die realen Daten, die derartige Erfolgsgeschichten bele-
gen, in der Regel als vertraulich eingestuft und kaum publiziert oder wissenschaftlich
analysiert werden. Aber eine vor Kurzem veröffentlichte Umfrage des Marktforschungs-
instituts Fresh Intelligence aus Toronto legte umfassende empirische Belege dafür vor,
dass die Fähigkeit einer Marke, die zentralen Werte der Verbraucher in verschiedenen
Regionen zu reflektieren, direkt den Umsatz beeinflusst. Das Unternehmen verglich
Markenbotschaften, [Marken-]Wahrnehmungen, Verbraucherwerte und Umsatzzahlen
bekannter weltweiter Marken in Ländern wie Russland, Brasilien, China, den USA und
Kanada. Die Evaluierung der Verbraucherwerte gründete sich auf 22 unterschiedliche
Qualitäten wie „das Leben voll genießen“, „sich um Freunde und die Familie sorgen“,
„Respekt vor Traditionen“ oder „Erfolg“ (Sandler und Churkina 2011).
Abb. 9.14 listet einige der wichtigsten Unterschiede bei Werten auf, die die Markt-
forscher in den BRIC und anderen ausgewählten Ländern herausgearbeitet hatten. So
maßen beispielsweise aufgrund der raschen Veränderungen der letzten Jahre Chinesen
(87 %) und Russen (51 %) dem Streben, reich zu werden und wertvolle Dinge zu besit-
zen, hohe Bedeutung zu. Das Gleiche galt für den Wunsch, körperlich schön und für
das andere Geschlecht attraktiv zu sein. Hier lagen die Zustimmungswerte in China bei
81 %, in Russland bei 75 und in Brasilien bei 66 %. Auf der anderen Seite sahen es 90 %
der US-Amerikaner, 85 % der Australier und 79 % der Kanadier als wertvoll an, unab-
hängig zu sein und einen individualistischen Lebensstil zu pflegen.
Das von den Wissenschaftlern zu Testzwecken entwickelte Modell (siehe dazu
Abb. 9.15) geht davon aus, dass die Werte für „Glokalisierung“ (Kombination von glo-
balen und lokalen Faktoren) und Markenstärke eng miteinander korrelieren. Die allge-
meinen Ergebnisse dieser empirischen Untersuchung, an der 3000 Personen aus sechs
292 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Wert: Reichtum, Besitz prestigeträchtiger Dinge (%) N=3000, *Unterschied ist bei einem
Zustimmungsniveau von 95% signifikant.
87
44 51
22 27 22
Lokal
wahrgenommene
Markenwerte
Korrelation
+ Glokalisierungs-
ergebnis
Subjektive lokale
kulturelle Werte Je höher das
Glokalisierungs-
Korrelation ergebnis, desto
höher auch die
Markennutzung und Markenstärke
Bekanntheits-
metriken
Kombination
+ Markenstärke-
index
Markenwert und
Gesundheits-
metriken
Ländern teilnahmen, lässt nur wenig Raum für Interpretationen: Marken, die ihre Mar-
kenversprechen und Markenkommunikation möglichst eng mit den relevanten Verbrau-
chern in einem spezifischen Markt verbinden, sind in diesen Märkten erfolgreicher als
Marken, die das versäumen (siehe dazu Abb. 9.16). Im Allgemeinen erklärt die Fähig-
keit, eine Marke zu „glokalisieren“, zu etwa 55 % den unterschiedlichen Erfolg der zehn
westlichen Marken in dieser Untersuchung. Darüber hinaus zeigte sich, dass Länder mit
sehr unterschiedlichen Wertekanons – wie China und Russland – sogar eine noch höhere
Korrelation zwischen der Glokalisierung (oder wie wir es nennen: Marktgetriebene Posi-
tionierung = Market-Driven-Positioning), der Marke und ihrem Erfolg in den lokalen
Märkten aufweisen. China wies eine Korrelation von 0,79 auf, während sich für Russ-
land ein Wert von 0,73 ergab (Sandler und Churkina 2011).
Diejenigen ausländischen Marken, die beabsichtigen, sich an diesem „Goldrausch“ zu
beteiligen, sollten klugerweise die kulturellen Wertvorstellungen und Gewohnheiten der
neuen Kunden aus den unterschiedlichen Schichten der Einkommenspyramide berück-
sichtigen. Sie müssen mit den damit verbundenen Konsummotiven und Kauftreibern in
ihrer spezifischen Kategorie vertraut sein, andernfalls riskieren sie, ins Hintertreffen zu
geraten.
In den BRIC-Ländern unterscheiden sich kulturelle Werte und Gewohnheiten sehr,
aber sie weisen auch zahlreiche Gemeinsamkeiten wie etwa eine ausgeprägte Famili-
enorientierung und einen starken Nationalstolz auf. Im folgenden Abschnitt liefern wir
einen eingehenden Überblick über die wichtigsten Schlüsselwerte und ihre Auswirkun-
gen auf eine erfolgreiche Markenentwicklung in diesen Ländern.
China 0.79 62
Russland 0.73 55
Kanada 0.76 53
Brasilien 0.71 50
USA 0.66 44
Australien 0.62 38
0.745 55
Bezogen auf alle sechs
Korrelation ist bei einem Niveau
Märkte
von 0,05 signifikant
Abb. 9.16 Es zeigte sich eine starke positive Korrelation zwischen dem Glokalisierungsergebnis
und der Markenstärke. (Quelle: Sandler und Churkina 2011)
294 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Abb. 9.17 Der hohe Stellenwert der Familie und ihrer „kleinen Kaiser und Kaiserinnen“ wird
häufig über verschiedene Produktkategorien hinweg thematisiert. (Quelle: zur Verfügung gestellt
von Volkswagen China)
Abb. 9.18 Kulturelle Werte und Einflüsse sowie ihre Auswirkungen auf zentrale Konsummotive
und Werbethemen in China. (Quelle: zur Verfügung gestellt von globeone)
296 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
den Indien derzeit erlebt und der viele Gewinner, aber auch viele Verlierer hervorbringt,
weiter vorangetrieben. Volkswagen India setzte diese anspruchsvolle Motivation in
einem sehr emotionalen Fernsehwerbespot um. Dieser Werbespot zeigt einen Jungen, der
sich in einem VW-Showroom umsieht, um Autos zu bestellen. Der Verkäufer behandelt
den etwa zehn Jahre alten Jungen mit allem Respekt wie einen realen Kunden, der ein
Fahrzeug kaufen will. Zusammen planen sie für die kommenden Schritte auf der Kar-
riereleiter des Jungen. Zu seinem 18. Geburtstag ist dabei ein VW Beetle vorgesehen,
ein VW Jetta für seinen 24. Geburtstag, an dem er Vizepräsident werden wird, und zum
Schluss der VW Passat, wenn er zum Vorstandschef aufsteigt.
In jeder stolzen lokalen Kultur mit jahrhundertealten Traditionen und starken Fami-
lienbanden gibt es auch den Wunsch, sich von alten Gewohnheiten und Traditionen zu
lösen, um größere Individualität zu verwirklichen, Unabhängigkeit zu erlangen und
einen anderen Geschmack zu entwickeln. Folgerichtig werden Werbeappelle, die sich
solcher Kategorien wie Individualität, Kultiviertheit und Selbstverwirklichung bedie-
nen, immer populärer, wenn sie sich an diese Zielgruppe der urbanen oberen Einkom-
menssegmente richten. Aus diesem Grunde zeigt Lavie, einer der führenden Hersteller
und Anbieter modischer Handtaschen in Indien, in seiner Werbung junge und erfolgrei-
che Frauen, die ein maßgefertigtes modisches Outfit und elegante Lederhandtaschen vor
Luxusappartements tragen, um so ihre wachsende wirtschaftliche Unabhängigkeit zu
demonstrieren. In einem bekannten Fernsehwerbespot präsentiert Lavie einen extremen
Fall von Individualismus, als sich eine Dame nicht entscheiden kann, welche Farbe ihr
am besten steht, und damit die Verkäuferin fast zu Verzweiflung bringt.
Die indische Familie, die insbesondere in den urbanen Zentren zunehmend zwi-
schen Modernität und Tradition hin- und hergerissen wird, ist in Werbekampagnen ein
beliebtes Thema. Nehmen wir beispielsweise „Kurkure“ (das Hindi-Wort für „knusp-
rig“), ein Produkt, das in Indien von der PepsiCo-Tochter Frito-Lay India für den lokalen
Markt entwickelt wurde. Dieser salzige Snack bildete sozusagen eine Brückenkatego-
rie zwischen den indischen namkeens (einem Imbiss, der meistens zu Kaffee oder Tee
angeboten wird) und westlichen Kartoffelchips. Mit seinen lokalen Bestandteilen und
Aromen soll Kurkure dem für Indien typischen Geschmack entsprechen. Zu den aroma-
tischen Geschmacksstoffen gehören die stark lokalisierten Variationen „Masala Munch“,
„Green Chutney Rajasthani Style“ und „Tamatar Hyderabadi“. Anfang 2013 startete
Frito-Lay seine jüngste Werbekampagne, die die indischen Wurzeln der Marke vertie-
fen sollte. Zu der Kampagne gehört die Einführung einer neuen „Kurkure-Familie“ mit
fünf neuen Markenbotschaftern, darunter die bekannte indische Schauspielerin Pari-
neeti Chopra. Diese „Familie“ soll die dynamischen Veränderungen innerhalb indischer
Familien widerspiegeln. Einige verstehen dies als einen Seitenhieb auf die Tradition, ja
sogar als Karikatur der modernen indischen Familie. Zu den Mitgliedern dieser Familie
gehört die freche junge „bahu“ (Schwiegertochter), die gerne Rad fährt. Ihr Ehemann
schwärmt von Bollywood. Sein älterer Bruder spielt Computerspiele, während sein Kind
Kurkure-Snacks „verfallen“ ist. Die „dadi“ (Großmutter) ist ein „Social Butterfly“ (eine
Person, die zu allen und jedem freundlich ist) und in ihrem Herzen jung geblieben. Die
Schauspielerin Parineeti Chopra spielt die Ehefrau, die die ganze Familie zusammenhält.
9.5 Lokale kulturelle Werte als Kauftreiber nutzen 299
Sie ist einerseits sehr modern, respektiert aber zugleich die Traditionen. Laut PepsiCo
verkörpert Chopra die heutigen Schwiegertöchter, die die Vorboten der Veränderungen in
indischen Familien sind.
Dieser eben beschriebene Werbeappell spiegelt die Kaufmotivation der oberen Ein-
kommensschichten im städtischen Indien wider. Während manches Konsumverhal-
ten überall vorkommt, können sich andere Motive in den ländlichen Regionen großer
Wachstumsmärkte deutlich unterscheiden. Verbraucher außerhalb der wichtigsten Märkte
legen mehr Wert auf ein vernünftiges Preis-Leistungs-Verhältnis und weniger auf modi-
schen „Schnickschnack“. Sie ziehen Funktionalität vor. Auch religiöse und traditionelle
Einstellungen entfalten in den ländlichen Regionen in der Regel eine stärkere Wirkung
als in den Metropolen, in denen sich ausländische Einflüsse, Werbekampagnen und ein
moderner Lifestyle ausbreiten.
Vor einigen Jahren versuchte Nokia, mit seinem Mobiltelefon 5110 Boden zu gewin-
nen. Es zeigte die indische Trikolore und benutzte das berühmte (und vertonte) Gedicht
„Sare Jahan se Acha“ als Klingelton. Auch das Modell 1100 setzte Nokia gezielt als Ein-
stiegsmodell insbesondere in den aufstrebenden Märkten ein. Das Mobiltelefon „Made
for India“ besaß ein Blitzlicht, das bei Stromausfall als Ersatzlampe dienen konnte. Dar-
über hinaus war es schmutzunempfindlich, verfügte über eine rutschfeste Oberfläche und
war sehr preisgünstig. Nokia erreichte damit 2011 einen Marktanteil von 39 %, was die
Marktführerschaft bedeutete. Abb. 9.19 fasst die wichtigsten kulturellen Einflüsse und
damit zusammenhängende Konsummotive in Indien zusammen.
Abb. 9.19 Kulturelle Werte und Einflüsse sowie ihre Auswirkungen auf zentrale Konsummotive
und Werbethemen in Indien. (Quelle: zur Verfügung gestellt von globeone)
300 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Wie China und Indien weist auch Brasilien ein einzigartiges System von Werten und
Einflüssen auf, die für die Entwicklung erfolgreicher Positionierungsstrategien und
damit verbundener Marketingkommunikationen große Bedeutung haben. Brasilien
ist vor allem durch eine sehr stark ausgeprägte soziale Orientierung und einen starken
Familienbezug gekennzeichnet. Oft ist es für Brasilianer sehr wichtig, jemanden persön-
lich kennenzulernen, bevor man sich für eine geschäftliche Tätigkeit oder die fachliche
Kompetenz interessiert. Diese Orientierung auf den anderen als Person wird von einer
ausgeprägten Offenheit gegenüber ausländischen Konzepten und einer im Allgemeinen
optimistischen Haltung sowie einer deutlichen Konzentration auf sensorische und ästhe-
tische Erfahrungen begleitet. Die Flexibilität der Brasilianer ist bemerkenswert. In sei-
nem Buch „Marketing Across Cultures“ beschreibt der Wirtschaftswissenschaftler und
Marketingwissenschaftler Jean-Claude Usunier (2000) eine typische Situation, die viel
über die Flexibilität und den Pragmatismus der Brasilianer aussagt, die ihnen aber auch
die Fähigkeit verleihen, offizielle Regeln flexibel auszulegen. Usunier schildert hier seine
Erfahrungen mit Verkehrsampeln in Brasilien. Als er Freunde in Rio besuchte, die für die
Statistikbehörde arbeiteten, beobachtete er, dass die Regeln – Rot für Stopp, Grün für
Fahren – eher situationsbezogen befolgt werden. Sie werden grundsätzlich zwar während
des Berufsverkehrs und bei hohem Verkehrsaufkommen befolgt, aber in ruhigeren Zei-
ten mit weniger Verkehr werden sie von den Autofahrern auch auf den größeren Straßen
lediglich als Option betrachtet. Autofahrer aus kleineren Nebenstraßen können sich nicht
darauf verlassen, gefahrlos weiterfahren zu können, wenn ihre Ampel grün ist, da die
Autofahrer auf den größeren Hauptstraßen dazu neigen, ihren natürlichen Vorteil auszu-
nutzen, sich mit der Mehrheit der Fahrzeuge zu bewegen. Und in der Nacht halten einige
Fahrer in einigen Vierteln dieser lebendigen hektischen Stadt überhaupt nicht bei roten
Ampeln, weil sie Angst haben, dann von Räubern angegriffen zu werden.
Abb. 9.20 Der
gesellschaftliche Status zählt:
Diese Fernsehwerbung zeigt
eine extravagante, junge
brasilianische Frau, die sich
mit einem Eis der Marke
Magnum belohnt und sich von
ihrer Shoppingbegleitung wie
eine Königin behandelt fühlt.
(Quelle: Pressebilder von
Unilever Brazil)
9.5 Lokale kulturelle Werte als Kauftreiber nutzen 301
Der Wunsch, seinen eigenen sozialen Status und das damit verbundene Prestige zum
Ausdruck zu bringen, spielt bei Konsumentscheidungen in Brasilien ebenfalls eine starke
Rolle. Diese allgemeine Erscheinung ist in allen größeren Wachstumsmärkten festzustel-
len. Das Beispiel in Abb. 9.20, mit dem Unilever Brazil für die Eiscrememarke Magnum
wirbt, veranschaulicht auf nette Weise die etwas übertriebene Bedeutung des sozialen
Status in Brasilien.
Aber auch die Liebe zur Natur und der Stolz, Brasilianer zu sein, gehören zu den The-
men, die immer wieder in der Werbung vermittelt und benutzt werden. Egal, ob es sich
um Werbung für Hautpflegeprodukte, Autos oder Eiscreme handelt, stets zeigt die Wer-
bung glückliche Menschen, Strände, Musik und Tanz, helles Licht und Außenaufnahmen.
Der Getränkehersteller Guanraná Antarctica zeigt in einer bekannten Anzeige den brasili-
anischen Fußballspieler Neymar Jr. und einen jungen Mann, wie sie in ihren Strandstüh-
len sitzen und den Softdrink des Unternehmens genießen. Als sie beginnen, über Europa
zu reden, werden Bilder von Menschen eingeblendet, die in einem Schneesturm Fußball
spielen. Dann sieht man, wie Neymar fröstelnd an den Strand zurückkehrt und versucht,
seinen Brustkorb warm zu rubbeln, weil es auf der anderen Seite des Atlantiks so kalt
und unfreundlich ist. Die jungen Leute in der Werbung beschließen sofort, im wunder-
schönen Brasilien zu bleiben. In den letzten Sekunden des Werbespots schließt sich ihnen
eine Gruppe hübscher junger Frauen an, die auf dem farbenfrohen Strand tanzen.
Abb. 9.21 zeigt, wie kulturelle Wertvorstellungen und andere äußere Faktoren die
Motivation für Konsum und damit zusammenhängende Werbeappelle und entsprechen-
des Storytelling in Brasilien beeinflussen.
Abb. 9.21 Kulturelle Werte und Einflüsse sowie ihre Auswirkungen auf zentrale Konsummotive
und Werbethemen in Brasilien. (Quelle: zur Verfügung gestellt von globeone)
302 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Russland besitzt ebenfalls ein sehr individuelles System kultureller Werte, das einen
engen Bezug zur geschichtlichen, geografischen und sozialen Realität des Landes auf-
weist. Wie bereits in Teil 2 dieses Buches dargelegt, spielen Kollektivismus à la Sowje-
tunion und eine starke Familienorientierung im modernen russischen Verständnis immer
noch eine große Rolle. Dies wird durch das Wertesystem der orthodoxen Kirche sowie
die Notwendigkeit informeller Netzwerke und familiärer Beziehungen, die für das Über-
leben nach den Reformen der 1990er Jahre besonders wichtig waren, noch verstärkt.
Abb. 9.22 Das Land des Quattro: Russlands Straßen stellen eine enorme Herausforderung dar
und die Verbraucher schätzen Fahrzeuge, die diesen unwirtlichen Bedingungen gewachsen sind.
(Quelle: zur Verfügung gestellt von Audi)
9.5 Lokale kulturelle Werte als Kauftreiber nutzen 303
Ebenfalls eng mit diesen Entwicklungen verknüpft ist die heutige starke Orientierung in
Richtung persönlicher Beziehungen zu Menschen in Machtpositionen. Zu den weiteren
Faktoren, die die russische Seele und die Verbraucherpräferenzen maßgeblich prägen,
gehört die oft unwirtliche natürliche Umgebung mit ihren niedrigeren Temperaturen, den
langen Distanzen und einer relativ schlechten Infrastruktur. Die Audi-Werbekampagne
(siehe Abb. 9.22) hebt besonders die Fähigkeit des Audi SUV hervor, diese schwierigen
Wetterbedingungen und schlechten Straßenzustände zu meistern. Über diese naturgege-
benen Schwierigkeiten hinaus sind es die Russen auch gewohnt, mit den Schwierigkeiten
fertig zu werden, die sich aus schwachen Institutionen, einer sehr volatilen Volkswirt-
schaft und der vorherrschenden Rolle des Staates in vielen Lebensbereichen ergeben.
Ein ausgeprägter Nationalstolz, die Bewunderung für das ebenfalls mit Stolz betrach-
tete sowjetische Erbe sowie Respekt vor staatlicher Autorität, vor Hierarchien und
zuweilen auch dem Militär, beeinflussen einige weit verbreitete Wertvorstellungen in der
russischen Gesellschaft. Diesen eher nostalgischen Einflussfaktoren stehen stärker wer-
dende und in die Zukunft reichende Motive gegenüber. Dazu zählen etwa ein neues Kon-
sumdenken sowie eine starke Orientierung an ausländischen Konzepten, wozu auch eine
stärkere individualistische Ausrichtung gehört. Abb. 9.23 liefert einen Überblick über
diese Wertorientierungen und Einflüsse sowie über ausgewählte Motive für Konsument-
scheidungen und damit zusammenhängende Werbeappelle.
Abb. 9.23 Kulturelle Werte und Einflüsse sowie ihre Auswirkungen auf zentrale Konsummotive
und Werbethemen in Russland. (Quelle: zur Verfügung gestellt von globeone)
304 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Abb. 9.24 In einer Werbung in Russland betonte Range Rover deutlich die in seiner ausländi-
schen Herkunft begründete Anziehungskraft der Marke. (Quelle: zur Verfügung gestellt von Jaguar
und Land Rover)
9.5 Lokale kulturelle Werte als Kauftreiber nutzen 305
Kategorie
Automobil/ATL (klassische, traditionelle Werbung) und Digitales
Land
Russland
Agentur
Serviceplan Russia
Situation
Der Wettbewerb im Segment für Premiumautos ist sehr intensiv, und die Verbraucher
widmen Fahrzeugen und insbesondere Luxusfahrzeugen besondere Aufmerksamkeit.
Derartige Fahrzeuge sind mehr als nur Verkehrsmittel. In Russland ist das Fahrzeug
in allererster Linie ein Statussymbol, das deutlich macht, welche Sprosse der sozi-
alen Leiter jemand bereits erreicht hat. Darüber hinaus verweist es auf die Lebens-
einstellung des Besitzers. Aufgrund ihres erheblichen Wohlstandes legen russische
Großverdiener großen Wert auf hochwertige Luxusausstattung sowie die dem Status
entsprechende Ausstrahlung. Infolgedessen muss die Kommunikations- und Werbe-
strategie diese Aspekte berücksichtigen. Gerade die Einführung von hochwertigen
Luxusprodukten ist für die Hersteller von besonderer Bedeutung, da sich das Image
der führenden Modelle auch auf die von einkommensschwächeren Schichten bezahl-
baren Modelle auswirkt.
306 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Strategie
Die hohen Werbeaufwendungen und die engen Zeitpläne erlauben es oft nicht, Werbe-
kampagnen zu entwerfen, die ausschließlich auf den russischen Markt zugeschnitten sind.
Andererseits muss die Werbung Werte kommunizieren, die den lokalen Einstellungen und
Emotionen sowie dem speziellen Marktumfeld entsprechen. Werbung im russischen Pre-
miummarkt muss im Allgemeinen sehr auffällig und direkt sein und zahlreiche Symbole
für Prestige, Überlegenheit, Dominanz und ultimatives Fahrvergnügen enthalten.
Abb. 9.25 In der ersten Phase der Einführungskampagne der BMW 7er-Reihe wurde besonders
das Prestige als ausländische Marke hervorgerufen und durch den Anspruch auf Überlegenheit
unterstrichen. (Quellen: zur Verfügung gestellt von BMW Group und Serviceplan Russia)
9.6 Individualismus und emotionale Kommunikationsansätze 307
Abb. 9.26 In der zweiten Phase der BMW-Kampagne „Declaration of Superiority“ stand die
luxuriöse Innenausstattung der Fahrzeuge im Mittelpunkt. In einer solchen Umgebung falle es laut
BMW leicht, auch große Entfernungen zu überwinden. (Quellen: zur Verfügung gestellt von BMW
Group und Serviceplan Russia)
dass man selbst ein einzigartiges Individuum ist, das über ausgeprägte Meinungen ver-
fügt und unabhängige, eigene Entscheidungen trifft – von Land zu Land variiert. In China
und Indien lag die Wertschätzung des Individualismus nur bei 20 bzw. 48 %, während
sie erwartungsgemäß in den USA mit 91 % und in Großbritannien mit 89 % einen sehr
hohen Wert erreichte (Hofstede o. J.). Diese Ergebnisse (siehe dazu Abb. 9.27) stimmen
auch mit den Resultaten aus dem Wertemodell von Schwartz (2006) überein, auf das wir
in Abschn. 9.5 bereits eingegangen sind. Schwartz stellte fest, dass die USA relativ hohe
Zustimmungsraten auch in den Kulturdimensionen „Können“, „intellektuelle Autonomie“
und „affektive Autonomie“ aufweisen.
Aber die Zeiten beginnen, sich zu ändern. Es gibt vor allem einen starken emotiona-
len Faktor, den Vermarkter ausländischer Marken nicht übersehen dürfen. Dabei handelt
es sich um den Wunsch vieler Verbraucher aus den BRIC, nach den vielen verlorenen
Jahren unter strikter kommunistischer (China, Russland), sozialistischer (Indien) oder
diktatorischer Herrschaft (Brasilien) endlich gleichzuziehen. Für viele Menschen in den
BRIC war es bis in die 1980er und 1990er Jahre ein praktisch unerfüllbarer Traum, ein
Auto oder eine Wohnung zu besitzen oder in andere Länder zu reisen. Heute ist für viele
urbane Angehörige der Oberschicht in den BRIC-Ländern der Besitz teurer Konsumgü-
ter eine Selbstverständlichkeit.
Da den Verbrauchern in China, Indien, Brasilien und Russland immer mehr frei ver-
fügbares Einkommen zur Verfügung steht, wachsen auch ihre Ansprüche und ihr Streben
nach Unabhängigkeit. Die Individualität nimmt zu. Es trifft zwar zu, dass diese Entwick-
lung von einem niedrigen Niveau ausgeht und dass es noch ein langer Weg sein wird, um
das hohe Niveau des Individualismus im Westen zu erreichen. Aber der Trend ist eindeu-
tig. In China ist eine ganze Generation „Kleiner Kaiser“ aufgewachsen, die nicht mehr
89% 91%
81%
67%
48%
20%
66%
58%
Größere Individualität und persönliche Freiheit gehen manchmal zulasten anderer und
führen häufig zu moralischen Krisen oder Konflikten in der Familie, der Ehe oder sogar
im Zusammenhang mit der Mutterschaft. Marken, die dazu beitragen, diese Spannungen
zu reduzieren oder Lösungen für Kompromisse anbieten, haben aller Wahrscheinlichkeit
nach im Markt einen Wettbewerbsvorteil.
Marketingwissenschaftlern und Managern war seit Langem bekannt, dass eine wich-
tige Methode einer erfolgreichen Markendifferenzierung darin besteht, emotionale
Vorteile so mit der Markenidentität zu assoziieren, dass sie das Selbstverständnis der
Zielgruppe reflektieren. Wie Menschen verfügen auch Marken über eine Identität, die
Persönlichkeitsmerkmale, Werte und eine Vision sowie Kompetenzen und eine Herkunft
beinhaltet (Aaker 1997). Die emotionalen Persönlichkeitsmerkmale müssen dann in die
funktionellen Vorzüge, die mit der Marke identifiziert werden, integriert werden. Dies ist
vor allem für Branchen wichtig, in denen die Möglichkeit einer funktionellen Differen-
zierung gering ist (etwa Finanzdienstleistungen oder Müsli) oder in denen ein intensiver
Preiswettbewerb stattfindet. Mit steigendem Einkommen sowie zunehmendem Streben
nach Eleganz suchen BRIC-Konsumenten immer stärker nach emotionalen Vorzügen
und einer Reflexion ihrer eigenen Werte, wenn sie Kaufentscheidungen treffen. Dieser
Trend muss aufmerksam verfolgt werden, denn es tauchen immer mehr wissenschaftli-
che Belege für die Beziehung zwischen einer Konsumentenpersönlichkeit – definiert als
individuelle Kombination emotionaler, einstellungs- und verhaltensbezogener Reaktions-
muster – und Markenpräferenzen auf (Mulyagenara und Tsarenko 2005).
Das Forschungsprojekt „Global Consumer Trends“ des International Markets Bureau
Canada (2010) setzte sich ebenfalls mit dem Thema Individualismus in den Entwick-
lungs- und Industrieländern auseinander. In lateinamerikanischen und asiatischen
Ländern stellte es fest, dass jüngere Generationen in immer sichereren Verhältnissen auf-
wachsen und infolgedessen dazu neigen, in höherem Maße individualistische Werte als
ihre älteren Mitbürger anzunehmen. Die Untersuchung unterscheidet zwischen den drei
Verbrauchersegmenten „Ich komme an erster Stelle“, „Es geht nur um mich“ und „Nur
für mich“ („me first“, „only me“ und „just for me“).
