Master Thesis KMU 91000
Master Thesis KMU 91000
Frau
Melissa Sandmeir
2022
Fakultät: Medien
MASTERARBEIT
Autorin:
Frau Melissa Sandmeir
Studiengang:
Industrial Management
Seminargruppe:
ZM18wS-DHS
Erstprüfer:
Prof. Dr. Sebastian Scharf
Zweitprüfer:
Dr. Monika Potkański-Palka
Einreichung:
München, 12.04.2022
Faculty of Media
MASTER THESIS
author:
Ms. Melissa Sandmeir
course of studies:
Industrial Management
seminar group:
ZM18wS-DHS
first examiner:
Prof. Dr. Sebastian Scharf
second examiner:
Dr. Monika Potkański-Palka
submission:
Munich, 04/12/2022
Bibliografische Angaben
Sandmeir, Melissa:
Abstract
Die Thesis befasst sich mit dem Einfluss der Digitalisierung auf kleine und mittlere
Unternehmen (KMU) des verarbeitenden Gewerbes. Im Fokus des Interesses
steht die Frage, welche Herausforderungen und Chancen sich durch eine digitale
Transformation für diese Unternehmen ergeben. Durch eine deduktive Literatur-
recherche wird die theoretische Grundlage für die darauffolgende Case Study
des Familienbetriebs Sandmeir – exclusiv Stahlbau GmbH geschaffen. Ergebnis
der vorliegenden Arbeit ist, dass sich durch die disruptive Kraft der Digitalisierung
und digitale Transformation einige Herausforderungen für KMU ergeben, die es
für einen erfolgreichen Wandel zu meistern gilt. Demgegenüber überwiegt jedoch
eine Vielzahl an Chancen, durch die diese Hindernisse bewältigt werden können.
Für die Forschung empfiehlt es sich, eine genauere Analyse der verarbeitenden
KMU in Anbetracht der digitalen Transformation vorzunehmen, dabei aber darauf
zu achten, nicht selbst durch Neuerungen disruptiert zu werden.
Inhaltsverzeichnis V
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ...................................................................................................... V
1 Einleitung............................................................................................................. 1
Literaturverzeichnis .................................................................................................. IX
Anhang...................................................................................................................... XV
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Die vier industriellen Revolutionen ........................................................... 7
Abbildung 2: Beschäftigung und Umsatz von KMU und Großunternehmen in
Deutschland (2019) .....................................................................................................16
Abbildung 3: Konzept der organisationalen Ambidextrie ..............................................25
Abbildung 4: Business-Model-Innovation.....................................................................26
Abbildung 5: Digital Transformation Engine .................................................................27
Abbildung 6: Digitale Adaptionsfähigkeit von Organisationen ......................................38
Abbildung 7: Digitale Organisationsformen ..................................................................41
Abbildung 8: Entwicklung der Digitalisierungsaktivitäten von KMU im Zuge der Corona-
Pandemie ....................................................................................................................45
Abbildung 9: Digital Organizational Readiness ............................................................69
Abbildung 10: Handlungsbedarf Sandmeir - exclusiv Stahlbau GmbH ........................77
Abbildung 11: Einordnung digitaler Schlüsseltechnologien in Hype-Cycle Modell nach
Garnter ...................................................................................................................... XIX
Abbildung 12: Erschwerende Aspekte für den Einsatz digitaler Technologien .......... XXII
Tabellenverzeichnis VIII
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Größenklassen von Unternehmen ..............................................................15
Tabelle 2: Kraftausprägung der Sandmeir - exclusiv Stahlbau GmbH .........................74
Tabelle 3: Handlungsfelder der Sandmeir - exclusiv Stahlbau GmbH ..........................76
Tabelle 4: Chancen, Hindernisse und Lösungsansätze Cloud Computing .................. XV
Tabelle 5: Chancen, Hindernisse und Lösungsansätze IoT ....................................... XVI
Tabelle 6: Chancen, Hindernisse und Lösungsansätze Blockchain .......................... XVII
Tabelle 7: Chancen, Hindernisse und Lösungsansätze KI ....................................... XVIII
Tabelle 8: Phasen des Hype-Cycle Modells nach Gartner ......................................... XIX
Tabelle 9: Maßnahmen zur Umsetzung der fünf Designprinzipien ............................. XXI
Tabelle 10: Fragen zur Strukturkraft ....................................................................... XXVI
Tabelle 11: Fragen zur Ausbruchkraft..................................................................... XXIX
Tabelle 12: Fragen zur Gemeinschaftskraft ........................................................... XXXII
Einleitung 1
1 Einleitung
Es sind weder die Stärksten einer Art, die überleben, noch
die Intelligentesten. Es sind vielmehr diejenigen, die sich einem
Wandel am besten anpassen können. – Charles Darwin
Durch die Digitalisierung hat die industrielle Revolution bereits ihr viertes „Up-
date“ erhalten. Die sogenannte vierte industrielle Revolution oder auch Industrie
4.0 fordert Agilität von den Unternehmen, um sich der Marktdynamik und dem
immer schneller werdenden (technologischen) Wandel anpassen zu können. 6
Diese Revolution bezieht sich nicht nur auf einzelne Branchen oder Abteilungen.
Um dem digitalen Wandel gerecht zu werden, bedarf es einer auf Veränderungen
ausgerichteten Unternehmenskultur sowie Geschäftsprozesse für eine schnelle
Reaktion.7 Der Umbruch in vielen Branchen bedeutet aber nicht, dass alle Unter-
nehmen mit dieser Entwicklung Schritt halten (können). „Wer sein Unternehmen
in die Zukunft führen will, braucht ein kundenzentriertes, zukunftssicheres Ge-
schäftsmodell, ein kanalübergreifendes Angebot und eine progressive IT, sodass
es sich schnell an neue Marktsituationen anpassen kann.“8 Klassische hierarchi-
sche Strukturen stehen den Unternehmen für eine digitale Transformation im
Weg, da sie nicht mehr ausreichend leistungsfähig und wirksam, sondern zeit-
aufwendig geworden sind. Zum einen verlangt die digitale Wirtschaftsdynamik
eine kurzfristige, kreative und ergebnisorientierte Entwicklung und Umsetzung
benötigter Ideen, Produkte und Dienstleistungen: Lange Entscheidungsprozesse
der hierarchiebasierten Organisationsstrukturen sind dafür jedoch zu träge und
administrativ. Es werden agile und interdisziplinäre Vorgehensmodelle benötigt,
die ein selbstorganisiertes, selbstverantwortliches und hierarchiefreies Arbeiten
der einzelnen Mitarbeiter erlaubt. Diese Eigenverantwortung und Entscheidungs-
kompetenz kann bei erfolgreichen Start-ups, vor allem aus dem Silicon Valley,
beobachtet werden, die auf Innovationen und disruptive9 Geschäftsmodelle set-
zen.10 Zum anderen steht die Verteilung spezialisierter Aufgaben der Transfor-
mation im Weg: Die Unternehmensfunktionen sind der Marktdynamik nicht mehr
Zielsetzung der Masterarbeit ist es, durch eine Framework-Analyse einen Über-
blick über die Natur des digitalen Wandels in Gesellschaft und Wirtschaft zu ge-
ben. Dafür wird diskutiert, wie Unternehmen mit dem Unerwarteten in Form der
disruptiven Zerstörung bekannter Rahmenbedingungen umgehen sollten. Aus
diesem Grund werden sowohl die strategischen Denkmuster digitaler Organisa-
tionen, bezogen auf die digitalen Wirkungen in der Außenwelt als Geschäftsum-
feld einer Organisation, sowie deren Innenwelt, bezogen auf Mitarbeiter und
Arbeitsorganisation, genauer betrachtet. Besonders Unternehmen des verarbei-
tenden Gewerbes, deren Produkte nicht oder noch nicht vollständig der Demate-
rialisierung unterworfen sind, stellen die Rentabilität einer digitalen
Transformation in Frage. Stellvertretend wird eine Potenzialanalyse als Grund-
lage einer solchen Transformation durchgeführt mit dem Ziel, die Herausforde-
rungen und Chancen der Digitalisierung zu verstehen, für ein besseres
Verständnis in einer Case Study aufgezeigt. Dafür werden die Rahmenbedingun-
gen des Familienbetriebs Sandmeir – exclusiv Stahlbau GmbH, das zu den KMU
Die Forschungsfrage zielt darauf ab, KMU des verarbeitenden Gewerbes die di-
gitale Transformation näher zu bringen. Es sollen Herausforderungen aufgezeigt
werden, die auf die Unternehmen zukommen. Dadurch soll die Ungewissheit be-
züglich der Veränderungen und der Relevanz genommen werden. Ebenso erge-
ben sich viele Chancen, die genutzt werden müssen, um in einem dynamischen
Markt überlebensfähig zu sein. Beide Betrachtungsweisen werden für ein über-
greifendes Verständnis der digitalen Transformation innerhalb einer Framework-
Analyse erarbeitet.
Für diese Arbeit wird eine empirische Methode, die Case Study oder auch Fall-
studie, gewählt. Dabei handelt es sich um eine qualitative Forschungsmethode,
die durch detaillierte und ausführliche Untersuchung eines Falls Informationen
sammelt und interpretativ auswertet. Es wird das Ziel verfolgt, ein Thema im De-
tail zu erfassen und zu untersuchen. Dementsprechend geht es weniger um die
Quantität und dafür mehr um die Qualität der Ergebnisse. Der Fall, der in dieser
Thesis bearbeitet werden soll, ist die digitale Transformation der Sandmeir –
exclusiv Stahlbau GmbH, einem KMU des verarbeitenden Gewerbes. Mithilfe ei-
ner Framework-Analyse sollen sowohl Chancen, die durch die digitale Transfor-
mation ergriffen werden, als auch Herausforderungen, die gemeistert werden
müssen, dargestellt werden. Grundlage für die Case Study bildet eine deduktive
Literaturrecherche zur Definition wesentlicher Begriffe sowie der Darstellung des
Prozesses zur digitalen Transformation.14
Demzufolge gilt es in Kapitel 2, die Gesetzmäßigkeiten der vernetzten Wirtschaft
ganzheitlich zu begreifen und Prozesse der digitalen Transformation systema-
tisch zu betrachten. Dafür werden zunächst entscheidende Begriffe definiert: In
Kapitel 2.1 wird auf die Digitalisierung sowie deren Auswirkungen auf die sozialen
und ökonomischen Strukturen eingegangen, bevor in Kapitel 2.2 beschrieben
wird, welche Organisationen den verarbeitenden kleinen und mittleren Unterneh-
men zuzuordnen sind. Daraufhin wird in Kapitel 2.3 der Versuch vorgenommen,
die digitale Transformation als Prozess mit allen Gestaltungsfeldern darzustellen.
Bevor in die Praxis übergegangen werden kann, wird der aktuelle Forschungs-
stand bezüglich der digitalen Transformation von verarbeitenden KMU darge-
stellt.
Nachdem die Theorie und der aktuelle Forschungsstand in Bezug auf die digitale
Transformation von KMU ausreichend dargelegt sind, kann dieses Wissen auf
die Praxis angewandt werden. Dafür wird in Kapitel 3 auf die Herausforderungen
und Chancen der digitalen Transformation eingegangen. Zunächst werden in Ka-
pitel 3.1 die Herausforderungen, die sich aus der Digitalisierung ergeben be-
leuchtet, bevor diejenigen, die sich für alle Unternehmen durch die digitale
Transformation ergeben, dargestellt werden. Daraufhin werden diese auf verar-
beitende KMU angewandt, bevor in Kapitel 3.2 auf die bestehenden Chancen
eingegangen wird. Dafür werden zunächst allgemeine Chancen der digitalen
Transformation dargelegt, um anschließend auf die der KMU des verarbeitenden
Gewerbes einzugehen. Dabei sollen einige Lösungsansätze geboten und die Bri-
sanz einer digitalen Transformation, unabhängig von Wirtschaftszweig und Un-
ternehmensgröße, dargelegt werden. Folgend wird in Kapitel 3.3 eine Case
Study durchgeführt, die anhand einer Framework-Analyse Herausforderungen
und Chancen beleuchten soll. Darauf aufbauend können erste Lösungsansätze
für das Unternehmen in Bezug auf den Umgang mit der Digitalisierung gegeben
werden.
