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Das Medium als Mediator

Eine Materialtheorie für (Öl-)Bilder *

Von Ann-Sophie Lehmann

ANT is more like the name of a pencil or a


brush than the name of a specific shape to be
drawn or painted.
Bruno Latour 1

Bilder sind materielle Artefakte. Ausgehend von der Annahme, dass Materialien
die Bedeutung und Wirkung von Bildern maßgeblich mitbestimmen, in theore-
tischen Diskursen aber lange Zeit übersehen worden sind, skizziert dieser Beitrag
eine Theorie für die Interpretation bildnerischer Materialien. Nach einer Analyse
möglicher Ursachen für das sekundäre Interesse der Kunsttheorie am Material wer-
den Elemente der ANT und andere, materialtheoretische Ansätze aus den Kunst-
und Medienwissenschaften sowie der Anthropologie, Philosophie und Psychologie
versuchsweise zu einer Materialtheorie zusammengeführt. Diese bewusst eklek-
tische Vorgehensweise, metaphorisch konzipiert als offene Werkzeugkiste, in der
verschiedene theoretische ›tools‹ für die Analyse verschiedener Materialien gesam-
melt werden können, wird im Folgenden für das Malmedium Öl ausgearbeitet. Das
Material, sein Einfluss auf die Geschichte der Malerei und seine Behandlung durch
die kunsthistorische und kunsttechnische Forschung als Intermediär werden kurz
vorgestellt. Es folgt eine Analyse in drei Schritten, die zunächst mithilfe von Alfred
Gells Konzept einer ›magischen Technologie‹ eine Beziehung zwischen Material
und Darstellung herstellt, um dann verschiedene Eigenschaften und ihren Ange-
botscharakter ( J. J. Gibsons’ ›affordances‹) sowie die daraus hervorgehenden Hand-
lungsinitiativen (›agencies‹) von Öl zu beschreiben. Abschließend wird gefragt, wie
die Interaktion mit dem Malmaterial und damit der Akt der Bildherstellung erfasst
werden können. Dazu wird John Deweys Defi nition der künstlerischen Herstel-

* Dieser Artikel ist im Rahmen der NWO-Forschungsprojekte The Impact of Oil – A History

of Oil Painting in the Low Countries and its Consequences for the Visual Arts 1350-1550 (Niederlän-
dische Organisation für wissenschaftliche Forschung / NWO, Universiteit Utrecht, Universiteit
van Amsterdam, Rijksmuseum) und The Brush in the Computer (Niederländische Organisation
für wissenschaftliche Forschung / Universiteit Utrecht) entstanden. Ich möchte Jeroen Stumpel
und Marjolijn Bol für ihren stetigen Input sowie Marianne van den Boomen für die fruchtbaren
Gespräche über das Material der Medien danken.
1 Bruno Latour: On the Diffi culty of Being an ANT – An Interlude in the Form of a Dialog, in:
Reassembling the Social – An Introduction to Actor-Network-Theory, ed. by. B. Latour, Oxford 2005,
143.

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lung als Interaktion zwischen innerem und äußerem Material mobilisiert und mit
neueren Konzepten verglichen.

I. Der Staub auf den Schmetterlingsflügeln:


Ent- und Rematerialiserung der Kunstwissenschaften

»Papers and signs are incredibly weak and fragile« schreibt Bruno Latour am Ende
seines Aufsatzes Visualisation and Cognition – Drawing Things Together, und gerade
weil sie aus einem soviel flexibleren und fragileren Material seien als die Dinge, die
sie bezeichnen und beschreiben, könnten sie jene dominieren.2 Latours wichtigstes
Beispiel ist die Landkarte, eine Zeichnung auf Papier, die in der Hand einer Kolo-
nialmacht zum Werkzeug der Besetzung und Unterwerfung ganzer Länder wird.
Will man die Bedeutung und Macht der Zeichen verstehen, so Latour, muss man
das Handwerk der Bildermacher (»imaging craftmanship«) und ihre Materialien
untersuchen.3 Fragt man nach der Bedeutung Latours und der Actor Network The-
ory für die Kunst- und Medienwissenschaften, so ist dieser Aufsatz ganz besonders
wichtig, nicht nur weil er mit dem Konzept des »immutable mobile« eine zentrale
Funktion des Bildes neu erfasst, sondern auch – und das ist bisher übersehen wor-
den – weil er das Material der Bilder als ein bedeutendes und für die theoretische
Analyse visueller Artefakte relevantes Element anführt. Damit unterscheidet er sich
grundsätzlich von herkömmlichen Bildtheorien.
In der Kunstgeschichte und auch den Medienwissenschaften wird in der Re-
gel eine duale Beziehung zwischen immateriellen Bildern auf der einen Seite und
ihren jeweiligen Materialisierungen und Medialisierungen auf der anderen Seite
unterstellt.4 Eine solche duale Konzeption von Bildern ist einem aristotelischen,
hylomorphen Modell verhaftet, in dem ein virtuelles Idealbild seiner materiellen
Erscheinung in der physischen Welt vorausgeht und darum hierarchisch überge-
ordnet ist.5 Dementsprechend wurden und werden Kunstwerke und Bilder, je nach
historischer Periode, als materielle Manifestationen göttlicher Inspiration, kreativer
Eingebung, genialer Phantasie oder intellektueller Konzepte aufgefasst. Material
ist in dieser Konzeption lediglich ein Träger, der notwendig ist, um immaterielle
Bilder in tastbare Formen zu übersetzen. Besonders manifest war das hylomorphe
Modell in der idealistischen Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, die das Kunstwerk

2 Bruno Latour: Visualisation and Cognition – Drawing Things Together, in: Culture Technique 14
(1985), 1-32, hier: 29.
3 Ebd., 3.
4 Paradigmatisch ist der Titel »Materiell / Immateriell« der Zeitschrift für Medienwissenschaft 2,
1/2010. Im Editorial beschreibt Ute Holl die »Kluft zwischen beiden als konstitutiv für mediale
Theorie«, 10.
5 Vgl. Georges Didi-Huberman: Die Ordnung des Materials – Plastizität, Unbehagen, Nachleben,
in: Vorträge aus dem Warburg Haus 3, Berlin 1999, 1-30, und Timothy Ingold: The Textility of Mak-
ing, in: Cambridge Journal of Economics 34 (2008), 91-102.