Die Verbraucher der Kategorie „Ich komme an erster Stelle“ stellen ein hohes
Anspruchsdenken zur Schau und lehnen eine offizielle Botschaft leicht ab. Diese Verbrau-
cher weisen ein zunehmendes Selbstbewusstsein auf und fördern einen anspruchsvolleren
Markt. Diesem Segment müssen Vermarkter eindeutige und einfache Botschaften präsen-
tieren sowie Vertrauen und Individualität vermitteln. Das hat deshalb so große Bedeutung,
weil diese Konsumenten eine hohe Bereitschaft aufweisen, neue Dinge auszuprobieren.
„Es geht nur um mich“-Konsumenten leben in Einpersonenhaushalten – zumeist in
den Metropolen und urbanen Zentren. Aufgrund der Urbanisierung, eines späteren Hei-
ratsalters und einer sich verändernden Wahrnehmung für Verantwortung in der Familie
wächst ihre Zahl in den aufstrebenden Volkswirtschaften rasch. Sie benötigen Produkte
und Marken, die für ihre Bequemlichkeit sorgen und in kleineren Mengen verfügbar
sind. Normale Inhaltsgrößen, die allerdings auf kleinere und einzelverpackte Einheiten
verteilt werden, sind bei dieser Personengruppe sehr beliebt.
9.6 Individualismus und emotionale Kommunikationsansätze 311
Bei Konsumenten des Segments „Nur für mich“ handelt es sich um Individualisten,
die genau wissen, was sie wollen. Produkte müssen sich hinsichtlich Design und Ver-
packungsgröße an ihren spezifischen Bedürfnissen orientieren. Strategien, die konsu-
mentengenerierte Inhalte aufgreifen, können sehr erfolgreich sein. Marken sollten diese
Konsumenten auffordern, inhaltlichen Input zu liefern. Kundenanpassung besitzt ent-
scheidende Bedeutung. Strategien wie das Konzept „Whopper Bar“ von Burger King,
wo Kunden unter 22 verschiedenen Toppings und Soßen wählen können, sind manchmal
sehr populär.
In Ländern wie China und Indien vollzieht sich Individualisierung innerhalb eines
engen gesellschaftlichen Rahmens. Tom Doctoroff (2012), Verfasser des Buches „What
Chinese Want“, ist der Ansicht, chinesische Verbraucher seien von einem ständig prä-
senten Konflikt zwischen Abgrenzung und Anpassung getrieben. Aber dennoch schät-
zen Chinesen verglichen mit anderen Ländern Individualität als Wert immer noch nicht
besonders hoch. Es gibt jedoch bei den höheren Einkommen einen deutlichen Trend in
Richtung Individualismus innerhalb eines gesellschaftlich akzeptierten Rahmens. Die
Zahl der Verbraucher, die nach Produkten suchen, die ihren individuellen Lebensstil
widerspiegeln, wächst rasch. Produkte, denen es gelingt, den wachsenden Individualis-
mus dieser Verbrauchersegmente widerzuspiegeln, werden die Kaufentscheidungen in
China massiv beeinflussen (Doctoroff 2012).
In den vergangenen fünf Jahren erwiesen sich insbesondere Frauen als eine trei-
bende Kraft hinter dem Wachstum der Mittelschicht in China. Aber ihre Rolle als
wichtiger Einflussfaktor im Zusammenhang mit dem Haushaltsbudget wird kaum ver-
standen. Sie besitzen nicht nur bei der Entscheidungsfindung in ihren eigenen Familien
eine einflussreiche Rolle, sondern auch bei den Kaufentscheidungen ihrer Eltern, die in
derselben Wohnung oder doch nahe in der Nachbarschaft wohnen. Der Begründer der
Volksrepublik China, der Vorsitzende Mao Zedong, prägte einmal den berühmten Satz:
„Frauen tragen die Hälfte des Himmels“, was bedeutete, dass Frauen ein gleichberech-
tigter integraler Bestandteil der kommunistischen Gesellschaft und Arbeiterschaft sind.
Heute tragen Frauen etwa die Hälfte zum Einkommen der chinesischen Haushalte bei.
In den 1950er Jahren waren es gerade einmal 20 %. Seit der Gründung der Volksrepu-
blik China 1949 boten sich Frauen aller Altersgruppen deutlich bessere Bildungschan-
cen, und viele machten als Angestellte Karriere. Zusätzlich besitzen sie ein wichtiges
Mitspracherecht in der letzten Entscheidung über den Kauf teurer Konsumgüter. Die
Männer treffen vielleicht die endgültige Entscheidung. Aber es hat sich gezeigt, dass
die Entscheidung der Frauen in der Regel das gleiche Gewicht hat. Viele chinesische
Männer berichten, ihre Ehefrauen müssten allen Einkäufen zustimmen, wenn es etwa
um die Einrichtung und Gestaltung der Wohnung oder des Hauses oder aber um Ein-
käufe geht, die eine bestimmte Höhe überschreiten. Die Frauen in Schanghai sind dafür
bekannt, die völlige Kontrolle über die Familienfinanzen zu übernehmen. Das Fami-
lienkonto läuft oft auf ihren Namen, und sie geben ihren Ehemännern sozusagen ein
wöchentliches Taschengeld. Einer Umfrage zufolge kontrollieren 52 % der Frauen in
China die Familienfinanzen, und 44,5 % diskutieren die Finanzangelegenheiten mit
312 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
anderen Familienmitgliedern. Lediglich vier Prozent halten sich aus allem heraus (Gen-
tlemen Marketing Agency 2012).
Chinesische Frauen sind sehr selbstbewusst und in zunehmendem Maße unabhängig,
und sie sind sehr viel jünger als der weltweite Durchschnitt. 80 % der wohlhabenden
Frauen in China sind jünger als 45 Jahre, verglichen mit 30 % in den USA und 19 %
in Japan. Um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, müssen Marken diese junge, erfolgrei-
che weibliche Kundschaft ansprechen und dabei diese ehrgeizige und intelligente Alters-
gruppe im Alter von 18 bis 25 Jahren vor Augen haben. Um ihnen erfolgreich etwas
verkaufen zu können, muss man notwendigerweise mehr als jemals zuvor ihre Emotio-
nen und individuellen Anliegen und Interessen reflektieren. Das gilt auch für Produkte,
die traditionell von Männern gekauft werden. Da chinesische Frauen hart arbeiten,
die Kinder erziehen und auch ihre Eltern finanziell unterstützen, wollen sie sich auch
selbst etwas gönnen und sich ein wenig entspannen. Eine große Freude bereitet es ihnen
zusammen mit ihren Freundinnen shoppen zu gehen (McKinsey 2010).
Darüber hinaus investieren chinesische Frauen mehr Zeit und Mühe in ihre tägli-
che Schönheitspflege als westliche Frauen. Für sie wird es immer wichtiger, attraktiv
zu sein. Laut einer Untersuchung von TNS im Großraum Asien-Pazifik halten es 59 %
der Frauen in Asien für wichtig, sich um ein gutes Aussehen zu bemühen, bevor man
am Morgen die Wohnung verlässt. Bei US-amerikanischen Frauen liegt dieser Wert bei
39 % (Davey und Walton 2010). Anders als die Generationen von Frauen vor ihnen sind
die heutigen Chinesinnen geistig unabhängig und durchaus ichbezogen. Dies zeigt sich
auch in ihren Konsumausgaben: Unter den Frauen der Altersgruppe zwischen 20 und
30 Jahren geben 56 % ihr Geld zuerst für Kleidung, Parfüm und Kosmetik aus, und nur
sechs Prozent von ihnen ziehen die Familie in Erwägung (Gentlemen Marketing Agency
2012). Chinesinnen verfügen auch über einen speziellen Schönheitssinn. Traditionell gilt
weiße und glatte Haut als wichtigstes Schönheitssymbol. Aber da auch in China Überge-
wicht immer mehr zum Problem wird, ist es für Chinesinnen immer wichtiger, schlank
zu sein und zu bleiben. Eine Kombination der eben beschriebenen Aspekte wie Kaufkraft
für Kleidung, eine zunehmende Ichbezogenheit und der Wunsch, schlank und attraktiv
zu sein, bilden die Grundlage für eine perfekte Marketingerfolgsgeschichte. Die folgende
Fallstudie zu Adidas zeigt auf, wie man die neuen Chinesinnen erfolgreich bewirbt.
Kategorie
Sportbekleidung/Schuhwerk
Land
China
9.6 Individualismus und emotionale Kommunikationsansätze 313
Situationsanalyse
Als eine der führenden Sportmarken in China lag für Adidas eine der Herausforderun-
gen darin, dass sich chinesische Frauen vom eher maskulinen Bild von Sportmarken
nicht angesprochen fühlten. Untersuchungen hatten gezeigt, dass chinesische Verbrau-
cherinnen immer mehr die Affinität zur Sportartikelbranche verloren. Da ein Großteil
der Werbung und Kommunikation für Sportartikel vertikal über Schlüsselkategorien
wie Basketball, Fußball und Rennsport vermittelt wurde, konnten Frauen kaum keine
Verbindung zu einer Sportmarke aufbauen.
2013 startete Adidas seine erste lokale Kampagne, die sich an Chinesinnen rich-
tete. Die Kampagne sollte chinesische Mädchen und junge Frauen dafür gewinnen,
sich für sportliche Betätigung zu begeistern und sich natürlich Adidas zuzuwenden,
wenn es um Sportkleidung und Sportschuhe ging.
Strategie
Durch qualitative und quantitative Untersuchungen gelangte Adidas zu der Erkenntnis,
dass es bei Sport für chinesische Mädchen und junge Frauen darum geht, die schönstmög-
liche Zeit mit denen zu verbringen, die sie lieben, und das zu tun, was sie lieben. Für diese
Mädchen geht es beim Sport in erster Linie also um soziale Bindungen. Mädchen sind
der Ansicht, sie könnten durch Sport glücklich sein und Freundschaften knüpfen. Adidas
machte sich den hohen Stellenwert von Freundschaft zu nutzte und entwickelte die „all in
for #mygirls“-Kampagne. Da chinesische Mädchen Sportartikel Kategorien übergreifend
einkaufen, musste die Kampagne auch noch diese zusätzliche Produktdimension enthalten.
Die Frauenkampagne von Adidas begann offiziell am 1. März 2013. Zusätzlich zu der
Werbung schloss die Kampagne auch PR, Digitales, Einzelhandels- und Sportarten-Mar-
keting mit ein. Höhepunkte der Kampagne bildeten u. a.:
Ergebnisse:
• Als Folge der Kampagne erlebte Adidas ein Gesamtwachstum um 40 % in der Kate-
gorie Frauen.
• Untersuchungen nach Abschluss der Kampagne ergaben einen Anstieg von 3,45 % bei
der Beteiligung von Frauen an sportlichen Aktivitäten (insbesondere in den Bereichen
Jogging, Schwimmen, Radfahren, Basketball und Badminton). Laut Sentiment-Ana-
lysen von Weibo erklärten viele Verbraucher, Adidas und Hebe hätten sie dazu inspi-
riert, Sport zu treiben.
• Markenforschungsstudien zeigten einen Zuwachs der Markenbekanntheit, Markenbe-
achtung und Markenprägnanz als Folge der Kampagne.
• Die Frauenkampagne von Adidas aus dem Jahr 2013 wurde mit dem angesehenen
Gold Effie Award ausgezeichnet. Die Effie Awards, die seit 1968 vergeben werden,
gehören zu den führenden Branchenpreisen und zeichnen jeweils die wirksamsten
Konzepte und Kampagnen der Markenkommunikation aus. Die Folge-Frauenkampa-
gne von Adidas 2014 wurde mit einem Silver Effie Award ausgezeichnet.
Eine der Folgen dieser Veränderungen in der Verbraucherpersönlichkeit ist ein deut-
licher Trend in Richtung mehr Geschäft. Wenn ein Konsum unübersehbar an Dynamik
gewinnt, wollen immer mehr Kunden beim nächsten Einkauf bessere Modelle des glei-
chen Produkts erwerben.
Der BRIC Branding Survey von globeone (2011) ergab, dass es BRIC-länderübergrei-
fend bei allen Angehörigen der oberen Mittelklasse den starken Wunsch gibt, ausländi-
sche Prestigemarken zu besitzen und zu nutzen. So erklärten etwa 69 % der befragten
Inder aus den fünf größten Städten des Landes, es sei ihnen wichtig, Prestigemarken zu
besitzen. An zweiter Stelle folgten Chinesen und Russen mit jeweils 67 % und 61 %.
Abb. 9.30 zeigt diese Ergebnisse.
Nach Angaben der Times of India entscheiden sich 80 % der indischen Verbraucher
mindestens einmal im Jahr zu einer größeren Anschaffung. Das Gleiche gilt für etwa
drei Viertel der chinesischen Verbraucher. Diese Zahlen liegen weitaus höher als ver-
gleichbare Werte im Westen. Die Verbraucher in den aufstrebenden Märkten sind nicht
nur bereit, mehr mit Marken zu experimentieren, sie verfügen auch über rasch steigende
Einkommen, die ihr Budget für auffallende Einkäufe erhöhen. Vermarkter müssen sich
auf diese Situation vorbereiten, indem sie ihre Innovationsrate erhöhen, ihre Portfo-
lios erweitern und ihre Produkte anhand wissenschaftlicher Kriterien auf diese Kunden
zuschneiden.
Ein rascher Blick auf die wichtigsten Gründe, die für die verstärkte Nachfrage ver-
antwortlich gemacht werden, verdeutlicht die Chancen für westliche Marken. In Indien
und China scheint der bessere Markenname selbst schon vor anderen Motiven wie tech-
nischen Unterschieden, gesünderen Produkten oder Erschwinglichkeit der Hauptgrund
für verstärkte Nachfrage zu sein. Zu den beliebtesten Produktkategorien, in denen die
316 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Abb. 9.30 Anteil – Anteil der Verbraucher (in %), die dem Besitz und Konsum
der Verbraucher prestigeträchtiger Marken Bedeutung zumessen –
(Stadtbevölkerung) in 69% 67%
den BRICs, die dem
Besitz und/oder Konsum 61%
prestigeträchtiger Marken
große Bedeutung zumessen. 50%
(Quelle: globeone 2011)
Gesellschaftlich
Demonstration des
sichtbarer Konsum
sozialen Status
teurer Güter
Ausgiebiger Genuss
Ausgleich für Mängel in
ausländischer
der Vergangenheit
Nachfrage nach Luxusgüter
hochwertigeren Gütern
und Dienstleistungen Nachahmung stärker
Wunsch nach besserer
und augenfälliger respektierter
Behandlung durch
Konsum Angehöriger der
soziale Bezugsgruppen
gleichen Schicht
Kauf von Produkten, die
Ausdruck persönlicher
die persönliche
Freiheit und eigener
Individualität Individualität
kommunizieren
Teil des „globalen Dor- Kauf ausländischer
fes“ und mindestens so „weltläufiger“ Marken,
gut wie die Menschen z.B. Geschenke aus
in den Industriena- dem Ausland
tionen gestellt zu sein
erholsamen „Ferien am Meer“-Umgebung, in der sich die Menschen einfach auf ihr eige-
nes Wohlergehen konzentrieren können (Abb. 9.32). Mercedes-Benz wiederum rückte
einen vergleichbaren emotionalen Aspekt in den Vordergrund, der Menschen und Natur
ins Zentrum der Anzeige stellte, in der nicht einmal ein Fahrzeug zu sehen war. Ein
anderes Mal bildete die Anzeige interessante und faszinierende einzelne Personen wie
Künstler oder einen jungen DJ ab, die alle ihre persönliche Geschichte erzählen, wie sie
ihre Träume verwirklichen wollen.
Helen Wang (2012), die Autorin des Buches, „The Chinese Dream“, hat fünf neue
Segmente und Trends unter den chinesischen Verbrauchern herausgearbeitet. Zwei von
ihnen veranschaulichen unzweideutig den Aufstieg individueller Bedürfnisse. Die eine
Gruppe bezeichnet Wang als „anspruchsvolle Großverdiener“. Diese wohlhabenden
Kunden, die sich anfangs von bekannten Logos und funktionellen Vorzügen angezogen
fühlten, passen ihr Ausgabeverhalten schrittweise den Europäern oder US-Amerikanern
an und wollen zunehmend ihren eigenen Geschmack ausleben. Haltbarkeit, eine gute
Qualität und Funktionalität sind immer noch wichtige Kriterien, aber sie werden zuneh-
mend durch attraktives Design und angenehme Aspekte, die dem persönlichen Genuss
dienen, abgelöst. Abb. 9.33 zeigt einen Aspekt dieser zunehmend auf Anspruch und Ele-
ganz ausgerichteten Einstellung der chinesischen Verbraucher von Luxusgütern.
318 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Abb. 9.33 Zeichen für – Anseg des Anteils der Gucci-Taschen, die ohne das bekannte Logo
zunehmende Eleganz: Anstieg verkau wurden –
des Anteils der Gucci-Taschen,
die in China ohne das bekannte
Logo verkauft wurden.
(Quelle: Week in China 2012)
23%
6%
2009 2011
Die Jugendlichen, die vorrangig auf die Befriedigung ihrer eigenen Wünsche, aber
auch die Erfüllung ihrer Träume aus sind („self-indulging youth“), bezeichnet Wang
(2012) als eine weitere wichtige Teilgruppe der chinesischen Verbraucher. Diese Kon-
sumentengruppe kauft Produkte immer häufiger zum eigenen Vergnügen. Sie sind weit-
aus stärker als die älteren Generationen vom Internet und sozialen Medien abhängig,
9.7 Nutzung lokaler Gewohnheiten, Mythen, Märchen und Geschmäcke 319
die sie bei ihren Kaufentscheidungen beeinflussen. Diese jungen „Digital Natives“, die
in der Welt der digitalen Kommunikation und Daten aufgewachsen sind, wollen ihre
Träume leben, etwas, das ihren Eltern und Großeltern unmöglich war. Vermarkter müs-
sen begreifen, dass sich der Wettbewerbsvorteil einer Marke nicht allein auf das gründet,
was sinnlich erfasst werden kann – wie etwa das Produkt selbst und der Preis –, sondern
zunehmend auch auf den emotionalen Nutzen, der versprochen wird.
Einige internationale Premiummarken setzen zunehmend auf diese Aspekte indivi-
duellen Charakters und persönlichen Stils. Die Kampagne zur Einführung der 1er-Serie
BMWs in China und Russland ist ein gutes Beispiel. Die neueste Kampagne für das
BMW-Einstiegsmodell drehte sich um das Thema „Hot versus Cool“ oder „Nacht versus
Tag“. In dieser interaktiven Kampagne entsprachen der individuellen psychologischen
Verfasstheit der Zielgruppe unterschiedliche Farben und Ausstattungen der Fahrzeuge.
So sollte zum Beispiel die rote „Sport Line“ dynamische Menschen mit ausgeprägtem
Temperament ansprechen, während die blaue „Urban Line“ auf einen coolen und ent-
spannten Personenkreis zugeschnitten war. In dieser Werbekampagne wurden die Fahr-
zeuge eindeutig als Ausdruck des individuellen Lebensgefühls positioniert – diese Idee
sprach die sportlichen, lebenslustigen und modischen jungen Menschen an, die man
wohl Wangs Kategorie der „selbstbezogenen Jugendlichen“ zuordnen würde. Dies ist
nur eines von vielen Beispielen, wie man den Trend in Richtung Individualisierung und
Emotionalisierung profitabel nutzen kann.
Wenn man eine erfolgreiche neue Marke in einem aufstrebenden Markt aufbauen will,
muss man nicht nur mit den örtlichen kulturellen Gegebenheiten sehr gut vertraut sein.
In vielen Fällen sollte man sich in diese lokale Kultur bestmöglich integrieren und
versuchen, die eigenen Marketingaktivitäten harmonisch einzubringen. Dabei ist es
unerheblich, ob man sich der chinesischen Philosophie, hinduistischen Mythologie, bra-
silianischer Volksmärchen oder russischer Nostalgie bedient: Sie alle halten ausreichend
Analogien bereit, um eine Marke mit den in diesen Ländern jeweils vorherrschenden
Symbolen, Glaubensvorstellungen, Geschmäcken oder Mythen zu verbinden.
Zwei der bekanntesten Konzepte der chinesischen und insbesondere der daoistischen
Philosophie sind das „Yin und Yang“, die für gegensätzliche, aber trotzdem aufeinander
bezogene Kräfte oder Prinzipien stehen, wie etwa männlich und weiblich, warm und kalt
oder Feuer und Wasser. Das Konzept von Yin und Yang durchdringt nicht nur die tradi-
tionelle chinesische Medizin, sondern taucht auch im Zusammenhang mit Kampfküns-
ten und in zahlreichen weitverbreiteten Rezepten auf. Yin und Yang sind komplementäre
Kräfte, die zusammen ein Ganzes bilden, das mehr umfasst als die Summe seiner Teile.
Insbesondere der Neokonfuzianismus (etwa ab Anfang des 12. Jahrhunderts n. Chr.)
ergänzte dieses alte Konzept durch moralische Dimensionen.
320 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Indien ist eine gewaltige Fundgrube traditioneller Erzählungen wie etwa die Vedas,
die Puranas oder die Itihasa. Diese oft sehr umfangreichen Epen sind eine reiche Quelle
philosophischer und moralischer Konzepte. In einigen Epen wird Prinz Krishna, die
Inkarnation des höchsten Gottes Vishnu, als Flöte spielender junger Mann oder als
Abkömmling einer königlichen Familie beschrieben, der auf die Erde gekommen sei, um
den Menschen ethisch-philosophische Lehren zu verkünden. Krishna wird oft als „Mani-
festation des höchsten Prinzips“ (Avatar) oder als göttlicher Held bezeichnet. Seit vielen
Jahrhunderten ist Krishna ein bevorzugtes Thema in den darstellenden Künsten und regi-
onalen Traditionen.
In der brasilianischen Mythologie und Folklore findet sich eine Vielzahl unterschied-
lichster Geschöpfe und Charaktere. Oft sind sie aus einer Mischung lokaler Mythen und
Volkssagen entstanden, die im Verlauf der verschiedenen Einwanderungswellen Ein-
zug in das Land hielten. Zu ihnen gehört etwa der Mapinguari aus einem Mythos der
Cario-Indianer, ein Ungeheuer mit einem roten Fell, das in einer Höhle im Regenwald
des Amazonas-Beckens lebt. Der Mapinguari besitzt einigen Beschreibungen zufolge nur
ein Auge, dazu lange Klauen, unterentwickelte Hintertatzen und ein zweites Maul auf
seinem Bauch.
Westliche Unternehmen und Marken haben sich in vielen Fällen auf einfallsreiche
Weise dieser lokalen Mythen oder Glaubensvorstellungen in den BRIC bedient. Ein Bei-
spiel etwa stammt von Volkswagen Indien. Eine Zeitlang benutzte der Autobauer eine
Anzeige, die auf das Thema Reinkarnation Bezug nahm, das im Hinduismus eine große
Bedeutung besitzt. Die Anzeige zeigte einen alten VW Polo, der von seinem Besitzer
sehr geschätzt und gepflegt wird. Auch im Alter pflegt er das Fahrzeug immer noch.
Nachdem er das Fahrzeug viele Jahre wie eine Kostbarkeit gehegt und gepflegt hat, stirbt
der alte Mann, als seine Tochter gerade ein Kind erwartet. Die Tochter und ihr Ehemann
kaufen dann einen neuen Polo und entdecken bald, dass der Enkel das Fahrzeug ebenso
schätzt und es in ähnlicher Weise hegt und pflegt, wie es sein verstorbener Großvater
getan hatte. Die Vorstellung, die dadurch geweckt werden soll, besagt, dass sich der
Großvater in seinem Enkel reinkarniert haben muss und dabei auch die Liebe zu diesem
Fahrzeug beibehalten hat. Der Fernsehwerbespot (siehe Abb. 9.34) wird auf nette Weise
in dem am Ende präsentierten Slogan zusammengefasst: „Der neue Polo – so gut, dass
man dafür wiederkehren wird“.
In einem anderen Beispiel setzte Starbucks geschickt den chinesischen Kalender ein,
um seine Umsätze zu erhöhen. Die Kaffeekette mit Sitz im US-amerikanischen Seattle
wollte eine tiefere Verbindung zu den chinesischen Verbrauchern aufbauen und entwi-
ckelte dazu einen eigenen 30-tägigen Kalender, der den Zeitraum des alljährlichen Früh-
lingsfestes im Februar umfasste. Dieses Datum wird gerne für Hochzeiten, Reisen oder
andere wichtige Ereignisse genutzt. An einem Tag des Kalenders hieß es, dieser Tag sei
gut geeignet, Verwandte zu besuchen. Ein anderer Tag sei für sogenannte „Blind Dates“
günstig. Der Kalender wurde dann auf Plattformen der sozialen Medien verbreitet, und
die unterschiedlichen Tage mit Sonderangeboten in den Starbucks-Läden verknüpft. An
einem Tag etwa wurden die Verbraucher aufgefordert, ihre Eltern in einem Ladengeschäft
9.7 Nutzung lokaler Gewohnheiten, Mythen, Märchen und Geschmäcke 321
Abb. 9.34 Diese Fernsehwerbung für den VW Polo in Indien spielt auf das Thema Reinkarnation
an: Der neue Polo – so gut, dass man für ihn wiederkommen wird. (Quelle: zur Verfügung gestellt
von Volkswagen India)
zu umarmen, um auf diese Weise in den Genuss eines „Bestell drei, zahl zwei“-Sonder-
angebotes zu kommen. An einem anderen Tag waren die Getränke kostenlos und es wur-
den Kundenkarten angeboten. Mit relativ geringen Investitionen machte Starbucks seine
Kampagne der „täglichen Freundlichkeiten“ zu einem riesigen Erfolg. Aus dem Unter-
nehmen selbst war zu hören, diese Kampagne habe die Umsätze im Vergleich zu norma-
len befristeten Werbeaktionen verzehnfacht.
Ein anderes Beispiel für die Nutzung traditioneller, in der Bevölkerung verankerter
Konzepte liefert das chinesische Unternehmen Lay, das Kartoffelchips in einer ganzen
Reihe besonderer Geschmacksrichtungen in China anbietet, von denen einige auf das
Yin-und-Yang-Konzept anspielen. Zu den unterschiedlichen Geschmacksrichtungen, die
das natürliche Gleichgewicht im Sinne des Gegensatzes etwa von heiß und kalt ausdrü-
cken, gehören die Richtungen „Cool Cucumber“ und „Lemon“. In westlichen Märkten
hätten solche Geschmacksrichtungen aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Verkaufser-
folg, aber während der heißen Sommer in Peking und Schanghai sind sie äußerst beliebt,
weil die traditionelle chinesische Medizin davon ausgeht, dass Gurke und Zitrone die
Körperwärme verringern und daher vor allen Dingen in Hitzeperioden gegessen wer-
den sollten. Umgekehrt schreibt man es traditionell salzigen und fettigen Kartoffelchips
zu, die Körperwärme zu erhöhen, sodass diese während des Sommers weniger gekauft
werden. Neben dem Konzept von Yin und Yang gibt es noch eine Vielzahl weiterer reli-
giöser Vorstellungen und Gewohnheiten, die mit bestimmten Lebensmitteln oder Zuta-
ten in Verbindung gebracht werden. Ingwer etwa soll heilend wirken und ist daher in
Getränken, Tees und Shampoos sehr beliebt, während Jasmin als das beste Mittel gegen
schlechten Atem gilt und daher vor allen Dingen in Zahnpasta, Mundwassern und aroma-
tisierten Getränken eingesetzt wird.
322 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
eine sehr große Bedeutung. Vor der chinesischen Kulturrevolution war es ein weit ver-
breiteter Brauch, dem Familiennamen und Vornamen bei Erreichen der Volljährigkeit ein
Pseudonym hinzuzufügen. Aus diesen selbst gewählten Namen konnte man auf die Ein-
stellungen und Tätigkeiten des Namensträgers schließen. Das Gleiche gilt auch für Mar-
kennamen. Aus Sicht chinesischer Verbraucher ist der Markenname eine Manifestation
der hinter dem beworbenen Produkt stehenden Kultur und Werte. Aber dies ist nicht der
einzige Grund, warum die Übersetzung eines Namens in China äußerst kompliziert sein
kann. Jedes der etwa 50.000 chinesischen Schriftzeichen hat eine besondere Bedeutung.