Zuletzt wird in Kapitel 4 ein Fazit gezogen. Dafür wird zunächst die Forschungs-
frage beantwortet, bevor Limitationen der Arbeit dargelegt und die Arbeit kritisch
gewürdigt werden. Abschließend wird ein Ausblick für die Forschung gegeben,
um etwaige Lücken und weiteren Forschungsbedarf aufzuzeigen.
Digitale Transformation von KMU 6
Das Thema der Arbeit lässt sich der Betriebswirtschaftslehre (BWL) als Teilgebiet
der Wirtschaftswissenschaften zuordnen. Diese orientiert sich an der Knappheit
der Güter, welche wirtschaftliches Handeln nötig macht. Inhalte der BWL sind die
Planung, Organisation, Steuerung, Realisierung und Überwachung allen unter-
nehmerischen Handelns. Allgemein gesagt beschäftigt sie sich demnach mit al-
len innerbetrieblichen Teilbereichen eines Unternehmens.15 Da die digitale
Transformation die gesamte Organisation verändert und somit Einfluss auf alle
Teilbereiche des Unternehmens nimmt, kann diese Arbeit der BWL zugeordnet
werden.
Neue digitale Technologien zerstören bestehende normative Wettbewerbs- und
Marktstrukturen, indem sie meist günstigere kreative Innovationen mit sich brin-
gen. Der Ursprung ist weitgehend in Veränderungen gesellschaftlicher Subsys-
teme zu finden. Die immense Veränderungsgeschwindigkeit unserer
Gesellschaft bringt disruptive digitale Innovationen mit sich, die traditionelle Ge-
schäftsmodelle regelrecht zerstören.16 Die neuen Wettbewerbsstrukturen wirken
auf traditionelle Organisationen existenzbedrohend und eröffnen kleinen digita-
len Konkurrenten den Eintritt in den Markt.17 Unternehmen reagieren darauf oft-
mals mit einem Umbau oder Aufbau neuer Geschäftsmodelle, um den
technologischen Neuerungen gerecht zu werden. Auch von traditionellen und
konservativen Unternehmen wird verlangt, sich den disruptiven Entwicklungen
anzupassen. „Alle Maßnahmen aber verbindet die Erkenntnis, dass technologi-
sche Disruption nicht mehr nur durch Anpassung einzelner organisationaler Rou-
tinen bewältigt werden kann.“18 Diesem Handlungsdruck sind alle Unternehmen
ausgesetzt, deren Entscheidungen auch in der sehr dynamischen Umwelt gut
durchdacht und geplant sein müssen.19
Die Welt wird zu einem einzigen Netzwerk – die Gesetzmäßigkeiten der vernetz-
ten Wirtschaft gilt es nun ganzheitlich zu begreifen und die Prozesse der digitalen
Transformation systematisch zu betrachten. Darauf wird in Kapitel 2.3 näher ein-
gegangen. Nun sollen für ein besseres Verständnis die Begriffe Digitalisierung
und verarbeitende KMU definiert werden. Abschließend wird der aktuelle For-
schungsstand dargelegt, um darauf aufbauend die erlernte Theorie in die Praxis
zu überführen.
20 Reinhardt 2020, V.
21 Ebd., 14.
22 Eigene Darstellung in Anlehnung an ebd., 21.
Digitale Transformation von KMU 8
Argumentationsweise lässt sich der digitale Wandel mit der Verbreitung und
Durchdringung digitaler Technologien in der gesamten Gesellschaft und Wirt-
schaft begründen, die sich „in relativ kurzer Zeit dem progressiv wachsenden
technologischen Fortschritt der Digitalisierung anpassen muss“.37
c. Digitale Wirkungen auf den Menschen
Digitalisierung wirkt sich auf die sozialen Strukturen aus und beeinflusst so den
Menschen in seiner Arbeits- und Lebenswelt. Während sich die Halbwertszeit
von statischem Wissen rasant verkürzt, nimmt die Bedeutung von digitalen Kom-
petenzen und Fähigkeiten der Mitarbeiter zu. Diese stehen zusammen mit deren
Entwicklung im Mittelpunkt des unternehmerischen Handelns. Gleichzeitig än-
dern sich die Führungsverhältnisse: Kontrolle und Aufgabendelegation werden
durch kooperative Austauschprozesse ersetzt. Der Mitarbeiter sowie dessen Mo-
tivation und Mobilisierung stehen im Fokus, um durch mehr Freiräume experi-
mentelle Ideen entstehen zu lassen. Dadurch wird eine Trennung von Arbeitsort
und -leistung ermöglicht, die mehr Vertrauen zwischen Mitarbeiter und Arbeitge-
ber verlangt und die Arbeitsgeschwindigkeit beschleunigt, während ein erhöhtes
Produktivitätsniveau gewünscht wird. Demensprechend lösen sich physische Ar-
beitsformen auf und werden von virtuellen Arbeitsorganisationen wie z. B. Netz-
werkorganisationen, Telekooperationen oder virtuellen Teams abgelöst. Diese
leben von digitalen Kollaborationswerkzeugen, die eine neue Form der Zusam-
menarbeit und des Austauschs hervorrufen.38 Doch auch die Art und Weise, wie
Menschen im privaten Umfeld interagieren und sich in der digitalen Gesellschaft
einbringen, ändert sich stark, da technologische Veränderungen alle Facetten
des menschlichen Alltags durchdringen. Dies bildet kein Symptom, sondern stellt
eher die Ursache von Digitalisierung dar. Gerade menschliche Grundbedürfnisse
wie Vertrauen und Sicherheit gewinnen in der digitalen Welt immer mehr an Be-
deutung. Das Individuum wird dabei enorm ermächtigt: Aus Konsumenten wer-
den Prosumenten, die ein Produkt nicht nur als Endverbraucher nutzen, sondern
bereits an dessen Entstehung mitwirken möchten und dementsprechend auch
professionelle Ansprüche an dieses haben. Außerdem verlieren Besitz und Ei-
gentum immer mehr an Bedeutung. An deren Stelle rückt die Sharing Economy,
deren Mittelpunkt die geteilte Nutzung und der Zugang von und zu Ressourcen
ist. Dementsprechend verfeinert sich auch der E-Commerce zu einem Social-
Commerce, dessen Fokus auf Empfehlungen und dementsprechend Kommuni-
kation der Kunden untereinander, der aktiven Beteiligung der Kunden an Produkt
oder Dienstleistung sowie persönlichen Beziehungen liegt. Dazu kommt die Acht-
samkeit der Nutzer gegenüber den digitalen Medien, die dazu führt, dass nicht
mehr jede Nachricht sofort geglaubt, sondern kritisch hinterfragt wird. Für Unter-
nehmen bedeutet dies, dass der Austausch mit den Kunden und die Transparenz
ihnen gegenüber, der Schlüssel zu einer erfolgreichen Beziehung sind.39 Durch
den Einfluss digitaler Technologien ändert sich die Entscheidungslogik der Men-
schen, was sich direkt auf die Routinen und Abläufe innerhalb der Organisation,
in der diese handeln, auswirkt.40
Aufgrund dieser einschlägigen Auswirkungen auf die Gesellschaft und Wirt-
schaft, wird bei der Digitalisierung auch von einem Megatrend gesprochen. Me-
gatrends weisen ein starkes Potenzial für das Management und die strategische
Planung in Unternehmen auf, da sie langfristig ganze Gesellschaften formen und
somit Branchen mit ihren Strukturen, Geschäftsmodellen, Prozessen, Angeboten
und Kommunikationstechnologien zur Neuausrichtung bewegen.41 In der Dyna-
mik des Wandels zeigen sie strategische Perspektiven auf, mit deren Hilfe kon-
krete Fragestellungen zu Zukunftsstrategien beantwortet werden können. Somit
geben sie Sicherheit und Orientierung, indem eine Richtung vorgegeben wird, in
die sich die Gesellschaft sozial, kulturell und wirtschaftlich bewegt. Das Zukunfts-
institut beschreibt Megatrends als „Lawinen in Zeitlupe“, da sie sich zwar lang-
sam entwickeln, aber enorme Auswirkungen auf alle Ebenen der Gesellschaft
haben.42 Megatrends weisen vier zentrale Merkmale auf:43
• Dauer: Ein Megatrend sollte eine Halbwertszeit von mindestens 50 Jahren
aufweisen.
• Ubiquität: Ein Megatrend ist allgegenwärtig und betrifft alle Lebensberei-
che.
• Globalität: Ein Megatrend ist ein weltweites Phänomen, auch wenn er sich
in verschiedenen Regionen und Kulturen unterschiedlich durchsetzt.
• Komplexität: Ein Megatrend ist mehrschichtig, mehrdimensional und ver-
liert seine Dynamik auch durch Wechselwirkungen nicht.
Dabei darf Digitalisierung nicht mit Technologie gleichgesetzt werden: Das heißt
nicht als „rein technologischer, sondern [als] ein soziotechnischer Prozess, in
dem der Mensch eine immer wichtigere Rolle spielt“44, verstanden werden. Den-
noch werden die Impulse aus der Entwicklung der immer neueren digitalen Tech-
nologien gegeben, die im weltweiten Kontext alle Menschen erreichen und so
deren Lebensräume, Lebensweisen und auch ökonomische Arbeitswelten und
die damit verbundenen Regularien verändern.
„Aufgrund dieser ganzheitlichen Veränderungswirkung wird der anhaltende Pro-
zess der digitalen Transformation unserer Gesellschaft zur Determinante aller
Entwicklungen – die Neudefinition unserer Welt findet unter dem Vorzeichen der
Digitalisierung statt.“45
Durch den starken Einfluss der Digitalisierung auf die Umwelt kann von einem
Megatrend gesprochen werden. Die Zukunft von Menschen, Organisationen und
Gesellschaften wird so nachhaltig von ihr geprägt, dass Veränderungsprozesse
in allen Lebensbereichen stattfinden.46 Organisationen durchleben damit einen
Wandel, der alle Bereiche betrifft und bestehende organisatorische Routinen neu
bewertet. Voraussetzung eines erfolgreichen Umbruchs ist ein ganzheitlich-sys-
tematisches Verständnis dieses Wandels. Dabei müssen alle Aspekte der Digi-
talisierung – technologische, soziale wie auch kulturelle – erfasst werden, um
digitales Handlungspotenzial zu erkennen und zu aktivieren.47 Unternehmenser-
folg tritt demnach dann ein, wenn geschlossene Silos abgebaut werden und ein
reger Austausch mit der Umwelt entsteht. Zukunftsfähige Geschäftsmodelle, In-
novationen und wegweisende Arbeits- und Produktionsprozesse sind nicht mehr
nur Start-ups aus dem Silicon Valley vorbehalten. „Unter vernetzten Vorzeichen
sind diejenigen Unternehmen erfolgreich, die sich über ihr offenes Ökosystem
definieren, über die Lern- und Entwicklungsfähigkeit des gesamten Systems, das
von seinem Austausch mit der Umwelt lebt.“48 Die Digitalisierung wirkt sich offen-
sichtlich stark auf die Arbeitswelt aus, was sowohl Chancen als auch Herausfor-
derungen mit sich bringt. Zunächst soll jedoch eine Definition von verarbeitenden
KMU erfolgen, um den Betrachtungsbereich besser verstehen zu können.