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als Überwindung des Materials feierte.6 Obwohl sich das Material in der Kunst
des 20. Jahrhunderts als selbständiger Bedeutungsträger emanzipierte7, herrscht
das duale Denken und die implizite Unterordnung des Materials auch noch in den
jüngeren Neuentwürfen der Kunstgeschichte als ›Visual Studies‹ und Bildwissen-
schaft vor.8 Ausnahmen, etwa Richard Wollheims Theorie der »twofoldedness«,
die Wahrnehmung von Bildern als ein ständiges Oszillieren zwischen Medium
und Repräsentation beschreibt, behandeln das Material zwar gleichwertig, theore-
tisieren es aber nicht.9 Auch die seltenen Ausflüge der ANT in die Kunstgeschichte
konzentrieren sich auf Bilder als Narrative und Repräsentationen und schweigen
über ihr Material.10
Die Ursache für die Unterlegenheit des Materials in kunsttheoretischen Diskur-
sen ist aber nicht nur die Dominanz des hylomorphen Modells. Auch als Disziplin
hat sich die Kunstgeschichte seit der Renaissance über eine Aneinanderreihung von
Entmaterialisierungen defi niert. Dabei spiegelt der Dualismus von Form und Ma-
terie den von Theorie und Praxis, und es geht immer darum, die bildende Kunst
aus der Domäne der Praxis in die höher gelegene der Theorie zu bewegen.11 So
wird die bildende Kunst zur freien Kunst, indem man sie um 1500 vom Handwerk
emanzipiert und im Zuge dessen das praktische Materialwissen der Künstler in
der Kunsttheorie marginalisiert.12 Um 1900 vollzieht sich eine vergleichbare Be-
wegung, wenn Kunsthistoriker das Fach, das es als eigenständige Disziplin an der
Universität zu etablieren gilt, erneut von seiner Materialität, die mit nicht-akade-
mischen Räumen und Tätigkeiten (Museum, Restaurierung) assoziiert wird, zu
befreien suchen. Etwa Alois Riegl, der sich im Vorwort zu den Stilfragen ausdrück-
lich von maßgeblich durch Gottfried Semper entwickelten Theorien distanziert,

6 Vgl. dazu Monika Wagner: Das Material der Kunst – Eine andere Geschichte der Moderne,
München 2001.
7 Vgl. ebd. und Lucy Lippard: Six Years – The Dematerialization of the Art Object from 1966 to
1972, New York 1973.
8 William T. Mitchell etwa defi niert Abbildungen als materielle Erscheinungen von Bildern,
die sich zerstören lassen, während die Bilder selbst weiterleben (»an image is what appears in a
picture and what survives its destruction […] the picture, then, is the image as it appears in a
material support or a specific place«; William T. Mitchell: Four Fundamental Concepts of Image
Science, in: Visual Literacy, ed. by James Elkins, New York 2008, 16 f.). Auch Belting operiert mit
einem dualen Modell, in dem der Körper als Vermittler zwischen immateriellen und materiellen
Bildern auftritt, vgl. Hans Belting, Image-Medium-Body – A New Approach to Iconology, in: Critical
Inquiry 31 (Winter 2005), 302-319.
9 Richard Wollheim: Art and Its Objects, New York and Cambridge 1980 und ders.: Painting
as an Art, London 1987.
10 U. a. John Law and Ruth Benshop: Resisting Pictures – Representation, Distribution and Onto-
logical Politics, in: Ideas of Diff erence – Social Spaces and the Labour of Division, ed. by Kevin Hethe-
rington and Rolland Munro, Oxford 1997, 158-182; Bruno Latour: How to be Iconophilic in Art,
Science and Religion?, in: Picturing Science, Producing Art, ed. by Caroline A. Jones and Peter Gali-
son, New York 1998, 418-440 [dt. Übers. im vorliegenden Heft, 19-44]..
11 Vgl. Didi-Huberman: Ordnung [Anm. 5], 4.
12 Vgl. Pamela H. Smith: The Body of the Artisan, Chicago 2004.

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die Material und Werkzeug eine Bedeutung in der Entwicklung von Form und
Stil zusprechen, und stattdessen ein abstraktes ›Kunstwollen‹ vorschlägt.13 Riegls
Schriften sind einflussreich und verdrängen Sempers Konzepte, die in der Kunst-
theorie des 20. Jahrhunderts nur noch in Teilgebieten, etwa der Architekturge-
schichte, rezipiert wurden.14
Sicherlich ebenso einflussreich wie Riegls Kunstwollen und ihm theoretisch an-
verwandt ist Erwin Panofskys Konzeption der Ikonologie als Bildsprache.15 Auch
ihr liegt eine Entmaterialisierung der Bilder zugrunde und auch diese hatte sowohl
institutionelle als auch politische Motive, indem sie zum einen die Kunstgeschichte
tief in der intellektuellen Textkultur des Humanismus verankerte und zum anderen
eine Methode bereitstellte, die von ihrer Materialität befreite Bilder in gewisser
Weise vor dem Nationalsozialismus rettete, der eben diese Materialität konkret und
metaphorisch (die arischen Holzschnittlinien Dürers, die Blut- und Boden-Farben
Rembrandts) für seine Zwecke missbrauchte.16
Diese hier nur flüchtige Aneinanderreihung von Entmaterialisierungen der Dis-
ziplin hatte zur Folge, dass die Kunstgeschichte zwar zahlreiche Theorien und
Methoden zu Stil, Form, Ästhetik, Wahrnehmung, Rezeption, Ikonographie, Iko-
nologie usw. kennt, aber keine kohärente Materialtheorie, die man etwa in einem
Handbuch nachlesen könnte. Das extrem hohe Materialwissen, über welches die
Kunstgeschichte immer verfügt hat, ist dementsprechend als praktisches Wissen
verhandelt worden und in erster Linie in den Museumswissenschaften, der techni-
schen Kunstgeschichte und der Restaurierung zuhause – Disziplinen mit eigenen
Forschungsplattformen, Konferenzen und Fachzeitschriften, von denen es nur sel-
ten zu Überträgen in die Domäne der Kunsttheorie kommt. In den letzten Jahren
ist jedoch eine Bewegung wahrzunehmen, die man im Sinne der hier skizzierten
Historiographie als Rematerialisierung der Kunstwissenschaften bezeichnen kann.
Während anverwandte Disziplinen wie die vor allem in England starken ›De-
sign Studies‹, ›Craft Studies‹ und ›Material Culture Studies‹ diesen Schritt bereits
vollzogen haben, bzw. selbst das Ergebnis einer bewussten Theoretisierung dieser