Und ihre Aussprache kann in den hunderten verschiedenen Dialekten sehr unterschied-
lich ausfallen. Die gebräuchlichste Lösung ist die sogenannte „phono-semantische“
Übertragung, bei der man versucht, für die Marken einen regional vorkommenden
Namen zu finden, der sich einerseits so ähnlich wie der westliche Markenname anhört,
zugleich aber eine positive Bedeutung besitzt, die auch noch in gewisser Weise mit dem
Produkt oder der Produktkategorie übereinstimmt.
Zugleich muss jede Verwechslung mit anderen Markennamen vermieden werden. Es
gibt also viele Fallstricke für unerfahrene Vermarkter und Markenmanager. Als der US-
amerikanische Pharmakonzern Pfizer nach einem verfügbaren chinesischen Namen für
sein weltweit vermarktetes Zugpferd Viagra suchte, war die beste Übertragung bereits
von einem Wettbewerber eingetragen worden. Eine andere Option – „wanaike“ – wurde
erwogen, aber dieser Name konnte auch mit „der Gast, der 10.000 Mal Liebe machen
konnte“ übersetzt werden. Diese Übersetzung erschien vielen Chinesen als anstößig.
Einigen deutschen Unternehmen sind aber mit Hilfe von Experten gelungene Über-
tragungen geglückt. Die chinesische Übertragung des Firmennamens „Siemens“ –
Xi-men-zi – bedeutet „Tor nach Westen“. Der Name „BMW“ lautet im Chinesischen
„Bao-ma“ – „Kostbares Pferd“. Und „Ben-chi“ als Übertragung von Mercedes-Benz
wird mit „galoppiert schnell“ übersetzt.
Die meisten Verbraucher in den BRIC stimmen darin überein, dass es starke auslän-
dische Einflüsse gibt, die durch das Internet und die sozialen Medien noch verstärkt
werden. Brasilianer etwa zeigen mit 96 % die größte Zustimmungsrate zu dieser Ein-
schätzung gegenüber 90 % in Indien und 87 % in China. Abb. 9.37 zeigt diese Wahr-
nehmung in den BRIC im Vergleich. Die ausländischen Einflüsse werden sowohl auf
individueller Ebene (zum Beispiel in der Wahrnehmung einer einzelnen Person, die
einem bestimmten neuen Trend ausgesetzt ist) als auch auf nationaler Ebene (zum Bei-
spiel die Einschätzung, das ganze Land müsse in einem stärkeren internationalen Wett-
bewerb mithalten) wahrgenommen. Aus der Perspektive der Verbraucher treten diese
ausländischen Einflüsse in sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen auf – neue Trends
und Ideen, ausländische Filme oder Werbung, Touristen aus dem Ausland oder einfach
auch neue Einkaufsketten und Marken.
326 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Abb. 9.37 Die Mehrzahl der – Anteil der Verbraucher, die ausländische Einflüsse in ihren Ländern
Verbraucher in den BRICs befürworten (in %) –
96%
beobachtet einen starken
90%
ausländischen Einfluss in ihren 87%
84%
jeweiligen Ländern. (Quelle:
globeone 2011)
Die wirtschaftliche Öffnung eines Landes durch die teilweise oder vollständige
Aufhebung bilateraler Handelsbarrieren oder den Beitritt zur Welthandelsorganisation
(WTO) führt zu einer steigenden Verfügbarkeit internationaler Marken. Für die Ver-
braucher ist der nichtheimische Ursprung in der Regel durch einen Hinweis auf das
Herkunftsland (Country of Origin, COO), manchmal durch die Nennung des Herstel-
lungslandes (Country of Manufacture, COM) oder seltener durch den Verweis auf das
Land, in dem das Produkt entwickelt (oder allgemeiner, das Land, mit dem die Marke
selbst in Beziehung gebracht) wurde (Country of Design, COD), ersichtlich. Im Allge-
meinen gilt als Herkunftsland das Land, in dem die Konzernzentrale, die das Produkt
oder die Marke vermarktet, ihren Sitz hat. Das Produkt muss dort nicht notwendiger-
weise auch hergestellt werden (Amine et al. 2005). Abb. 9.38 erläutert diese drei
Begriffe, Abb. 9.39 zeigt die Kaufrelevanz eines Herkunftslandes im BRIC-Vergleich.
Es ist unstrittig, dass das COO eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Marken-
präferenzen und Kaufabsichten spielt. Bei unserer Umfrage unter 4000 städtischen Ver-
brauchern in den BRIC stellten wir fest, dass die Bedeutung des COO sogar noch höher
als erwartet bewertet wurde. 90 % der befragten Russen in den Städten gaben an, beim
Kauf eines Produktes auf das Herkunftsland zu achten. Auch in Indien erklärten 69 %,
das COO sei wichtig. In Brasilien und China waren es demgegenüber 65 bzw. 61 %. Die
Herkunft ist also entscheidend!.
Bereits Ende der 1970er Jahre konnte die Forschung belegen, dass Verbraucher einem
Produkt, einem Unternehmen oder einer Marke intuitiv positive oder negative Eigen-
schaften zusprechen, wenn sie dessen Herkunftsland kennen. Dabei kommt es wissen-
schaftlich gesprochen zu einem Imagetransfer, einer Projektion von Assoziationen und
Einstellungen gegenüber dem Land auf die Marke. Infolgedessen spielt dieser Her-
kunftslandeffekt auch heute noch eine wichtige Rolle im Marketing und führt zu einer
9.8 Relevanz des ausländischen Markenursprungs 327
Abb. 9.39 Das Image des – Anteil der Verbraucher, für die das Image des Herkunslandes eine
Herkunftslandes spielt in wichge Rolle bei der Kaufentscheidung spielt –
allen BRIC-Märkten bei 90%
der Kaufentscheidung eine
wichtige Rolle. (Quelle:
globeone 2011) 69%
65%
61%
Frankreich für Parfüm, Italien für Designerkleidung oder Deutschland für Premiumauto-
mobile) den Prestigefaktor einer Marke erhöht. Diese Argumentationen sind zwar allge-
meiner Natur, aber es gibt zahlreiche Gründe dafür, dass das Herkunftsland insbesondere
im Kontext erfolgreichen Marketings und Markenaufbaus in einem aufstrebenden Markt
große Bedeutung besitzt. Die Gründe für diese höhere Sensibilität in Bezug auf das Her-
kunftsland werden in der folgenden Auflistung dargelegt:
• COO ist ein sehr einflussreiches Informationssignal. Auch wenn die Markenerfah-
rung oft nicht sehr ausgeprägt ist, verfügen Verbraucher in der Regel über fundierte
Kenntnisse über unterschiedliche Länder (so gelten zum Beispiel die USA als sehr
innovativ und technikorientiert). Dieses vorhandene Wissen zu nutzen und die Kennt-
nisse über das Herkunftsland mit der Marke zu verbinden, kann sich als wirksamer
erweisen, als viel Zeit und Geld dafür aufzuwenden, um Grundqualitäten und andere
Eigenschaften über kostspielige Werbung zu kommunizieren.
• Es ist erwiesen, dass viele Verbraucher in den Wachstumsmärkten ihren Konsum
und ihre Ansprüche hochschrauben. Im Allgemeinen sind diese Menschen sehr
daran interessiert, ihren sozialen Aufstieg zu demonstrieren. Da ausländische Marken
ein wichtiges Mittel darstellen, diesen sozialen Aufstieg zu manifestieren, verstärkt
der Besitz einer Marke aus einem bestimmten Land, das für seine kostspieligen, mit
hohem Prestige verbundenen Güter bekannt ist, den Eindruck des hohen Status und
Niveaus des Besitzers. Die zugrunde liegenden Zusammenhänge sind bereits seit Lan-
gem bekannt und wurden schon 1899 in Thorstein Veblens Werk „The theory oft he
leisure class“ (Theorie der feinen Leute) kunstvoll beschrieben. Die Verbraucher aus
der unteren Mittelschicht bis zur oberen Mittelschicht bilden die feste Größe, die die
Anziehungskraft ausländischer Marken in Schwellenmärkten vergrößert. Ihren sozi-
alen Aufstieg und ihre persönlichen Erfolge wollen sie gegenüber ihren Kollegen,
Altersgenossen und Nachbarn demonstrieren.
• Viele aufstrebende Märkte öffnen sich nur langsam, und dies bedeutet, dass viele aus-
ländische Marken neu im Markt und nur begrenzt verfügbar sind. Zu Beginn sind
die Auswahl und das Angebot an ausländischen Marken klein und erweitern sich nur
langsam. Marken aus bestimmten Ländern genießen daher in vielen aufstrebenden
Märkten aufgrund ihrer relativen Neuheit und Knappheit ein hohes Ansehen. Zudem
gibt es in den Regalen viele lokale Produkte sehr fragwürdiger Qualität. Daher tra-
gen sowohl die geringere Qualität als auch die begrenzte Marketingkompetenz vieler
lokaler Marken dazu bei, die positive Wahrnehmung ausländischer und importierter
Produkte zu verstärken.
Ein positives Image des Herkunftslandes ist vielfach ein entscheidender Treiber der
Markenperformance. Aber seine Wirkung geht noch weit darüber hinaus. In Volkswirt-
schaften mit einem starken Wettbewerb – wie China oder Indien – stellen ein als positiv
wahrgenommenes Herkunftsland und die damit einhergehende Qualitätswahrnehmung
einen sehr wertvollen Wettbewerbsvorteil dar. Dieser kann von einheimischen Champions
9.8 Relevanz des ausländischen Markenursprungs 329
nicht ohne Weiteres nachgeahmt werden. Sich entweder als ausländische oder eher als
lokale Marke in einem Markt zu positionieren, ist daher eine Entscheidung von höchster
strategischer Bedeutung, wenn ein Unternehmen darüber nachdenkt, wie es sich sowie
seine Produkte in einem neuen Markt positionieren will.
Zu den Ländern, die gegenwärtig am meisten von einem positiven Herkunftsland-
Image profitieren, gehören aufgrund ihrer langen Tradition, hervorragender Qualität
sowie modernster Technologien oder Ingenieurskunst Deutschland, die USA, Japan und
die Schweiz. Bezeichnungen wie „Designed in the USA“, „Made in Germany“ oder
„Swiss Made“ dienen nicht nur der Herkunftsangabe, sondern gelten als Qualitätsmerk-
mal, das dem betreffenden Produkt Prestige und Ansehen verleiht.
Für globale Vermarkter führen diese Sachverhalte zu einer einfachen, aber ent-
scheidenden Schlussfolgerung: Je besser das Image eines Landes und je wichtiger die
Zuordnung des Landes in einer bestimmten Produktkategorie, desto deutlicher sollte die
Herkunft kommuniziert werden.
Der Vergleich des „COO Brand Strength Index“ von fünf der führenden Industriena-
tionen weltweit (siehe Abb. 9.40) zeigt die Länder, die bei den BRIC-Verbrauchern in
puncto Kompetenz und Ansehen am besten abschneiden. Das Ranking errechnet sich
auf der Grundlage der Auswertung der Befragung von mehr als 4000 urbanen Ver-
brauchern in den fünf größten Städten in Brasilien, Indien, China und Russland in 15
wichtigen Bereichen der Markenperformance. Mit einem Durchschnittswert von 40 %
steht Deutschland an der Spitze der allgemeinen COO-Präferenz, gefolgt von Japan mit
38 %, den USA mit 33 % und Frankreich mit 20 %. Recht interessant ist der Befund,
dass China in dieser Rangfolge mit einem Wert von 17 % bereits an fünfter Stelle steht
und nahe zu Frankreich aufgeschlossen hat. Dies bestätigt die rasche wirtschaftliche Ent-
wicklung Chinas in den vergangenen Jahren (globeone 2011).
20%
17%
Für Deutschland ist das positive Länderimage ein wirklicher Aktivposten. 66 % der
allgemeinen urbanen Bevölkerung der BRIC bewerten deutsche Produkte positiv. Daher
gibt es viele Möglichkeiten, die Herkunft für eine effektivere Positionierung einzusetzen.
Unter den BRIC genießt Deutschland vor allem bei Kraftfahrzeugen, Haushaltsgeräten,
Maschinen und Arzneimitteln hohes Ansehen. Gleichzeitig wird Deutschland aber weni-
ger mit Konsumgütern und Dienstleistungen in Verbindung gebracht. Abb. 9.41 zeigt
ein Foto aus dem Blog realitspod.com, das diese Wahrnehmung Deutschlands unter der
Überschrift „Deutsches Fahrrad gegen chinesisches Auto“ widerspiegelt.
Eine genaue Analyse des Images von Deutschland als Herkunftsland im Vergleich
mit den USA, Japan und China in 15 Imagedimensionen enthüllt die wesentlichen
Unterschiede in der Wahrnehmung dieser Länder in den BRIC. So liegen die Werte
Deutschlands (in den beiden Abb. 9.42 und 9.43 jeweils die gestrichelte Linie) in den
traditionellen Bereichen wie etwa hohe Qualität, Verlässlichkeit, Haltbarkeit oder Zuver-
lässigkeit sehr hoch. Andererseits zeigt sich, dass Marken aus Japan und den USA einen
deutlichen Wahrnehmungsvorteil genießen, wenn es um moderne Werte wie Innovation,
Hightech oder Begeisterung geht. In vielen Fällen ist es zwar sehr sinnvoll, das Her-
kunftsland besonders zu betonen und aktiv zu nutzen, es gibt aber auch Gelegenheiten,
in denen das nicht der Fall ist: Nehmen wir als Beispiel die relativ geringe Performance
Deutschlands in den Dimensionen „modisch und begeistert“. Eine deutsche Marke, die
geschäftlich im Bereich modischer Kleidung aktiv ist, sollte daher sorgfältig erwägen, ob
und wie weit sie die deutsche Herkunft in seiner Markenidentität integrieren sollte. Dies
ist möglicherweise auch einer der Gründe, warum die deutschen Unternehmen Adidas
und Puma sich eher als globale und weniger als deutsche Champions positionieren.
Noch einige Bemerkungen zu China: Während China hinsichtlich der Qualität und
vieler anderer Kategorien nur geringes Ansehen besitzt, wird es heute bemerkenswerter-
weise bereits in den BRIC bereits als ein Land gesehen, das sich den Konsumentenbe-
dürfnissen sehr stark angenähert hat und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis aufweist.
Auch wenn chinesische Marken aufgrund der relativen Schwäche in vielen Bereichen
Hohe Zuverlässigkeit
China
Lange Lebensdauer
USA
Japan
Sehr gute Performance Deutschland
Herausragendes Design
Hohes Ansehen
Abb. 9.42 Chinas länderspezifisches Image im Vergleich mit den USA, Japan und Deutschland
in wichtigen Performance-Dimensionen (auf der Grundlage von 4044 Befragungen in den BRIC-
Ländern) (1/2). (Quelle: globeone 2011)
Vertrauenswürdig
Abb. 9.43 Chinas länderspezifisches Image im Vergleich mit den USA, Japan und Deutschland
in wichtigen Performance-Dimensionen (auf der Grundlage von 4044 Befragungen in den BRIC-
Ländern) (2/2). (Quelle: globeone 2011)
332 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
nicht als erste Wahl betrachtet werden, bieten sie doch Produkte an, die viele wesentliche
Bedürfnisse zu einem wettbewerbsfähigen Preis erfüllen. In den kommenden Jahren wird
es interessant zu beobachten sein, wie China seine überraschend starke Herkunftsland-
Performance weiter ausbauen wird, da die Qualität sich verbessert und die Marktexpan-
sion weitergeht.
Die Wahrnehmung ausländischer Marken in den BRIC-Märkten ist zwar relativ kon-
sistent, variiert aber stark in Bezug auf die Einkommensschichten. Das allgemeine Mus-
ter sieht dabei so aus: Die Präferenz für ausländische Marken ist meistens insbesondere
in den Bereichen hoch, in denen die Kompetenz anderer Länder als höher wahrgenom-
men wird (zum Beispiel in der Automobil- oder Hightech-Industrie). Darüber hinaus
nimmt die Präferenz für ausländische Marken schrittweise parallel zum Einkommen zu.
Diese Befunde lassen es ausländischen Unternehmen angeraten sein, ihre Marken-
herkunft besser zu nutzen, sofern sie aus einem Land mit einer positiven COO stammen
oder ihre Marken in einem solchen Land hergestellt werden. Nicht zuletzt bietet die Beto-
nung der Markenherkunft eine kostengünstige und zugleich effektive Möglichkeit, einer
ausländischen Marke Eigenschaften wie Qualität, Haltbarkeit und exzellentes Design
durch Übertragung wesentlicher Assoziationen zuzuschreiben. Jede dieser Eigenschaf-
ten einzeln zu vermitteln, ist zeitaufwendig und kostspielig; die Herkunft einer Marke
zu kommunizieren, ist demgegenüber vergleichsweise einfach. Abb. 9.44 beschreibt die
Vorteile, die das Erkennen einer positiven COO auf die Markenperformance haben kann.
Überraschenderweise wird diese Strategie oft nicht entsprechend eingesetzt.
Aber es finden sich auch Beispiele für eine erfolgreiche praktische Anwendung. Eines
davon zeigt die Abb. 9.45. Porsche stellte sein neues Modell 911 gewitzt mit einem Slogan
Deutsches Image-Potenzial
60%
30%
25%
20%
10%
Abb. 9.44 Eine positive Wahrnehmung der ausländischen Herkunft kann sich als wichtiger Trei-
ber der Markenperformance erweisen. (Quelle: zur Verfügung gestellt von globeone)
9.8 Relevanz des ausländischen Markenursprungs 333
Abb. 9.45 In dieser Anzeige für das Kultmodell 911 spielt die Marke Porsche auf selbstironische
Weise mit ihrer deutschen Herkunft. (Quelle: zur Verfügung gestellt von Porsche)
vor, der sich auf ironische Weise eines bestimmten Images des Herkunftslandes bediente:
„Wir Deutschen sind pedantische, pingelige, kleinliche Erbsenzähler. Na gut, aber es funk-
tioniert …“.
BMW China nutzte seine deutsche Markentradition und betonte zugleich die beson-
deren Beziehungen zwischen Deutschland und China, als es anlässlich der Eröffnung des
Produktionswerkes in Tiexi im Norden von Liáoníng in einer Anzeige das Modell „BMW
X“ als „deutsche Tradition, geboren in China“ anpries. Eines der schönsten und besten
Beispiele für eine Kampagne, die Storytelling und Kommunikation der Markenherkunft
334 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Situation
Als erste Modellreihe führte BMW 2006 die 3er-Serie in Indien ein. Sie trug maßgeb-
lich zum Wachstum von BMW hinsichtlich des Umsatzes und der Markenwiedererken-
nung bei. Nach dem Start 2006 stiegen die Umsätze und die Beliebtheit von BMW um
ein Vielfaches. 2012 war BMW der Marktführer im Bereich Premiumfahrzeuge, aber die
Konkurrenz war dem Unternehmen aus München mit der A-Klasse von Mercedes und
dem neuen Audi A4 dicht auf den Fersen.
Strategie
Vor dem Start der neuen BMW 3er-Serie hatte eine Untersuchung ergeben, dass der über-
ragende Markenwert von BMW der Hauptgrund für den Kauf eines Fahrzeugs ist. Um
den überlegenen Markenwert des Produktes gegenüber den indischen Zielgruppen noch
zu betonen, entschieden sich BMW und Serviceplan, eine Werbekampagne zu entwickeln,
die sich auf die bemerkenswerte Markentradition der BMW 3er-Serie konzentriert. Die
3er-Serie entstand vor 37 Jahren und wurde seitdem ständig weiterentwickelt, was zu
sechs revolutionären Produktgenerationen führte. Diese Tradition ständiger Revolutionen
in Bezug auf das geschmackvolle Design, Innovationen und dynamische Performance bil-
deten das Kernstück der Strategie hinter der Produkteinführung. Dieses herausragende tra-
ditionsreiche Erbe diente als das Kernargument zur Unterstützung der wahrgenommenen
Markenwerte, der Qualität und der Performance der Fahrzeuge. Auf der Grundlage dieser
Tradition bestand die Aufgabe der Kampagne darin, der neuen 3er-Serie zu einem neuen
Höhenflug zu verhelfen – und darüber hinaus die Kernwerte der Dachmarke zu stärken.
Abb. 9.47 Die eingängige Kampagne für die BMW 3er-Reihe in Indien konzentrierte sich auf die
beeindruckende Markentradition, die als „überlegen durch Evolution“ präsentiert wird. (Quelle:
zur Verfügung gestellt von BMW Group und Serviceplan)
Ergebnisse
Die Kampagne sollte vor allem in drei Dimensionen wirken:
• Anfrage: Die Zielgruppe soll auf die neue 3er-Serie neugierig werden und gespannt
sein.
• Beteiligung: Die Zielgruppe soll sich intensiv mit der Marke, ihren wichtigen Werten
und dem Produkt verbunden fühlen.
• Impulse: Die Inszenierung der großen Tradition der 3er-Serie soll inspirierend wirken.
Insgesamt gesehen lagen 2012 die Umsätze von BMW in Indien über denen der Vorjahre.
Eine Frage allerdings bleibt: Wenn der Herkunftslandeffekt eine solche positive
Hebelwirkung entfalten kann, warum wird er dann so wenig eingesetzt? Denn, wie
Abb. 9.49 zeigt, ergab unser BRIC Branding Survey (globeone 2011): Einem Großteil
AEG 61%
Mini 60%
Porsche 56%
SAP 54%
Adidas 53%
Osram 52%
smart 52%
ERGO 51%
Nivea 50%
Puma 49%
Allianz 41%
Skoda 26%
Abb. 9.49 Urbane Verbraucher in den BRICs erkennen die deutsche Herkunft einer Marke nicht
immer korrekt. (Quelle: globeone 2011)
338 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
der BRIC-Verbraucher war nicht bewusst, dass viele der genauer analysierten 45 deut-
schen Marken, die vor Ort vermarktet wurden, deutscher Herkunft waren.
Die Erklärung dafür ist relativ einfach: Viele ausländische Markenmanager, von
denen der Großteil nicht in den Ländern geboren wurde, in dem sie jetzt geschäftlich
tätig sind, haben es schlicht unterlassen, ihre „ausländischen Wurzeln“ als Teil der Marke
zu positionieren. Wir sind oft auf Werbekampagnen, PR-Events oder Internetaktivitä-
ten gestoßen, in denen eine proaktive Kommunikation der Herkunft der Marke und der
damit verbundenen Traditionen völlig fehlte, obwohl dies zum Aufbau von Alleinstel-
lungsmerkmalen, Markenpräferenzen und einem zusätzlichen Preispremiumpotenzial
von großem Wert gewesen wäre. Die Markenmanager ihrerseits waren überzeugt, die
angesprochene Verbraucherzielgruppe sei sich bereits des besonderen Herkunftslandes
bewusst. Dies war allerdings oft nicht der Fall. Ein weiterer Grund hängt damit zusam-
men, dass die meisten Positionierungsmodelle weltweiter Marken in den jeweiligen
Heimatländern in Europa oder den USA entwickelt wurden und einen Bezug zum Her-
kunftsland ausschlossen. Das ist leicht zu verstehen. Für eine US-amerikanische Marke
ist es nun wirklich nicht notwendig, den heimischen Verbrauchern den US-amerikani-
schen Ursprung klarzumachen, mit dem sie bereits vertraut sind. Aber die Millionen
oder sogar Milliarden neuer Verbraucher in den Wachstumsmärkten kennen die Herkunft
nicht notwendigerweise. Infolgedessen ist es für die Positionierung weltweiter Marken
wichtig, ein bestimmtes Maß an Flexibilität aufzuweisen. Mit den örtlichen Verhältnissen
vertraute Marketingstrategen sind dann imstande, das Herkunftsland oder andere strate-
gische Treiber der Markenperformance, wie zum Beispiel für den Wachstumsmarkt spe-
zifische, erfolgsrelevante Botschaften, in die Kampagne zu integrieren.
Die meisten Unternehmen sind davon überzeugt, dass ihre Marke ihr Potenzial bereits
voll ausgeschöpft hat. Die Marke kann aber in der Zielgruppe nur dann die optimale
Wirkung entfalten, wenn die Tradition der Marke, ihre Versprechen und ihre einzigar-
tige Geschichte bekannt sind. Die modernste und weitestgehend akzeptierte Definition
einer Marke im Marketing lautet: „Die Vorstellung des Verbrauchers von einem Produkt
oder einer Dienstleistung“ (Meffert et al. 2002). Dies deutet darauf hin, dass das Konzept
von Markenwissen, des Kennenlernens und Wiederkennens von Marken sowie die asso-
ziativen neuronalen Verknüpfungen, die im menschlichen Gehirn dieses Wissen reprä-
sentieren, von allergrößtem Interesse sind. Was ergibt sich daraus für ein erfolgreiches
Marketing in ausländischen Wachstumsmärkten? Welchen Herausforderungen müssen
sich Marken in Bezug auf Storytelling und Erziehung der Millionen und sogar Milliar-
den potenzieller Verbraucher stellen?
In jungen Märkten sind den lokalen Verbrauchern und potenziellen Kunden viele
Marken völlig unbekannt. So handelte es sich etwa 2013 bei 70 % der chinesischen
9.9 Erklärende Ansätze und Storytelling zur Tradition 339
Automobilkäufer um Erstkäufer. Die meisten von ihnen hatten gerade erst die Führer-
scheinprüfung bestanden. Als Gruppe fehlte es ihnen deutlich an Produkt- und Kaufer-
fahrungen, was Kraftfahrzeuge anbelangt. Viele von ihnen hatten noch nie ein Autohaus
von innen gesehen, geschweige denn hinter einem Lenkrad gesessen oder sich mit den
technischen Aspekten eines Motors beschäftigt. Aber auch viele Personen mit eigener
Fahrerfahrung waren über die verschiedenen Marken und ihre besonderen Eigenschaften
nur sehr unzureichend informiert. Für die meisten Menschen in Europa oder den USA
war es selbstverständlich, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, in der schon ihre Groß-
eltern und Eltern Autos bestimmter Marken besaßen. Und als Teenager hatten sie mög-
licherweise schon ein Motorrad besessen oder waren mit ihren Eltern herumgefahren.
Unter diesen Umständen hatten sich bereits frühzeitig besondere Überzeugungen, Asso-
ziationen und Einstellungen gegenüber bestimmten Marken herausgebildet. Dies alles ist
bei den meisten Verbrauchern in den Emerging Markets nicht der Fall. Der Spielraum,
sie zu beeinflussen und bei ihnen über ein angemessenes Markenmanagement und die
Markenerfahrung das gewünschte Image zu erzeugen, ist daher größer.
Um dies zu erreichen, sind eine gut durchdachte Strategie und eine entschlossene
Umsetzung erforderlich. In diesem Zusammenhang gibt es verschiedene wichtige Voraus-
setzungen, die man im Hinterkopf behalten muss. So darf man nicht einfach voraussetzen,
dass die Konsumentenzielgruppe bereits über das notwendige Wissen verfügt – nur weil
man als Kenner des Unternehmens damit vertraut ist. Unsere Markenforschung in den
BRIC-Ländern zeigt, dass die Unternehmensführung in vielen Fällen überschätzt, was
die Verbraucher bereits wissen. Daraus resultieren dann suboptimale Kommunikations-
kampagnen. Darüber hinaus ist es dringend geboten, zu erklären, wofür die betreffende
Marke steht. Dies sollte in einer engagierten, Interesse weckenden und motivierenden Art
und Weise geschehen. Eine klassische Werbekampagne einfach mit zu vielen Botschaften
zu überfrachten, wird nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Man darf nicht verges-
sen, dass die Zielgruppen in China, Indien, Brasilien und anderen Schwellenmärkten in
vielen Fällen zehn, 20, oder gar 30 Jahre jünger als diejenigen in den meisten entwickel-
ten westlichen Märkten sind. Ein Beispiel: Für eine deutsche Bank wäre die wertvollste
Zielgruppe in Deutschland die Altersgruppe der 50- bis 70-Jährigen. In China, Indien
oder Russland gehören die 30- bis 40-Jährigen zur reichsten Zielgruppe, die auch schon
an spannende und engagierte Marketingtechniken gewöhnt ist. Die betreffende Bank
müsste also umlernen und erkennen, dass die althergebrachten, auf Begriffen wie „Ver-
trauen“ und Sicherheit gründenden Marketingbotschaften bei diesen „neureichen“ Konsu-
mentengruppen nicht automatisch gut ankommen. Für manche dieser an relativen Luxus
gewöhnten Menschen im jungen und mittleren Alter gelten Menschen, die über 50 sind,
aufgrund fehlender damaliger Bildungschancen und oftmals schwieriger Lebensverhält-
nisse als „verlorene Generation“. Zudem muss man sich vergegenwärtigen, dass auch in
mittleren Einkommensschichten viele Verbraucher keine guten Fremdsprachenkenntnisse
aufweisen. Außerhalb der Wirtschaftselite sind Kenntnisse der englischen Sprache nur
rudimentär verbreitet. Man sollte also nicht zu viele englische und technische Begriffe
benutzen. Andererseits aber sind Design und andere konkrete Überzeugungsargumente
340 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
sehr wichtig. Sie müssen allerdings den Verbrauchern, die in der Regel keine technischen
Experten sind, in ihrer eigenen Sprache vermittelt werden. Darüber hinaus muss ihnen
verdeutlicht werden, warum gerade diese Marke ihre spezifischen Bedürfnisse erfüllt.