Wie in Abbildung 2 dargestellt, beschäftigen KMU mit 56,3% (2019) mehr als die
Hälfte aller Arbeitstätigen und haben mit 29,4% (2019) einen entscheidenden An-
teil am Gesamtumsatz in Deutschland.58 Dabei ist das verarbeitende Gewerbe
der sechst größte Wirtschaftszweig59 für KMU.60
Abbildung 2: Beschäftigung und Umsatz von KMU und Großunternehmen in Deutschland (2019)61
systematisch geplanten Wandel verändert. Ziel davon ist die Steigerung der Leis-
tungsfähigkeit der Organisation sowie die persönliche Entfaltung der Akteure.
Dafür wird eine Beteiligung möglichst aller Organisationsmitglieder am Verände-
rungsprozess für maximalen Erfolg angestrebt.66 Die Digitalisierung wandelt auch
das Leitbild von Organisationen und wird somit zur Hauptaufgabe der Unterneh-
mensführung. Dabei steht die effiziente Nutzung digitaler Technologien zur Ver-
änderung der Organisation im Mittelpunkt. Durch den Einfluss der Digitalisierung
müssen Unternehmen schneller, anpassungsfähiger, innovativer, kommunikati-
ver und flacher organisiert sein, um dem Wandel standhalten zu können. Diese
Einflüsse stellen vor allem Verschmelzung digitaler und physischer Organisati-
onsstrukturen, hierarchielose Netzbildung, digitale Wissens- und Vertrauens-
strukturen sowie invasive Auswirkungen neuer Technologien dar.67 Der dadurch
entstehende disruptive Wandel verlangt nach einem Umbruch im Organisations-
verständnis, da hier zumeist eine Diskrepanz zwischen Altem und Neuem wahr-
zunehmen ist.
Reinhardt (2020) definiert aufgrund einer Vielzahl an Ansätzen zur digitalen
Transformation aus der BWL und den Technologie- sowie Sozialwissenschaften
folgende Hauptziele der digitalen Organisationsentwicklung:68
• Produktivitäts- und Wirtschaftlichkeitsziel: Durch den Einsatz digitaler
Technologien sollen neue Geschäftsfelder erschlossen und Herstellungs-
sowie Vertriebskosten gesenkt werden. Die Kostensenkung führt zu einer
höheren Nachfrage, wodurch mehr Arbeitskräfte benötigt werden. Dies
führt wiederum zu einer höheren Produktivität.
• Erneuerungs- und Innovationsziel: Durch den Einsatz digitaler Technolo-
gien kann die Organisation erneuert werden. Dadurch ändern sich z. B.
auch Produkte, Prozesse, Marktangebote, Wertversprechen und Ge-
schäftsmodelle.
• Sozialisierungs- und Antizipationsziel: Die Akteure müssen sich an die zu-
künftigen Umweltentwicklungen anpassen, vorausschauend handeln und
zukunftsorientiert entscheiden. Für den Umgang mit der aus Komplexität
und Dynamik entstehenden Unsicherheit müssen Kompetenzen und Fä-
higkeiten entwickelt werden.
Die digitale Binnenkomplexität ist ein „Ausdruck aus der Systemtheorie, der stell-
vertretend für die Varietät und Vielfalt der Möglichkeiten eines Unternehmens
steht, [um] Austauschbeziehungen mit anderen Marktakteuren über digitale
Wege oder mittels des Einsatzes digitaler Technologien herzustellen.“71 Sie bildet
eine fundamentale Grundlage zur Identifikation der digitalen Reife eines Unter-
nehmens. Auf ihr aufbauend können digitale Vision sowie Digitalstrategie formu-
liert werden.
a. Digitale Reife
Dieser Reifegrad wird als beeinflussbare Variable verstanden, die mithilfe einer
Vielzahl an Modellen gemessen werden kann. Zumeist reduzieren Reifegradmo-
delle die digitale Binnenkomplexität auf wenige Einflussgrößen, wie z. B. Investi-
tionen in digitale Technologien und Aufbau von digitalen Führungskompetenzen,
was an der Wiederspiegelung der Interaktion eines Unternehmens mit der Um-
welt zweifeln lässt. Aus Vorangegangenem ist ersichtlich, dass diese technokra-
tische Business-Case-Perspektive nicht zu langfristigem wirtschaftlichem Erfolg
führt, da sie im Kontext der Digitalisierung zu kurz greift. Zudem sind Reifegrad-
modelle zumeist sehr formalisiert und eher auf größere Unternehmen zugeschnit-
ten.72
Allen Modellen geht zunächst eine Analyse des Wachstumspotenzials von Un-
ternehmen voran. Dabei werden Chancen und Risiken der Digitalisierung, die auf
Organisationen zukommen, betrachtet sowie das Potenzial, mit diesen umzuge-
hen. Eine Potenzialanalyse, die von Kugler und Anrich (2018) für KMU entwickelt
wurde, ist die Alchimedus®-Potenzialanalyse Digital Transformation 4.0 KMU.
Dabei werden mithilfe der Beantwortung von 20 Fragen in den Bereichen Werk-
zeug, Inspiration und Mensch Erfolgsfaktoren und Herausforderungen der digita-
len Transformation für Unternehmen abgeleitet. Als Werkzeug wird die
Strukturkraft bezeichnet, die Kontrolle, Prozesse, Methoden und planerisches
Handeln analysiert. Dadurch werden die Risikoanfälligkeit, Belastbarkeit und Si-
cherheit der Struktur sowie der Prozesse der Organisation darstellt. Unter Inspi-
ration fallen sowohl Strategien und Ziele als auch Markenauftritt, Innovationskraft
und Kreativität, die den Wiedererkennungswert und das Alleinstellungsmerkmal
eines Unternehmens widerspiegeln. Zuletzt ist der Mensch sowie dessen Enga-
gement, Bindung, Werteorientierung und Kommunikation zu betrachten. Ver-
trauen, gute Kommunikation, Corporate Social Responsibility sowie Authentizität
sind Erfolgsfaktoren für ein digitales Unternehmen und deshalb wichtiger Be-
standteil der Analyse.73 Grundlage des Modells bilden mehr als 180 Studien,
45.000 Unternehmensanalysen und 10.000 Unternehmensinterviews, die von
Kugler und Anrich (2018) durchgeführt wurden.74 Eine genauere Betrachtung der
Fragen sowie eine Durchführung finden in der Case Study in Kapitel 3.3 zur Iden-
tifikation der Herausforderungen und Chancen des Fall-Unternehmens statt.
b. Digitale Vision
Auf dieser Grundlage kann eine digitale Vision für das zu transformierende Un-
ternehmen entwickelt werden. Die Vision bildet die Grundlage für unternehmeri-
sches Handeln, aus der im späteren Verlauf konkrete Strategien, Ziele und
Maßnahmen abgeleitet werden. „Organisationsentwickler haben herausgefun-
den, dass Unternehmen langfristig erfolgreicher sind, wenn sie über eine kon-
krete und authentische Vision verfügen.“75 Schriftlich fixiert kann die Vision die
Kaufentscheidung von Kunden beeinflussen oder auch Mitarbeiter intrinsisch mo-
tivieren und bildet somit die Basis einer agilen Unternehmenskultur.76 Besonders
in einem Zeitalter voller Dynamik gibt die Vision ein klares Bild über die digitale
Zukunft für die Stakeholder des Unternehmens. „Zentraler Ausgangspunkt für
alle weiterführenden Überlegungen muss es also sein, eine unternehmerische
Vision abzuleiten, die das bestehende Wissen über Chancen und Risiken der
Digitalisierung in ein erfolgreiches Handeln integriert.“77 Dabei hat die Vision drei
Funktionen:78
• Identitätsfunktion: Formulierung einer richtungsweisenden Vision, an der
sich Mitarbeiter längerfristig orientieren können.
• Identifikationsfunktion: Formulierung einer sinnstiftenden Vision, die dem
Mitarbeiter die Sinnhaftigkeit seines Handelns aufzeigt, um das Zugehö-
rigkeitsgefühl zum Unternehmen zu steigern.
• Mobilisierungsfunktion: Formulierung einer anregenden Vision, die zur
Verfolgung eines gemeinsamen Zukunftsbilds durch ein Ziel anregt.
Digitale Visionen fokussieren die fortwährende Neuausrichtung der Customer Ex-
perience sowie des Wertversprechens des unternehmerischen Leistungsange-
bots und damit auch die Optimierung operationaler Prozesse und
Geschäftsmodelle. Unternehmen müssen prüfen, ob strategische Werte und un-
ternehmenseigene Stärken auch in Zukunft noch erfolgsbringend sind. Demnach
kann es in manchen Organisationen sogar sinnvoll sein, den Unternehmens-
zweck zu hinterfragen und damit die Unternehmens-DNA weiterzuentwickeln
oder neu auszurichten. Ausgangspunkt einer solchen fundamentalen Verände-
rung sind individuelle Chancen und Risiken der Digitalisierung.79
c. Digitalstrategie
Ist die digitale Vision formuliert, kann eine entsprechende Strategie formuliert
werden. Die veränderte strategische Ausrichtung von Organisationen ist ein
wichtiges Gestaltungsfeld der digitalen Transformation, da Maßnahmen zur Er-
reichung gesetzter Ziele an dieser ausgerichtet werden. Ging es einst um das
Selektions-Prinzip, als das „Überleben des Stärksten“ im Markt, rückt nun das
Vererbungs-Prinzip im Sinne der Übertragung sozialer Charakteristika der Orga-
nisationsmitglieder von der alten in die neue Generation in den Mittelpunkt der
strategischen Betrachtung. Dabei geht es darum, diese zu erkennen, zu kodifi-
zieren und zu übertragen. Die Unternehmensstrategie muss so ausgerichtet sein,
dass sich Charakteristika den neuen Bedingungen anpassen können. Dabei han-
delt es sich um eine komplexe Transformation, um erfolgreich mit der Umwelt
interagieren zu können und sich ihr zu öffnen. Die Förderung von Methoden und
Vorgehensweisen sind z. B. Kooperation, Zusammenarbeit oder Durchlässig-
keit.80 Dennoch sehen viele Unternehmen den Sinn einer Strategie immer noch
darin, strategische Ziele und Zwecke zu formulieren, Ressourcen effektiv und ef-
fizient einzusetzen und zu verteilen sowie in der Koordination der Entscheidung
zum Einsatz dieser Ressourcen. Die digitale Transformation verlangt jedoch
nach Kernkompetenzen, Fähigkeiten und sozialen Erbanlagen. Digitale Ge-
schäftsstrategien und -modelle bieten Orientierung für die Entwicklung von Un-
ternehmen.81
Bharadwaj, El Sawy, Pavlou et al. (2013) fassen drei Aspekte digitaler Strategien
zusammen:82
• Scope und Reichweite: Digitalstrategien sind funktionsübergreifend und
können auch als Querschnittsstrategien bezeichnet werden. Diese besit-
zen die Eigenschaft, einzelne funktionsbezogene Strategien, Programme,
Projekte oder Initiativen zu bündeln und zu instrumentalisieren. Durch eine
übergreifende Strategieformulierung wird eine integrative Wirkung der
operativen Umsetzung bewahrt.83
• Skaleneffekte: Durch den technologischen Wandel fällt die Limitierung
durch physische Produktionsfaktoren beinahe gänzlich weg. Es entstehen
(fast) rein digitale Geschäftsmodelle, die sich auf weltweit verfügbaren di-
gitalen Infrastrukturen schnell und kostengünstig, unabhängig von der
Unternehmen, die sehr unter dem Druck der digitalen Transformation stehen, re-
agieren oft radikal, indem sie das bisherige Kerngeschäft bzw. die organisatio-
nale Identität disruptieren. Ursache dafür kann die irrtümliche Auffassung sein,
ein digitales Geschäftsmodell sei wichtiger als die Verhaltensveränderung der
Akteure eines Unternehmens. Das bisherige Geschäftsmodell wird gänzlich auf-
gegeben, um sich radikal neu aufzustellen. Dieses Vorhaben droht meist auf-
grund von Fehleinschätzung der strategischen Situation zu scheitern, wenn sich
das digitale Geschäft nicht wie geplant entfaltet.