13 Vgl. Alois Riegl: Stilfragen – Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Mittenwald
1977 (Berlin 1893). Riegl kehrt sich nicht gegen Semper selbst, sondern gegen die »Post-Sem-
peristen«, denen er eine Übertreibung der Ideen ihres Vorbildes vorwirft. Bereits Semper selbst
kommitierte sich an die Überlegenheit der Idee dem Material gegenüber und distanzierte sich
seinerseits von den Materialisten seiner Zeit.
14 Vgl. Harry Francis Mallgrave: Gottfried Semper – Ein Architekt des 19. Jahrhunderts, übers.
von Joseph Imorde und Michael Gnehm, Zürich 2001.
15 Vgl. Erwin Panofsky: Studies in Iconology – Humanistic Themes in the Art of the Renaissance,
New York 1939, und ders.: Der Begriff des Kunstwollens, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine
Kunstwissenschaft 14 (1920), 321-29. Zur Beziehung zwischen Riegl und Panofsky vgl. Michael
Ann Holly: Panofsky and the Foundations of Art History, Ithaca / London 1984.
16 Vgl. Ulrike Wendland: Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil –
Leben und Werk der unter dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler II, Mün-
chen 1999, 484-497, und Erwin Panofsky: Korrespondenz 1910 bis 1968 – Eine kommentierte
Auswahl in fünf Bänden, hg. von Dieter Wuttke, Wiesbaden 2001-2011.

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angewandteren Bereiche sind, ziehen die Bildwissenschaften nun langsam nach.


Sowohl individuelle Publikationen als auch größere Forschungsprojekte, etwa das
niederländische Rembrandt Research Project oder die Erforschung der Materialiko-
nographie und Materialästhetik der Moderne in Hamburg, haben bereits Anfang
der neunziger Jahre maßgebliche Anstöße dazu gegeben.17 Neue Studien zu in-
dividuellen künstlerischen Materialen, zum Material im Kunsthandwerk und zur
Geschichte und Historizität von Material in der Wissenschaftsgeschichte weisen die
Relevanz des Forschungsgegenstandes aus und führen auch zu einer Reevaluierung
älterer Studien.18
Der nächste Schritt ist nun eine theoretische Analyse der Bedeutung und Wir-
kung von Materialien in der Kunst und der Kunstwissenschaft.19 Obwohl dieser
in der Verlängerung des von den Sozialwissenschaften und der Anthropologie in-
itiierten und von den Kunst- und Medienwissenschaften umarmten Interesses an
den Dingen und Objekten liegt, muss er eine größere Hürde überwinden als die
hier genannten historischen Studien zu Materialien. Denn, so fragen die Theore-
tiker, kann Material überhaupt relevant sein für die Kunsttheorie? Für James El-
kins zum Beispiel, der sich kritisch zu einem ›material turn‹ der Kunstgeschichte
äußert, entzieht sich Material prinzipiell einer theoretischen Interpretation, weil es
sich dem Denken und Schauen in den Weg stelle und den stetigen ›Output‹ akade-
mischer Analysen behindere. Theorie könne sich höchstens mit der Materialität der
Kunst beschäftigen, nicht aber mit ihrem Material.20 Tatsächlich sprechen Kunst-
und Medienwissenschaftler, aber auch Soziologen und Anthropologen gerne von

17 Vgl. Ernst van de Wetering: Rembrandt – The Painter at Work, Amsterdam 1997; Wagner:
Das Material [Anm. 5]; Material in Kunst und Alltag, hg. von Monika Wagner und Dietmar Rübel,
Berlin 2002; Materialästhetik – Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, hg. von Dietmar
Rübel / Monika Wagner / Vera Wolff, Berlin 2005; Lexikon des künstlerischen Materials – Werkstoffe
der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, hg. von Monika Wagner / Dietmar Rübel / Sebastian Hak-
kenschmidt, München 2010 (2. überarbeitete Aufl age); Stoff e – Zur Geschichte der Materialität in
Künsten und Wissenschaft, hg. von Barbara Naumann / Thomas Strässle / Caroline Torra-Matten-
klott, Zürich 2006; Thomas Raff: Die Sprache der Materialien – Anleitung zu einer Ikonologie der
Werkstoff e, in: Münchner Beiträge zur Volkskunde, hg. vom Institut für Volkskunde / Europäsche
Ethnologie der Universität München, 37, Münster u. a. 2008.
18 Vgl. z. B. zur Ölmalerei Melanie Gifford: Fine Painting and Eloquent Imprecision – Gabriel
Metsu’s Painting Technique, in: Gabriel Metsu, ed. by Adriaan E. Waiboer, New Haven 2010, 154-
179. Für das Kunsthandwerk Glenn Adamson: Thinking Through Craft, London 2008 und das
Journal of Modern Craft; für die Wissenschaftsgeschichte: Materials and Expertise in Early Modern
Europe – Between Market and Laboratory, ed. by Ursula Klein and E. C. Spary, Chicago 2010.
19 Vgl. z. B. Thomas Hensel: Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde – Aby War-
burgs Graphien, Berlin 2011.
20 James Elkins: On Some Limits of Materiality in Art History, in: Magazin 31 – Das Magazin des
Instituts für Theorie 12 (2008), Themenschwerpunkt Taktilität – Sinneserfahrung als Grenzerfahrung,
hg. von Stefan Neuner und Julia Gelshorn, 25-30. Elkins kritische Haltung ist erstaunlich, da
er sich in früheren Publikationen für die Integration von Theorie und Praxis im kunsthistori-
schen Unterricht ausspricht und den Malprozess als alchemistische Handlung auch theoretisch
untersucht hat, vgl. ders.: Visual Studies – A Sceptical Introduction, New York 2003 und What
Painting Is, New York 1998.