Neue Kunden mit der Marke vertraut zu machen, erfordert einige Geduld.
In jeder Markenstrategie muss genug Raum vorhanden sein, um die Geschichte der
Marke zu erzählen. Man muss sich ausreichend Zeit nehmen, um darzulegen, warum die
eigene Marke einzigartig ist und wie viel Zeit erforderlich war, um zur führenden Marke
aufzusteigen. Über die geistigen Urheberrechte hinaus sind dieser Traditionsaspekt und
das damit zusammenhängende ausländische Markenimage wahrscheinlich der einzige
nachhaltige Wettbewerbsvorteil, der nicht ohne Weiteres nachgeahmt werden kann. Die
eigene Geschichte zu erzählen, bietet also die beste Chance, für die betreffende Marke
von den Verbrauchern auch ein gegenüber lokalen Konkurrenten deutliches Preispre-
mium zu verlangen. Wie lässt sich dieses Ziel erreichen? Es empfehlen sich eine klare
Sprache und einfache Erklärungen, optische Klarheit und eine sehr kreative Umsetzung
und Durchführung der Kampagne, um auf diese Weise die kommunikative Überflutung
in den Megastädten zu durchbrechen. Über Erziehungskampagnen oder Markenakade-
mien kann man zudem seine Zielgruppen gezielt über die Markengeschichte und beson-
dere Alleinstellungsmerkmale informieren. Digitale Medien sollten intensiv genutzt
werden. Soziale Medien eignen sich hervorragend zur Verbreitung von Werbebotschaf-
ten, da sie sehr kommunikativ und kostengünstig sind und einflussreiche virale Effekte
hervorbringen können, die auch den Umsatz steigern.
Es gibt viele lehrreiche Beispiele für Aufklärungskampagnen, die es wert sind,
genauer betrachtet zu werden. Dies gilt etwa für die hochkreative und sehr erfolgrei-
che „MINI Akademie für Schnelllerner“. Ihr Erfolg hängt u. a. damit zusammen, dass
sie hervorragend in den lokalen kulturellen Rahmen integriert wurde. In Europa besitzt
MINI das Image eines vorwitzigen, beweglichen und individualistischen Kleinwagens.
Noch im Jahr 2009 konnte die Marke in China nicht so schnell das von den Vermarktern
erhoffte Potenzial entfalten. Daher setzten sich 2009 das Management und führende kre-
ative Köpfe wie der Leiter und Gründer der Agentur Goodstein, Georg Warga, und Krea-
tivchef Kay Köster von der Unternehmensberatung YesWeCan.Do zu einer Einschätzung
der Lage zusammen. In China war der MINI anfänglich als niedlicher Kleinwagen für
junge Frauen und als Spaßfahrzeug für junge Leute insgesamt betrachtet worden. Män-
ner und ältere Kunden waren in dieser Gruppe unterrepräsentiert. Die MINI-Manager
wollten „den spannendsten Kleinwagen der Welt“ für eine breitere Käuferschicht inter-
essant machen. Dazu wurde eine kreative Strategie um die Themen „dynamische Fahrer-
fahrung“, „Kultdesign“ und „Tradition“ herum entwickelt. Dies mündete, wie man in
Abb. 9.50 sehen kann, in die MINI-Akademie.
Damit verfolgte man die Absicht, die chinesischen Verbraucher gezielt über die reiche
Tradition und Geschichte der Marke MINI zu informieren und herauszustellen, warum
dieses Fahrzeug einzigartig und daher letztlich auch teurer als andere Kleinwagen ist.
MINI musste als vorwitzig, kreativ, außerordentlich, einzigartig und individualistisch neu
positioniert werden. Dazu benötigte das Unternehmen eine Plattform, die es ermöglichte,
9.9 Erklärende Ansätze und Storytelling zur Tradition 341
Dabei richtet sich das Angebot vor allem an die großen Schwellenmärkte und deren Ver-
braucher aus der neuen Mittelschicht. „Journey“ veröffentlicht Artikel, in denen geschil-
dert wird, wie der Hersteller von Erfrischungsgetränken auf den Klimawandel reagiert
und Armut in Indien bekämpft, wie er schon in den 1940er Jahren in Brasilien Werbung
betrieb, und dass sein „Happiness Truck“ gerade irgendwo auf russischen Straßen unter-
wegs ist.
In einem der Videos auf der Internetseite ist zu sehen, dass Coca-Cola sogenannte
„Small World Machines“ in Indien und Pakistan aufstellte, um gute Nachbarschaft zu
fördern. Diese Automaten verfügen über Kameras und wurden in beiden Ländern in Ein-
kaufszentren platziert. Sie ermöglichten es Kunden und Besuchern, die vor der Maschine
standen und in die Kameras blickten, andere reale Menschen in anderen Ländern, die
ebenfalls vor solchen Maschinen standen, zu begrüßen. Oder sie konnten im Rahmen der
„Reicht euch die Hände“-Kampagne ihre Hände auf die großen Bildschirme der Maschi-
nen legen oder tanzen und sich gegenseitig mit Coca-Cola-Dosen zuprosten. Das US-
Unternehmen präsentierte sich als guten Mitbürger, der anderen hilft, Freundschaften zu
schließen.
In Brasilien startete die Fluggesellschaft TAM ihre eigene Aufklärungs- und Infor-
mationskampagne. Mit jährlich zehn Millionen neuen Passagieren bietet sich den bra-
silianischen Fluggesellschaften ein breites Feld für derartige Kampagnen. TAM startete
ihre eigene Microseite „Como Viajar“ („Wie man reist“), auf der die Leser alles über
Passagierflüge erfahren können. Der Verantwortliche für diese Internetseite, der
diese Ratschläge und Informationen anbietet, ist ein ganz normaler Mensch und keine
Berühmtheit. Parallel zu dieser Informationsquelle bildete die Fluggesellschaft ihr
Check-in-Personal und ihre Flugbereiter darin weiter, den Passagieren zu helfen, die zum
ersten Mal fliegen. Vom Ticketpreis bis zur Benutzung der Sanitärräume und Toiletten
des Flugzeuges wird alles erklärt.
Ein weiteres gelungenes Beispiel für eine derartige Informations- und Aufklärungs-
kampagne stammt von Unilever Indien mit der Seife „Lifebuoy“. Diese Kampagne
begann 2013 am höchsten Fest des Hinduismus in Indien, dem Kumbh Mela, dem „Fest
des Kruges“. Bei diesem Fest kommt es zur weltweit größten Ansammlung von Pil-
gern. Den Höhepunkt bildet das rituelle „Bad in der Unsterblichkeit“ im Ganges. 2013
nahmen etwa 23 Mio. Menschen daran teil. Da Inder traditionell mit der rechten Hand
essen, ist das Händewaschen eine extrem wichtige Gewohnheit, die dazu beitragen
kann, etwa Durchfallerkrankungen zu vermeiden, an denen in den Entwicklungsländern
immer noch schätzungsweise 1,1 Mio. Menschen pro Jahr sterben. Unilever stellte den
Pilgern Einrichtungen zum Händewaschen zur Verfügung und verteilte das traditionelle
indische Fladenbrot Roti, das ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Mahlzeit ist. Auf
den 2,5 Mio. verteilten Fladenbroten war jeweils die freundliche Mahnung zu lesen:
„Haben Sie Ihre Hände schon mit Lifebuoy gewaschen?“ Die Kampagne erwies sich als
riesiger Erfolg.
9.10 Die zweite Welle und das Problem der Kundenbindung 343
Anteil Gebraucht-
51.8 wagen (%)
27
2009 2017
in China zu bleiben, auch wenn die Zahl jener Käufer wächst, die teurere Produkte und
höhere Qualität nachfragen und auch die Zahl der Käufer zunimmt, die bereit sind, sich
größere Autos anzuschaffen oder mit anderen Marken zu experimentieren. Wie aus
Abb. 9.52 ersichtlich ist, erreicht die Markenbindung in den westlichen Fahrzeugmärk-
ten einen Wert von etwa 80 %, während sie in China knapp zehn Prozent ausmacht.
Und während 50 % der japanischen Fahrer bei einem Neukauf wieder ein Fahrzeug der
gleichen Marke kaufen würden, liegt dieser Wert in China bei lediglich sieben Prozent.
Die Menschen dort wollen neue Marken ausprobieren und sich mit ihrem nächsten Kauf
„verbessern“.
Auf dem chinesischen Automarkt bahnt sich eine Situation an, in der ein Drittel der
Käufer zum ersten Mal erneut ein Fahrzeug erwirbt. Dies macht die Kundenbindung zu
einer großen Herausforderung. Volkswagen hat es nicht nur geschafft, sein Modellportfo-
lio deutlich zu erweitern, um Kunden eine größere Auswahl im Rahmen seines eigenen
Modellportfolios anbieten zu können, sondern das Unternehmen hat auch eine Kunden-
bindungsstrategie entwickelt, um seine Kunden bei der Stange zu halten. Zu den zent-
ralen Elementen dieser Strategie gehört eine standardisierte Erfassung der wichtigsten
Erwartungen und der Retention-Treiber. Dazu gehören aber auch eine Strategie für das
After-Sales-Management (CRM), eine qualitätsorientierte Suche nach dem effektivsten
Partner für die CRM-Umsetzung sowie ein klares Verständnis der Verbrauchermotive.
Abb. 9.53 zeigt die elementaren Phasen eines klassischen Kundenbindungszyklus. Diese
verändern sich zwar nicht grundsätzlich, aber die aktuellen Informationswerkzeuge und
Kundenbindungsaktivitäten können sich in Abhängigkeit von den Märkten und dem
lokalen Umfeld durchaus deutlich unterscheiden.
Es gibt zahlreiche gelungene Beispiele für erfolgreiche Kundenbindungsprogramme
in den BRIC-Ländern. Eines davon ist die Initiative „Malina“ aus Russland, die von
Loyalty Partners Vostok erarbeitet wurde. Malina begann im April 2006 mit fünf Part-
nern, die alle zu führenden Unternehmen in ihren jeweiligen Märkten gehören. Betei-
ligt waren die Restaurantkette Rosinter, das Telekom-Unternehmen Vympelcom sowie
die Tankstellenkette BP-TNK. Parallel dazu wurde gemeinsam von Visa Card und dem
9.10 Die zweite Welle und das Problem der Kundenbindung 345
5 4
1 2
3
Information Entscheidung Kauf
Austausch wird in den BRIC höher geschätzt als im Westen. Die Umfrage bestätigte dar-
über hinaus die im Vergleich zu Europa und den USA deutlich geringere Kundenbindung,
wobei der Wert besonders für Indien deutlich niedriger lag. 17 % der indischen Ver-
braucher berichteten, sie hätten in den fünf vorausgegangenen Jahren ihren Versicherer
gewechselt. Dieser Wert lag deutlich höher als der weltweite Durchschnitt von zehn %.
Die COLLOQUY Cross-Cultural Loyalty Study, sozusagen ein globaler „Bindungs-
kompass“, der die Verbrauchereinstellungen in drei Industrieländern (Australien, Kanada
und den USA) sowie drei aufstrebenden Ländern (Brasilien, China, Indien) 2001 unter-
sucht hat, liefert einige hilfreiche Erkenntnisse. Die Studie bestätigt die Einschätzung,
dass ausländische Marken in aufstrebenden Märkten besser als in entwickelten Märkten
akzeptiert werden. Sie enthüllt darüber hinaus, dass die Wahrscheinlichkeit dreimal so
hoch ist, dass Konsumenten in den Emerging Markets „besonderen Service“, besondere
Vergünstigungen und Privilegien verlangen. Und fast dreimal so viele Käufer in den
Schwellenmärkten erklären, dass sich die Treue zu ihren bevorzugten Marken auszahle.
Dies bekräftigt den potenziellen Einfluss von Kundenbindungsprogrammen. Der Mund-
zu-Mund-Effekt erreichte in den aufstrebenden Märkten einen sehr viel höheren Wert.
In vielen Fällen könnte man die Interaktion auch als „Trialog“, d. h. als Kommunikation
zwischen Marken, ihren Kunden und den Kundennetzwerken aus Freunden und Famili-
enangehörigen bezeichnen.
Die wachsende Bedeutung mobiler Dienstleistungen (Dienstleistungen über mobile
Endgeräte) bei der Befriedigung der Kundenbedürfnisse und der Entstehung von Kun-
denbindung wurde durch den Customer Loyalty Engagement Index 2012 bestätigt. Dieser
Index, der von der Markenforschungsberatung Brand Keys (2012) ermittelt wird, zeigt,
dass Kundenbindung im Wesentlichen durch emotionales Engagement angetrieben wird.
Diejenigen Marken, die im Ranking die obersten Positionen einnahmen, zeigten alle ein
hohes Niveau an emotionalem Engagement sowie die Fähigkeit, die Kundenerwartun-
gen zu erfüllen. Im Gegensatz dazu handelte es sich bei den Marken, die im Index wei-
ter unten angesiedelt waren, meistens um diejenigen, denen es nicht gelungen war, die
Kundenerwartungen zu erfüllen oder dies nicht durch mobile Endgeräte ermöglichten.
Der größte südamerikanische Mobiltelefon-Provider Vivo ist ein aufschlussreiches Bei-
spiel. Vivo, mit seinen mehr als 60 Mio. Nutzern, entwickelte eine App für die brasiliani-
sche Fußballnationalmannschaft. Mittels dieser App war es Fans möglich, die Spiele live
zu verfolgen, Mannschaftslisten und die Aufstellung der Mannschaft einzusehen sowie
exklusive Inhalte wie Interviews mit Trainern und ihren Fußballhelden zu verfolgen.
Aber es gibt noch einen weiteren Faktor, der nicht unterschätzt werden sollte. Dabei
geht es um das Bestreben der jüngsten und am besten ausgebildeten Generation in den
Familien, die ihre Lebensträume erfüllen will. Die Verbraucher in den Schwellenmärk-
ten stellen höhere Ansprüche und haben höhere Erwartungen, die sie erfüllt sehen wol-
len. Marken, die ihren Kunden Träume und große Momente ermöglichen, haben höhere
Erfolgschancen. Ein Beispiel dafür ist das Vielfliegerprogramm „Multiplus“, ein Spin-off
der führenden brasilianischen Luftfahrtgesellschaft TAM. Multiplus war das erste Kun-
denbindungsprogramm in Brasilien, das an die Börse von São Paulo ging. Es bietet eine
9.11 Expansion nach Regionen und Städte-Clustern 347
große Zahl von Aktivitäten mit Spaß- und Unterhaltungswert, zum Beispiel das Brauen
von Bier oder das Fahren eines Ferraris. Und zu guter Letzt: Zwar schätzen Kunden
weltweit Vorzugsbehandlungen und Prämien, aber nirgends ist das Bestreben danach so
groß wie in den BRIC.
China, Indien, Russland und Brasilen sind Länder mit gigantischen geografischen Dimen-
sionen. Ein Ansatz nach dem Muster „one size fits all“ ist hier einfach nicht sinnvoll.
Wenn man sich einen Ausgangspunkt für beste Wachstumschancen sucht, ist es allerdings
durchaus zweckmäßig, sich strategisch auf wichtige regionale oder City-Cluster zu kon-
zentrieren. Eine länderweite operationelle Strategie wäre nicht in der Lage, die immense
Diversität und unterschiedliche Entwicklung innerhalb dieser riesigen Länder zu berück-
sichtigen. Aber Primärstädte sind nur ein mögliches Ziel, wenn man rasches Wachstum
erzielen will. Sich in den rasch wachsenden Zentren des „Hinterlands“ zu engagieren, ist
eine weitere vielversprechende Option im Rahmen dieser Cluster-Strategie.
Der „Urban World Report 2012“ erläutert anhand von Wäschepflegeprodukten das
mögliche Ausmaß der steigenden Kaufkraft: Er rechnet damit, dass das Umsatzwachs-
tum dieser Produkte in den kommenden zehn Jahren in São Paulo höher als in Frank-
reich oder Malaysia ausfällt (Dobbs 2012). Ähnliches gilt für Indien. Bis zum Ende
der 2020er Jahre, so wird erwartet, könnte die Wirtschaft in Mumbai größer sein als
die malaysische Volkswirtschaft heute. Aber selbst dann wird der Anteil Mumbais nur
fünf Prozent der indischen Volkswirtschaft insgesamt ausmachen. Und innerhalb dieses
Zeitraums wird es in China an die 150 Städte mit mindestens einer Million Einwohnern
geben. Aber diese überschaubaren lokalen Märkte zeichnen sich durch große Unter-
schiede aus.
Der richtige Zeitpunkt ist ein Faktor, den man unbedingt in seine Überlegungen ein-
beziehen muss, wenn man in den BRIC aktiv werden will. Viele multinationale Unter-
nehmen beispielsweise konzentrieren sich immer noch auf den im Südosten Brasiliens
gelegenen Bundesstaat São Paulo, wenn sie im Land Geschäft machen wollen. Die Wirt-
schaft São Paulos ist größer als die gesamte argentinische Volkswirtschaft, und der Bun-
desstaat bildet den reicheren Teil des in sich sehr unterschiedlichen Landes. Aber der
Wettbewerb ist deutlich intensiver, und die Einzelhandelspreise sind in São Paulo niedri-
ger als im weniger entwickelten Nordosten Brasiliens. Der Nordosten ist dicht bevölkert,
historisch ärmer und wächst schneller als der Süden. Warum sollte man sich dann nicht
ausschließlich auf den Nordosten konzentrieren, wenn man nur über begrenzte Kapazitä-
ten verfügt?
Die Kunst, entlang der Städte-Cluster zu expandieren, beginnt mit der Untersuchung
und der Identifikation der Unterschiede der verschiedenen Regionen. Es ist nicht schwie-
rig, die Cluster zu erkennen. Es kann sich dabei um Gruppen von Städten handeln, die
durch eine besondere Wirtschaftsstruktur, durch demografische Strukturen, vergleichbares
348 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
wechselnden Strömungen kann es sich als sinnvoll erweisen, eine bereits existierende
Marke zu übernehmen. Man denke dabei etwa an Indiens jüngsten Vorstoß zur Reform
des Einzelhandelsmarktes – dies kann die Branche sehr viel schneller verändern, als es
dauert, neue Marken aufzubauen. Oder an riesige Sportereignisse wie etwa die Fußball-
weltmeisterschaft 2014 in Brasilien oder die Olympischen Sommerspiele 2016. Sie kön-
nen ganze Märkte auf eine Weise erschüttern oder neu beleben, die ausländische Marken
dazu zwingt, ihre Aktivitäten stärker zu beschleunigen, als ursprünglich geplant, um
keine wertvolle Zeit zu verlieren. Aber Zeit ist nur ein Faktor, der in Erwägung gezo-
gen werden muss. Markenbindung ist ein weiterer. Viele heimische Konkurrenten in den
sich rasch industrialisierenden Volkswirtschaften sind, was das Wachstum angeht, noch
schwach, aber sie können oft auf eine sehr treue Kundschaft zählen. Im Zusammenhang
mit der Übernahme und Neubelebung starker lokaler Marken werden in der Regel häufig
folgende Vorteile genannt:
Eine Strategie zur Übernahme und Neubelebung kommt üblicherweise in den Massen-
märkten zum Tragen, in denen die Verbraucher mit dieser Marke seit Langem vertraut
sind. Sind die Verbraucher im Durchschnitt älter und eher traditionell eingestellt, könn-
ten diese Marken sogar positive Erinnerungen an die längst vergangene eigene Jugend
wachrufen. Dann haben sich diese Marken möglicherweise bereits tief in das Bewusst-
sein der Verbraucher eingegraben und müssen im Bewusstsein nur neu belebt und durch
andere, auf die Zukunft bezogene Aspekte ergänzt werden.
Unter einer Markenneubelebung versteht man eine Strategie, die darauf abzielt, ver-
loren gegangenes Terrain des Markenwertes zurückzuerobern und neue wertschaffende
Aspekte zu entwickeln. Eine solche Strategie schließt meistens grundlegende Verände-
rungen des Produkts und Portfolios sowie eine allgemeine Neupositionierung der Marke
mit ein.
Eines der bekanntesten Beispiele in den BRIC ist Thums Up, ein großer indischer
Getränkehersteller, der ein an den lokalen Geschmack angepasstes Cola-Getränk pro-
duziert. Als die indische Regierung 1977 ein Edikt erließ, in dem sie westliche Unter-
nehmen aufforderte, die Kontrolle über ihre indischen Tochterunternehmen aufzugeben
oder Indien zu verlassen, zog sich Coca-Cola aus Indien zurück. Daraufhin versuchten
verschiedene indische Unternehmen, den nationalen Markt für Erfrischungsgetränke
zu erobern. Thums Up war eines von ihnen. Es war 1977 vom Nahrungsmittel- und
Getränkehersteller Parle aus Mumbai gegründet worden. Parle ist heute der größte
9.12 Übernahme und Revitalisierung lokaler Marken 351
Angesichts des geringeren Wachstums in Europa und Nordamerika sowie der Tatsa-
che, dass immer mehr Konsumenten in den BRIC in die Mittelschicht aufsteigen und
auch die ländlichen Regionen im Aufstieg begriffen sind, versuchen westliche Unterneh-
men gegenwärtig, schneller in den Schwellenmärkten Fuß zu fassen. Die Übernahme
lokaler Marken, um sie dann neu zu beleben, ist dabei zunehmend beliebt. Im April 2013
kündigte Unilever Pläne an, 5,4 Mrd. US$ auszugeben, um seinen Aktienanteil am indi-
schen Tochterunternehmen Hindustan Unilever von 52 auf über 75 % zu erhöhen. Unile-
ver gehört zu den zahlreichen weltweit agierenden Unternehmen mit in Indien gelisteten
Tochtergesellschaften – ein Überbleibsel aus jener Zeit, als es noch Beteiligungsgrenzen
für ausländische Investoren gab. Dieser Aktienrückkauf ist die größte Investition dieser
Art, die Unilever in 13 Jahren getätigt hat, und erwies sich auch als die größte Einzelin-
vestition im indischen Konsumgüterbereich. Wenn Indien an seiner Politik der Öffnung
einiger Märkte festhält, um sein Wirtschaftswachstum zu halten, dürfte es nicht mehr
allzu lange dauern, bis ein noch umfangreicherer Deal angekündigt wird.
Zu den jüngsten Geschäften, an denen lokale Marktakteure beteiligt waren, gehört die
Übernahme der chinesischen Hot-Pot-Restaurantkette Little Sheep durch den US-ame-
rikanischen Nahrungsmittelkonzern Yum! Brands 2012. Dieses Geschäft erwies sich als
die erste erfolgreiche ausländische Übernahme einer größeren chinesischen Marke. In
der Zwischenzeit hat Yum! die Neuausrichtung der Marke Little Sheep erfolgreich abge-
schlossen. Ob das auch langfristig ein großer Erfolg sein wird oder nicht, bleib abzuwar-
ten. Little Sheep bietet als Spezialität den sogenannten „Mongolischen Feuertopf“ an,
eine Art Brühfondue, bei dem in einem speziell geformten Topf am Tisch eine würzige
Brühe am Kochen gehalten wird, in der dann verschiedene Fleischstücke und Gemüse
gegart werden. Little Sheep besaß etwa 450 Restaurants, als es von Yum! übernommen
wurde. Für Yum! bietet die Übernahme die Chance, im rasch wachsenden Segment der
chinesischen Full-Service-Restaurants Fuß zu fassen und in diesem größten Wachstums-
markt am Ball zu bleiben. Aber wie aus dem Jahresbericht 2011 von Little Sheep her-
vorgeht, benötigte das Unternehmen nicht nur neue Investitionen für seine Entwicklung,
sondern auch zur Optimierung des Geschäftsbetriebes und der Sanierung der Restau-
rants. Das Unternehmen wollte sein Markenimage stärken und seine allgemeine Renta-
bilität verbessern. Wie einige der Konkurrenten musste das Unternehmen trotz einer Zeit
außergewöhnlichen Wachstums auch Flauten durchstehen. Auch die Zahl der Stamm-
gäste war rückläufig.
Es ist eine interessante Entwicklung, dass chinesische Hot-Pot-Ketten nun damit
beginnen, ihrerseits in den US-amerikanischen Markt vorzudringen, während Yum! damit
beschäftigt ist, Little Sheep wieder auf Kurs zu bekommen. Die Hot-Pot-Kette Hai Di Lao
(„Fischen am Meeresgrund“) kündigte im Sommer 2013 ihren Eintritt in den US-ameri-
kanischen Markt an. Zu ihrem hochinnovativen Konzept gehören Handmassagen, Inter-
netterminals und Maniküren für die Gäste, die noch in der Schlange auf einen Sitzplatz
warten müssen. Die Kette versucht, sich von ihren Konkurrenten durch eine Mischung aus
gutem Service und Showaufführungen abzugrenzen. Dabei tanzen „Nudelmeister“, wäh-
rend sie frische Nudeln herstellen, und Zauberer treten in traditionellen Kostümen auf.
9.13 Vertikale Markendehnung zum Einstieg in den Mittelmarkt 353
Die aufmerksame Bedienung bietet den Gästen mit langen Haaren Haargummis an und
stellt Plastikbeutel für Mobiltelefone und warme Handtücher für ins Schwitzen geratene
Gäste zur Verfügung. In seinen Waschräumen und Toiletten bietet Hai Di Lao eine große
Bandbreite an kostenlosen Parfüms und Lotions an. Dies ist ein weiteres Beispiel für den
Wettbewerb, dem sich europäische und US-amerikanische Unternehmen in den kommen-
den Jahren gegenübersehen werden. Die beste Art, sich auf diese neuen Champions vor-
zubereiten, besteht darin, ihnen in ihren eigenen Märkten entgegenzutreten, bevor sie so
gewachsen sind, dass sie weltweit agieren wollen und daher eine ernsthafte Herausforde-
rung darstellen.
Die McDonough School of Business der Universität Georgetown veröffentlichte im
Jahr 2011 eine Untersuchung, nach der die Übernahme einer lokalen Marke für inter-
nationale Expansionsstrategien entscheidend sein kann. Die Wissenschaftler analysierten
Daten des Marktforschungsunternehmens Euromonitor und untersuchten Produktkatego-
rien wie Bier, Haarpflegeprodukte und kohlensäurehaltige Erfrischungsgetränke in den
BRIC-Märkten. Sie stellten fest, dass ein erheblicher Teil des Erfolges multinationaler
Unternehmen in den Emerging Markets auf die Übernahme lokaler Marken zurückgeht
(Johansson und Leigh 2011). Darüber hinaus beobachteten sie, dass internationale Unter-
nehmen mehr daran interessiert sind, lokale Marken zu übernehmen, wenn die Marken-
treue der lokalen Kundschaft – wie etwa in der Bierbranche – besonders ausgeprägt ist.
Laut dieser Studie nahm die Zahl übernommener lokaler Marken in Russland während
der letzten zehn Jahre deutlich zu. Im Gegensatz dazu erwiesen sich die lokalen Kon-
kurrenten in Indien und Brasilien als widerstandsfähiger und konnten ihre Marktanteile
gegenüber globalen Marken sogar verbessern. In China erhöhten internationale Unter-
nehmen ihre Marktanteile in einigen Branchen deutlich – unter anderem auch durch die
Übernahme lokaler Marken.