a. Digitales Geschäftsmodell
Digitale Geschäftsmodelle basieren weitestgehend auf digitalen, nicht-physi-
schen Ressourcen.87
„Ein digitales Geschäftsmodell ist ein unternehmensstrategisches Konzept, das
ergänzend zur langfristigen geschäftlichen Vision einer Organisation beschreibt,
wie durch die Nutzung der Möglichkeiten der Digitalisierung ein neuer Wettbe-
werbsvorteil aufgebaut werden kann.“88
Demnach geht es weder darum, neue Technologien zum Kerngeschäft hinzuzu-
fügen oder zu ersetzen, noch diese zu entwickeln, sondern vielmehr um den kom-
plexen und nuancierten strategischen Umbau einer Organisation sowie das
Verstehen und Benutzen digitaler Technologien. Eine Veränderung des Unter-
nehmenskerns ist nur dann sinnvoll, wenn das bisherige Geschäftsmodell gänz-
lich unterbrochen ist.89 Eine Lösung, wie sowohl das Kerngeschäft beibehalten
als auch eine digitale Transformation durchgeführt werden kann, bietet die orga-
nisationale Ambidextrie. Dabei werden vorhandene Kompetenzen genutzt, um
neue Möglichkeiten zu erschließen und das Geschäftsmodell effizient und zu-
kunftsbezogen zu managen. Um diesen Umbau der Organisation durchführen zu
können, werden, wie in Abbildung 3 dargestellt, zweiseitige Fähigkeiten benötigt.
Exploration schließt alle Methoden mit ein, die den Aufbau und Einsatz neuer
Fähigkeiten begünstigen. Somit sollen im Unternehmen neue Wege der digitalen
Transformation verfolgt werden, indem alte Gewohnheiten infrage gestellt und
Synergien zwischen bestehenden und neuen Routinen gefunden werden. Re-
kombination und Experimentierfreudigkeit helfen dabei, neues Wissen zu gewin-
nen und vorhandenes zu erweitern. Auf der anderen Seite sollen durch die
Exploitation das Kerngeschäft erhalten bleiben und gleichzeitig bestehende Kom-
petenzen verfeinert und vertieft werden. Außerdem besteht ihr Kern darin, vor-
handenes Wissen zu verbreiten, zu materialisieren und zu monetarisieren.90 Das
Bewusstsein für die digitale Ambidextrie kann die radikale Abkehr vom Kernge-
schäft überwinden, um eine digitale Transformation zu ermöglichen. Als motiva-
tionale und kognitive Voraussetzung wird die Kreation neuer Rollenidentitäten
und -zuordnung gesehen mit dem „Selbstverständnis […], auch Neues wagen zu
dürfen, neue Überzeugungen annehmen zu können und sich neu Verhalten zu
dürfen.“91 Dafür muss den Akteuren einer Organisation die Möglichkeit gegeben
werden, neue Fähigkeiten zu erwerben, um sich im Sinne der Ambidextrie ver-
halten zu können.92
Abbildung 4: Business-Model-Innovation94
nehmen einen starken Einfluss auf die Unternehmenskultur, weshalb unter an-
derem auf diese beiden Felder anschließend eingegangen wird. Aber auch die
Implementierung der richtigen (Infra-)Struktur ist Kernkompetenz eines erfolgrei-
chen digitalen Unternehmens. Dabei sind sowohl Prozesse als auch Strukturen
der Organisation sowie integrierte Technologien entscheidend. Besonders auf
das Design der Digitalorganisation wird in Kapitel 2.3.3 eingegangen.
Zunächst wird jedoch der digital Customer, der sowohl im Zentrum der BMI als
auch der inkrementellen Transformation steht, genauer betrachtet.
b. Digital Customer
zum Kauf oder einer anderen angestrebten Interaktion wird Customer Journey
genannt, woraus sich ein Kundenerlebnis (Customer Experience) ergibt. 101 Der
Konsument möchte dafür in Echtzeit seine Bedürfnisse interaktiv, mehrdimensi-
onal und personalisiert über die verschiedenen Marketing-, Kommunikations- und
Vertriebskanäle hinweg befriedigt wissen und somit ein Teil der Unternehmens-
welt werden. Mithilfe von Digital Customer Experience Management kann dies
ermöglicht werden, indem durch digitale Technologien und neue Analysetechni-
ken dem Kunden individuelle Vorschläge angeboten werden. Durch die gewon-
nenen Daten können Bedürfnisse erkannt und Prognosen über das
Kundenverhalten erlangt werden. Somit sind ein individuelles Produkt- und Ser-
viceangebot sowie eine effektive Marketingkampagne möglich.102 Denn eine di-
gitale Produkt- und Serviceindividualisierung, auch bekannt unter dem Begriff
kundenindividuelle Massenproduktion, rückt immer mehr in den Fokus des Pro-
duktionsprozesses. Dabei werden bei der Produktion die Bedürfnisse des einzel-
nen Nutzers durch den Einsatz computergestützter Fertigungssysteme
berücksichtigt, um kundenspezifische Ergebnisse zu erzeugen. Wie die Bezeich-
nung vermuten lässt, geht es um eine Massenproduktion (große Stückzahlen)
bei gleichzeitiger Produktindividualisierung (geringe Stückzahlen). Die individu-
elle Datenerfassung und -analyse ermöglicht dies und bietet dem Konsumenten
so ein persönliches Kundenerlebnis. Digitale Unternehmen setzen daher Co-Cre-
ation ein: Externe Beteiligte, wie z. B. Kunden oder Handelspartner, werden in
Projekt- oder Produktgestaltungen miteinbezogen. Somit wird die Organisation
nicht nur transparenter, sondern die Konsumenten beteiligen sich bereits am Ent-
stehungsprozess und damit an der Wertschöpfung der Leistung. 103 Dieses Phä-
nomen wird vermehrt als Empowered customer bezeichnet – ein mündiger,
informierter und anspruchsvoller Kunde, der neue Unternehmensstrukturen, -pro-
zesse und -abläufe verlangt. Dabei rückt die kundenzentrierte Organisation im-
mer mehr in den Mittelpunkt. Sie versucht innerhalb der Kundeninteraktion
Wissen über die Kunden zu gewinnen und dieses Wissen für die Organisation
verfügbar zu machen. Diese Struktur erlaubt die Entwicklung dynamischer Fä-
higkeiten, um sich schnell an dynamische und digitalisierte Veränderungen an-
passen zu können. Darüber hinaus können so Wissensstrukturen innerhalb der
Organisation verankert werden.104
Reinhardt (2020) erwähnt: „Führung ist als ein ausdifferenzierter und spezialisier-
ter sozialer Prozess zu verstehen, der auf mehrere Personen verteilt ist.“114 Es
findet ein Perspektivwechsel von einer personifizierten und verhaltensbasierten
hin zu einer systemischen und sozialen Führung statt. Darüber hinaus sind Pro-
zesse, Abläufe, Verantwortlichkeiten, Kooperationen, Kommunikation und Füh-
rungsaufgaben nicht mehr dauerhaft. Durch diese temporäre Sichtweise werden
Strategien schneller entwickelt und umgesetzt, wodurch auch schnellere Ergeb-
nisse erzielt und Strukturen abgebaut werden. Auf diese Weise entsteht der
höchste Flexibilisierungsgrad.115 Zum Aufbau dieser Kompetenzen empfiehlt sich
ein dynamisiertes Kompetenzmodell, bei dem die zu vermittelnden Kompetenzen
in einem systematisierten Ansatz beschrieben und in die Führungskräfteentwick-
lung integriert werden. Somit werden die Kompetenzen automatisch mit der Un-
ternehmensstrategie, den Unternehmenswerten, der digitalen Vision sowie der
Personalstrategie verbunden. Es existiert bereits eine Vielzahl digitaler Kompe-
tenzmodelle, die alle wichtigen Kompetenzanforderungen aufführen und die Per-
sönlichkeit der Führungskraft integrieren. Welche Kompetenzen in einem solchen
Modell gebündelt werden, muss jedes Unternehmen auf Grundlage der eigenen
digitalen Vision entscheiden.116
Das Modell der Organisationskultur muss für einen solchen Kompetenzaufbau in
vielen Unternehmen neu durchdacht werden. Führungskräfte haben darauf mit
ihrem Führungsverhalten einen großen Einfluss. Dieses beschreibt bewusste
und unbewusste Maßnahmen einer leitenden Person zur Mitarbeitermotivation
und Sinngebung der gemeinschaftlichen Arbeit in der Organisation. Daher beein-
flusst es nicht nur Mitarbeiter, sondern auch die Zusammenarbeit, das Wertesys-
tem sowie die Einstellung der Mitarbeiter gegenüber der Digitalisierung. 117
Dadurch entsteht ein Digital Mindset: Das Verständnis der Digitalisierung sowie
eine positive und vorausschauende Einstellung ihr gegenüber. Eine Innovations-
kultur, die den Mitarbeitern mehr Spielräume schafft und sie nach dem Motto
think outside the box experimentieren lässt, ist ausschlaggebend für eine digitale
Transformation.118 Die neue risikobehaftete Umweltsituation – geformt von der
Digitalisierung – macht eine Kultur der Risikoakzeptanz unumgänglich. Mitglieder
der Organisation müssen sich in dieser so wohl fühlen, dass sie Neues
ausprobieren, ohne Angst vor dem Scheitern haben zu müssen. Eine Fehlerkul-
tur und Risikokultur im Führungskader ist demnach Voraussetzung, um diese
auch auf Mitarbeiterebene zu etablieren. Dafür müssen Führungskräfte ihre Ver-
haltensweisen anpassen und zum risikoaffinen Leader werden, um Risiken recht-
zeitig erkennen zu können: Sie fördern Fehler, ohne dass Mitarbeitern negative
Konsequenzen drohen.119 Der Fokus des digitalen Zeitalters liegt auf der Kultur:
Culture eats Strategy – Früh und damit günstig Fehler zu machen fördert eine
Lernkultur, die die Herausforderungen der Digitalisierung antizipiert und durch
die Chancen genutzt werden können.120
d. Digitale (Infra-)Struktur
Innerhalb dieser Arbeit wird mehrfach die Dringlichkeit der Anpassung aller Pro-
zesse eines Unternehmens dargelegt, um der durch die Digitalisierung entste-
henden Dynamik gerecht zu werden. Dabei sind es nicht ausgewählte, sondern
alle strategischen, taktischen und operativen Unternehmensprozesse, die einer
Verschlankung bedürfen, da starre und traditionelle Prozesse den agilen Metho-
den der Digitalisierung nicht mehr gerecht werden. Während der digitalen Trans-
formation werden nicht mehr benötigte Prozesse deshalb ersetzt, erneuert oder
ganz entfernt. Einen besonders starken Einfluss auf dieses Phänomen haben
digitale Technologien. So wie die digitale Transformation ohne digitale Techno-
logien nicht denkbar ist, ist das Beherrschen genau dieser ein entscheidender
Gestaltungsbereich für digitale Organisationen. Sowohl für Produkte und Dienst-
leistungen als auch für die Unternehmensprozesse ist neue Technologie ein
wichtiger Erfolgsfaktor, um den Kundenwert zu steigern und mehr Effizienz zu
erzielen. Reinhardt (2020) beschreibt technologischen Fortschritt sogar als eine
wichtige Ursache für Wirtschaftswachstum.121 So ist es nicht verwunderlich, dass
die Entwicklung digitaler Technologien auch die Digitalisierung der Organisation,
die sich in digitale Infrastruktur und digitale Anwendungen unterteilen lässt, be-
schleunigt. Durch Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglicht die
digitale Infrastruktur erst digitale Anwendungen. Dabei lassen sich hybride Infra-
strukturen, die traditionelle physische Infrastrukturen mit digitalen Komponenten
beschreiben, von dedizierten digitalen Infrastrukturen, die gänzlich aus digitalen
Komponenten bestehen, unterscheiden. Digitale Anwendungen hingegen sind
Softwareprogramme, die bestimmte nützliche Aufgaben als Mehrwert ausführen.