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der Materialität der Dinge. Diese vermeintliche Abstraktion vom Materiellen (die
Steinigkeit des Steins, die Digitalität des Digitalen) bedeutet aber meistens nur eine
weitere Entfernung von der Auseinandersetzung mit tatsächlichen Materialien.21
Die anhaltende Ausgrenzung des Materials aus dem Bereich der Theorie ist
möglicherweise auch noch eine Spätfolge der Gleichsetzung von Bildern und Spra-
che im Zuge des »linguistic turn«.22 Als Literaturwissenschaftler defi nierte William
J. T. Mitchell – gemeinsam mit Elkins sicherlich einer der einflussreichsten Bild-
theoretiker der letzten Jahre – Bilder als visuelle Metaphern, die die Temporalität
der Sprache zu räumlich arrangierten Mustern einfrieren.23 Dieser Defi nition liegt
ein Primat und damit auch eine Hegemonie der Sprache zugrunde, ähnlich wie
bei Panofsky. Wenn Bilder aber Narrative sind und sich lesen lassen wie ein Text,
braucht ihre Analyse eine spezifische Materialität nicht weiter zu berücksichtigen.24
Dass die Abstraktion von Bildern als Zeichensystemen mit eigener Spezifi k einen
möglichen Verlust historischer und kontextgebundener Informationen bedeutet,
ist immer wieder kritisiert worden. Konkret zu Mitchell äußerte sich kürzlich der
Künstler Robert Morris: Mitchell habe sich in seinen Schriften nie wirklich mit
Bildern, sondern lediglich mit Texten über Bilder auseinandergesetzt. Eine direkte
Konfrontation des Bildes mit Sprache sei aber eigentlich auch gar nicht möglich,
denn 25: »it is only at the level of the unreachable, inexplicable, extra-rational, even
delusional patterns of the image – fragile as the dust of a butterfly wing under hand-
ling and examination – that the image pulsates and declares its independance«. Nur
dort also, wo das Bild unerreichbar und unerklärbar bleibe, außerhalb der Sprache,
sei es lebendig und autonom.
Es wäre nun eine traurige Kunsttheorie, die sich entweder mit Bildern ›als‹ Text
oder unerklärbaren Bildern begnügen müsste, und es ist die Frage nach dem Mate-
rial und der Herstellung der Bilder, die es ermöglicht, diese Zweiteilung ad acta zu
legen.26 Ist die Kunsttheorie einmal am Material interessiert, muss sie sich dem hier
an Beispielen illustrierten dualistischen Reflex entziehen, der das Material immer
auf einer der Idee, der Theorie, der Sprache, ja sogar der Bilder selbst gegenüberlie-

21 Vgl. Timothy Ingold: Materials against Materiality, in: Archeological Dialogues 14/1 (2007),
1-16.
22 Vgl. Roland Barthes: Is Painting a Language (1969), in: The Responsability of Forms – Critical
Essays on Music, Art and Representation, Oxford 1985, 149-152.
23 Vgl. W. J.T. Mitchell: Ekphrasis and the Other, in: South Atlantic Quarterly 91 (Summer 1992),
697.
24 Eine parallele Entmaterialisierung erf ährt das Bild in den digitalen Medien, die anf änglich
als immateriell postuliert wurden, vgl. Digital Material, hg. von Marianne van den Boomen u. a.,
Amsterdam 2009 und Ann-Sophie Lehmann: Taking the Lid off the Utah Teapot – Towards a Ma-
terial Analysis of Computer Graphics, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2012), 157-172.
25 Robert Morris: Looking at Saying in W. J. T. Mitchell, in: Culture, Theory and Critique 50/2-3
(2009), 231-236, hier 236.
26 Im Zuge der Diskussion von Objekten als non-human actors warnt Latour davor, Zwei-
teilungen auflösen oder überwinden zu wollen, und schlägt stattdessen vor, sie zu ignorieren.
Vgl. Latour: Reassembling [Anm. 1], 76.

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genden Seite situiert und damit zu einem a priori a-theoretischen Element erklärt.
Sie kann das ganz einfach tun, indem sie davon ausgeht, dass Bilder keine anfäng-
lich prä-materielle Existenz haben, sondern ihre Bedeutung und ihre Wirkung
maßgeblich den Materialien und Herstellungsprozessen verdanken, aus denen sie
hervorgehen.27 Damit rückt das Material von ganz allein ins Zentrum theoretischer
Aufmerksamkeit, und der Staub auf den Schmetterlingsflügeln – fragil zwar, aber
gerade darum mächtig, ähnlich wie das Papier von Latours Landkarte – wandelt
sich von einer Metapher der Un(be)greif barkeit zu einer Metapher der materiellen
Komplexität von Bildern. Diese gilt es zu untersuchen.