Die großen Wachstumsmärkte sind durch extrem rasche Veränderungen der Zielgruppen
gekennzeichnet. Die Gestaltung, Entwicklung und Vermarktung von Marken in dieser
extrem dynamischen, im Fluss befindlichen Umgebung kann nur dann erfolgreich sein,
wenn die Unternehmen ihre eigene Art und Weise des Geschäftsbetriebes immer wie-
der infrage stellen, sich auf genaue Marktkenntnisse stützen und sich immer wieder dazu
zwingen, ihre Annahmen neu zu bewerten und anzupassen. Die Kenntnis der grundle-
genden Bedürfnisse und Interessen ihres wichtigsten Kundenkreises und der Dynamiken,
die ihre Marken in den Märkten antreiben, gewinnt zunehmend strategische Bedeutung,
weil die Einnahmen der multinationalen Unternehmen in den aufstrebenden Märkten
immer wichtiger für das Konzernergebnis insgesamt werden.
In China haben Arbeitsmarktreformen und andere Initiativen die Löhne rasant steigen
lassen, was zur Entstehung einer neuen Verbraucherschicht in den ländlichen Regionen
354 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
im Westen des Landes führte. Die Einkommen der Haushalte in den urbanen Zentren
und Metropolregionen nehmen weiter zu und führen so zum Anwachsen einer gehobe-
nen Mittelschicht, die bereit ist, höhere Preise für Qualität zu bezahlen, und die über
Einkaufswünsche verfügt, die weit über die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse
hinausgehen. 2012 machte diese gehobene Mittelschicht nur etwa 14 % der urbanen
Haushalte in China aus. Schon in den ersten Jahren der 2020er Jahre wird dieser Anteil
auf etwas mehr als 50 % anwachsen. Vermarktern, die diese gewaltigen Veränderungen
bei den Verbrauchern verpassen, drohen Milliardenverluste.
Die Konsumpotenziale des ländlichen Raums sind gewaltig und könnten durchaus das
Gefüge der Unternehmensmacht auf Jahre hinaus verändern. Anfang 2013 löste Audi,
das zur Volkswagen AG gehört, BMW als führenden Verkäufer von Luxusfahrzeugen in
Indien ab. Es war Audi gelungen, rasch in Regionen außerhalb der großen urbanen Zen-
tren und Metropolen zu expandieren. Der indische Markt ist auch ein gutes Studienob-
jekt, wenn es darum geht, die ungeheure Dynamik der Käufer zu untersuchen, die in der
Konsum-Wertschöpfungskette aufsteigen, d. h. beginnen, teurere und qualitativ höher-
wertige Produkte und Dienstleistungen nachzufragen. In der ersten Hälfte 2013 kam es
im Segment der Einstiegsklasse A des indischen Automobilmarktes – Modelle wie der
Maruti Alto oder der Hyundai Eon – sowie im „Brot und Butter“-Segment B zu einem
massiven Rückgang der Verkaufszahlen, während gleichzeitig Premium-Kombilimou-
sinen und SUVs zu neuen Verkaufsschlagern wurden. Die einfache Erklärung: Immer
mehr Menschen können sich größere und teurere Fahrzeuge leisten. Laut Branchenex-
perten wird die Nachfrage nach qualitativ höherwertigen Gütern durch eine neue Schicht
von Erstkäufern getrieben, die sich der Gruppe Limousinenbesitzer anschließen. Dieser
Trend spiegelt zum Teil das rückläufige Wachstum nach der Finanzkrise wider. Von ihr
wurden kleinere Einkommen mit einem geringeren Anteil frei verfügbarer Gelder relativ
stärker getroffen. Vergleichbare Ereignisse wurden im chinesischen Einzelhandel beob-
achtet, in dem mittelstarke Marken Verluste einstecken mussten, da sich viele Verbrau-
cher Premiummarken zuwandten.
In der Sportbekleidungsbranche etwa wurden lokale Champion-Marken wie Li Ning
von der rasch veränderten Konsumlandschaft getroffen. Chinesische Käufer haben auf-
grund ihrer rasch steigenden Einkommen damit begonnen, zwischen sportlich-legeren
Schuhen, die sie alltäglich benutzen, einerseits und reinen Sportschuhen andererseits
zu unterscheiden. Wenn sich Produkte und Marken nicht anpassen und sich nicht prä-
zise entsprechend diesen schnellen Marktströmungen positionieren, könnte es in großen
Märkten wie China, Indien oder Brasilien für westliche Unternehmen zu Katastrophen
kommen. Die richtige Positionierung wird aber weiter dadurch erschwert, dass auslän-
dische Marken oft allein aufgrund ihrer Etikettierung und Herkunft in den aufstrebenden
Märkten als Premiummarken wahrgenommen werden. Vermarkter dieser ausländischen
Marken wissen oft nicht, dass ausländische Produkte in den BRIC allein aufgrund ihres
Preisniveaus unterschiedlich positioniert sind. Die Entscheidung darüber, welche Anpas-
sungen notwendig sind, gehört zur Arbeit der Marketingexperten.
9.13 Vertikale Markendehnung zum Einstieg in den Mittelmarkt 355
Der zunehmende Wettbewerb, der von den neuen lokalen Marken in den Schwel-
lenländern angeheizt wird, ist ein weiterer und diesmal externer Faktor für westli-
che Marken, ihre internationale Präsenz auszuweiten, indem sie diese Märkte für sich
erschließen. Denn sonst riskieren sie, durch die neue Konkurrenz aus den aufstrebenden
Märkten in ihren eigenen heimischen Märkten manchmal innerhalb nur weniger Jahre
überrollt zu werden. Bereits jetzt bläst multinationalen pharmazeutischen und chemi-
schen Unternehmen aufgrund lokaler Wettbewerber in China, 2017 nach den USA und
Japan bereits den drittgrößten Markt für pharmazeutische Produkte aufwies, zunehmend
der Wind ins Gesicht. Internationale Konzerne in dieser Branche mussten einen Rück-
gang ihres Marktanteils in China von 30 % im Jahr 2000 auf nur noch 25 % 2010 hin-
nehmen. Diese Entwicklung vollzog sich parallel zu den Reformen des Jahres 2009, die
die medizinische Versorgung der arbeitslosen Bevölkerung in den ländlichen Regionen
und städtischen Zentren ermöglichte. Auch deutsche Exportunternehmen sind sich der
wachsenden Risiken bewusst, die von neuen Wettbewerbern mit internationalen Expan-
sionsgelüsten ausgehen. Eine Untersuchung von Prognos (2013) ergab, dass deutsche
Exporteure in Industrienationen außerhalb Europas Marktanteile an ihre chinesischen
Wettbewerber verlieren. Selbst Paradebranchen wie der deutsche Maschinenbau stel-
len fest, dass es China bereits gelungen ist, zum größten Exporteur in führende Märkte
außerhalb Europas zu werden. In den kommenden Jahren könnten deutsche Unterneh-
men sogar Marktanteile in ihren heimischen europäischen Märkten an China verlieren.
Es gibt nur einen logischen und vielversprechenden Weg, dieser Herausforderung zu
begegnen: Man muss den neuen Wettbewerbern in ihren heimischen Märkten entgegen-
treten. Die Hauptaufgabe besteht darin, eine maßgeschneiderte Marktstrategie zu entwi-
ckeln, die die tatsächlichen Gegebenheiten – einschließlich der Chancen, die das große
mittlere Marktsegment bietet – reflektieren und nicht auf etablierten Annahmen beruhen,
die die Diskussionen in den heimischen Vorstandsetagen dominieren.
Zwischen den führenden zehn Prozent der Bevölkerung – die oft als „Super-Konsu-
menten“ bezeichnet werden – und denen, die in verzweifelter Armut leben, gibt es eine
große Brandbreite sich rasch verändernder Einkommensschichten. Als westliche Unter-
nehmen in den vergangenen zehn Jahren in die Wachstumsmärkte wie China oder Indien
eintraten, konzentrierten sie sich traditionell auf dieses Premiumsegment, nur um später
herauszufinden, dass sie die Segmente der gehobenen Mittelschicht und der Economy-
Schicht sowie das hohe Potenzial, die sie repräsentieren, übersehen hatten. In diesem
mittleren Marktsegment zu arbeiten, erfordert einige Markendehnung, da Marketing für
das Spitzensegment alleine – gemessen am Aufwand für die Erschließung – keine maxi-
malen Ergebnisse bringt. Eine kluge Markendehnung liefert eine wirksame, vielverspre-
chende und kostenbewusste Möglichkeit, die Reichweite und den Umsatz einer Marke
über das Premiumsegment hinaus zu erweitern.
Eine abwärts gerichtete Markendehnung ist in den entwickelten Märkten ziemlich
ungewöhnlich, wird aber als Strategie in Wachstumsmärkten häufig benutzt, um die
Chancen angemessen nutzen zu können, die in spezifischen Segmenten existieren. Ver-
glichen mit dem Aufbau einer völlig neuen Marke bietet die Markendehnung einen sehr
356 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Zahl her werden die Mittelschicht sowie die Wohlhabenden und Reichen in China in den
kommenden zehn Jahren etwa so groß wie die Europäische Union insgesamt werden.
Abb. 9.55 zeigt, dass das Wachstum des Konsums sich hauptsächlich auf die 114 mit-
telgroßen Sekundär- oder Tertiär-Städte sowie die acht Megastädte mit jeweils mehr als
zehn Millionen Einwohner konzentrieren wird.
Neue Forschungen bestätigen, dass Markendehnung ein maßgeblicher Faktor für
nachhaltiges Wachstum in den BRIC ist. Das Marktforschungsinstitut Nielsen (2012)
beschrieb in einem „Featured Insight“ die Ergebnisse einer umfassenden Marktstudie,
die 82 Markendehnungen in 46 unterschiedlichen Kategorien im indischen Schnelldre-
her (Fast Moving Consumer Goods (FMCG))-Markenmarkt untersuchte. Laut der Studie
werden bereits 30 % der Einnahmen der führenden 23 FMCG-Marken durch Marken-
dehnung erzielt. Und noch wichtiger: Es erwies sich, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit
von Markendehnungen fünfmal höher ist als die der Einführung neuer Produkte. Dies
sind überzeugende Ergebnisse, insbesondere in einer schwachen weltweiten Umge-
bung, in der der Inflationsdruck das Management dazu zwingt, neue profitable Wachs-
tumspfade zu finden, und andererseits steigende Einkommen in den neuen Märkten neue
Möglichkeiten eröffnen, um in neu entstehende Wachstumssegmente und -kategorien
vorzustoßen. Markendehnung bietet nicht nur eine kostengünstigere und risikoärmere
Megastadt 3
3 8 13 25
(10M+) 5
Große
6
Millionenstadt 11 10 21 12
(5-10M) 4
Mittlere
Millionenstadt 60 29 34
64 114
54
821 Städte
Kleinere
117
Millionenstadt 171 130 252 20 19
0.5-1.5 M 5
Großstadt 442
572 488 17 9
<0.5M 46
Neue Städte
der günstigeren Marke zu wechseln, was zu Umsatzverlusten führen würde. Ein gutes
Beispiel, wie eine erfolgreiche Abgrenzung der Marken funktionieren kann, liefert die
von Procter & Gamble hergestellte Zahnpasta „Crest“. Um im chinesischen Marktseg-
ment der mittleren Einkommensschichten weiter zu expandieren, veränderte Procter &
Gamble die Zusammensetzung und Verpackung der Marke. Die Premiumversion „Pro
Health Complete 7“ richtet sich an die gehobenen Verbraucher und wurde so positioniert,
dass sie gegen sieben Probleme der Mundhygiene wirkt, die durch die moderne Lebens-
weise hervorgerufen werden. Die Eigenschaft und der Claim, das natürliche Zahnweiß
wiederherzustellen, wurde ausschließlich für die Premiumprodukte von Crest reserviert,
während die Basiseigenschaften zur Kariesprophylaxe bei den günstigeren Produkten
im Mittelpunkt standen (Beattie 2012). Ähnliche Ansätze finden sich auch bei Hautpfle-
geprodukten. Die Basisfunktion einer Gesichtscreme – eine glatte und weiche Haut –
wurde bei preisgünstigeren Produkten in den Vordergrund gestellt, während im höhen
Preissegment Produkteigenschaften wie die Verringerung von Falten und Abdeckung
dunklerer Regionen zum Tragen kommen.
Vertikale Markendehnung birgt aber auch Gefahren. Eine Überdehnung kann zu nega-
tiven Konsequenzen führen. Wenn sich der Zielmarkt der neuen Marke nicht ausreichend
von dem Zielmarkt der Kernmarke unterscheidet, könnte es zu rückläufigen Umsatzzah-
len im Bereich der Kernmarke kommen. Und wenn eine vertikale Markendehnung (wie
jede andere Markenerweiterung auch) nicht erfolgreich verläuft, kann sie den Wert der
Kernmarke schädigen. Es besteht also die Gefahr, dass die Verbraucher möglicherweise
verwirrt oder frustriert werden, wenn für sie nicht länger eindeutig zu erkennen ist, wel-
che Produktversion für sie „die richtige“ ist.
Um diese Fallstricke zu vermeiden, müssen zahlreiche Fragen beantwortet werden,
bevor eine Marke gedehnt wird. Dazu müssen die Marktchancen geklärt sein, bevor man
eine Marke in höhere oder tiefere Marktsegmente erweitert. Wie groß sind die relevanten
mittleren Segmente? Wie intensiv ist der Wettbewerb? Wie lauten die wichtigsten Kun-
denwünsche und -trends? Und eine der wichtigsten Aspekte: Wie groß oder klein fal-
len die erwarteten Gewinnmargen aus? Ein weiterer entscheidender Faktor, der geprüft
werden muss, bevor man handelt, sind die Kosten der Herstellung und Organisation
sowie die Fähigkeit des Unternehmens zur Anpassung. Nach unserer Erfahrung ist dies
der schwierigste und verzwickteste Aspekt. Viele weltweite Unternehmen leisten Her-
vorragendes, wenn es um die Entwicklung komplexer, leistungsstarker Produkte geht.
Aber gerade aufgrund ihrer Ingenieurskunst und der auf Qualitätsoptimierung angeleg-
ten Denk- und Arbeitsweise fällt es ihnen schwer, Produkte weniger komplex, weniger
leistungsstark und kostengünstiger zu gestalten. Wieder zur strategischen Flexibilität des
„Verlernens“ zurückzufinden und wichtige Aspekte eines Geschäftsmodells neu zu erfin-
den, sind wichtige Bestandteile beim Aufbau einer starken und nachhaltigen Position in
den wachsenden mittleren Marktsegmenten der BRIC.
360 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Zur Umsatzsteigerung bauen viele internationale Unternehmen in den BRIC ein diffe-
renziertes Markenportfolio auf, das sich aus einer Marke für den gehobenen Markt und
gesonderten Marken für mittlere und untere Segmente zusammensetzt. Diese auf vielen
Marken beruhende Strategie findet sich vor allem im Konsumgüterbereich und hat sich
bei sachgerechter Umsetzung als sehr wirksam erwiesen. In Ländern wie China, in denen
die Vorschriften der Regierung im Automobilbereich beim Aufbau heimischer Marken
Joint Ventures verlangen, sind Unternehmen manchmal aus ordnungspolitischen Grün-
den gezwungen, zusätzliche Marken zu entwickeln.
Im Januar 2013 berichtete der Volkswagen-Entwicklungschef Ulrich Hackenberg, das
Wolfsburger Unternehmen plane, sein erstes Low-Cost-Fahrzeug in China als separate
Marke zusammen mit einem seiner beiden chinesischen Joint-Venture-Partner. Im März
2013 bestätigten die Joint-Venture-Partner BMW und Brilliance Meldungen über den
Aufbau einer gemeinsamen Untermarke mit dem chinesischen Namen „Zhi Nuo“, was
als „Das Versprechen“ übersetzt werden kann. Für BMW ist die neue Marke Teil seines
Expansionsplans in die lokalen Märkte und ein weiterer Schritt, die Genehmigung für
eine zweite Joint-Venture-Produktionsanlage in Shenyang zu erhalten. Der US-amerika-
nische Autobauer Ford meldete, man plane gemeinsam mit seinen Joint-Venture-Partnern
Mazda und Chang’an Motors die Entwicklung einer neuen Marke. Ford hat sich ehrgei-
zige Umsatzziele gesetzt und strebt an, 60 bis 70 % seines weltweiten Umsatzzuwachses
in der Großregion Asien-Pazifik und Afrika zu erzielen. Hyundai kündigte seine eigene
Limousinen-Untermarke Mistra an. Dabei handelt es sich um ein nur in China erhält-
liches Modell, das genau im Bereich zwischen den Segmenten für kleine und mittlere
Automobile angesiedelt ist. Auch Kia will im chinesischen Markt mit einer neuen Marke
mit dem Namen Horki, der sich von dem Mandarin- Schriftzeichen für „China“ und
„Fahren“ ableitet, präsent sein.
Der Konzern Unilever in Brasilien will von den Chancen im mittleren Marktsegment
im Produktbereich Waschmittelprodukte profitieren, indem man sich einerseits mit OMO
als Premiummarke und mit ALA als eine Marke positioniert, die speziell für die niedri-
geren und mittleren Einkommensschichten entwickelt wurde. Diese leben, wie wir im
Länderkapitel gezeigt haben, vor allem im Nordosten Brasiliens. Die unternehmensin-
terne Kampagnenbezeichnung für diese regionenspezifische Markenerweiterung (siehe
Abb. 9.56) lautete „Project Everyman“. Die Produktanpassung für ALA zielte darauf
ab, besser auf die Wünsche der Konsumenten mit niedrigeren Einkommen einzugehen.
Dazu gehörten kleinere Plastikbeutel anstatt der normalen Drei-Kilogramm-Packung von
OMO, aber auch unterschiedliche Duftnoten wie Lavendel, der in der örtlichen Kultur
Glück verheißt und auf Männer anziehend wirken soll, sowie aufgrund der in der Region
vorherrschenden geringen Alphabetisierung eine leicht zu erkennende Verpackung.
In den zehn Jahren vor 2007 war es Unilever gelungen, in Brasilien im Bereich
Waschmittelpulver 81 % Marktanteil zu erreichen. Das Unternehmen entwickelte ein
9.14 Separate Marken für gesonderte Märkte 361
– Premiummarkt –
„Sich schmutzig zu machen,
ist kein Problem.“
– Mittleres
Marktsegment –
Abb. 9.56 Ein Beispiel für die Nutzung der Marktpotenziale im mittleren Marktsegment durch
den Aufbau einer Untermarke. (Quelle: globeone unter Benutzung von Bildern von Unilever Brazil
2014)
Portfolio, das von der Premiummarke OMO über Minera (Waschpulver und Haushalts-
seifen) bis hinunter zu Campeiro (der günstigsten Waschpulvermarke) praktisch alle
wesentlichen Segmente des Marktes abdeckte. Bevor Unilever damit begann, auch in den
Nordosten des Landes vorzustoßen, hatte man die lokalen demografischen Gegebenhei-
ten genau untersucht. Im Nordosten leben 48 Mio. Konsumenten mit niedrigem Einkom-
men, also 28 % der Brasilianer. Das Nutzungsverhalten war relativ einfach zu ermitteln:
Die Kleidung wurde häufiger gewaschen, da die Menschen weniger Kleidungsstücke
pro Person besaßen. Sie nutzten meistens Waschsalons oder sogar Wasserbecken, wo sie
sich treffen und mit ihren Freunden unterhalten konnten. Der Vorstoß in diesen ländli-
chen Markt bot die Chance, zusätzliche Dynamik zu entfalten, vom First-Mover-Vorteil
zu profitieren und ein Marktführer im Verbrauchermarketing für einkommensschwache
Schichten zu werden.
In Indien erweiterte Unilever sein Portfolio von Toilettenseifen, indem man sich mit
der Marke Dove nun auch an die oberen sozioökonomischen Schichten (die oberen 30 %)
wandte und die separate Marke LUX einsetzte, um die mittleren Einkommensschichten
zu erreichen. Zielgruppe der Marke Lifebuoy waren die unteren Etagen der Einkom-
menspyramide. Für große Konsumgüterunternehmen, die auch in den BRIC-Märkten
operieren, wird es zunehmend beliebter, ein sehr ausdifferenziertes Markenportfolio zu
362 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
entwickeln, das alle Einkommensschichten und ebenso alle Produktbereiche von Wasch-
pulvern, Seifen und Shampoos bis hin zu Hautpflegeprodukten und Zahnpasta abdeckt.
Die Logik dieses Ansatzes zeigt sich in Abb. 9.57.
Der Konsumgütergigant Procter & Gamble (P&G) verfolgte eine ähnliche Strategie
der Portfoliodehnung im chinesischen Waschpulvermarkt, um sein volles Umsatzpo-
tenzial zu realisieren. Abb. 9.58 zeigt dieses Beispiel mit den Marken Ariel und Tide.
P&Gs Flaggschiff-Waschmittelmarke Ariel ist im Premiumsegment positioniert, wäh-
rend Tide auf den Massenmarkt ausgerichtet ist. Um eine deutliche Differenzierung
zwischen beiden Marken zu erreichen, stützte sich P&G auf zwei Markenbotschafte-
rinnen, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Für Ariel konnte das Unternehmen
die berühmte taiwanesische Sängerin, Schauspielerin und Fernsehmoderatorin Xu Xidi
gewinnen. Sie gilt als sehr schlagfertig und etwas schnippisch und spricht damit den
modernen urbanen chinesischen Verbraucher an. In den Fernsehwerbespots von Ariel
tritt Xu Xidi oft mit einem verspielt-witzigen Unterton auf und bringt ihren Humor
voll zur Geltung. Slogans wie „Fünf-Sterne-Reinheit“ unterstreichen die Premiumposi-
tionierung der Marke weiter. Tide auf der anderen Seite wird durch den chinesischen
Fernsehstar Hai Qing beworben. Sie gilt als Everybody’s Darling und ist für ihre zahl-
reichen Rollen in chinesischen Seifenopern berühmt. Durch die Zusammenarbeit mit
Hai Qing erreicht Tide den eher konservativen Massenmarkt. Als Markenbotschafterin
für Tide veranstaltet sie Kochunterricht und gibt auf Veranstaltungen oder in den sozi-
alen Medien Haushaltstipps. Die Werbekampagnen zeigen sie oft in einer traditionellen
Umgebung zusammen mit Müttern und Kindern. Die Produktpolitik von P&G spiegelt
die Positionierung beider Marken wider. Die Verpackungsgrößen von Ariel sind bei
Markenpositionierung Unterschiedliche
Nutzenversprechen in der
– Premiummarkt – Kommunikation
Abb. 9.58 Auch Ariel und Tide schöpfen das Potenzial des mittleren Marktsegments durch eine
Portfolio-Dehnung aus. (Quelle: globeone unter Benutzung von Bildern von P&G 2014)
etwa gleichem Preisniveau deutlich kleiner als die von Tide. Dies macht Ariel zum ide-
alen Produkt für chinesische Verbraucher, die große Verpackungen als unbequem emp-
finden und sich eher auf Qualität konzentrieren, während Tide die bevorzugte Wahl eher
preisorientierter Verbraucher ist.
In den vergangenen Jahren ist es immer beliebter geworden, unter einem Markendach
ganz unterschiedliche Produktkategorien anzubieten. Xerox erweiterte seinen Marken-
kern von Kopierern zu Computern. General Electric verkauft nun auch Finanzdienstleis-
tungen. Wir können uns Zimmer in Luxushotels von Versace buchen oder mit Notebooks
von Ferrari im Internet surfen. Wir können sogar Schuhe oder Uhren von Caterpillar,
Porsche oder Jeep tragen.
Diese horizontale Markendehnung, d. h. die Erweiterung einer Marke in auf den ers-
ten Blick untypische Produktfelder, ist auch in den Schwellenmärkten zu einer beliebten
Strategie geworden, weil sie einen schnelleren Marktzugang erlaubt, Kosten reduziert
und die Hebelwirkung bekannter Markennamen in rasch wachsenden neuen Produktkate-
gorien verstärkt. Einer der wichtigsten Treiber für eine Ausdehnung einer Einzelmarke in
ganz unterschiedliche Kategorien oder sogar Branchen ist die Tatsache, dass der Marken-
aufbau und entsprechende Vertriebswege in sehr großen Ländern wie Russland, China,
364 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Indien oder Brasilien sehr kostspielig sind. In vielen Fällen scheuen sich Unternehmen
davor, zusätzliche Investitionen in eine zweite Marke zu tätigen, wenn dies nicht durch
starke strategische Überlegungen gestützt wird.
Darüber hinaus haben Verbraucher in Ländern wie China und Indien meistens weni-
ger Markenerfahrung als Verbraucher in den entwickelten Märkten. Dies gilt insbeson-
dere dann, wenn es um westliche Marken geht. Als Folge ist die tatsächliche spezifische
Kompetenz einer Marke im Allgemeinen nicht etwa durch lange Erfahrung tief im
Bewusstsein der Verbraucher verankert. Daher sind die Menschen flexibler und defi-
nieren die Kompetenz einer Marke nicht so eng wie jemand, der mit einer bestimmten
Marke seit mehr als 20 Jahren vertraut ist. Einer Person beispielsweise, die seit 20 Jahren
Heinz Ketchup benutzt, wird es deutlich schwerer fallen, eine Tiefkühlpizza von Heinz
zu akzeptieren, während ein 20-jähriger Inder möglicherweise ohne Weiteres praktisch
jede Produktinnovation von Heinz im Bereich Nahrungsmittel akzeptiert.
Für dieses Verhalten gibt es auch weiterführende wissenschaftliche Belege. Unter-
suchungen haben gezeigt, dass chinesische Verbraucher in der Regel besser bekannten
Marken mehr vertrauen. In erster Linie deshalb, weil die Marke dazu beiträgt, größeres
Vertrauen in die Produktqualität und Produktsicherheit zu vermitteln. Laut dieser Stu-
die gehen 35 % der Befragten in China davon aus, dass Unternehmen, die in zahlrei-
chen Produktkategorien aktiv sind, vertrauenswürdiger als diejenigen sind, die sich nur
auf ein oder zwei Produktsegmente beschränken. Dieser Wert ist praktisch doppelt so
hoch wie der Anteil der US-Amerikaner (18 %) oder Engländer (13 %), die die gleiche
Auffassung teilen (Magni und Atsmon 2012). Diese Einstellung eröffnet Unternehmen
die Möglichkeit, sehr weitreichende Markendehnung in diesen Märkten vorzunehmen.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum Coca-Cola während der Modewoche in Rio de
Janeiro eine neue, legere Bekleidungskollektion vorstellte, die sich an junge und modi-
sche Verbraucher richtete. Der Getränkekonzern beabsichtigte, seine Position als welt-
weit wertvollste Marke noch zu verstärken, und forderte den brasilianischen Designer
Thais Rositter auf, eine aus verschiedenen Quellen schöpfende Mischung aus Retro-,
sportlichem und urbanem Design voller bildhafter und blumiger Drucke zu kreieren. Die
Kollektion reichte von glamourösen Abendkleidern bis zu Nylon-Shorts – alle versehen
mit dem Coca-Cola-Markenzeichen.
Das größte Getränkeunternehmen Chinas, Wahaha mit Sitz in Hangzhou, ist ein
weiteres Beispiel für horizontale Markendehnung. Das Unternehmen wurde laut seiner
Internetseite 1987 auf einem Dreirad gegründet, von dem aus Eiscreme, Erfrischungs-
getränke und Schulhefte verkauft wurden. Im zweiten Geschäftsjahr erweiterte Wahaha
sein Portfolio um orale Pollen-Tonika. Seine trinkbaren Nahrungsergänzungsmittel mit
bekannten Inhaltsstoffen aus der chinesischen Kräutermedizin für Kinder waren in den
1980er Jahren sehr beliebt. In den 1990er Jahren erweiterte das Unternehmen seine Pro-
duktpalette um Molkerei- und Mineralwasserprodukte für Kinder. Und in den folgenden
zehn Jahren kamen Kinderkleidung, Fertignudeln und Milchpulver, später sogar noch
Bier hinzu.
9.16 Betonung der Unternehmensmarke 365
Auch der größte chinesische Hausgerätehersteller Haier dehnte seine Marke von Kühl-
schränken, seinem Kernprodukt, auf Fernsehgeräte, Wasserkocher, Mobiltelefone und
sogar Computer aus. Diese horizontale Markendehnung wurde allerdings auch als Bei-
spiel für eine Überdehnung herangezogen. Aber dies scheint sich auf Haier nicht zu nega-
tiv ausgewirkt zu haben, denn das Unternehmen ist immer noch die weltweite Nummer 1
im Bereich der Hersteller von Weißer Ware. Die Brauerei Yanjing nutzt ihren Markenna-
men zur Expansion in den Sojasoßen-Markt. Und die bekannteste und traditionsreichste
chinesische Marke im Bereich traditioneller Medizin, Tong Ren Tang, ist nun auch in der
Kosmetikbranche und im Bereich schönheitsbewahrender Whitening Lotions aktiv.