Sie werden z. B. von einem Computer, einer mobilen Vorrichtung, einem Tablet
Phasen werden in Anhang 2 zusammen mit den oben genannten vier großen
Technologien des digitalen Zeitalters dargestellt.
Um die Digital Transformation Engine zu komplettieren, muss die Organisations-
struktur näher betrachtet werden. Dies geschieht im folgenden Kapitel. Ein be-
kanntes Modell zur Implementierung der Engine ist das Business Model Canvas,
das alle wichtigen Aspekte eines Geschäftsmodells beinhaltet. Durch die Visua-
lisierung der Handlungsfelder „ist es möglich, das Geschäftsmodell übersichtlich
zu skizzieren, im Team weiterzuentwickeln und durch kreatives
Auseinandersetzen mit dem Modell auch völlig neue Ansätze zur Realisierung
von Geschäftsmodell-Innovationen zu erzeugen.“134 Dabei werden sowohl die
Ressourcen eines Unternehmens als auch die marktgerichtete Geschäftslogik für
eine Balanced-Based View betrachtet.135 Um den Rahmen der Arbeit nicht zu
sprengen, wird nicht näher auf das Business Model Canvas eingegangen.
Disruption: Der disruptive Wandel ist ein schleichender Prozess, der ein Ge-
schäftsmodell oder einen Markt durch eine technologische Innovation ablöst. Im
Gegensatz zu normalen Innovationen ist dieser ungeplant. Somit werden beste-
hende Strukturen, Denkweisen oder Kulturen und nicht nur Technologien zer-
stört. Dass die Disruption sowohl Chancen als auch Risiken mit sich bringt, wird
in Kapitel 3.1 und 3.2 weiter beleuchtet.
Dynamik: In Bezug auf die digitale Transformation beschreibt Reinhardt (2020)
die Dynamik als „Begriff, der eine von innen aus der Organisation heraus entwi-
ckelte, auf Veränderungen ausgerichtete zielstrebige Kraft […], der aus dem Sys-
tem der Organisation selbst entspringt.“142 Auch als dynamische
Fähigkeitsentwicklung bezeichnet, stellt dieses Designprinzip die Transparenz
vorhandener und Akquisition neuer Fähigkeiten dar. Dadurch können strategi-
sche Routinen so verändert werden, dass neue Ressourcenkombinationen ent-
stehen. Dies passiert durch eine dynamische Vernetzung der Fähigkeiten
anhand von Lernprozessen, sowohl menschlicher als auch künstlicher Art (z. B.
Zusammenspiel von künstlichen und menschlichen Intelligenzen).143
Adaptivität: Adaptive Unternehmen können ihre Handlungs- und Aktivitätsstruk-
turen an die Präferenzen des jeweiligen Nutzers, aufgrund von Interaktionsdaten,
anpassen. Benutzer- und Lernfreundlichkeit erlauben situationsadäquates Han-
deln und die schnelle Entwicklung von Problemlösungen. Durch den Aufbau von
Adaptivität entsteht eine Hyperkomplexität mit einer besonders hohen Binnendif-
ferenzierung. Dadurch ist das Unternehmen in der Lage, schnell Störungen und
Umwelteinflüsse durch ihre strukturelle Variationsbreite und Vielfalt an Reakti-
onsmöglichkeiten zu bewältigen. Strukturen werden ständig angepasst und aus-
gebaut, um das Überleben zu sichern. Jedoch ist die Steuerung solcher Systeme
durch den großen Möglichkeitsraum und die Erfassung der daraus entstehenden
Folgen erschwert.144
Dem Anhang 3 ist eine beispielhafte Liste angefügt, die mögliche Maßnahmen
zur Umsetzung der fünf Designprinzipien beschreibt. Während Unternehmen
diese Designprinzipien in die Organisation integrieren, helfen verschiedene Or-
ganisationsformen als „Zwischenschritte“ dabei, sich zu einer vollwertigen Digi-
talorganisation zu bilden. Diese sind in Abbildung 7 dargestellt und werden folgend
kurz beschrieben.
demnach den Aufbau spezifischer Fähigkeiten der Digitalisierung bei den Mitar-
beitern. Die Vorteile dieser operativen Variante sind die Umsetzung der Strategie
innerhalb einer kontrollierten Umgebung sowie die Minimierung von Fehlerkos-
ten. Jedoch ist es ein langwieriger Prozess, Fachwissen aufzubauen, und dar-
über hinaus mangelt es häufig an Kreativität und Skalierungsmöglichkeiten. Ein
Beispiel für Core Extension sind Intrapreneurship-Programme, wo Mitarbeiter
von den eigentlichen Aufgaben entbunden werden, um sich mit der Digitalisie-
rung zu beschäftigen.151
Demgegenüber steht der Greenfield-Ansatz, bei dem neben dem Kerngeschäft
ein gleichwertiges digitales Geschäftsmodell gegründet wird, das später dabei
hilft, das Kerngeschäft in das Digitalgeschäft zu überführen. Durch diesen Ansatz
kann die Umsetzung der Digitalstrategien schneller erfolgen und es entstehen
weniger Kosten für das Anlernen bisheriger Mitarbeiter, da für das digitale Ge-
schäftsmodell Experten rekrutiert werden. Jedoch kommt es oftmals zur Abwehr-
reaktion gegenüber dem neuen Modell, da es zwangsweise zum Teil zur
Kannibalisierung bestehender Geschäftsfelder kommt.152 Ein Beispiel ist das
Corporate Venture Building, bei dem spezielle Dienstleister den Aufbau des digi-
talen Geschäftsmodells durchführen und später in die Kernorganisation überfüh-
ren. Eine weitere Möglichkeit sind Digital Labs, Accelerators oder Inkubators, die
jeweils als Suborganisationen aufgebaut werden. Die Organisation stellt dabei
Strukturen und Ressourcen für Gründer oder Ideengeber zur Verfügung, um sys-
tematisch Ideen bis zur Marktreife zu entwickeln.153
Welcher Weg der richtige für eine Organisation ist, hängt von den Zielen ab. Grö-
ßere Unternehmen haben, im Gegensatz zu KMU, die Möglichkeit, mehrere
Wege gleichzeitig einzuschlagen. Um bei der digitalen Transformation nicht zu
scheitern, sind eine genaue Festlegung der strategischen Ziele, dynamisches
Denken im Top-Management, flexible Formen der strategischen Anpassung und
Planung sowie der Aufbau einer Lernkultur unerlässlich.154
Ein jeder digitale Transformationsprozess muss laufend von Controlling-Syste-
men begleitet werden, um das Scheitern eines Digitalisierungsvorhabens zu ver-
meiden. Zudem ist dieser Prozess nicht abschließend zu betrachten. Sobald die
Implementierung vollzogen ist, müssen digitale Herausforderungen erneut ana-
lysiert und im Kontext des Unternehmens betrachtet werden.
155 „It means the enterprise of the future can meet its computer needs in a new and scalable way by popu-
lating its organization with personal computers that, when needed, can work in uni son to crunch on com-
putationally intensive problems. Computers will literally work both for individuals and for groups. I see the
same decentralized mind-set growing in our society, driven by young citizenry in the digital world. The tra-
ditionalist centralist view of life will become a thing of the past“. Negroponte 1995, 67 f.
156 Vgl. Reinhardt 2020, 2.
157 Vgl. Kreutzer/Neugebauer/Pattloch 2017, 8 ff.
Digitale Transformation von KMU 45
Abbildung 8 zeigt, dass die Anzahl der KMU, die im Zuge der Pandemie Digitali-
sierungsaktivitäten gesteigert oder aufgenommen haben, um 10% gestiegen ist,
wenngleich die Mittelständler, die weiterhin keine solchen Aktivitäten durchfüh-
ren, ebenfalls bei 33% liegen, damit aber um 3% gesunken sind. Darunter sind
es vor allem die Unternehmen, die spürbar, wenn auch nicht existenziell von der
Pandemie betroffen sind, die die Digitalisierung vorantreiben. Demgegenüber ha-
ben existenziell betroffene KMU kaum Digitalisierungsaktivitäten durchgeführt,
was der ohnehin schlechten finanziellen Lage zuzuschreiben ist.164 Damit ver-
schärft sich die Spaltung zwischen kleinen und großen Unternehmen sowie For-
schungs- und Entwicklungstreibenden KMU und die ohne eine solche Abteilung.
Kurzfristig geplante Maßnahmen, die während der Pandemie eingeführt wurden,
müssen in strategische Digitalisierungsvorhaben übersetzt werden, um Chancen
wie Flexibilität, Initiative und Unternehmergeist langfristig zu sichern und weiter-
zuentwickeln. Herausforderungen, die auf KMU laut des KfW Mittelstandspanel
zukommen, sind:165
• Liquiditätslage und während der Krise gestiegener Verschuldungsgrad
• Zielkonflikt zwischen stärkerer Krisenfestigkeit und Wettbewerbsfähigkeit
• Behinderung des Digitalisierungsvorhabens durch fehlende Fachkräfte
und IT-Knowhow
• Lückenhafte Infrastruktur in Deutschland
• Datenschutz und -sicherheit als Hindernis aufgrund fehlenden Knowhows
und europäischer Dimension
Vor allem das verarbeitende Gewerbe investierte im Jahr 2019 mit 56,9 Tsd. €
am meisten finanzielle Mittel von allen KMU in Deutschland in die Digitalisierung.