II. Materialtheorie als Werkzeugkiste

Neben der Aufmerksamkeit für die Beschaffenheit der Bilder, die Latour in Dra-
wing Things Together einfordert, hilft die der ANT zugrundeliegende Sensibilität für
Materialität und Prozesse28 und für die Symmetrie von Subjekten und Objekten als
mögliche Akteure und Inhaber von »agency« (Handlungsinitiative)29 grundsätzlich
dabei, das Material aus seiner Unterlegenheit in kunsttheoretischen Diskursen zu
befreien und die am Entstehungsprozess beteiligten Elemente (Material, Werk-
zeuge, Bildermacher und ihre Handlungen) als gleichwertig aufzufassen. Die Idee,
dass das Material etwas tut – in unserem Fall für das Bild – ist jedoch noch recht
unspezifi sch.30
Nun gibt es auch andere, zum Teil viel frühere Theorien, die sich dem Material
als Bedeutungsträger gewidmet haben, die durch die oben skizzierte Entmateriali-
sierung jedoch wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Ohne Vollständigkeit bean-
spruchen zu wollen, sollen im Folgenden Ansätze Latours und anderer Theoretiker
herangezogen werden, um eine spezifi schere Materialtheorie zu entwickeln. Diese
Materialtheorie ist metaphorisch als eine offene Werkzeugkiste konzipiert, in der
verschiedenste Werkzeuge bereitliegen und die nie komplett ist.
Diese eklektische Vorgehensweise hat eine doppelte Funktion: Zum einen ver-
sucht sie buchstäblich ›materialgerecht‹ zu sein, indem sie einem jeweiligen Ma-
terial nicht eine allgemeine Theorie überstülpt, sondern das Material selbst nach
Werkzeugen fragen lässt, die sich eignen, es zu erklären. Theoretische Elemente
27 Dabei geht es nicht darum, nun zur Abwechslung einmal das Material statt das Immate-
rielle zu theoretisieren, die Hierarchie also umzudrehen, denn damit würde die Zweiteilung
lediglich bestätigt werden, vgl. ebd.
28 Vgl. Actor Network Theory and After, ed. by John Law and John Hassard, Oxford 1999,
157.
29 Ich verwende hier die englischen Begriffe der ANT, vgl. zur Problematik der Übersetzung
ins Deutsche Erhard Schüttpelz: Elemente einer Akteur-Netzwerk-Theorie, in: Akteur-Medien-
Theorie, hg. von Th. Thielmann, E. Schüttpelz und P. Gendolla, Bielefeld 2012, 8-67, bes.
16 ff.
30 Vgl. Material Agency – Towards a Non-Anthropocentric Approach, ed. by Carl Knappet and
Lambros Malafouris, New York 2010.

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können also variieren, verändert und erweitert werden, sie sind selbst Material.
Zum anderen soll diese Vorgehensweise aufzeigen, welche der ANT verwandten
Konzepte in den Kunst- und Medienwissenschaften existieren und wie diese mit-
hilfe der ANT in Beziehung gesetzt werden können, um Material in zeitgenössi-
schen und historischen Kontexten zu erfassen.31
Unsere Werkzeugkiste, den Begriff der Materialtheorie also, hat die Kunst- und
Mediengeschichte in der Person Rudolf Arnheims übrigens selbst bereitgestellt.32
In der Einleitung zur Neuaufl age der englischen Übersetzung seines Buches Film
als Kunst (1957) schreibt Arnheim, er habe bereits Mitte der zwanziger Jahre be-
gonnen, ausführliche Aufzeichnungen zu einer »Materialtheorie« (er verwendet
den deutschen Begriff ) anzufertigen 33: »It was a theory meant to show that artis-
tic and scientific descriptions of reality are cast in molds that derive not so much
from the subject matter itself as from the properties of the medium – or Material –
employed«. Der Begriff der Materialtheorie taucht weder im weiteren Text noch
in anderen Schriften Arnheims wieder auf, die ihr zugrundeliegende Annahme
bestimmt aber seine Analysen der formalen und technischen Elemente des Films.
Diese dienen wiederum dazu, die zentrale These des Buches zu demonstrieren,
dass die kreative Verwendung der materiellen Beschränkungen des Films (etwa
schwarz-weiß, fehlender Ton) den Kunstcharakter des Mediums bestimme. Diese
These, formuliert Anfang der dreißiger Jahre, war beim Erscheinen der Neuauflage
bereits von den technischen Entwicklungen überholt worden und konstituierte
eine aus heutiger Perspektive konservative und veraltete Ästhetik des Films. Das
erklärt möglicherweise auch, warum Arnheims unerhört konsequentes Denken aus
der Perspektive des Materials und die interessante Gleichsetzung des englischen
›medium‹ mit Material kaum wahrgenommen wurden. Die letztere wird hier noch
eingehender diskutiert – das Denken aus der Perspektive des Materials aber ist die
wichtigste Grundeigenschaft der hier geöff neten Werkzeugkiste.

31 Zur Benutzung und Einbettung der ANT in andere Fachgebiete vgl. Robert Oppenheim:
Actor-Network Theory and Anthropology after Science, Technology, and Society, in: Anthropological
Theory 7/4 (2007), 471-493, und Schüttpelz: Akteur-Medien-Theorie [Anm. 29], 25-32.
32 In den Naturwissenschaften wird ›material theory‹ im Bereich der relativ jungen Materi-
alwissenschaften (›materials science‹) verwendet und bezeichnet das Modellieren und die quan-
titative Analyse struktureller und funktionaler Materialeigenschaften, vgl M. Rühle / H. Dosch /
E. Mittemeijer / M. H. van de Voorde: European Whitebook on Fundamental Research in Materials
Science, Max-Planck-Institut für Metallforschung, Stuttgart (2000), 127.
33 Rudolf Arnheim: Film as Art, Berkeley / Los Angeles / London 1957, 2.

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III. Öl als intermediary in Kunstgeschichte und Technical Art History