Ein weiteres erhellendes Beispiel ist Master Kang, die führende und auch bekann-
teste Instant-Nudel-Marke in der Volksrepublik. Master Kang begann zunächst als klei-
ner Produzent von Speiseöl in Changhua. Nachdem sie kurz vor einem Bankrott standen,
starteten sie 1992 ihr Instant-Nudel-Geschäft. Und nach zahlreichen Geschmacks- und
Rezeptänderungen gelang ihnen ein kometenhafter Aufstieg. Zehn Jahre später war Mas-
ter Kang zum Marktführer im chinesischen Instantnudel-Markt geworden. Anfang 2014
war Master Kang sogar der Sieger bei der ersten Verleihung des „Best Brands China
Award“ von Europas größter inhabergeführter Kommunikationsagentur Serviceplan
(2014) und der Marktforscher der GfK.
Seit seinen Anfängen ist es Master Kang gelungen, den Geschäftsbereich zunächst
vom Instantnudelgeschäft in die Bereiche Bäckerei und Getränke auszuweiten und dann
später führende Positionen in den Kategorien Fertigtees und Gebäck zu erobern. Eine der
wichtigsten Stärken von Master Kang ist seine Innovationskraft. Im Instantnudelbereich
entwickelte das Unternehmen eine Brandbreite von fast 300 Geschmacksrichtungen, dar-
unter Schmorbraten, Shrimps und Essiggurken. Das Unternehmen weitete die Umsätze
mit neuen Geschmacksrichtungen Schritt für Schritt aus und unternahm den jeweils
nächsten Schritt der Expansion erst dann, wenn es in einer Region erfolgreich war. Bei
Tees kreierte Master Kang ein ebenso breites Angebot, darunter Grünen Tee, Jasmintee
und einen kaum aromatisierten Tee, der aufgrund seiner gesunden Inhaltsstoffe und sei-
nes natürlichen und unkonventionellen Geschmacks zu einem großen Erfolg wurde. Das
Unternehmen weitete seine Aktivität dann auch noch in die Bereiche Obst- und Gemüse-
säfte aus.
Welche Markenarchitektur kann dazu beitragen, dass ein Unternehmen auf die schnellste
und profitabelste Art und Weise wächst? Dies hängt natürlich von den Umständen im
Zielmarkt und dem spezifischen Markenstatus des Unternehmens in diesem Markt ab. Ein
Unternehmen muss die Strategie auswählen, die am besten zu ihm passt. Wenn die Fir-
menmarke, in der Regel der Unternehmensname, bereits einen hohen Bekanntheitsgrad
und ein hohes Ansehen oder einen größeren Herkunftslandbonus aufweist, bietet es sich
an, diesen Wert voll auszuschöpfen. Dazu bieten sich zwei wesentliche Möglichkeiten an:
366 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
„House „Branded
„Endorsement"
of Brands“ House“
Märkten gibt und der durchschnittliche Verbraucher eher durch Ansehen und „Marken-
herkunft“ als durch eine spezifische Positionierung angesprochen wird, liegen die Gründe
auf der Hand, warum Firmenmarken im Umfeld eines Wachstumsmarktes eine deutlich
größere Rolle spielen.
Wie bereits in den Länderprofilen dieses Buches gezeigt, zeichnen sich alle BRIC glei-
chermaßen dadurch aus, dass die Mittelschicht und die damit verbundenen mittelprei-
sigen Marktsegmente parallel zu ihrem rasch steigenden Einkommen wachsen. Um
einen größeren Marktanteil in einer gegebenen Produktkategorie zu erreichen, benutzt
eine wachsende Zahl von Unternehmen eine „Kategorie-Flutungs“-Strategie. Sie versu-
chen, bestimmte Zielgruppen sowohl auf der gleichen Ebene der Einkommenspyramide
als auch auf unterschiedlichen Ebenen der Einkommenspyramide anzusprechen. Indem
sie mehr als eine Marke in der gleichen Kategorie anbieten, ist es ihnen möglich, einen
größeren Marktanteil zu erzielen, da es sich in der Regel als schwierig erwiesen hat,
den Marktanteil einer Einzelmarke über ein bestimmtes Niveau hinaus anzuheben. Der
Hauptgrund für diesen natürlichen „Obergrenzen-Effekt“ ist, dass die Verbraucher unter-
schiedliche psychologische Bedürfnisse und Erwartungen gegenüber ihrer bevorzugten
Marke haben. Da Marken auch über eine Art Persönlichkeit verfügen, gibt es entspre-
chend viele Menschen, die sich nicht an eine bestimmte Marke binden wollen. Daher
ist man manchmal gut beraten, verschiedene Marken aufzubauen, die sich im gleichen
Markt bewegen und die gleichen funktionellen Bedürfnisse bedienen, aber eine Band-
breite von Markenpersönlichkeitsprofilen oder unterschiedlichen Markenschwerpunkten
aufweisen. Diese Strategie wird insbesondere in rasch wachsenden Konsumgütermärk-
ten eingesetzt, in denen finanzstarke globale Champions wie etwa Procter & Gamble,
Unilever oder Pepsi Foods um die Marktführerschaft kämpfen. Kategorie-Überflutung
soll letztlich dazu führen, in einem spezifischen Markt eine so dominante Rolle zu errei-
chen, dass die Verbraucher praktisch den Marken des Unternehmens nicht entgehen kön-
nen. Selbst wenn sie eine bestimmte Marke ablehnen, werden sie wahrscheinlich eine
Schwestermarke kaufen, ohne zu wissen, dass sie vom gleichen Unternehmen hergestellt
wird. Natürlich findet Kategorie-Flutung auch auf unterschiedlichen Preisniveaus statt.
Dies ermöglicht es den Unternehmen, wohlhabendere Konsumenten mit einer Premium-
marke ins Visier zu nehmen und gleichzeitig Konsumenten des mittleren Marktsegments
oder des Massenmarktes normalpreisige oder günstige Marken anzubieten.
Wie bereits erwähnt, vertreibt Coca-Cola Thums Up als größere lokale Cola-Marke mit
einer lokalen Geschmacksrichtung. Strategisch gesehen konzentriert sich Thums Up auf
traditionelle Verbraucher, während Coca-Cola selbst zumeist jüngere und modernere Ver-
braucher anspricht. In den eher traditionellen und niedrigeren Einkommensschichten bie-
tet Coca-Cola auch Getränke wie etwa Minute Maid mit Guaven-Geschmack an, die mit
einem „Made with Nature“-Versprechen beworben wird und einer gesunden Lebensweise
9.17 Besetzen einer Kategorie 369
förderlich sein soll. Um auch weniger wohlhabende Verbraucher anzusprechen, ist Minute
Maid in einem kleineren Tetra-Pack-Format mit einem Inhalt von 200 ml erhältlich. Die
Kleinpackung ist zu einem Preis von unter einem Viertel der größeren Packung erhältlich.
Minute Maid Guava war zunächst nur in ausgewählten Städten im Punjab, Delhi, Uttar
Pradesh und Kalkutta (offiziell: Kolkata) erhältlich.
Auch in der Kategorie Toilettenseifen ist das Kategorie-Fluten zu beobachten. Dort
bietet etwa Unilever Liril und Dove im Premiumbereich, LUX als Marke im mittleren
Segment und Lifebuoy im Niedrigpreissegment an. Diese Strategie verhalf Unilever
dazu, in Indien zum Marktführer in dieser Kategorie zu werden und ähnlichen Erfolg
auch in der Kategorie Waschpulver zu erzielen.
In den Kategorien Haushaltsanwendungen und Haushaltsgeräte ist in Brasilien die
Übernahme lokaler Wettbewerber – und deren Integration in das vorhandene Portfolio –
eine weit verbreitete Strategie. Zwei größere Gruppen, Whirlpool mit Sitz in den USA
und das mexikanische Unternehmen Mabe, kontrollieren gegenwärtig mehr als 60 % des
brasilianischen Marktes. Whirlpool übernahm die lokalen Marken Brastemp (seit 1973
Marktführer im Bereich weißer Ware, d. h. Haushalts- und Küchengeräte) und Consul,
den ersten brasilianischen Kühlschrankhersteller. Beide heimischen Unternehmen hat-
ten sich Anfang der 1990er Jahre zum Unternehmen Multibras zusammengeschlossen.
Unter der Führung von Whirlpool änderten Brastemp und Consul ihre Unternehmens-
kultur grundlegend. Sie stärkten ihre Verbraucherorientierung und wurden innovativer.
Heute agieren sie als integraler Bestandteil der weltweiten Whirlpool-Gruppe. In dem
brasilianischen Markt, in dem der Wettbewerb immer härter wird, haben Unternehmen
wie Bosch, Elektrolux und General Electric in den vergangenen Jahren lokale Hersteller
übernommen. Consul und Brastemp ermöglichten es Whirlpool, die Kategorie Weißware
zu „fluten“ und selbst in einer geschwächten Konjunktur erfolgreich zu sein. Consul
bildet dabei die Marke für das mittlere Marktsegment, während Brastemp als Premi-
ummarke positioniert wurde. Brastemp wird vor allem mit Qualität und Innovation als
wichtigsten Eigenschaften vermarktet, während Consul damit beworben wird, dass es
zum Haushalt einfach dazugehört. Die Werbebotschaften beziehen sich hauptsächlich auf
die Funktionalität und Unkompliziertheit der Produkte.
Auch in Russland funktioniert Kategorie-Fluten auf ähnliche Weise. Verschiedene
Unternehmen promoten zwei unterschiedliche Arten von Marken. Die erste Art vertritt
eher traditionelle Werte, trägt meistens einen russischen Namen und besitzt eine Ver-
packung, die eindeutig einen „sowjetischen“ Eindruck macht. Diese eher traditionellen
Marken richten sich an die Zielgruppe älterer Menschen, die den Großteil ihres Lebens
unter kommunistischer Herrschaft verbracht haben und heutzutage weitgehend nur über
ein geringeres Einkommen und einen niedrigeren sozialen Status verfügen. Andere Bei-
spiele für diese Herangehensweise wären etwa die Teemarke Beseda von Unilever und
das Waschpulver Mif von Procter & Gamble. Die zweite Markenart gibt sich internati-
onaler und innovativer. Oft handelt es sich dabei um eine bekannte internationale Marke
wie Lipton von Unilever oder Tide von Procter & Gamble.
370 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Gegenwärtig lassen sich die Konsumenten in Russland grob in zwei Gruppen ein-
teilen: Die erste ist jung, verfügt über eine qualifizierte Ausbildung und ein steigendes
Einkommen, weist eine Tendenz zu stärkerem Konsum auf und strebt einen höheren
sozialen Status an. Diese Zielgruppe zieht eindeutig bekannte ausländische Qualitäts-
marken vor. Das andere Kundensegment ist älter, weniger markenorientiert und weniger
anspruchsvoll. Infolgedessen ist der Ansatz, die Kategorie mit Marken für beide Gruppen
zu „fluten“, die beste Antwort auf diesen sehr stark zweigeteilten Markt.
Diese Veränderung hat schon eingesetzt. Apotheken und Drogerien ist es in den letz-
ten Jahren gelungen, dem Direktvertrieb Marktanteile abzunehmen. Die wachsende
Nachfrage wird durch höhere Einkommen und den darauffolgenden Einstieg in die
Mittelschicht insbesondere der sehr jungen Bevölkerung ausgelöst. Menschen unter 25
Jahren gehören zu den wesentlichen Verbrauchern von Kosmetik. Um vermehrt senso-
risch-emotionale Erfahrung zu ermöglichen und weitere Kunden anzuziehen, führte
das Unternehmen in den Warenhäusern des Landes das Konzept der „persönlichen
Schönheitsberater(innen)“ ein. Diese Berater bringen die Kunden in direkten Kontakt mit
den Produkten von L’Oréal und bieten ihnen eine herzliche und persönliche Erfahrung.
Ein vergleichbares Konzept wurde auch in Apotheken, die L’Oréal-Produkte anbieten,
umgesetzt. Im Kern besteht die Herausforderung darin, von Grund auf einen Geschäfts-
betrieb für Einzelhandelskosmetik aufzubauen und die Art und Weise, wie brasilianische
Frauen diese Produkte kaufen, von Grund auf zu ändern. Aber nicht nur das Kaufver-
halten ist in Brasilien anders. Marktforscher von L’Oréal fanden heraus, dass die Hälfte
aller Frauen in Brasilien mindestens einmal am Tag an ihrem Haar riecht, und dass sie
ihr Haar sehr viel öfter als europäische Frauen berühren. Diese auf Selbstwahrnehmung
und -bestätigung gerichtete Sensibilität macht Brasilien nicht nur zu einem Paradies für
erlebnisorientierte Marketingtechniken, sondern auch zu einem hervorragenden Testlabor
für neue Produkte.
Das chinesische Wirtschaftswachstum fällt derzeit zwar geringer aus als erwartet, und
auch die jüngsten Turbulenzen an der Börse werden nicht ohne Folgen für die Wirt-
schaft bleiben. Dennoch kann man feststellen, dass die Einkommen in China weiter stei-
gen. Daher ist eine Expansion in die mittleren Marktsegmente – wie in diesem Kapitel
beschrieben – nicht die einzige vernünftige und vielversprechende Strategie, um zusätzli-
che Kaufkraft in den aufstrebenden Märkten abzuschöpfen. Zig Millionen Verbraucher in
den großen Wachstumsmärkten fragen immer mehr teurere und qualitativ höherwertige
Güter und Dienstleistungen nach und entscheiden sich für eine zunehmende Zahl von
Premiumprodukten, was zu einem Trend in Richtung teurerer Premiumprodukte (Premi-
umisierung) zahlreicher Produktkategorien führt. Barilla, einer der Marktführer der inter-
nationalen Nudel-Branche, berichtet, Premiumisierung sei bereits jetzt für die Zunahme
der Nudel-Nachfrage in den Schwellenmärkten verantwortlich.
Premiumisierung ist ein allgemeines Marktphänomen und keineswegs auf die vorhan-
denen Premiummärkte beschränkt. Laut verschiedenen führenden Marktforschern ist sie
in China, Indien und Brasilien eine übliche und landesweite Erscheinung. In Russland ist
sie allerdings weniger verbreitet, da die Verbraucher dort nach der Verhängung der west-
lichen Sanktionen 2014 damit begonnen haben, zu sparen oder ihre Ausgaben allgemein
zurückzufahren.
9.19 Premium für alle 373
Die sich ausweitende Mittelschicht ist nicht der einzige Treiber der fortschreiten-
den Premiumisierung. In China zielen die anhaltenden Wirtschaftsreformen auf einen
Anstieg der Kaufkraft in den inneren Provinzen. Dies führt zu einer Umverteilung des
Wohlstandes in kleinere Städte im Hinterland. Als Folge steigt das Verbrauchervertrauen
praktisch überall weiter an. Dies bedeutet, dass Premiumprodukte nicht länger nur den
Reichen zur Verfügung stehen. Dieser Trend wird durch zuverlässige Belege untermau-
ert. So wurde zum Beispiel bereits 2012 in der Volksrepublik mehr als die Hälfte des
Umsatzwachstums bei Schnelldrehern mit Keksen, Zahnpasta, Hautfeuchtigkeitsspen-
dern oder Milch erzielt.
In Brasilien, das einen Schwerpunkt der globalen Strategie des Konzerns Diageo
bildet, ist eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen. Der weltweit größte Hersteller
alkoholischer Getränke will in Zukunft laut seiner eigenen Internetseite 50 % seines
Umsatzes in den Emerging Markets erzielen, wobei Lateinamerika einen erheblichen
Anteil des angestrebten Wachstums liefern soll. In dieser Region werden bereits fast
zwölf Prozent des gesamten Nettoumsatzes von Diageo erzielt. Brasilien trägt bereits
ein Viertel des organischen Nettoumsatzes in Lateinamerika bei. In Indien zeigt sich das
jüngste Beispiel einer Premiumisierung im Markt für Tiefkühlnahrungsmittel, der seit
einiger Zeit jährlich um etwa 20 % wächst. Die Zeitung Hindu Business Line berichtete
im November 2014, das Einzelhandelssegment des Marktes bestünde in der Regel aus
gefrorenem Gemüse wie Erbsen und Zuckermais (Kamath 2014). Aber das änderte sich
am Ende des letzten Jahrzehnts. Seit damals wurden Snacks wie Hühnerwürstchen, Pom-
mes und andere Kartoffelprodukte immer populärer. Interessanterweise kann man die-
ses so rasch wachsende neue Marktsegment durchaus als „Gourmet-Nahrungsmittel“ mit
Produkten wie Schweinefleisch und Meeresfrüchten sowie Feinkostlebensmitteln auf der
Grundlage von Hühnerfleisch bezeichnen.
Immer dann, wenn eine steigende Zahl von Verbrauchern es sich leisten kann, sich
Wünsche zu erfüllen, anstatt nur das kaufen zu können, was ihre elementaren Bedürf-
nisse befriedigt, nimmt die Bedeutung der Qualität als Kriterium zu. Laut einer neueren
Erhebung des Handelsentwicklungsrates von Hongkong unter 1600 Mittelschichtkonsu-
menten in acht chinesischen Städten steht für 76 % die Qualität im Vordergrund, wenn
es um eine Kaufentscheidung geht. Schuld daran ist eine Serie erschreckender Skandale
in den Bereichen Milch und Fleisch sowie beunruhigende Meldungen über giftige Spiel-
zeuge. Eine wachsende Zahl von Unternehmen hat diesen Trend, Qualität höher als Kos-
tenersparnis zu schätzen, erfolgreich aufgegriffen. Ob es sich um Automobile, Juwelen
und Schmuck, Molkereiprodukte oder Windeln handelt: Die hohe Qualität von Premi-
umgütern ermöglicht es prestigebewussten und seit Kurzem wohlhabenden chinesischen
Verbrauchern, ihren Altersgenossen und Kollegen zu zeigen, welchen Status sie erreicht
haben. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle. In China verstärkt der vergleichsweise
hohe Anteil von Frauen in der Arbeitswelt die Premiumisierung. Qualifizierte, gut aus-
gebildete junge Frauen spielen erwiesenermaßen eine wichtige Rolle dabei, den Konsum
von Premiumgütern, insbesondere in den Kategorien Gesundheit und Schönheit, voran-
zutreiben.
374 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
2012 stellte BMW China sein Einstiegsmodel SUV X1 in einer Zeitungsanzeige mit
dem Slogan vor: „Deutsches Erbe, geboren in China“. Diese Botschaft signalisierte die
Entschlossenheit der deutschen Marke, massiv in die Entwicklung und Produktion von
Fahrzeugen in China zu investieren. Aber wie haben die Verbraucher diese Botschaft in
Bezug auf Herkunft und Identität wahrgenommen? Handelt es sich beim X1 immer noch
um ein deutsches Fahrzeug? Oder ist es eigentlich bereits eher ein chinesisches? Wie
verstehen die chinesischen Verbraucher die übergreifende Identität der Marke? Glückli-
cherweise herrscht keine Verwirrung in Bezug auf die Persönlichkeit, die Wurzeln und
die Herkunft dieser „ultimativen Fahrmaschine“. Schließlich handelt es sich um eine der
weltweit erfolgreichsten Automobilmarken, und eine erstaunliche Zahl von Menschen in
China ist sich des Herkunftslandes wohl bewusst. Allen großen Marken ist gemeinsam,
dass jeder genau weiß, was man neben anderen wichtigen Markenelementen von ihnen
hinsichtlich ihrer Versprechen, Performance, Lieferung und Verpackung erwarten kann.
Aber was geschieht, wenn ausländische Investoren, wie etwa deutsche Autobauer in
China, sich mit ihren Aktivitäten und ihrer Entwicklung in den BRIC so stark engagie-
ren und integrieren, dass sich die Verbraucher vor Ort zu wundern beginnen? Betrachten
die chinesischen Verbraucher immer noch Deutschland als den Heimatmarkt der Marke?
Ist es für die Autobauer – oder Hersteller anderer Branchen, die viel investiert haben –
immer noch einfach, den Unterschied zwischen Importen nach China oder Indien und
vor Ort hergestellten Produkten zu erläutern? Wie steht es um die „politische“ Heraus-
forderung? Wie kann sich die Marke unterschiedlichen und einander teilweise widerspre-
chenden nationalen Interessen anpassen? Hat der Daimler-Vorstandschef Dieter Zetsche
die neuen Modelle aus den chinesischen Fertigungswerken nun zusammen mit dem chi-
nesischen Ministerpräsidenten auf der Automesse in Schanghai, der Auto Schanghai,
oder mit der deutschen Kanzlerin Merkel auf der Internationalen Automobil-Ausstel-
lung (IAA) in Frankfurt vorgestellt? Handelt es sich nun um Hightech „Made in China“
oder um Hightech „Made in Germany“? Die Karikatur in Abb. 9.60 veranschaulicht das
Dilemma des Vorstandschefs auf nette Weise.
Diese Frage ist keineswegs nur theoretischer Natur. Nehmen wir beispielsweise
Volkswagen. Nach Jahren hoher Investitionen in ausländische Produktionsstätten rollt
heute nur noch jedes fünfte Fahrzeug der VW-Gruppe aus einem Fertigungswerk in
Deutschland vom Band. In Asien wird demgegenüber fast ein Drittel der weltweiten
Produktion hergestellt. Der führende Autobauer Europas hat seine Belegschaft in Asien
in den vergangenen vier Jahren um 134 % erhöht. Demzufolge sinkt der europäische
Anteil an der Jahresproduktion von VW rasch. Der Anteil der in Deutschland produ-
zierten Fahrzeuge an der weltweiten Produktion des Autobauers hat sich von 34 % im
Jahr 2008 auf 17 % im Jahr 2012 praktisch halbiert. In diesem Zeitraum stieg der Anteil
Asiens an der weltweiten Produktion von 16 auf 29 %. Der damalige Volkswagen-
Vorstandschef Martin Winterkorn hob diese rasche internationale Expansion bereits im
9.20 Marken-Schizophrenie vermeiden 375
Abb. 9.60 Wie vermeidet man eine Markenschizophrenie? Der rasche Aufstieg Chinas und ande-
rer aufstrebender Märkte ruft Probleme beim Selbstverständnis hervor – nicht nur für Daimler-Vor-
standschef Dieter Zetsche. (Quelle: Sebel 2012)
März 2013 bei der Präsentation des Jahresberichts der VW Gruppe hervor. „Die Zukunft
von Volkswagen wird in zunehmendem Maße in China, Russland, Indien, Amerika und
Südostasien entschieden“, sagte er (Winterkorn 2013; Übersetzung des Verfassers aus
dem Englischen).
Es besteht die Gefahr, dass die Verbraucher durch derartige Entwicklungen verwirrt
werden, der Markenwert sich abschwächt und das Markenimage an Konturen verliert.
Der Versuch, einerseits mit dem Herkunftsland zu punkten und andererseits die lokale
Produktion und Entwicklung eines Produktes hervorzuheben, kann zu Problemen führen
und zu einem riskanten Hochseilakt für Manager und Vermarkter werden. Die jüngste
Unternehmensgeschichte kennt viele Fälle, in denen selbst starke Marken am Ende
den Schaden begrenzen mussten, weil sie an einer Art „Persönlichkeitsstörung“ litten.
In der ersten Hälfte der 2000er Jahre musste der US-amerikanische Autobauer General
Motors seine Modellauswahl drastisch zusammenstreichen, weil die Markenpersönlich-
keit immer verschwommener geworden war, nachdem die Verbraucher sich zu fragen
begannen, was eigentlich der Unterschied zwischen einem Chevrolet, einem Pontiac und
einem Buick sei.
„Markenschizophrenie“ kann auch auftreten, wenn sich der Vorstand eines Unterneh-
mens ändert und es zu institutionellen Fehlentwicklungen kommt oder aber die Produkt-
linienentwicklung zu aggressiv erfolgt. Aber Markenschizophrenie droht auch, wenn
Herstellung sowie Forschung und Entwicklung massiv in neue Märkte abwandern. Es
werden zwar unterschiedliche Möglichkeiten diskutiert, wie man diesem Dilemma ent-
gehen kann, aber bisher liegen keine substanziellen wissenschaftlichen Belege dafür vor,
welche Strategie am besten funktioniert oder ob überhaupt eine oder mehrere der disku-
tierten Strategien auf lange Sicht nachhaltig wirken.
376 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Für Verbraucher ist es immer noch enorm wichtig, ob ein Fahrzeug importiert oder
vor Ort hergestellt wurde. Daher nennen wir die erste Strategie die „Reinheitsstrate-
gie“. Sie besagt, dass sich eine Marke dagegen entscheiden muss, alle oder die meis-
ten ihrer Premiumprodukte außerhalb der entwickelten Märkte wie etwa den USA, Japan
oder Deutschlands zu produzieren. Durch die strikte Bindung der Marke sowie ihrer
Design- und Fertigungsbasis an ein bestimmtes Herkunftsland trägt man dazu bei, einen
Imageschaden der Marke zu verhindern und ihr Preisbildungspotenzial zu schmälern.
Italienische Sportwagenbauer, französische Parfümentwickler oder Schweizer Uhren-
hersteller sind also in der Regel gut beraten, ihre Fertigungsbasis im Heimatland ihrer
Marke zu belassen. Sobald sich ein Unternehmen dazu entscheidet, wesentliche Teile
seiner Herstellungs- oder Forschungs- und Entwicklungskapazitäten in einen Schwellen-
markt zu verlagern, wird die Situation zunehmend komplexer.
Nach einer zweiten Strategie – der „Verschleierungsstrategie“ – wird die Kommuni-
kation über die Produktion vor Ort in den aufstrebenden Märkten um jeden Preis ver-
mieden, und das Herkunftsland der Marke wird über vielfältige Bezüge (zum Beispiel
„Made in Downtown L. A.“ oder „Designed in California“ etc.) massiv hervorgehoben.
Bei diesem Ansatz versuchen die Unternehmen, deutlich zu machen, dass sämtliche For-
schungs-, Entwicklungs-, Design-, Konzept- und Qualitätsstandard auf dem Niveau des
tatsächlichen Herkunftslandes liegen und vom lokalen Markt völlig getrennt sind – auch
wenn die Fertigung in dem lokalen Markt selbst geschieht. Der Vorteil: Das Preispre-
mium kann bei billigeren Fertigungskosten trotzdem abgeschöpft werden. Das Risiko
dabei: Die Glaubwürdigkeit des Unternehmens kann erheblich leiden, gerade dann, wenn
es um Arbeitsrechtsstandards geht, die im Produktionsland möglicherweise sehr viel
niedriger ausfallen als im Herkunftsland.
Eine dritte, die „Gleichgewichtsstrategie“, sieht vor, dass die Produktion vor Ort auf
eine ausgeglichene Weise zusammen mit der ausländischen Herkunft der Marke kom-
muniziert wird. Dieser Ansatz wird meistens gewählt, wenn eine Marke in einem loka-
len Markt sehr aktiv und dort bereits fest verankert ist, sodass es kaum mehr möglich
scheint, den weitgehend lokalen Charakter zu verbergen. In einigen Ländern wird die-
ser Ansatz auch verfolgt, wenn man auf Forderungen der Regierung, in größerem Maße
Verantwortung vor Ort zu übernehmen, reagieren muss. Wenn eine Marke als zu „aus-
ländisch“ wahrgenommen wird und scheinbar nur daran interessiert ist, in dem lokalen
Markt Umsätze zu erzielen, drängen örtliche Regierungen das Unternehmen oft, sich in
Form lokaler F&E oder aber durch Ausweitung der Beschaffung zu engagieren und zu
integrieren. Parallel zur Umsetzung dieser Gleichgewichtsstrategie wird das ausländi-
sche Unternehmen weiterhin daran arbeiten, die Hinweise auf die ausländische Herkunft
seiner Marke sowie die Tatsache, dass die Qualitätsstandards des heimischen Marktes in
vollem Umfang auch für die Herstellung vor Ort verpflichtend sind, deutlich zu verstär-
ken. Gerade Letzteres dient dazu, der Wahrnehmung entgegenzuwirken, die Marke sei
zu „lokal“ geworden. In der deutschen Autoindustrie drückt sich dieses Mantra so aus:
„Deutsche Qualität bleibt deutsche Qualität, unabhängig davon wo auch immer in der
Welt das Fahrzeug hergestellt wurde.“ Bisher hat diese Strategie ziemlich gut funktioniert.