Diese Ressourcen finden sich vor allem in IT-Strukturen und neuen Anwendun-
gen, gefolgt von der Digitalisierung des Kontakts zu Kunden und Zulieferern wie-
der. Aber auch die Verknüpfung der IT zwischen den Funktionsbereichen wird
von fast der Hälfte der KMU des verarbeitenden Gewerbes durchgeführt. Ferner
investieren 39% in digitale Marketing- und Vertriebskonzepte. Ein Aufbau von
Knowhow oder die Reorganisation von Workflows wird nur von ca. einem Drittel
umgesetzt. Lediglich 16% der verarbeitenden KMU investieren in die Digitalisie-
rung von Produkten und Dienstleistungen, was vor allem der Beschaffenheit die-
ser zugeschrieben werden kann.166
Aufgrund des stark wachsenden Netzwerks wird immer mehr Menschen der Zu-
gang zum Internet gewährt. Unterstützt wird dies durch die sinkenden Kosten der
dafür notwendigen Hardware. Aber nicht nur der Zugriff zur Technik, sondern
auch die Steuerung wird immer mehr vereinfacht. Sprach- oder Gestensteuerung
erleichtern die Benutzung von Hardware und machen diese immer menschen-
ähnlicher. Durch die Kombinatorik können Daten nach Bedarf in Echtzeit ausge-
wertet werden (z. B. Google Maps mit Navigationssystem).167 Dieser Raum an
Möglichkeiten muss von Unternehmen genutzt werden, um die Chancen der Di-
gitalisierung ergreifen zu können. Das Problem: „Unternehmenslenker und damit
Unternehmen sind häufig erst dann bereit, sich zu ändern, wenn Krisen bereits
eingetreten sind.“168 Die Konsequenz daraus ist, dass (neue) Wettbewerber die
entstehenden Lücken nutzen können, ihre Produkte oder Dienstleistungen auf
den Markt auszurichten. Durch geringe Markteintrittsbarrieren haben Start-ups
die Möglichkeit, mit einem neuen Geschäftsmodell den Markt kostengünstig zu
erobern. Aber auch disruptive Technologien und Geschäftsmodelle können diese
Lücken hervorrufen. Unternehmen dürfen dann nicht an alten Geschäftsmodellen
oder Leistungen festhalten, sondern müssen sich weiterentwickeln.169 Um sich
den disruptiven Umweltveränderungen anpassen zu können, müssen sich Unter-
nehmen nicht selten einer vollumfänglichen Transformation der organisationalen
Routinen unterziehen, durch deren Prozess mikroökonomische Organisations-
strukturen gewandelt werden, um Veränderungen in konstruktive Chancen um-
zuwandeln und gleichzeitig Risiken zu supprimieren.170 Demnach geht es bei der
Umsetzung der digitalen Transformation immer darum, Chancen durch schnelle
Digitalisierung zu sichern und Risiken zu eliminieren. Eine Analyse beider
Aspekte gibt Aufschluss darüber, wie sinnvoll eine digitale Transformation für das
Unternehmen ist.171
Im Folgenden werden deshalb zunächst ein Überblick über Herausforderungen
und Chancen der Digitalisierung und digitalen Transformation, unter anderem für
KMU des verarbeitenden Gewerbes gegeben, sowie Lösungsansätze dargestellt.
Zuletzt werden in einer Case Study durch eine Potenzialanalyse Chancen und
Herausforderungen für die Sandmeir – exclusiv Stahlbau GmbH identifiziert und
anschließend in eine digitale Vision und Digitalstrategie überführt.
Ein Modell, das die Charakteristika der neuen, vernetzten und digitalen Umwelt
beschreibt, ist die VUCA-Welt. VUCA steht für: Volatilität, Unsicherheit, Komple-
xität sowie Ambiguität und stammt ursprünglich aus dem US-amerikanischen Mi-
litär. Diese Faktoren stellen besondere Herausforderungen dar:172
Volatilität: Der aus der Statistik bekannte und vor allem an Börsen eingesetzte
Begriff beschreibt einen Schwankungsbereich innerhalb eines Zeitraums. Für die
Wirtschaft sind durch die globale Verflechtung Auswirkungen der Digitalisierung
zunehmend unvorhersehbar. Dies wirkt auf Mitarbeiter und Führungskräfte be-
unruhigend. Um nicht impulsiv oder unkoordiniert im dynamischen Markt zu agie-
ren, ist der Schlüssel der Volatilität, kritische Veränderungen vorherzusehen und
Szenarien für verschiedene Auswirkungen zu entwickeln.
Aus der VUCA-Welt ergeben sich einige Herausforderungen, die direkten Ein-
fluss auf Organisationen nehmen und eine digitale Transformation anstoßen.
a. Empowered customer
Auch der Empowered customer treibt diese voran, indem er Ansprüche an Un-
ternehmen stellt. Aufgrund des anspruchsvollen Kunden, der neue Unterneh-
mensstrukturen, -prozesse und -abläufe verlangt, entstehen einige
Herausforderungen für Organisationen. Beispielsweise muss die Komplexität von
Kaufprozessen erkannt und reduziert werden, um dem Kunden ein optimales
Kauferlebnis zu ermöglichen.174 Zudem verlangt er eine „nahtlose Integration“
sämtlicher Anwendungen zur Bewältigung verschiedener komplexer Schnittstel-
len (z. B. iCloud: Apple Music, iMac, MacBook, iPhone, iPad, Apple TV sind mit-
einander kompatibel, deren Schnittstelle die iCloud ist, auf der alle Daten der
einzelnen Anwendungen gespeichert werden).175 Eine letzte große Hürde, die
vom Konsumenten ausgeht, ist das Verlangen nach kundenindividueller
Massenfertigung, bei der Kunden Produkte erwerben, die ihren individuellen Vor-
stellungen entsprechen, und dies zu Kosten, die der einer Massenfertigung
gleichkommen.176
b. Empowered employee
Neben dem informierten Konsumenten gewinnen auch Mitarbeiter und vor allem
Fachkräfte an Macht in Organisationen. Gerade die Digital Natives oder Millenni-
als sind mit der Digitalisierung aufgewachsen und bilden damit eine Chance für
viele Unternehmen.
„Millennials
Bezeichnet eine Generation, die ungefähr zwischen 1979 und 1994 geboren wurde
und deren gemeinsame Lebenserfahrung und Werteverständnis zu Präferenzbildun-
gen führt, die vor allem auf die digitale Welt ausgerichtet sind. Das Präferenzmuster
dieser Generation unterscheidet sich von anderen früheren Generationen, u. a. den
Baby Boomern oder der Generation X.“177
c. Politische Herausforderungen
Innovationshemmende gesetzliche Rahmenbedingungen erschweren die digitale
Transformation deutscher Unternehmen. Um im internationalen Bereich langfris-
tig wettbewerbsfähig zu sein, müssen auch auf Bundesebene einige Hemmnisse
abgebaut werden:
Rechtliche Hemmnisse: Zu detaillierte regulatorische Rahmenbedingungen,
die zumeist noch nicht auf digitale Standards angepasst wurden, bremsen die
Weiterentwicklung deutscher Unternehmen. Aber auch neue Gesetzgebungen
haben eine innovationshemmende Wirkung. Ein Abbau dieser kann innovations-
fördernd wirken und die Nutzung digitaler Technologien erleichtern sowie Ge-
schäftsmodellinnovationen begünstigen (z. B. autonomes Fahren). 182 Ein
weiteres Schlagwort, das in diesem Zusammenhang vermehrt folgt, ist der Da-
tenschutz. „Unter Datenschutz wird der Schutz der digitalen Daten verstanden,
unter anderem vor der gewaltsamen Zerstörung oder der ungewollten Über-
nahme durch andere Benutzer oder Cyberattacken.“183 Insbesondere die Samm-
lung und Verwertung von Daten über Personen, Organisationen oder Anlässe
werden diskutiert. Dabei stehen vor allem rechtliche und prozessuale Aspekte
der Verarbeitung und Speicherung von personenbezogenen Informationen im
Mittelpunkt. Die massive Zunahme der digitalen Endgeräte, mit denen Daten er-
fasst werden können, verschärft diese Thematik. Umso wichtiger wird der Aufbau
einer robusten digitalen Infrastruktur, um den technischen Wandel meistern zu
können. Im Vergleich zu anderen Regionen der Welt, wird die deutsche Bundes-
regierung dafür kritisiert, dass dieser Aufbau zu langsam vorankommt.184
Ein grundlegendes Hindernis für die digitale Transformation ist ein fehlendes Be-
wusstsein für die Digitalisierung bzw. ein mangelnder Wille, sich mit dieser aus-
einanderzusetzen.190 Durch die aus der Digitalisierung entstehende disruptive
Kraft wird es auch branchenfremden Unternehmen ermöglicht, in den Markt ein-
zutreten und sich Marktanteile etablierter Unternehmen anzueignen. Bisher gül-
tige Abgrenzungen zwischen Industrien werden dadurch nahezu nichtig. Umso
wichtiger ist die Konzeption einer digitalen Transformationsstrategie, um dem
entgegenzuwirken. „Doch die Entscheidung darüber wann, wie und was transfor-
miert werden muss, um zumindest mit der Konkurrenz Schritt zu halten, ist eine
große Herausforderung.“191 Verdeutlicht wird dies durch die in einer Studie be-
fragten Unternehmen, von denen 37% angaben, keine eindeutige Digitalstrategie
definiert zu haben.192 Dadurch werden Projekte auch ohne klar definierte Vision
zur Transformation durchgeführt, wodurch kurzfristige Maßnahmen geplant und
langfristige Ausrichtungen ignoriert werden. Gerade in konventionellen Unterneh-
men verhindern die Beharrungskräfte, meist im Management, eine erfolgreiche
Initiierung und Steuerung der digitalen Transformation. Uneinigkeiten über stra-
tegische Ausrichtung, Rollen und Vorgehensweisen verhindern einen Change-
Prozess, wodurch Konflikte, Verzögerungen oder sogar der Abbruch eines Digi-
talisierungsvorhabens entstehen können.193 Hier fehlt oftmals eben dieses Be-
wusstsein für die Digitalisierung oder der Anspruch, sich damit
auseinanderzusetzen. Laut der Studie von Müller, Böhm, Schröer et al. (2016)
sehen knapp ein Viertel der deutschen Unternehmen keine Notwendigkeit zur
Digitalisierung, was die Gefahr mit sich bringt, dass Veränderungen im Wettbe-
werb erst spät erkannt werden. Widergespiegelt wird dies unter anderem in dem
geringen Budget für Digitalisierungsvorhaben (41% der befragten Organisationen
geben dies als Hemmnis an).194
Jede Phase der digitalen Transformation bringt neue Herausforderungen mit
sich, weshalb im Folgenden auf die einzelnen Handlungsfelder eingegangen
wird.
a. Digitales Geschäftsmodell
Während der digitale Wandel unendliche Möglichkeiten für Unternehmen bietet,
um neue Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln, kann die Entwicklung
von hybriden und digitalen Angeboten auch Risiken mit sich bringen. Es herrscht
ein schneller und aggressiver Wettbewerb, der zum einen traditionellen Unter-
nehmen Wettbewerbsvorteile verwehrt und zum anderen digitalen Unternehmen
einen Markt mit niedrigen Eintrittsbarrieren und -kosten, Deregulierungen sowie
hoher Innovationsgeschwindigkeit bietet. Somit kommt es zu einem Verdrän-
gungswettbewerb um die Kunden.195 „Wir sind im Zeitalter des Geschäftsmodell-
wettbewerbs angekommen, und der Erfolg eines Unternehmens ist von dessen
Fähigkeit, das Geschäftsmodell zu digitalisieren oder gar „digital“ zu innovieren,
abhängig.“196 Gassmann und Sutter (2019) sehen als Herausforderung aufgrund
der hohen Reife digitaler Technologien weniger die Adaption als vielmehr die
Entwicklung des richtigen Geschäftsmodells. Dabei wird das Unternehmen vor
die Herausforderung gestellt, alle Geschäftsmodelldimensionen entlang der ge-
samten Wertschöpfungskette zu innovieren, um mit den digitalen Modellen von
Konkurrenten Schritt halten zu können.197 Eine geringe Veränderungsbereit-
schaft bildet ein großes Hindernis der Transformation, die ihren Ursprung in der
organisatorischen Trägheit findet. Diese Trägheit meint eine Gefangenschaft in
den eigenen Routinen, die durch partielle Anpassung einzelner betrieblicher Be-
reiche nicht erfolgreich überwunden werden kann. Nach Reinhardt (2020) sind
die „digitalen Umweltveränderungen […] als multiperspektives Phänomen zu be-
greifen, das nicht durch Einzelmaßnahmen bewältigt werden kann“.198 Er sieht
eine fundamentale Systemänderung als erforderlich an.
b. Digitale Fähigkeiten und Kompetenzen
Durch die neuen digitalen Technologien werden besonders an Personalentwick-
lung und -recruiting neue Ansprüche gestellt: Nicht mehr die Datengewinnung,
sondern die Dateninterpretation wird für Organisationen zur Herausforderung.