Seit seiner Verwendung als hauptsächliches Malmedium für die


Tafelmalerei in den Niederlanden ab circa. 1420 hat Öl die Ent-
wicklung der westlichen Malerei so beeinflusst, dass Ölgemälde
bis heute das Äquivalent für ›Hoch‹-Bildkultur sind. Auch im
Hinblick auf ihre formalen Kennzeichen haben sich die Bilder der
zeitgenössischen visuellen Kultur, die gerne als ansteigende Bil-
derflut neuer Genres beschrieben wird 34, genaugenommen nicht
gravierend verändert. Sei es auf dem iPad, auf Facebook, in Zeit-
schriften oder gerahmt an der Wand: Die meisten Bilder, die uns
im Alltag begegnen, sind viereckig, vielfarbig, haben eine glän-
zende Oberfl äche und sind transportabel, wie es bereits die Ge-
mälde Jan van Eycks und seiner Zeitgenossen waren.
Interessanterweise ist der enorme Einfluss der unscheinbaren Substanz noch nie
Gegenstand einer eigenständigen Studie gewesen.35 Wo Farbpigmente und ihre
exotischen, animalischen oder mysteriösen Ursprünge ein reges Forschungsinter-
esse wecken und die Materialikonographie sich über eindeutig bedeutungsschwan-
gere Stoffe wie Gold, Filz, Plastik oder Porphyr beugt, wird Öl kaum als eigen-
ständiges Material wahrgenommen. Das mag an seiner Farblosigkeit liegen, denn
obwohl die Transparenz eine der Ursachen seines Erfolges ist, wird ein unsichtba-
res Material auch schnell übersehen, was Öl wiederum eine besonders interessante
Versuchssubstanz für eine zu erprobende Materialtheorie sein lässt. Bisher ist die
Aufmerksamkeit für Öl in der Kunstgeschichte – entsprechend der oben beschrie-
benen Theorie-Praxis-Zweiteilung – asymmetrisch verteilt gewesen: Dort wo sich
die Kunstgeschichte als interpretierende Geisteswissenschaft versteht, wird Öl als
Element der sogenannten »ars nova« 36 und Bestandteil der Historiographie von Va-
saris Erfi ndungsmythos der Ölmalerei hingenommen, ist aber kein expliziter For-
schungsgegenstand. »Few people beside artists know about oil colors. Even art his-
torians and critics do not recognize them when they encounter them in pictures«37,
fasste James Elkins diese selbstverständliche Ignoranz einmal zusammen. Dort, wo
die Kunstgeschichte hingegen als Naturwissenschaft auftritt, steht Öl im Zentrum
der Aufmerksamkeit und wird seit jeher erforscht.

34 U. a. Imagery in the 21st Century, ed. by Oliver Grau and Thomas Veigl, Cambridge, MA,
2011, 1.
35 Dies im Gegensatz zur anderen großen Erfi ndung der Kunst der Renaissance, der Zen-
tralperspektive, vgl. Jeroen Stumpel: The Impact of Oil – A History of Oil Painting in the Low
Countries and its Consequences for the Visual Arts 1350-1550, Project Description, Utrecht 2008
[URL: http://www.impactofoil.org/]
36 Der Begriff wird von Panofsky aus der mittelalterlichen Kompositionslehre auf die Öl-
malerei übertragen und erhält damit einen quasihistorischen Status, vgl. Ann-Sophie Lehmann:
Ars nova in een fl esje, in: Kunstschrift 5 (2010), 28-39.
37 Elkins: Painting [Anm. 20], 68.

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Das kunsthistorische Desinteresse lässt sich mit einer Auff assung von Öl als
Substanz erklären, die die realistische Darstellung der Bilder bedingt, aber nicht
verursacht. Das Malmaterial ist hier im Sinne Latours ein »intermediary« 38: »An
intermediary […] is what transports meaning or force without transformation: defi-
ning its inputs is enough to defi ne its outputs. For all practical purposes, an inter-
mediary can be taken as a black box […]«. »Intermediaries« funktionieren damit
anders als »mediators«, deren Input zu Veränderungen des Kontextes führt. Diese
»transform, translate, distort, and modify the meaning or the elements they are
supposed to carry« 39 und ihre Spezifi zität muss immer berücksichtigt werden. La-
tour macht den Unterschied zwischen »intermediary« und »mediator« anschaulich
anhand zweier Materialien, Nylon und Seide. Gelesen als reine Bedeutungsträger
– Seide repräsentiert »highbrow«, Nylon »lowbrow culture« – sind sie »interme-
diaries«. Fördert man aber das direkte Verhältnis zwischen den Materialien und
den sozialen Schichten zutage und demonstriert, wie Unterschiede im chemischen
Auf bau, in Manufaktur und Haltbarkeit des Materials die symbolische Aufl adung
bedingen, werden sie zu »mediators«.40
Dominante Interpretationen der frühniederländischen Malerei, von Max Fried-
länder und Erwin Panofsky bis heute, betrachten das Malmaterial in der Regel
als Voraussetzung für den neuen visuellen Realismus. Ursache, Bedeutung und
Einfluss der Darstellungen aber werden an religiöse, kulturelle oder proto-wis-
senschaftliche Bedingungen gekoppelt (theologische Schriften, die Burgundische
Hof kultur und der Aufstieg des Bürgerturms in Flandern oder das Vorhandensein
optischer Linsen werden herangezogen), selten indessen an das Material und die
damit verbundene Technik, die es produziert.41 Die Defi nition von Öl als Binde-
mittel, als Stoff also, dem eine vermittelnde Rolle zukommt, der Bedeutung trans-
portiert, aber selbst keine hat, entspricht der des »intermediary«. Damit wurde
das McLuhansche Diktum des Mediums als Botschaft, von der sich die Kunstge-
schichte für die Interpretation der Moderne, die das Material als Bedeutungsträger
in den Vordergrund rückte, inspirieren ließ, für die frühe Neuzeit nicht wahrge-
nommen.42
Ganz anders in der Technical Art History, die sich mit der materialtechnischen
Analyse von Kunstobjekten befasst.43 Hier konstituiert Öl und seine Interaktion mit

38Latour: Reassembling [Anm. 1], 39.


39Ebd.
40 Ebd., 40.
41 Vgl. exemplarisch Hans Belting: Spiegel der Welt – Die Erfi ndung des Gemäldes in den Nie-
derlanden, München 2010.
42 McLuhan wurde nachweislich von den Schriften u. a. Arnheims, Gombrichs, Wölffl ins
und Panofskys beeinflusst, vgl. Rebecca Zorach: Without Fear of Border Guards – The Renaissance
of Visual Culture, in: New Perspectives in Iconology – Visual Studies and Anthropology, ed. by Barbara
Baert / Jenke van den Akkerveken / Ann-Sophie Lehmann, Brussels 2012, 23-41.
43 Maryan W. Ainsworth: From Connoisseurship to Technical Art History – The Evolution of the
Interdisciplinary Study of Art, in: Getty Conservation Institute News Letter 20/1 (2005) [URL:
http://www.getty.edu/conservation/publications/newsletters/20_1/feature.html].