9.21 Digitalisierung – Die Ära von Tweets, Likes und Uploads 377
Es bleibt abzuwarten, was geschieht, wenn das erste in China produzierte Premiumfahr-
zeug in den kommenden Jahren auf den deutschen Markt kommt.
Um dieses neue Mantra zu belegen, liefern viele Unternehmen zusätzliche „Begrün-
dungen“. So verweist etwa ein deutscher Hersteller langlebiger Gebrauchsgüter auf das
höhere Gewicht seiner Produkte gegenüber den Produkten asiatischer Wettbewerber, um
so die deutschen Qualitätsstandards zu betonen, obwohl seine Produkte in Osteuropa
hergestellt werden. Interessanterweise achten asiatische Verbraucher sehr genau darauf,
Produkte deutscher Herstellung zu kaufen, während sie Produkten, die etwa in der Slo-
wakei hergestellt wurden, ablehnender gegenüberstehen.
Aus kommunikationstechnischer Sicht ist es auch möglich, eine vollständige „Loka-
lisierungsstrategie“ zu wählen. Diese Herangehensweise konzentriert sich auf die Her-
stellung vor Ort und vermeidet jeden Bezug auf die ausländische Herkunft der Marke.
Da eine ausländische Herkunft in den meisten Märkten immer noch Premiumwahrneh-
mung und Preissetzungsmacht bedeutet, wird eine solche Strategie allerdings nicht oft
angewandt. Sie wird meistens in Massenmärkten und anderen Kategorien wie Nahrung,
Getränke oder andere Artikel mit hoher Umschlagshäufigkeit und einem engen Bezug
zur lokalen Kultur eingesetzt. Die naheliegendste – und vermutlich auch stärkste – Ver-
teidigungslinie gegen eine drohende Markenschizophrenie besteht darin, sich dieser
Gefahr immer bewusst zu sein, wenn es Zeit wird, ernsthaft in die großen Wachstums-
märkte zu expandieren.
Die Menschen in den BRIC und anderen Schwellenmärkten twittern, liken, uploa-
den, downloaden und teilen täglich zahllose Mengen an Informationen in der digitalen
Welt. Sie tauschen sich nicht nur gerne über ihr persönliches Leben, sondern auch über
Produkte, Marken und Unternehmen aus. Da die Verbraucher in den BRIC zu den am
stärksten vernetzten Menschen auf der Erde gehören, haben digitale Medien einen gro-
ßen Einfluss darauf, wie sie handeln, kommunizieren und Kaufentscheidungen treffen.
Diese Vernetzung ermöglicht es, soziale und wirtschaftliche Barrieren zu überwinden
und die Menschen in Ländern miteinander zu verbinden, die so groß und unterschiedlich
wie ganz Europa sind. Noch ein weiterer Faktor hat die Durchdringung der digitalen und
sozialen Medien in Ländern wie Russland oder China beschleunigt: Die eingeschränkte
Freiheit der Printmedien ermöglicht es sozialen und digitalen Medien, eine breiter gefä-
cherte und verlässlichere Auswahl an Perspektiven anzubieten, und erlaubt es den Men-
schen, Meinungen auszutauschen, für die es früher keine Verbreitungsmöglichkeiten gab.
Als Folge dieser Entwicklung wurden die BRIC zum Epizentrum der explosionsartig
wachsenden digitalen Welt. Nach eigenen Angaben verfügen China und Indien addiert
über fast eine Milliarde Internetnutzer. Nach Schätzung von Experten gingen allein zwi-
schen 2012 und 2015 weitere 700 Mio. Nutzer online. Das eröffnete diesen Märkten
potenziell zusätzliche Umsätze über das Internet im Umfang von 80 Mrd. US$ jährlich.
378 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
10 11
60
38
6,21 Stunden täglich
Online Laptop/PC
mobiles Internet
TV
Tablets
96 Print
Radio
158
Abb. 9.61 52 % der Mediennutzung finden bereits im Internet statt. (Quelle: emarketer 2016)
9.21 Digitalisierung – Die Ära von Tweets, Likes und Uploads 379
Baidu
26.4 Alibaba
32.2
Google China
Tencent
Sohu
2.3 Sina
1.9
2.9 Soufun
4.3 Youku
5 17.3 Andere
5.2
gehen von einem weiteren explosionsartigen Wachstum für E-Commerce in China in den
kommenden fünf Jahren von bis zu 30 % pro Jahr aus.
Auch in Russland schießen Internetseiten für Onlinehandel wie KupiVIP.ru oder Sei-
ten für Reisebuchungen wie Oktogo.ru aus dem Boden. Als Folge dessen wird die Finan-
zierung von Start-up-Unternehmen im russischen E-Commerce-Sektor zu einem großen
Geschäft. Im Juni 2013 machte Lamoda, eines der beliebtesten Online-Mode-Start-ups
des Landes, Schlagzeilen, als es 130 Mio. US$ zur Finanzierung einer E-Commerce-
Internetseite erhielt. Ausländische Markeneigner sollten daraus die folgende wichtige
strategische Lehre ziehen: Unternehmen in den BRIC tendieren dazu, Onlinestrategien
direkt von Anfang an zu entwickeln und umzusetzen, während Firmen in Europa und
Nordamerika dazu neigen, zunächst den stationären Handel auszubauen, bevor sie ihre
Internetpräsenz verstärken.
Wichtige Entscheidungsfaktoren: Verbraucher in den Schwellenländern und ins-
besondere in China und Indien erwarten einen Preisnachlass, wenn sie im Internet
kaufen, was an den Gewinnmargen zehrt. Einer Untersuchung des Wirtschaftsprüfungs-
und Beratungsunternehmens KPMG (2016) zufolge betrachten Kunden Preisvorteile,
Bequemlichkeit, Promotion, Verfügbarkeit der Produkte sowie bessere Liefer- und Rück-
gabemöglichkeiten als wichtige Faktoren beim Onlineshopping. Die Untersuchung weist
auch darauf hin, dass bislang noch Desktop-PCs zu den bevorzugten Geräten gehören,
wenn es ums Onlineshopping geht. Allerdings holen Smartphones rasch auf.
Präzise Zielgruppenbestimmung: In den BRIC ist die digitale Mittelschicht
genauso vielfältig wie die Gesamtbevölkerung. Daher müssen die Zielgruppen genau
bestimmt werden, weil die Marketingbotschaften andernfalls nicht die gewünschte Wir-
kung entfalten können. Bei einer sorgfältigen Marktpositionierung ergeben sich verschie-
dene interessante Altersgruppen und Einkommenssegmente, die als Zielgruppen infrage
kommen. Das wachsende Segment an wohlhabenden, jüngeren Internetnutzern in China
ist für Marken z. B. über das gesamte Konsumspektrum hinweg interessant – von Acces-
soires über Nahrungsmittel und Getränke bis hin zu Haarpflege-, Hautpflege- und Baby-
produkten.
Brasilien und Russland – die beiden nächsten stark umkämpften digitalen
Märkte: Nachdem nun seit Kurzem mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung
Zugang zum Internet besitzt, hat Brasilien ebenfalls eine wichtige Schwelle überschrit-
ten. Nach Aussagen des Datenanbieters eMarketer (2016) erlebt ein Land in der Regel
dann ein starkes Wachstum im E-Commerce, wenn mehr als die Hälfte der Bevölkerung
Zugang zum Internet hat. In Brasilien bevorzugen Internetkäufer Produkte wie Haushalts-
waren und Modeartikel. Führende lokale Marktakteure in Brasilien sind Internet-Markt-
plätze wie MercadoLibre und B2W oder Preisvergleichsseiten wie Buscape. Angesichts
der allgemein rückläufigen Wachstumsraten der Wirtschaft bemühen sich Verbraucher
verstärkt um günstigere Angebote. Diese finden sie in zunehmender Zahl im Internet, das
mit seinen unschlagbaren Preisvorteile und Rabattaktionen lockt. Kosmetika bilden eine
der Produktgruppen, die offenbar von diesem Trend in Richtung E-Commerce profitie-
ren. Als ein Indikator dafür, dass der brasilianische Interneteinzelhandel an Fahrt gewinnt,
382 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
sind Engagements wie die des New Yorker Investmentfonds Tiger Global im Januar 2014,
als dieser eine halbe Milliarde US-Dollar in den Internetmarktplatz B2W investierte. Die
rasche Ausweitung des brasilianischen digitalen Marktplatzes zeigt sich auch im Luxus-
markensegment. Bisher dominieren lokale Marken aufgrund ihrer digitalen Kompetenz
und ihrer Möglichkeit, Internetchancen besser zu nutzen. Laut dem Digital-IQ-Index-
Bericht, der von der Internet-Denkfabrik L2 (2013) veröffentlicht wurde, haben lokale
Marken mit einem Marktanteil von 50 % gegenüber 35 % für europäische Marken die
Nase vorn. L2 führt den Aufstieg lokaler Luxusmarken im E-Commerce in Brasilien auf
die portugiesische Sprachunterstützung, ihre lokalen Bezahlungsmöglichkeiten und die
regional konfektionierten Markenbotschaften zurück. Sie kommen bei den Konsumen-
ten gut an. Dies zeigt, dass systematische lokale Anpassungen im digitalen Raum ebenso
große Bedeutung wie in traditionellen Kommunikationskanälen haben.
Aufgrund dieser Zahlen und Entwicklungen haben sich die BRIC in einen starken
Internetmarkt für Marken verwandelt. Für ausländische Marken sind dadurch immense
Chancen entstanden – vorausgesetzt, sie sind sich der lokalen Besonderheiten bewusst
und flexibel genug, sich den lokalen Spielregeln anzupassen.
Ausnutzung des Spieltriebs durch Spiele und Apps: Zu den vielen erfolgreichen
Kampagnen in den sozialen Medien, die eines genaueren Blickes wert sind, gehören die
Kampagne „Der Schokoladenbaum“ von Kraft Foods in Brasilien sowie die von Ford
India durchgeführte Initiative „Reale Menschen, reale Erfahrungen“. 2010 startete Kraft
Foods als Teil seiner Bemühungen zur Markteinführung eines neuen Produkts, das
M&M und Twix Konkurrenz machen sollte, eine Internetkampagne. Man wollte für die
bekannte Schokoladenmarke „Bis“, die im neuen Format „Mini Bis“ eingeführt werden
sollte, eine neue Positionierung finden. Es handelte sich um die erste wirklich innovative
Änderung des Markenformats seit 1940. Ziel der Kampagne waren zusätzliche Umsätze,
ein höherer Bekanntheitsgrad, eine unterhaltsame Präsentation sowie eine Internet-
präsenz in sozialen Medien. Das Leitmotiv lautete „Traue niemandem“, denn Mini Bis
wurde als eine geradezu „süchtig machende“ Süßigkeit präsentiert, die so verlockend
war, dass sie praktisch jederzeit von anderen Mitspielern gestohlen werden konnte. Das
soziale Netzwerk Orkut wurde ausgewählt, weil es als realer Spiegel der brasilianischen
Gesellschaft gilt. Zu den beliebtesten Anwendungen auf der Orkut-Plattform gehörte das
Spiel „Glückliche Ernte“ das sehr populär war und eine starke Bindung schuf. In diesem
äußerst beliebten Spiel gehörte es dazu, den Bauern Feldfrüchte zu stehlen. Das Kreativ-
Team entwickelte nun den Schokoladenbaum und verschickte im April 2010 Millionen
von Online-Bauern virtuelle kleine blaue Kakao-Samen. Nachdem die Spieler sie einge-
pflanzt hatten, wuchsen sie zu kleinen Bäumen mit blauen Blättern heran. Die Schoko-
ladenbäume trugen viele Schoten im Form von Mini Bis. Wenn sie nicht schnell genug
geerntet wurden, konnten sie von anderen Bauern gestohlen werden. Die Ergebnisse
waren phänomenal: In den ersten Wochen wurden mehr als 25 Mio. Schokoladenbäume
gepflanzt. Und nach vier weiteren Wochen waren es bereits 100 Mio. Bäume.
Neue soziale Netzwerke treten an: Chinas WeChat verkörpert die modernste Form
digitaler Kommunikation. WeChat wurde vom chinesischen Internetriesen Tencent ent-
wickelt und verfügt über 600 Mio. registrierte Nutzer, wovon 500 Mio. aus China und
100 Mio. aus anderen Ländern stammen. WeChat gehört zu den am schnellsten wach-
senden sozialen Netzwerken weltweit. Um auf der Weltbühne zu glänzen, verpflichtete
WeChat 2013 den weltberühmten Fußballer Lionel Messi als Markenbotschafter für aus-
gewählte Märkte. WeChat ist für ständige Innovationen und die Veröffentlichung immer
neuer Features und Funktionen bekannt, die nicht nur für sie selbst, sondern auch als
Plattform für Marken und deren Kommunikation mit den Kunden sehr wertvoll sind.
Über den WeChat-Kanal von Nike können zum Beispiel Follower Bilder ihrer Lieb-
lingsmomente hochladen. Nike reagiert dann mit einem einmaligen Design eines Nike
Free-Schuhs, auf dem eine farbige Darstellung des über WeChat hochgeladenen Bil-
des zu sehen ist. Die Plattform hat beliebte Features entwickelt, die es den Teilnehmern
ermöglichen, leichter, schneller und rund um die Uhr miteinander in Verbindung zu tre-
ten. Anstatt eine neue Nummer oder eine Kontaktinformation manuell eingeben zu müs-
sen, können die User einfach ihr Mobiltelefon schütteln und so mit anderen in ihrer Nähe
Verbindung aufnehmen. Amazon China setzte dieses Feature in seinem eigenen WeChat-
Kanal kreativ ein, um Followern die Möglichkeit zu geben, durch „Schütteln und gewin-
nen“ um Internet-Einkaufsgutscheine zu spielen.
384 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
Die Kraft der Mitgestaltung: Einige der jüngsten integrierten nationalen Marketing-
kampagnen, die nicht mehr von einer weltweiten Unternehmenszentrale aus entwickelt wur-
den, sondern in China entstanden, wurden in der Großregion Asien-Pazifik ausgezeichnet.
Zu ihnen gehört die VW-Kampagne „Volkswagen-Projekt“ (im Wortsinne, „People’s Car
Project, PCP“). Das Projekt umfasste eine hochentwickelte, offene Innovationsplattform,
die es Verbrauchern ermöglichte, mit der Marke VW zu kommunizieren, um das Fahrzeug
ihrer Wünsche zu gestalten und das Ergebnis dann in den Kanälen der sozialen Medien
mit ihren Altersgenossen und Freunden zu teilen. Auf diese Weise war Volkswagen in der
Lage, die Ideen seiner Anhänger und automobilbegeisterter Menschen im Allgemeinen auf-
zugreifen. Die besten Ideen wurden von den VW-Produktentwicklern aufgenommen, um
die eigene Arbeit in China zu inspirieren. Volkswagen startete das Projekt 2011, um seine
Markenwahrnehmung zu verbessern, die VW-Innovationen über genaue Marktkenntnisse zu
optimieren und den VW-Markenwert zu erhöhen. Der deutsche Autobauer wollte darüber
hinaus die Marke emotionalisieren und seine Datenbasis für Verkäufe ausweiten. Es wurde
eine multimediale Kampagne mit unterschiedlichen Dimensionen und Zielgruppen gestar-
tet, um „das erste Automobil durch das Volk und für das Volk“ zu gestalten. Dieser Ansatz
wurde in vier aufeinanderfolgenden Phasen umgesetzt: Design, Personalisierung, Verbun-
denheit und Umwelt. Extra zu diesem Zweck wurde eine Internetplattform errichtet, um mit
den Kunden zu kommunizieren, Ideen zu sammeln und die Botschaft zu verbreiten.
Ausgangssituation:
China ist ein schnell wachsender, heiß umkämpfter Markt für weltweite Autobauer. Als
Marktführer muss Volkswagen immer bemüht sein, neue Möglichkeiten zu entwickeln,
aktuelle und zukünftige Zielgruppen anzusprechen und mit ihnen in Kontakt zu bleiben,
um die Spitzenposition zu halten. Da China die größte Zahl an Internetnutzern weltweit
aufweist – und es viele Belege dafür gibt, dass die Chinesen sich begeistert in sozialen
Medien und Forums-Diskussionen beteiligen –, bildet digitale Kommunikation das Kern-
stück des Automobil-Marketings.
Strategie:
Für Volkswagen als bekannteste Automobilmarke in China ist es wichtig, nicht nur eine
führende Position im digitalen Marketing zu erreichen, sondern auch intensiv mit sei-
nen Zielgruppen und der chinesischen Bevölkerung insgesamt zu kommunizieren. Da die
Chinesen Fahrzeug-Enthusiasten geworden sind, bestand die strategische Leitidee des
People’s-Car-Projektes darin, die Chinesen selbst die Vision eines Fahrzeugs entwerfen
zu lassen, das sie gerne fahren würden. Zu den strategischen Zielen des Projekts gehörte
9.22 Soziale Medien und „Co-Creation“ 385
die Stärkung der positiven und maßgeblichen Markenwahrnehmung von VW, eine opti-
mierte Innovation durch Mitgestaltung und genaue Marktkenntnisse sowie eine Verstär-
kung der emotionalen Anziehungskraft der Marke durch aktive Beteiligung.
• Anregen: Durch Beispiele sollten die Nutzer inspiriert werden, ihre eigenen Ideen
und Schöpfungen zu entwickeln.
• Kreatives Einbringen: Die Teilnehmer erhielten die Möglichkeit, ihre eigenen Kon-
zepte zu entwickeln, sie zu visualisieren, zu beschreiben und einzureichen.
• Wettbewerb: Die Teilnehmer wurden aufgefordert, die ursprünglichen Ideen anderer
zu bewerten und ihre eigenen Ideen auch durch Experten begutachten zu lassen. Anre-
gung von Diskussionen.
Abb. 9.63 Ein Beispiel einer Werbung für das Volkswagen’s People’s Car Project. (Quelle: zur
Verfügung gestellt von Volkswagen Group China und Goodstein Partners)
386
Abb. 9.64 Impressionen von der Internet-Plattform zum People’s Car Project. VW forderte die Nutzer der Plattform zur Mitgestaltung und zur Teil-
nahme an damit zusammenhängenden Aktivitäten auf. (Quelle: zur Verfügung gestellt von Volkswagen Group China und Goodstein Partners)
9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
9.22 Soziale Medien und „Co-Creation“ 387
• 14 Mio. Besucher
• 390.000 registrierte Nutzer der Plattform
• 290.000 eingereichte Ideen
• 495.000 Fans und Follower
• 48 Mio. Menschen sahen sich die Videos im Internet an
• Integration über PCP mit allen großen chinesischen sozialen Medien
• 18 Monate lang war PCP die Internetkampagne in China – und zwar auf alle Bran-
chen und nicht allein die Automobilbranche bezogen
• VW wurde als „Digital Performance Leader“ und als die Automobilmarke angesehen,
die am besten gesellschaftlich integriert ist
• VW China wurde in Cannes mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet
Niedrige Kosten, große Wirkung: Nicht nur Volkswagen investiert viel Zeit (und Geld)
in die sozialen Kommunikationskanäle. Der US-amerikanische Autobauer Ford startete
2012 in Indien seine eigene Kampagne „Eine Tankfüllung. 1500 km. Ein Klassiker“.
Dabei hatten elf Personen die Aufgabe, sich im Rahmen eines Roadtrips mit dem Ford
Classic Titanium ihre Träume zu erfüllen. Die Teilnehmer wurden von einer Filmcrew
begleitet. Sie zeichnete diesen „Klassiker“ auf und berichtete darüber. Das Hochladen
und Zeigen der Filme auf verschiedenen Plattformen in sozialen Medien war der Höhe-
punkt der Kampagne. Der Vizepräsident von Ford India bezeichnete die Initiative als
eine der kostengünstigsten, aber erfolgreichsten. Der Manager erläuterte nach Abschluss
der Kampagne, warum sich sein Unternehmen für das Rebranding von Ford Fiesta zu
Ford Classic so stark auf die sozialen Medien konzentriert habe: Drei Viertel der Men-
schen würden glauben, was sie in sozialen Medien lesen oder sehen, verglichen mit
50 % bei Fernsehwerbung. Als Medium seien sie aus Sicht eines Vermarkters sehr viel
einflussreicher als jedes existierende traditionelle Medium (Nagpal 2012). Diese Wer-
bekampagne belegte erneut, dass die digitale Mundpropaganda eine kaum zu überschät-
zende Informationsquelle und ein starker Motivator für BRIC-Verbraucher geworden ist.
Vier Prinzipien für „Digital Leadership“: Nicht jede Marke muss um eine führende
Position in der digitalen Welt kämpfen. Es gibt keinen Weg, der für alle gleichermaßen
der beste ist. Aber was auch immer Digital Leadership für die unterschiedlichen Marken
388 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
bedeuten mag, es existieren vier wichtige Prinzipien, die jeder Vermarkter berücksichti-
gen sollte, wenn er die digitale Präsenz seiner Marke aufbauen oder verändern will:
Die Rolle und das Ziel des digitalen Marketings für die Marke müssen genau fest-
gelegt werden
Als Erstes müssen die Vermarkter festlegen, was sie für ihre Marke in der digitalen Welt
erreichen wollen. Wollen sie den Umsatz deutlich erhöhen, eine Markenerfahrung erzeu-
gen, Beziehungen zu den Kunden aufbauen oder die Bekanntheit erhöhen? Oft gelingt
es Unternehmen nicht, ein klares Ziel ihrer digitalen Strategie zu formulieren. Und
zweitens müssen die Vermarkter die natürliche digitale Eignung und Bereitschaft ihrer
Marke erkennen und auch verstehen, wie komplex oder fortgeschritten die Konkurrenz
auch immer ist. Unternehmen im Reisegeschäft, im Einzelhandel oder im Bereich Unter-
haltungselektronik verfügen aller Wahrscheinlichkeit nach über größere Erfahrungen in
der digitalen Welt, während Apotheken oder Erstausrüster wahrscheinlich noch mehrere
Schritte zurückliegen. Sich darüber genau im Klaren zu sein, was man erreichen will, ist
der erste Schritt zur Entwicklung einer erfolgreichen digitalen Strategie. Leider wird die-
ser wichtige Aspekt allzu leicht übersehen.
der Kunde in der Lage zu entscheiden, wann und wo er aktiv wird, und er kann ihm
subjektiv aufgedrängte Informationen leicht ignorieren oder sogar ausblenden. Zur Qua-
litätssicherung des Inhalts haben sich drei Richtlinien als sinnvoll erwiesen. Relevanz:
Die Verbraucher sehen sich ständig mit einer Informationsflut konfrontiert. Die Ver-
markter müssen daher sicherstellen, dass der Inhalt durch ein tief gehendes Verständ-
nis gekennzeichnet ist und dass er die tatsächlich für die Kunden wichtigen Aspekte
anspricht. Authentizität: Die Verbraucher sind zwar bereit, Vertrauen zu schenken, aber
diese Bereitschaft ist nicht unbegrenzt. Konsequenz und wiederholte Bekräftigung des-
sen, für was die Marke, ihre Werte und ihre Tradition insgesamt steht, bieten gute Mög-
lichkeiten, Authentizität herzustellen. Engagement ermöglichen: Verbraucher schätzen
es sehr, ein aktiver Teil der Markenerfahrung zu sein. Wenn man ihnen ermöglicht, sich
persönlich zu beteiligen, Erlebnisse und Eindrücke zu teilen und aktiv mit dem Marken-
inhalt zu interagieren, wird dies das Engagement der Verbraucher steigern.
557
500
420
356
303
233
117.6
50.4
2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016* 2017*
Abb. 9.65 Anzahl der Nutzer des mobilen Internets in China von 2008 bis 2018 (in Millionen, *
Schätzungen). (Quelle: basierend auf Statista 2014)
47 % 96 % 98 % 69 %
in Lateinamerika bei. Marktspezialisten wie eMarketer haben 2013 schon als „Jahr des
Smartphones“ bezeichnet. Brasilien wurde zu einem der aktivsten Märkte für Apps und
steht hinsichtlich der Umsätze der App-Stores heute weltweit an sechster Stelle. Apps
eröffnen Vermarktern wunderbare Möglichkeiten, um Daten darüber zu sammeln, wie
9.23 Die mobile Revolution 391
oft Nutzer eine App öffnen, wie viel Zeit sie im Durchschnitt damit verbringen und wie
aktiv sie sind.
Die Folgen dieses Booms bei mobilen Endgeräten in diesem aufstrebenden Markt
sind weitreichend: Heute haben Smartphones und andere mobile Endgeräte den tradi-
tionellen Fernseher (und damit auch die dort laufenden Programme) als „First Screen“
abgelöst. Mobile Kommunikation hat in den Emerging Markets auch die Nutzung her-
kömmlicher PCs hinter sich gelassen. Dies hat große Auswirkungen auf das Einkaufsver-
halten, die Preisbildungskraft sowie die Art und Weise, in der Marken mit ihren Kunden
kommunizieren müssen. Nach Angaben von FICO (2013), einem Unternehmen, das mit-
tels Predictive Analytics Vorhersagen trifft, gehören China und Indien mit 51 bzw. 49 %
zu den führenden Ländern mit dem höchsten Prozentsatz an Käufern, die zum Einkauf
mobile Endgeräte benutzen. Frankreich und die USA weisen mit zwölf bzw. 16 % die
niedrigsten Raten in diesem Bereich auf. Diese Zahlen enthalten eine deutliche Botschaft
für Marken. Wenn man von der Kaufkraft der großen Schwellenländer profitieren will,
kann man erstaunliche Wachstumsraten erzielen, sofern man die fortschrittlichsten mobi-
len Kommunikationskanäle und Kundenerfahrungen berücksichtigt, um den Umsatz in
die Höhe zu treiben.
Große westliche Unternehmen wie Unilever oder BMW setzen gegenwärtig umfang-
reiche Marketinginitiativen im mobilen Bereich um, um das außerordentliche Wachs-
tum der Mobil-Kommunikation in diesen neuen Märkten auszuschöpfen. China und
Indien haben zusammen mit Südkorea den Rest der aufstrebenden Länder im Bereich
des Mobile Commerce weit hinter sich gelassen. So wurden in China 2013 fast 1,7 Mrd.
Kauftransaktionen über mobile Endgeräte abgewickelt, ein astronomischer Anstieg um
212 % gegenüber dem Vorjahr. Diese Transaktionen repräsentierten einen Umsatz von
1,6 Billionen US$. Dieser Wert entspricht ungefähr einem Drittel des deutschen Brut-
toinlandsprodukts. 2014 war die Zahl der Internetnutzer, die über mobile Endgeräte
(internetfähige Mobiltelefone, Smartphones und Tablets) auf das Internet zugreifen, zum
ersten Mal höher als die Zahl der Nutzer, die an Desktop-Computern im Internet sur-
fen. Zweifelsohne ist dieser Bereich der mobilen Endgeräte zu einem zentralen Mittel für
Marken und Unternehmen geworden, um mit ihren Kunden in Verbindung zu treten und
zu interagieren. Heute ist eine mobile Internetseite auf dem neusten Stand der Technik
mit einer einwandfrei funktionierenden E-Commerce-Einbindung wichtiger als ein Inter-
netauftritt traditioneller Machart.
Das ständig expandierende mobile Universum gibt Vermarktern und Markenunter-
nehmen ein starkes zusätzliches Werkzeug an die Hand, um in den ländlichen Regio-
nen massiv Kundenschichten zu erschließen, die bisher zu vernünftigen Kosten kaum zu
erreichen waren. Boomende heimische Internetgiganten wie Alibaba und Tencent haben
dazu beigetragen, dichte Vertriebs- und Verteiler-Netzwerke aufzubauen, über die man
auch die letzten Ecken des riesigen Landes erreichen und Güter innerhalb eines oder
höchstens zweier Tage praktisch überall hin liefern kann. Die Nachfrage ist sicherlich
vorhanden, da China bereits die USA als größten Smartphone-Markt hinsichtlich der
Zahl täglicher Aktivierungen überholt hat. Viele Vermarkter haben damit begonnen, sich
392 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
nun endlich auch dem mobilen Bereich zuzuwenden, den sie zuvor oft sträflich vernach-
lässigt hatten. Aber angesichts schärferen Wettbewerbs zwischen heimischen Online-
Handels-Giganten verbessert sich die Situation gegenwärtig rasch.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich für Unternehmen deutlich die Notwendigkeit
ab, im mobilen Bereich aktiv zu werden. Wie das gelingen kann, zeigt das chinesische
Online-Auktionshaus Alibaba, dessen riesige C2C-Plattform den am „Tag der Singles“
am 11. November genutzt hat, um eine „Shopfest“-Kampagne einzuführen. Damit ver-
wandelte Alibaba den „Tag der Singles“ in das chinesische Pendant zum Valentinstag.