Dadurch entstehen auch neue Berufsbilder wie z. B. Data Scientist oder Chief
Digital Officer, deren Notwendigkeit überdacht werden muss. Denn das Re-
cruiting digitaler Experten stellt eine unverzichtbare Herausforderung dar, die die
Organisation zum Wandel zwingt, um eben dieses Personal an sich zu binden.199
In der Studie von Müller, Böhm, Schröer et al. (2016) stellten die Autoren fest,
dass 38% der an der Studie teilnehmenden Unternehmen mangelnde Fähigkei-
ten als Grund für eine fehlende Digitalisierung nennen.200 Um die Potenziale der
digitalen Transformation nutzen zu können, müssen demnach Fähigkeiten bei
Führungskräften und Mitarbeitern entwickelt werden. Dieses Vorhaben ist zu-
meist sehr zeitaufwendig sowie kostspielig und ein schneller Erfolg nicht immer
garantiert. Finanzielle und personelle Ressourcen sind oft begrenzt, weshalb Or-
ganisationen im Vorfeld wissen müssen, wo Investitionen zu tätigen sind. Füh-
rungskräfte müssen in der Lage sein, die durch die Digitalisierung entstehenden
Chancen und Risiken zu bewerten, Potenziale neuer Technologien zu beurteilen
und zielgerichtet abzuschätzen, um daraus Einführungsstrategien zu entwickeln
und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Gerade produktorientierte Unterneh-
men besitzen oftmals nicht die Kompetenzen, um entstandene Daten auszuwer-
ten, weshalb sich eine Kooperation mit Partnern bezüglich eines Servicesystems
empfiehlt. Dabei entsteht eine Kernherausforderung: Diese Systeme müssen in
vorhandene Strukturen eingegliedert werden, um kontinuierlich innovieren zu
können.201
Eine Studie der Bitkom über IoT und Industrie 4.0 bestätigt, dass der hohe Inves-
titionsbedarf sowie das fehlende Fachpersonal zu den größten Hindernissen der
Digitalisierung zählen. Demgegenüber wird vielen Unternehmen der wirtschaftli-
che Nutzen immer bewusster: Nur noch 25% der befragten Unternehmen geben
an, dass ihnen dieser unklar wäre.202
Unternehmen sehen besonders den Aufbau von Fähigkeiten in der digitalen Si-
cherheit (88%), in mobilen Technologien (87%) und im Change-Management
(84%) als besonders wichtig für die digitale Transformation an.203 Dennoch ist
das Bewerten der Chancen und Risiken digitaler Technologien eine große Her-
ausforderung für viele Unternehmen, wofür Fähigkeiten, z. B. durch die Zusam-
menarbeit mit externen Dienstleistern oder spezialisierten
Forschungseinrichtungen, aufgebaut werden müssen, um nicht nur auf den Markt
zu reagieren, sondern ihn mitgestalten zu können.204 Der Aufbau dieser Kompe-
tenzen wird jedoch durch die hohe Veränderungsgeschwindigkeit im Markt zur
Herausforderung für viele Unternehmen. Eine Studie der Bitkom aus dem Jahr
Austausch von Informationen, der eher von kurzer Dauer, sachlich und formell
ist. Eine Organisation ist jedoch ein soziales System, das von Interaktion als Per-
formance-Treiber lebt. Aus individueller Sicht hat Interaktion eine höhere Priorität
als formeller Informationsaustausch.
3. Paradox: Kontrolle gegen Zusammenarbeit Trotz Digitalisierung sind viele
Unternehmen noch hierarchisch aufgebaut: Entscheidungen werden vom Top-
Management getroffen und von den formalen Strukturen mit getrennten Aufga-
benfeldern umgesetzt. Experten werden nur eingesetzt, um Probleme zu verste-
hen, zu kommunizieren und zu bewältigen. Konstruktive Lösungen erfordern
jedoch eine Expertise im Führungsstand. Um diesem Dilemma entgegenzuwir-
ken, werden digitale Technologien eingesetzt, damit Entscheidungen kollaborativ
und dezentral getroffen werden können.
4. Paradox: Detailblick gegenüber Gesamtbild Informationsverarbeitung ist
heute so schwer wie nie zuvor. Die Führungskraft muss die Menge an Informati-
onen verarbeiten, sondieren und daraus Entscheidungen und Prioritäten ablei-
ten. Informationen müssen selektiv und effektiv bearbeitet werden und
miteinander in einen Kontext gebracht werden. Dabei dürfen keine Details fokus-
siert werden, sondern das Gesamtbild muss betrachtet werden, um Muster er-
kennen zu können.
5. Paradox: Flexibilität gegenüber Stabilität Inmitten eines kontinuierlichen
Wandels müssen Führungskräfte eine gemeinsame Richtung und Zielsetzung re-
alisieren. Ihre Aufgabe ist es, Richtungskontinuität in einer Arbeitswelt geprägt
von Fusionen, Übernahmen, Allianzen und Verkleinerungen mit ständig wech-
selnden Kollegen zu geben.
c. Digitale (Infra-)Struktur
Um die Vorteile einer Digitalorganisation nutzen zu können, müssen Unterneh-
men die bestehenden Prozesse innerhalb ihrer Unternehmensstruktur gänzlich
neu aufsetzen. Dadurch kann eine übergreifende Vernetzung entstehen, für die
es jedoch zunächst gilt, einheitliche Standards und Systeme aufzubauen. Dies
kann für viele Unternehmen zum Hindernis werden.211
Eine weitere Herausforderung liegt in der Einschätzung der Bedeutung neuer di-
gitaler Technologien für die Wertschöpfung und das gesamte Unternehmen. „Die
mit dem Einsatz digitaler Technologien im Unternehmen verbundenen Chancen
richtig einzuschätzen und durch eine digitale Transformation erfolgreich
stellt.“219 Aus diesem Grund darf diese Auflistung der derzeit geltenden Heraus-
forderungen nicht als abschließend betrachtet werden.
befragten Unternehmen als sehr schwer an, während 35% den Mangel an Fach-
kräften nur etwas kritisch betrachten. Demensprechend sind auch ähnliche Zah-
len bei der Umstellung bzw. Anpassung der bisherigen IT-Systeme (54%) sowie
der Anpassung der Unternehmens- und Arbeitsorganisation (57%) zu finden.
Computer sind nicht nur schneller und leistungsfähiger geworden, sondern auch
günstiger, und können im Arbeits- und Privatleben eingesetzt werden. Zudem
werden auch Datenspeicher immer günstiger und größer, wodurch sich neue Ge-
schäftsmodelle mit vereinfachten Tätigkeitsbereichen und schlankeren Unter-
nehmensprozessen entwickeln. Die digitalen Technologien führen zudem zu
mehr Mobilität durch neue Formen der Datenübertragung und damit zu schnelle-
ren Arbeitstechniken und weltweiter Kommunikation. Smartphones und mobile
Endgeräte vereinfachen dies immens und bieten mit installierten Plattformen die
Möglichkeit, sich ständig, unabhängig von Ort und Zeit, mit anderen Menschen
zu vernetzen.227 Daraus ergibt sich eine Vielzahl an Chancen für Unternehmen.
Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die allgemeinen Chancen der
digitalen Transformation sowie über Spezielle für KMU des verarbeitenden Ge-
werbes gegeben. Daraufhin wird eine Auswahl an Lösungsansätzen zur Bewäl-
tigung der zuvor aufgezeigten Herausforderungen dargelegt.
sogenannten Vektoren sind eng miteinander verflochten und bedingen sich ge-
genseitig. Außerdem bieten sie eine Möglichkeit, digitale Transformationsvorha-
ben analytisch zu bewerten und Chancen für Unternehmen herauszuarbeiten.
Dahingehend können zukünftige Strategien bewertet werden.228 Diese sieben
Vektoren sind:229
Skalierung: Digitale Produkte weisen geringe Grenzkosten auf und ermöglichen
es, mit globaler Reichweite und nur wenigen Mitarbeitern weltweit lukrative Ge-
schäftsmodelle aufzubauen.
Panorama-Wirkung: Durch neue Technologien werden komplexere Produkte
entwickelt, welche Funktionen bisheriger Produkte versionieren, rekombinieren
und individualisieren. Dies führt zur Disruption ganzer Produktkategorien und
Branchen.
Zeitliche Dynamik: Märkte beeinflussen das Verhalten der Konsumenten, noch
bevor es Institutionen tun. Diese können jedoch Daten aus der Gegenwart einfa-
cher erfassen und Daten aus der Vergangenheit erforschen, indexieren, umwan-
deln und weiterverkaufen.
Neue Quellen der Wertschöpfung: Immaterielle Produkte, wie z. B. Software
und Daten, nehmen an Bedeutung zu. Durch Sensoren können physische Pro-
dukte mit einbezogen werden.
Transformation des Raumes: Durch die neue Wertschöpfungsquelle können
Ressourcen gespeichert und überall genutzt werden. So nimmt die Bedeutung
von Territorialität ab und räumliche Interoperabilität kann für zukünftige Strate-
gien positiv genutzt werden.
Stärkung der Ränder: Durch das End-to-End Prinzip des Internets können Nut-
zer eigene Netzwerke und Communities aufbauen sowie soziale Netzwerke in-
novieren, gestalten und etablieren. Dezentrale Ansätze sollten deshalb stärker in
der Datensicherheit und Arbeitspolitik berücksichtigt werden.
Digitale Plattformen und Ökosysteme: Durch diese Netzwerke besteht eine
direkte Beziehung zwischen Akteuren sowie die Möglichkeit, diese zu integrieren
und mit ihnen zu interagieren. Dabei entstehen bei geringen digitalen Transakti-
onskosten mehr Transparenz und Datenaustausch.