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Das Medium als Mediator 79

Pigmenten eine geheimnisvolle Biochemie der Bilder, die es zu enträtseln gilt. Seit
Vasari vor beinahe 500 Jahren Jan van Eyck als Erfi nder der Ölmalerei postulierte,
haben Maler, Historiographen und Kunsttheoretiker über die Art dieses Geheim-
nisses spekuliert.44 Bereits im 18. Jahrhundert wurden Experimente an Gemälden
ausgeführt, um die Erfi ndung für andere Maler und Länder oder frühere Perioden
zu reklamieren.45 Mit Lessings Fund von Ölrezepten im Traktat De Diversis Artibus
des Mönches Theophilus in der Wolfenbütteler Bibliothek verfiel das Primat Van
Eycks endgültig.46 Danach wird das Geheimnis nicht mehr in der Erfi ndung der
Ölfarbe an sich, sondern in einer besonderen Zutat oder Zubereitung des Öls ver-
mutet. Während der ausführlichen Analyse des Genter Altars Anfang der fünfziger
Jahre des 20. Jahrhunderts, bei der Materialproben aus einzelnen Tafeln genommen
werden, wird die Formel »Öl + x« notiert und als Zutat seitens der verantwortlichen
Restauratoren Harz vermutet. Bei einer erneuten Untersuchung der Proben An-
fang der achtziger Jahre wird »x« dann mit Sicherheit eine proteinhaltige Substanz
und Van Eycks Geheimnis eine Emulsion.47 Im Laufe der neunziger Jahre testen
die Chemiker Ashok Roy und Raymond White in der National Gallery London
zahlreiche in der Sammlung befi ndliche frühniederländische Gemälde und publi-
zieren die Resultate im Anhang des National Gallery Technical Bulletin. In einer syn-
thetisierenden Publikation Ende der neunziger Jahre schreiben sie, dass Van Eycks
Geheimnis darin gelegen habe, dass er ausschließlich Öl verwendete48: »There is
no substance that x can be substituted for, there is only oil: Van Eyck was simply
a fabulous painter, who exploited the possibilities of the medium to its fullest ex-
tent«. In neueren Forschungen taucht jedoch Protein wieder auf, möglicherweise
als in die oberen Malschichten abgewanderter Migrant aus der Untermalung, und
auch andere ältere Theorien werden weiterhin untersucht, etwa die Vermutung,
Van Eyck habe dem Leinöl ätherische Öle hinzugefügt.49
In der Schlussfolgerung Roy und Whites, Van Eyck sei eben einfach ein brillan-
ter Maler gewesen, der die Möglichkeiten des Mediums optimal ausgenutzt habe,
ist eine neue Frage angelegt: die nach der Art und Weise der Nutzung, also nach
dem Herstellungsprozess und dem Verhältnis zwischen Material, Werkzeug und

44 Pim Brinkman: Het geheim van Van Eyck, Zwolle 1993.


45 Jilleen Nadolny: A Problem of Methodology – Merrifi eld, Eastlake and the Use of Oil-Based
Media by Medieval English Painters, in: 14th Triennal Meeting The Hague Reprints 2 (2005), 1028-
1033.
46 Erhard Brepohl: Theophilus Presbyter und das mittelalterliche Kunsthandwerk – Gesamtausgabe
der Schrift De Diversis Artibus II, Köln, Weimar / Wien 1999.
47 Elise Eff mann: Theories about the Eyckian Painting Medium from the Late-Eighteenth to the Mid-
Twentieth Centuries, in: Reviews in Conservation (2006), 17-26; Leslie Carlyle and Maartje Witlox:
Historically Accurate Reconstructions of Artists’ Oil Painting Materials, in: Art of the Past – Sources and
Reconstructions, ed. by Mark Clarke / Joyce H. Townsend / Ad Stijnman, London 2005, 53-59.
48 Raymond White: Van Eyck’s Technique – The Myth and the Reality II, in: Investigating Jan van
Eyck, ed. by Susan Foister et al., Turnhout 2000, 104.
49 Nienke Woltman: De toevoeging van vluchtige oliën aan het olieverfmedium in de zestiende-eeuwse
schilderpraktijk van de Nederlanden, unpubl. Master Thesis, Amsterdam 2010.

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80 Ann-Sophie Lehmann

Maler. Für die Beantwortung solcher Fragen aber ist das Labor nicht ausgerüstet.
Dort werden mithilfe der allerneuesten Technologien alte Fragen gestellt. So prä-
sentiert die Website der englischen ›Engineering and Physical Science Research
Council‹ Ashok Roy stolz neben dem vom Council fi nanzierten Gas-Chromato-
graphie-Massen-Spektrometer mit der ›headline‹ 50: »Science uncovers the hidden
secrets of world famous paintings«.
Ein anthropologischer Besuch, wie Latour ihn in Laboratory Life (1986) be-
schreibt 51, in den Restaurierungswerkstätten der Londoner National Gallery, des
Münchner Dörner Instituts, des KIK / IRPA (Institut royal du Patrimoine artis-
tique) in Brüssel oder des GCI (Getty Conservation Institute) in Los Angeles würde
wohl zutage fördern, wie Öl immer wieder neu und mit anderen wissenschaft-
lichen Methoden und Instrumenten als geheimnisvolles Objekt (re-)konstruiert
wird – brauchbar als ein Objekt, das sich innerhalb der statischen Konstellation
des Gemäldes lokalisieren, isolieren und analysieren lässt und dessen Erforschung
zum Verständnis des Erhaltungszustandes und der chemischen Veränderungen in
Pigment-Öl- oder Öl-Protein-Verbindungen beiträgt. Damit behandelt auch die
naturwissenschaftliche Analyse Öl als »intermediary« und black box, deren Inhalt
katalogisiert werden kann, dessen transformative Wirkung auf die Darstellung je-
doch nur selten berücksichtigt wird.
Um die wertvollen Ergebnisse der ›technical art history‹ für das Verhältnis von
Material und Darstellung zu mobilisieren, muss Öl aber aus seiner intermediären
Position in die eines »full-blown mediators« gerückt werden.52 Tatsächlich haben
sich ›technical art history‹ und Kunstgeschichte in den letzten Jahren in diesem
Sinne aufeinander zu bewegt, und man ist sich mittlerweile darin einig, dass nicht
das Bindemittel allein, sondern seine Rolle im Malsystem, das heißt im gesamten
maltechnischen Auf bau untersucht werden muss.53 Die Beziehung zwischen Mate-
rial, Prozess und Darstellung wird sichtbar, wenn die Malsysteme für bestimmte
Motive untersucht werden (z. B. Wasser, Schatten, Reflektionen, Haut, Goldbrokat
etc.), ein Ansatz, der das Verweben technischer Analysen und Rekonstruktionen
sowie der historischen Erforschung von Schriftquellen (Rezepte, Verträge, Zunft-
bestimmungen, Kunsttheorie) mit dem Instrumentarium der Ikonologie erfordert
und den Begriff des Malsystems um eine Dimension erweitert.54 Solche integrativen
Ansätze ermöglichen die Analyse von Öl als »mediator« und erfordern in zweiter
50URL: http://www.epsrc.ac.uk/newsevents/news/2010/Pages/paintingssecrets.aspx.
51Bruno Latour and Steve Woolgar: Laboratory Life – The Social Construction of Scientifi c Facts,
Beverly Hills 1979.
52 Latour: Reassembling [Anm. 1], 173.
53 Christoph Schölzel: Jan van Eycks Bindemittel – ein Geheimnis?, in: Das Geheimnis des Jan van
Eyck – Die frühen niederländischen Zeichnungen und Gemälde in Dresden, Ausstellungskatalog der
Gemaldegalerie Dresden, München, 2005, 35.
54 Stumpel: Impact [Anm. 35], 7-9; Marjolijn Bol and Ann-Sophie Lehmann: Painting Skin
and Water – Towards a Material Iconography of Translucent Motifs in Early Netherlandish Painting, in:
Rogier van der Weyden in Context – Underdrawing an Technology in Painting, ed. by Lorne Camp-
bell, Jan van der Stock, Catherine Reynolds and Lieve Watteeuw, Leuven / Paris / Walpole 2012.