Am 11. November 2014 markierte Alibaba einen neuen Weltrekord, als das Unterneh-
men einen Umsatz von neun Milliarden US-Dollar an einem einzigen Tag meldete. Es
gibt keine bessere Möglichkeit, die Kaufkraft der chinesischen Online- und mobilen
Verbraucher zu verdeutlichen. Fast 43 % der Umsätze dieses Tages wurden mit Kunden
erzielt, die mobile Endgeräte nutzten.
Auch wenn es sich beim Problem eines sogenannten „Shitstorms“ in sozialen Medien
um ein weltweites Phänomen handelt, so scheint in einigen Märkten der BRIC das
Risiko einer solchen digitalen Krise relativ hoch zu sein. Unter einem „Shitstorm“ ver-
steht man laut Duden einen „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium
des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“ (Duden 2017).
Besonders in China ist die Gefahr, in einen solchen Sturm zu geraten, extrem hoch.
China ist nicht nur die Nummer eins, wenn es um die Zahl der Nutzer sozialer Medien
geht. Das Land weist leider auch eine lange Tradition der Polemisierung gegen ausländi-
sche Marken auf. Und die Zahl spektakulärer Markenkrisen nimmt zu. Wie einige Mar-
keting- und Medienexperten vermuten, steht dies möglicherweise im Zusammenhang
mit dem Aufstieg der sozialen Medien. Von verunreinigter Milch und Sportgetränken mit
schädlicher Wirkung, von recyceltem Speiseöl bis zu fehlerhaften Fahrzeugen – die Zahl
spektakulärer Unternehmensskandale nimmt zu. Fast in jedem Monat gerät eine andere
Marke in China in das Visier der Behörden, lokaler Medien und der Verbraucher. Als
Folge dieser ist das Vertrauen in die betroffenen Marken in China gesunken, eine Ent-
wicklung, die aufmerksame Vermarkter genau verfolgen müssen.
Einer der jüngsten Zwischenfälle dieser Art, der zu heftigen Reaktionen sowohl in
traditionellen als auch in sozialen Medien führte, war die öffentliche Zerstörung eines
Maserati Quattroporte in der ostchinesischen Küstenstadt Qingdao. Der Besitzer zer-
störte sein Luxusfahrzeug während einer Automobilmesse direkt vor dem Messegelände
in Qingdao aus Frustration über die seiner Ansicht nach schlechte Kundenbetreuung
durch den lokalen Händler. Der drastische Ausdruck von Wut und Unzufriedenheit löste
in chinesischen Publikationen zahlreiche Reaktionen aus. Die örtliche Zeitung Qing-
dao Morning Post berichtete, der Eigentümer des Sportwagens sei so verärgert, weil
ein Schaden an einer der Türen nicht vernünftig repariert worden sei und Angestellte
9.24 Bereit für den perfekten Sturm 393
des Autohändlers an der Nobelkarosse auch noch Kratzer hinterlassen hätten. Maserati
veröffentlichte über Sina Weibo eine Erklärung, in der die Entscheidung des Kunden,
ein Exemplar dieser weltberühmten Automarke „aus Sensationsgier“ zu zerstören, als
„bedauerlich“ bezeichnet wurde.
Derartige Zwischenfälle werden von den Staatsmedien weitgehend ignoriert. Insbe-
sondere um den 15. März herum, dem „Tag des Verbrauchers“ in China, finden des Öfte-
ren Demonstrationen gegen ausländische Marken statt. Anfang Mai 2013 musste General
Motors eine weltweit eingesetzte Werbung zurückziehen, die in respektloser Weise
auf China Bezug nahm. Der Fernsehwerbespot war für den Chevrolet Trax SUV, eines
der damals neuesten Modelle des US-amerikanischen Autobauers in China, produziert
worden. Seit April des Jahres war er in Kanada gezeigt und auch auf der europäischen
Internetseite des Unternehmens veröffentlicht worden. In dem Spot erklang ein Lied mit
Versen wie diesen: „In the land of Fu Manchu, the girls all now do the Suzie-Q, clap
their hands in the center of the floor, saying ching-ching, chop suey, swing some more.“
Als General Motors davon erfuhr, reagierte das Unternehmen schnell und ersetzte den
Spot durch eine neue Version, in der die als beleidigend empfundenen Verse nicht mehr
vorkamen. Dieser Zwischenfall ereignete sich zu einem heiklen Zeitpunkt für GM, das
damals versuchte, seine starke Position im chinesischen Markt aufrechtzuerhalten, zumal
seine Umsätze um mehr als elf Prozent auf ein Rekordhoch von 2,84 Mio. Fahrzeuge
2012 angestiegen waren. Ein anderes berühmtes Beispiel kann heute noch im Internet
gefunden werden. Damals ging es um den bekannten französischen Autobauer Citroën.
Das Unternehmen hatte eine gedruckte Anzeige verbreitet. Sie zeigte Mao Zedong, der
hinter einem Fahrzeug eine Grimasse schnitt. China reagierte sehr verärgert, obwohl die
Anzeige nur in Frankreich zu sehen war (Reuters 2008).
Im März 2013 pickte sich der staatliche chinesische Fernsehsender CCTV in seiner
alljährlichen Sendung zum Thema Fehlverhalten von Unternehmen mit dem Titel „3.15“
den US-amerikanischen IT-Giganten Apple und den deutschen Autobauer Volkswagen
heraus. In dieser investigativen Sondersendung behauptete CCTV, Apple habe chinesi-
schen Kunden nicht die gleichen Serviceleistungen angeboten, wie sie in anderen Märk-
ten üblich seien. VW wurde derweil vorgeworfen, das Doppelkupplungsgetriebe, das
in einigen Fahrzeugtypen verbaut sei, führe dazu, dass es zu einer unkontrollierbaren
Beschleunigung oder Abbremsung komme. VW musste 384.000 Fahrzeuge zurückrufen,
eine Rekordzahl. Darüber hinaus kam es als Folge zu einem Ansehensverlust des Unter-
nehmens in seinem größten nationalen Markt, wo die Produktion bis 2018 verdoppelt
werden sollte. Auch bei Apple führte der Fernsehbericht zu einem vergleichbaren Rück-
schlag. Apple-Vorstandschef Tim Cook entschuldigte sich persönlich gegenüber den chi-
nesischen Konsumenten für die schlechte Kommunikation im Zusammenhang mit der
Garantiepolitik des Unternehmens. Zu den jüngsten Ereignissen, über die 2014 berichtet
wurde und die auch zu größeren Reaktionen in den sozialen Medien führten, gehörten
die kartellrechtlichen Ermittlungen gegen Mercedes-Benz und Audi. Es ging um den
Vorwurf illegaler Preisabsprachen sowie Berichte, Husi Foods, ein wichtiger Zulieferer
von McDonald’s in China, habe Fleisch verarbeitet, dessen Haltbarkeitsdatum bereits
394 9 Strategien für einen erfolgreichen Markenaufbau
überschritten war. Dieser Zwischenfall führte dazu, dass viele McDonald’s Restaurants
in China einige Zeit lang im Sommer 2014 keine Rindfleisch-Burger und Hähnchenflü-
gel mehr verkauften.
Zwischenfälle dieser Art zeigen, wie wichtig es für ausländische Marken ist, den sozi-
alen Raum genau zu beobachten und schnell reagieren zu können. Kampagnen gegen
ausländische Marken können zumindest kurzfristig durchaus schwere Schäden hervor-
rufen. Ereignisse wie die geschilderten sind in China nichts Neues. Viele Beobachter
werten sie als eine natürliche politische Reaktion auf die Tatsache, dass chinesische Ver-
braucher in vielen Bereichen eine deutliche Präferenz für ausländische Marken haben
und sich leicht von neuen Trends und Geschäftsmodellen aus dem Ausland angezogen
fühlen. Darüber hinaus sind chinesische Behörden und die Regierung über ihren eigenen
langsamen Fortschritt beim Aufbau heimischer Premium-Automobilmarken alles andere
als erfreut. 2014 zogen ausländische Marken zwei Drittel der Umsätze in Chinas Pkw-
Markt auf sich. Und sie genossen ein deutlich besseres Markenansehen als die lokalen
Wettbewerber.
In technologischer Hinsicht haben die lokalen Markenchampions durchaus große
Fortschritte gemacht, aber es fällt ihnen immer noch schwer, akzeptiert zu werden. Infol-
gedessen sind politische Entscheidungsträger verständlicherweise daran interessiert, die
Nachfrage nach heimischen Produkten zu verstärken. Da China sich schnell entwickelt
und immer weniger abhängig von ausländischen Investitionen und Technologie wird,
wächst die Wahrscheinlichkeit, dass größere ausländische Unternehmen ins Visier gera-
ten, teilweise sicher unter Einsatz sozialer Netzwerke und von Mikroblogger-Plattfor-
men.
Die beste Möglichkeit, sich gegen derartige Kampagnen zu wappnen, besteht darin,
gute Beziehungen zu wichtigen chinesischen Behörden und Vereinigungen aufzubauen,
aber auch Glaubwürdigkeit als ein Freund Chinas über Aktivitäten im Bereich unterneh-
merische Sozialverantwortung aufzubauen, Schwachpunkte im Auge zu behalten und
sich auf PR-Krisen durch interne Weiterbildung und interne Aktionspläne vorzubereiten.
In deren Mittelpunkt müssen aus den genannten Gründen als Erstes soziale Medien ste-
hen.
Im Mai 2013 veröffentlichte die Handelskammer der Europäischen Union in China ihren
alljährlichen „Business Confidence Survey“. Darin hieß es, das Abschneiden und der
Optimismus europäischer Unternehmen in der Volksrepublik würden schlechter werden.
Aber zugleich skizzierte die Untersuchung Wachstumschancen, die der Reformprozess
bietet. In der Hälfte der europäischen Unternehmen, so der Bericht, mache China bereits
mehr als zehn Prozent der weltweiten Umsätze aus. 71 % der befragten Firmen zeigten
sich über die chinesischen Wachstumsaussichten optimistisch, und 86 % planten weitere
Investitionen im Land (Bouée 2013).
9.25 Die Macht von Beziehungen und Politik 395
desto größer ist die Gefahr, derartigen Scharlatanen zu begegnen. Aber selbst in den stär-
ker entwickelten wirtschaftlichen Zentren verlaufen alle Verbindungen letztlich auf der
lokalen Ebene. Das Geschäftsumfeld in China ist dabei genauso vielfältig, facettenreich
und regional verschieden wie die chinesische Küche. Es ist vielleicht hilfreich, verschie-
dene Quellen zu befragen, um sicher zu sein, dass man sich erfolgreich mit den richtigen
Leuten vernetzt hat.
Viele erfahrene Geschäftsleute in den BRIC bestätigen, dass es angesichts der Viel-
zahl politischer Veränderungen und Strukturreformen der Regierung schwieriger als je
zuvor geworden ist, die richtigen Kontakte zu pflegen. Und je mehr ausländische Firmen
in den BRIC-Staaten ins Hinterland expandieren, desto mehr werden sie es mit lokalen
Beamten zu tun haben, denen Erfahrung mit ausländischen Investoren fehlt. Für west-
liche Marken bedeutet dies, dass Marketingkampagnen über die aktuelle Politik und
Reformen genau informiert sein müssen.
Die Bemühungen, gute Beziehungen zur Regierung oder zu Behörden aufzubauen,
können noch dadurch erschwert werden, dass die Beamten in den BRIC-Ländern meist
kaum motiviert sind, Informationen mit anderen Behörden zu teilen. Für ausländische
Unternehmen bedeutet dies, selbst in der gleichen Behörde mehrere Besprechungen zum
gleichen Thema abhalten zu müssen. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Regierungs-
vertreter oder Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes können auch von außen motiviert
werden, indem man bis zu einem gewissen Grad Know-how mit ihnen teilt, ihnen Bran-
chenerfahrung vermittelt oder die Themen der Besprechung an die eigenen Prioritäten
und Ziele des Beamten anpasst.
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Mehr als die BRIC – Schlussbemerkung
10
Was sind die wichtigen Erkenntnisse, die sich aus diesem Buch ziehen lassen? Aus unse-
rer Sicht gibt es mehrere wesentliche Schlussfolgerungen.
Der wirtschaftliche Rückschlag in den großen Schwellenländern zur Mitte des Jahr-
zehnts hat die langfristigen Erwartungen an diese Märkte nicht grundsätzlich infrage
gestellt. Im Gegenteil: China scheint bei der Umstellung seines Geschäftsmodells auf
eine Konsumgesellschaft trotz erheblicher Probleme voranzukommen. Und manches
deutsche Unternehmen setzt aufgrund der neuen politischen Agenda der USA stärker
auf China als auf die Vereinigten Staaten als wichtigsten Absatzmarkt. Der private Kon-
sum ist bereits der größte Wachstumstreiber in der Volksrepublik. In Indien treibt der-
weil Ministerpräsident Narendra Modi die Reformen mit Bedacht – und so, dass sie für
die interne Opposition verdaulich sind – voran. Dabei erzielt er sichtbare Erfolge. Indien
war im Global Competitiveness Report 2016–2017 des Weltwirtschaftsforums der größte
Aufsteiger, mit einer Verbesserung um 16 Positionen auf Rang 39. Damit hat sich das
Land binnen zwei Jahren in dem viel beachteten Ranking um 32 Positionen verbessert.
Das ist ein neuer Rekord (Raghavan 2016). Indien packt unter Modi auch seine verzö-
gerte Industrialisierung an und hat als Autoproduzent bereits Südkorea überholt.
Hinsichtlich der zukünftigen Bedeutung der BRIC-Staaten sind einige Bemerkungen
angebracht. Die ursprüngliche Idee war relativ einfach: Vor 15 Jahren setzte Jim O’Neill,
damals Chefökonom bei Goldman Sachs, die Anfangsbuchstaben der vier größten auf-
strebenden Märkte zu dem Akronym BRIC zusammen. Damals war ihm vermutlich nicht
bewusst, dass er damit ein Kunstwort geschaffen hatte, das letztlich eine erhebliche geo-
politische Bedeutung entfalten sollte.
Heute gibt es hinsichtlich der Zukunft der BRIC-Länder verschiedentlich Zweifel. Wie
in den Länderkapiteln beschrieben wurde, besitzen Russland und Brasilien zwar ein enor-
mes Potenzial, sie haben aber derzeit mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Und es
bleibt offen, ob sie diese Probleme in den Griff bekommen. Demgegenüber haben China
und Indien starke Zugkräfte entwickelt. Im Januar 2015 erklärte Jim O’Neill gegenüber
der deutschen Finanzzeitung Handelsblatt: „Ich frage mich manchmal, ob man dieses
Konzept nicht zu ‚IC‘ verkürzen sollte“ (Drescher 2012).
Da ausländische Direktinvestoren nicht gerade zu den geduldigsten Menschen auf
der Erde zählen, werden alle möglichen neuen Zukunftsmärkte untersucht und erkundet.
Laut verschiedenen Marktexperten zählen afrikanische Länder wie Ghana und Nigeria
heute zu den aufstrebenden Ländern mit den vielversprechendsten Aussichten. Einige
Investoren wenden ihre Aufmerksamkeit auch Ländern wie Indonesien, Thailand und
den Philippinen zu, da beispielsweise japanische Autobauer derzeit ebenso viele Pkw
nach Südostasien wie nach China verkaufen. Weil das teurer gewordene China immer
mehr Produktion ins kostengünstigere asiatische Ausland verlagert, wird in der Region
darüber spekuliert, ob Südostasien in den kommenden zehn Jahren die neue „Fabrik der
Welt“ werden könnte.
Aus diesem Grund haben Strategen von Goldman Sachs eine neue magische Abkür-
zung namens MIST entwickelt, die für die Länder Mexiko, Indonesien, Südkorea und
Türkei steht. Wieder andere bevorzugen die Abkürzung MINT (Bootle 2014), in der Süd-
korea durch Nigeria ersetzt wurde. Die MIST-Länder haben ihre Wirtschaftskraft in den
vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt und zusammen genommen im Jahr 2011
sogar Deutschland übertroffen. Mexiko ist gegenwärtig die zweitgrößte Volkswirtschaft
Lateinamerikas. Allerdings wird man erst im Laufe der kommenden Jahre sehen, inwie-
weit das teilweise angespannte Verhältnis mit dem mächtigen Nachbarn USA die Wachs-
tumsaussichten Mexikos beeinträchtigen wird.
Weniger unsicher erscheint die Lage in Indonesien. Die Binnenausgaben und -inves-
titionen in Indonesien weisen ein deutliches Wachstum auf. Südkorea ist geografisch
zwischen den beiden größten asiatischen Volkswirtschaften – Japan und China – einge-
schlossen und muss seine extreme Wettbewerbsfähigkeit erhalten, um weiter wachsen
zu können. Dank ihrer geografischen Lage dient die Türkei als natürliche Brücke zwi-
schen Asien und Europa. In den vergangenen zehn Jahren zog das Land immer mehr aus-
ländische Direktinvestitionen an und übertraf dabei einen nationalen Rekord nach dem
anderen. Die seit 2016 anhaltende Entwicklung der Türkei hin zu einem autokratischen
System, in dem der Präsident die Opposition und Medien mit teilweise rabiaten Mitteln
verfolgen lässt, wirkt jedoch wie ein großer Bremsklotz für die weitere wirtschaftliche
Entwicklung des Landes und dämpft die Aussichten.
Ähnlich wie die BRIC weisen die MIST-Länder Gemeinsamkeiten wie etwa eine
relativ junge und große Bevölkerung und rasch wachsende Verbrauchermärkte mit
erheblichem Nachholbedarf auf. Die MIST-Gruppe selbst ist Teil eines noch größe-
ren aufstrebenden Wirtschaftsraumes, der „Next Eleven“ (N-11) genannt wird und zu
Portfoliozwecken so konfektioniert wurde. Zusätzlich zu den MIST-Ländern gehören
Bangladesch, Ägypten, Nigeria, Pakistan, die Philippinen, Vietnam und der Iran zur
N-11-Gruppe. Da sich angesichts des weltweiten wirtschaftlichen Gegenwindes und
innerer Strukturprobleme das Wachstum in einigen BRIC-Ländern verlangsamte, gerieten
die „neuen“ aufstrebenden Märkte der N-11 stärker in den Fokus. Verschiedene bekannte
10 Mehr als die BRIC – Schlussbemerkung 403
Rankings, die Vergleiche mit den BRIC ermöglichen, zeigen einige ihrer Wettbewerbs-
vorteile. In dem Trade-Openness-Index des Weltwirtschaftsforums liegen Mexiko sowie
Indonesien und Südkorea deutlich vor Brasilien, Russland und Indien.
Doch man darf nicht das große Bild aus den Augen verlieren. Während die MIST-
Länder nur sieben Prozent der Weltbevölkerung, drei Prozent der Landfläche und vier
Prozent des weltweiten Wachstums ausmachen, ist in den BRIC fast jeder zweite Ver-
braucher der Welt zu Hause. Und sie erzeugen ein Viertel der weltweiten Wirtschaftsleis-
tung. China ist weiterhin die Lokomotive der Weltwirtschaft. Trotzdem schwächte sich
mit Eintrübung der Konjunktur in den BRIC auch die Begeisterung westlicher Investoren
und Exporteure ab. Aber ohne jeden Zweifel liegt das überwältigende Potenzial zusätzli-
chen Wachstums noch für viele Jahre in genau diesen Märkten.
Selbst wenn die wirtschaftliche Dynamik für einige Zeit schwächer bleiben sollte,
sind bereits jene wirtschaftlichen und politischen Reformen deutlich erkennbar, die die
Grundlage für die kommende Wachstumsperiode legen werden. Dieser nächste Wachs-
tumsschub wird die Unternehmen in den BRIC-Ländern zwingen, in stärkerem Maße
moderne Technologie einzusetzen und zu entwickeln und den heimischen Anteil an der
Wertschöpfung bei ihren Exporten zu erhöhen. Das bedeutet auch, dass noch mehr starke
Unternehmen aus den BRIC-Ländern in Europa und den USA aktiv werden, um dort
mit Unternehmen zu fusionieren oder sie zu übernehmen. Chinas Firmen sind hier wie
stets ein Vorreiter in den BRIC. Westliche Firmen werden auf diese sich abzeichnenden
Angriffe in ihren eigenen Premiummärkten vorbereitet sein, wenn sie sich entscheiden,
diese neuen internationalen Wettbewerber in deren eigenen Märkten anzugreifen. Dort
können sie lernen, wie man sich gegen aufstrebende Champions behauptet, während
gleichzeitig der eigene weltweite Umsatz und die globale Markenpräsenz ausgedehnt
werden. Die aufstrebenden Märkte werden damit für international agierende Unterneh-
men trotz der aktuellen Rückschläge immer wichtiger. Dadurch gewinnen für Marketing-
und Markenexperten lokale Marktfaktoren und die örtliche Konsumumgebung in diesen
Ländern immer mehr an Bedeutung.
Dieses Buch hat dargelegt, dass Unternehmen, die ihre Positionierung, ihre Produkt-
angebote sowie Kommunikation, Preisgestaltung und Vertrieb angemessen an die lokalen
Gegebenheiten anpassen, mit einem strategischen Wettbewerbsvorteil rechnen können.
Das bedeutet aber nicht, dass ihre Geschäftsmodelle, damit zusammenhängende Techno-
logien oder ganze Managementsysteme vollständig lokalisiert werden müssen oder dass
alle Verantwortlichkeit beim Management vor Ort liegen muss. Gemeint ist vielmehr, dass
ein global expandierendes Unternehmen in der Lage sein muss, die marktbestimmenden
Faktoren in den jeweiligen Wachstumsmärkten zu erkennen und angemessen und zeitnah
auf Unterschiede auf globaler und lokaler Ebene zu reagieren. Vielfach wird es notwendig
sein, dass die Konzernzentrale einige ihrer Prinzipien sozusagen „verlernt“, um beispiels-
weise ein vereinfachtes, dafür aber auch günstigeres Produkt in den Wachstumsmärkten
anzubieten, die nach wie vor sehr preissensibel sind. Die geschäftliche Praxis und ent-
scheidende Erfolgsfaktoren sind Veränderungen unterworfen, und auch Verbraucher
ändern ihr Verhalten je nach den Umständen, in denen sie leben. Die 25 Strategien, die in
404 10 Mehr als die BRIC – Schlussbemerkung
den vorangegangenen Kapiteln dargelegt wurden, liefern eine wichtige Grundlage für das
individuelle Verständnis dieser Zusammenhänge.
Zusätzlich zum Verständnis des angemessenen Umfangs der Anpassungen an lokale
Gegebenheiten gehört eine starke Marke fast immer zu den wenigen substanziellen Wett-
bewerbsvorteilen, auf die ein globales Unternehmen in einem von starkem Wettbewerb
geprägten Schwellenmarkt aufbauen kann. In vielen Fällen können oder sollten sogar
solche Marken als ausländische Marken mit einem lokalen Touch positioniert werden.
Denn vieles deutet darauf hin, dass eine ausländische oder globale Markenpositionierung
hinsichtlich der Verbraucherpräferenz und der Preissetzungsmacht in einem Schwellen-
marktumfeld in den meisten Kategorien bis zu einem gewissen Punkt eine Überlegenheit
aufweist.
Aber, und das ist von größter Bedeutung: Eine ausländische oder augenscheinlich glo-
bale Markenpositionierung bedeutet nicht, dass die meisten im Zusammenhang mit dem
Marketing stehenden Parameter tatsächlich einen globalen Standard verkörpern oder
genau wie im Heimatmarkt ausgerichtet sind. Es bedeutet vielmehr, dass die Verbrau-
cher in den Zielmärkten über die ausländische Herkunft der Marke und damit zusam-
menhängende Vorzüge informiert sind, während die Positionierung selbst – und viele
der Parameter des Marketingprogramms – so verschmolzen werden sollten, dass lokale
Verbraucherpräferenzen angesprochen und ihre Kenntnisse und Entscheidungsprozesse
verstärkt werden. Das ist eine zentrale Schlussfolgerung dieses Buches.
Wir erleben die Veränderung einer vom Westen dominierten Welt und den Wandel hin
zu einer multipolaren Welt, in der die Vielfalt von Standards, Gewohnheiten und Kon-
sumverhalten zunimmt. Der globale „Markt“ wird komplexer, und er verändert sich
schneller. Vor allem in den aufstrebenden Märkten nimmt die Schlagzahl nicht nur zu,
auch der Wettbewerb verschärft sich durch den Aufstieg neuer lokaler Champions, die
globalen Wettstreitern Marktanteile abzuringen beginnen.
Einige Aspekte wie etwa die vertikale Markendehnung, die Expansion nach Städte-
Clustern, die intensive Pflege von Regierungsbeziehungen oder das Marketing, das sich
an die Gesellschaftsschichten mit niedrigen Einkommen richtet, erscheinen aus Sicht
eines entwickelten Marktes vielleicht vernachlässigbar. Im Umfeld eines aufstrebenden
Wachstumsmarktes besitzen diese Strategien allerdings sehr hohe Bedeutung. Mögli-
cherweise müssen viele Marketinglehrbücher umgeschrieben und erweitert werden, um
eine breiter gefächerte Weltsicht einzubeziehen. Auch einige der vielfach missverstande-
nen und falsch benutzten Marketingbegriffe wie „globale Marke“ oder „Lokalisierung“
würden von einer genaueren Definition profitieren. Nach unserem Verständnis handelt es
sich bei einer globalen Marke um eine Marke, die in einem breiten Spektrum von Märk-
ten weltweit vermarktet wird. Auch wenn sie wahrscheinlich unter dem gleichen Namen
weltweit vermarktet und die gleiche Corporate Identity (CI) benutzt wird, heißt dies kei-
neswegs, dass sie in allen Märkten einheitlich vermarktet und auf der Grundlage identi-
scher Werte und der gleichen Kaufmotivatoren positioniert werden sollte. Nach unseren
Beobachtungen gibt es bei vielen sogenannten globalen Marken einen Trend zu einer
zunehmenden Individualisierung und pragmatischen Kombination von globalen und
10 Mehr als die BRIC – Schlussbemerkung 405
ckeln. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Automobildesign, mobile Kommunikation,
Social Commerce, umweltfreundliche Technologien, Automatisierung und möglicher-
weise auch E-Mobilität. Auch Indien wird in diesem Zeitraum große Fortschritte bei
Technologie-Investitionen und innovativen E-Business-Lösungen machen. Und Brasilien
wird das traditionelle globale Innovationsgleichgewicht infrage stellen. Neben einem
erstaunlichen Fortschritt beim Genom Mapping geriet Brasilien erst jüngst für seine
Erfolge bei der Entwicklung organischer Solarzellen auf Basis von Kunststoffen in die
Schlagzeilen. Weltweit werden eindrucksvolle Forschungsanstrengungen unternommen,
um effiziente und preisgünstige Solarzellen dieses Typs zu entwickeln, was dazu beitra-
gen könnte, den Einsatz von Solarenergie mit einem höheren Wirkungsgrad zu niedrigen
Preisen auch in ländliche und weniger dicht besiedelte Regionen auszuweiten.
Allgemein gilt, dass in Zukunft zahlreiche Marketinginnovationen, Trends und
Lösungen für den digitalen und mobilen Handel aus den Schwellenmärkten kommen
werden. Und es besteht kein Zweifel, dass sich westliche Unternehmen auf einen härte-
ren Wettbewerb insbesondere seitens der Konkurrenz aus den asiatischen Schwellenlän-
dern einstellen müssen. Wenn dieses Buch einen Beitrag geleistet hat, sich diesen neuen
Herausforderungen bewusst zu stellen, dann hat es seinen Zweck erfüllt.
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