Durch eine ganzheitliche Digitalisierung und die damit verbundene neue strate-
gische Ausrichtung können viele Chancen für Unternehmen entstehen. Diese ge-
hen über partielle Lösungen hinaus, wie z. B. die Erschließung neuer
In einer Studie von Saam, Viete und Schiel (2016) gaben bereits 55% der befrag-
ten KMU an, dass sie mit ihrer Digitalstrategie auf die Verfügbarkeit neuer digita-
ler Technologien reagieren.237 Gerade Unternehmen des übergeordneten
produzierenden Gewerbes verbinden mit der Digitalisierung aber noch große
Herausforderungen, wodurch die Chancen in den Hintergrund geraten. Dabei
wäre gerade der Mittelstand in der Lage, es mithilfe der Nutzung seiner Expertise
und Ressourcen zu den industriellen Wertschöpfungsketten sowie durch seine
Flexibilität mit den IT-Unternehmen aufzunehmen.238 Durch die Verknüpfung in-
telligenter Daten kann am digitalen Wettbewerb teilgenommen werden, wodurch
einige Chancen – gerade für KMU des verarbeitenden Gewerbes – entstehen.
a. Daten steuern Prozesse und Produkte
Vor allem die Vernetzung von Produktionssystemen mithilfe neuer Technologien
wie z. B. IoT ermöglichen es zum einen, Prognosen zu stellen und zum anderen,
effizienter und flexibler zu produzieren. „Durch die Vernetzung der Informationen
unterschiedlicher Aufgaben, Funktionen und Domänen lassen sich Handlungs-
empfehlungen fundieren, wobei eine unüberschaubare Anzahl relevanter Para-
meter berücksichtigt wird.“239 Mithilfe der entstehenden zuverlässigen Prognosen
können robuste Planungsergebnisse erzielt und Ausfälle minimiert werden. Dafür
integrieren Unternehmen Informationstechnologien in ihre Produktion, um
Schwachstellen sowie ungenutzte Potenziale durch Datenerzeugnisse zu erken-
nen. Die rasante Technologieentwicklung sowie die sinkenden Hardwarepreise
begünstigen dies. Dennoch bedarf es dafür einer technischen Infrastruktur sowie
Mitarbeitern mit fundierten IT-Kompetenzen und technischem Verständnis zur
zielgerichteten Einbindung und Integration neuer Technologien. Dadurch lassen
sich sowohl unternehmensinterne Daten, wie die zur Optimierung von
Die Sandmeir – exclusiv Stahlbau GmbH zählte Ende 2021 insgesamt 38 Mitar-
beiter und erzielte einen Jahresumsatz von 6,35 Mio. €. Nach Empfehlung der
Europäischen Kommission kann die Organisation demnach zu den kleinen Un-
ternehmen gezählt werden. 1995 gegründet, war zunächst die Produktion, Mon-
tage und der Handel von und mit Stahlbau-Erzeugnissen aller Art der
Unternehmenszweck. Durch den Trend der Urbanisierung wird sich seit 2018 auf
die Herstellung und den Vertrieb von Balkonanlagen mit Zubehör, wie z. B. Bo-
denbelag, Überdachungen oder Gartentreppen, fokussiert.264 Um Prozesse zu
verschlanken und die Herstellungszeit zu verkürzen, wurde 2020 in neue Tech-
nologien investiert:265
• 3D-Planung und 3D-Scanning
• CNC-Fertigung: CNC-Schneidanlage und -Kantmaschine
• Virtueller 3D-Konfigurator für Kunden
Nun soll mittels der in Kapitel 2.3.1 vorgestellten Alchimedus®-Potenzialanalyse
Digital Transformation 4.0 KMU von Kugler/Anrich (2018) der digitale Reifegrad
des Unternehmens erfasst werden. Die Beantwortung der insgesamt 60 Fragen
in den Bereichen Werkzeug, Inspiration und Mensch wurden von einem Team
aus Geschäftsführung, IT-Verantwortlichem, Personalabteilungsleiter/Buch-hal-
tung und Marketing-Manager durchgeführt. Dabei wurde das Unternehmen auf
einer Skala von eins bis zehn bewertet, wobei eins für „sehr
Dennoch ergeben sich aus den Fragebögen gewisse Handlungsfelder. Vor allem
folgende Fragen wurden nur unzureichend/weniger erfolgreich (1 – 6) bewertet:
Ein grundlegendes Problem findet sich in dem fehlenden Verständnis der digita-
len Transformation. Zwar handelt das Unternehmen in den meisten Fällen digital,
dies ist jedoch eher unbewusst. Dementsprechend sind weder eine digitale Vi-
sion noch eine Digitalstrategie etabliert und auch Prozesse selten digital unter-
stützt oder agil. So sind beispielsweise Entscheidungsprozesse oft noch
hierarchisch angelegt und externe Kommunikation baut auf keinem Prozess auf,
sondern findet eher spontan statt. Folglich fehlen auch Anreizsysteme für Emp-
fehlungen seitens der Mitarbeiter und Kunden.
Bezüglich des Innovationsmanagements werden für die Ideengenerierung zwar
sämtliche Stakeholder, wie vor allem Mitarbeiter und Kunden, mit eingebunden,
eine Entwicklung mit Wettbewerbern findet jedoch bisher nicht statt. Auch die
Einführung von Neuheiten basiert auf keinem schnellen Zyklus und klarem Time-
to-Market-Prozess, sondern ist eher langwierig angelegt. Zurückzuführen ist dies
vor allem auf die hohen Sicherheitsstandards und ausgedehnte Prüfung von Sta-
tiken eines Balkons. Kleine Fehler in der Konstruktion können gravierende
Herausforderungen und Chancen der digitalen Transformation für KMU 78
4 Schluss
Nichts ist so beständig wie der Wandel. – Charles Darwin.
und Chancen einer digitalen Transformation kann die Relevanz dieser aufgezeigt
werden.
Ein ganzheitliches, systematisches Verständnis des digitalen Wandels ist dem-
nach grundlegend für die Transformation eines jeden Unternehmens. Aus die-
sem Grund wird innerhalb dieser Thesis großer Wert auf das Framework der
digitalen Transformation gelegt und die einzelnen Schritte sowie deren Bedeu-
tung für das zu wandelnde Unternehmen dargestellt. Dabei handelt es sich je-
doch ausschließlich um eine theoretische Fundierung, deren praktische
Umsetzung und Maßnahmen nur in wenigen Fällen beschrieben werden. Grund
hierfür ist zum einen der begrenzte Rahmen dieser Arbeit, zum anderen das Ziel
der Thesis, die Herausforderungen und Chancen für verarbeitende KMU darzu-
legen. Da eine Umsetzung von Transformationsmaßnahmen individuell für jedes
Unternehmen geplant werden müssen, kann hierfür keine Empfehlung gegeben
werden. Die im Zentrum stehenden Herausforderungen und Chancen der digita-
len Transformation können bereits in der Planungsphase dieser identifiziert wer-
den, da sie die Grundlage der digitalen Vision und Digitalstrategie sowie der
fortwährenden Implementierung bilden.
Zur Unterstützung der digitalen Transformation in KMU werden vom Staat einige
Fördermaßnahmen und Subventionen angeboten, die ihnen dabei helfen. Pro-
jekte des Bundeswirtschaftsministeriums, wie Mittelstand-Digital sowie Mittel-
stand 4.0-Kompetenzzentren, informieren KMU über die Anwendungs-
möglichkeiten der Digitalisierung. Demonstrationsorte ermöglichen es darüber
hinaus, ein Netzwerk aufzubauen und Beispielprojekte durchzuführen. Diese
Liste an Möglichkeiten ist nicht abschließend und es wird empfohlen, sich bei
Bedarf weiter darüber zu informieren.
Da durch die Digitalisierung eine große Dynamik herrscht, erweist es sich als
schwierig, einen genauen Ausblick für die Forschung zu geben. Dennoch bildet
genau dieses Phänomen den größten Forschungsbedarf.
Für die Wissenschaft kann die bereits im aktuellen Forschungsstand erwähnte
Corona-Pandemie einen weiteren Forschungsbedarf hervorrufen. Ein Interes-
senbereich wäre beispielsweise, wie sich diese auf die Geschäftsmodelle von
KMU (des verarbeitenden Gewerbes) ausgewirkt hat und noch weiter auswirken
wird. Die Auswirkungen dieses unerwarteten Ereignisses können erst jetzt und
auch nur zum Teil analysiert und in Forschungen dargestellt werden. Dieses Phä-
nomen bildet ein Paradebeispiel für die Disruption digitaler Innovationen,
Schluss 85
wenngleich die Pandemie natürlich ein ungeplantes Szenario bildet, das auch
hypothetisch nicht in diesem Ausmaß vorhergesehen werden konnte. Dennoch
zerstört auch der Megatrend Digitalisierung ganze Geschäftsmodelle durch neue
Innovationen. Damit die Wissenschaft sich nicht selbst in sehr kurzen Abständen
in ihren Aussagen und Modellen zur digitalen Transformation disruptieren muss,
sollte die Forschungsweise angepasst werden. Überarbeitete Auflagen sind zu
manuell und nicht digitalisiert und widersprechen damit dem Auftrag der Digitali-
sierung, autonome Lösungen zu formulieren. Aus diesem Grund bildet eine zu-
künftige Aufgabe für die Forschung in diesem Bereich, in ihrer eigenen Struktur
agiler zu werden. Universelle und umfassende Aussagen, die leicht angepasst
werden können und nicht sofort durch neue Innovationen ungültig werden, könn-
ten ein Lösungsansatz sein. Ziel der Forschung im Gebiet der digitalen Transfor-
mation muss es also sein, auch für Ausnahmesituationen wie die Corona-
Pandemie agil zu agieren.
Eine digitale Transformation flexibilisiert Unternehmen auch für derartige Situati-
onen. Doch obwohl KMU zumeist wegen ihrer Größe flexibel sind, sehen sie oft-
mals die Notwendigkeit für diesen großen Wandel nicht und geraten durch
Disruption, Dynamik und Komplexität aus den Fugen. Gerade unvorhersehbare
Situationen, wie die Pandemie es war, machen eine digitale Transformation und
die dadurch entstehende Agilität zum Wettbewerbsvorteil für KMU. Wer sich am
Anfang der Pandemie anpassen konnte, war den anderen meilenweit voraus.
Denn wie bereits eingangs erwähnt, sagte schon der Forscher Charles Darwin:
Es sind weder die Stärksten einer Art, die überleben, noch die Intelligentesten.
Es sind vielmehr diejenigen, die sich einem Wandel am besten anpassen kön-
nen.
Literaturverzeichnis IX
Literaturverzeichnis
Monographien:
Biallas, Stephan/Alan, Yilmaz: Die „Digital Roadmap“ als Wegweiser durch den
Dschungel der Digitalen Transformation. In: Fortmann, Harald R. (Hrsg.): Digita-
lisierung im Mittelstand. Trends, Impulse und Herausforderungen der digitalen
Transformation. Wiesbaden 2020, 45 – 60.
Dines, Thomas: Der Arbeitsraum – Mittelpunkt des Erfolges für die Digitalisie-
rung im Mittelstand. In: Fortmann, Harald R. (Hrsg.): Digitalisierung im Mittel-
stand. Trends, Impulse und Herausforderungen der digitalen Transformation.
Wiesbaden 2020, 155 – 164.
Elektronische Medien:
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sen in %. https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-
Unternehmen/Unternehmen/Kleine-Unternehmen-Mittlere-Unternehmen/Tabel-
len/wirtschaftsabschnitte-insgesamt.html, [08.04.2022].
Statista (a): Anteil der KMU in Deutschland an allen Unternehmen nach Wirt-
schaftszweigen im Jahr 2019. https://de.statista.com/statistik/daten/stu-
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wirtschaftszweigen/, [08.04.2022].
Zukunftsinstitut (b): Das Potenzial der Megatrend für Strategie und Manage-
ment. https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/arbeiten-mit-megatrends/,
[08.04.2022].
Negroponte, Nicholas: The digital revolution. In: The Futurist 1995, 67–68.
Sonstige Literatur:
Deloitte University Press: Rewriting the Rules for the Digital Age. o. O. 2017.
https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/global/Documents/HumanCapi-
tal/hc-2017-global-human-capital-trends-gx.pdf.
OECD: New skills for the digital economy: Measuring the demand and supply of
ict skills at work. o. O. 2016. In: OECD Digital Economy Papers 258:4.
https://www.researchgate.net/publication/308617037_New_Skills_for_the_Digi-
tal_Economy.
Eigenständigkeitserklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und nur unter Verwen-
dung der angegebenen Literatur und Hilfsmittel angefertigt habe. Stellen, die wörtlich
oder sinngemäß aus Quellen entnommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht.
Diese Arbeit wurde in gleicher oder ähnlicher Form noch keiner anderen Prüfungsbe-
hörde vorgelegt.
München, 12.04.2022