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Das Medium als Mediator 81

Instanz theoretische Mittel, die die damit einhergehende Vernetzung der bisher ge-
trennten Instanzen Technologie / Material und Bild / Darstellung / Repräsentation
zuwege bringen.55

IV. Öl als verzauberte Technologie

»The ›history of technology‹ taken literally, is not the history of machines and other
artefacts, but the history of the study of the arts« 56 , schreibt Ursula Klein 2010 in
einer kurzen Historiographie der Technikgeschichte und zeigt damit, wie nahe
beieinander Kunst und Technologie disziplinär liegen, wenn man anfängt, aus der
Perspektive des Materials zu denken. Sich über die Ausgrenzung der Technologie
in den neueren Kunstwissenschaften verwundernd, publizierte der Anthropologe
Alfred Gell bereits 1992 einen Aufsatz mit dem Titel »The technology of enchantment
and the enchantment of technology.« 57 Gells Anliegen ist die Befreiung der Kunst-
objekte aus ihrer statischen Position als ästhetische Bedeutungsträger, indem er
ihre Herstellungsprozesse ins Zentrum stellt. Denn diese, so schreibt Gell ähnlich
wie Latour in Drawing Things Together wenige Jahre zuvor, bedingen die Macht der
Kunstobjekte58: »the power of art objects stems from the technical processes they
objectively embody […] The enchantment of technology is the power that technical
processes have of casting a spell over us so that we see the real world in an enchanted
form«. Zwei scheinbar diametrale Phänomene – Technologie und Bezauberung –
werden also als einander bedingende Ursachen für die Macht (oder »agency«, wie
Gell sie später nennt 59) der Kunstobjektes identifi ziert. Kunstwerke sind das Er-
gebnis technischer Prozesse, also der Bearbeitung von Material, und sind darum
in der Lage, den Betrachter zu verzaubern bzw. seine Wahrnehmung der Welt zu
verändern. Das Konzept der »enchanted technology« ermöglicht es, die oben skiz-
zierte Diskrepanz zwischen der Abwesenheit des Materials im Kunstdiskurs und
seiner isolierten Anwesenheit im naturwissenschaftlichen Diskurs zu überbrücken,
und genauer noch, Ölmalerei als eine außergewöhnlich bezaubernde Technologie
zu verstehen. Denn obwohl Gell seine These zunächst anhand der Kanu-Bugver-
zierung der Bewohner der Trorbriand-Inseln (Papua-Neuguinea) ausführt, die
mit ihren farbigen Schnitzereien eine magische Wirkung auf den Feind haben,
demonstriert er die Universalität der »enchanted technology« an einem Beispiel
aus der westlichen Kunst, einem Bild des amerikanischen Realisten John Frederik
Peto, bekannt für seine trompe l’œils insbesondere von Pinnwänden. In Old Time

55 Dass die Erforschung von Material einen methodologischen Paradigmenwechsel erfordert


und bisherige Kategorien unterläuft, ist auch für die Wissenschaftsgeschichte evident, vgl. Ma-
terials in the History of Technology, in: Klein/Spary: Materials and Expertise [Anm. 18], 16-19.
56 Ebd., 17.
57 Alfred Gell: The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology, in: The Art of
Anthropology, ed. by Eric Hirsch, London/New Brunswick 1999, pp. 159-186.
58 Ebd., 1.
59 Alfred Gell: Art and Agency – An Anthropological Theory, Oxford 1998.

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82 Ann-Sophie Lehmann

Letter Rack (Museum of Fine Arts, Boston, 1894) werde die Bezauberung durch
Öl bewirkt 60: »The painting’s power to fascinate stems entirely from the fact that
people have great difficulties in working out how coloured pigments (substances to
which everybody is broadly familiar) can be applied to a surface so as to become an
apparently different set of substances, namely, the ones which enter into the com-
position of letters, ribbons, drawing-pins, stamps, bits of string, and so on. The
magic exerted over the beholder by this picture is a reflection of the magic which
is exerted inside the picture, the technical miracle which achieves the transubstan-
tiation of oily pigments into cloth, metal, paper and feather«.
Gells Beschreibung ließe sich ohne weiteres auf ein beliebiges, frühniederlän-
disches Gemälde übertragen, dessen Faszination für den Laien, der mit dem blo-
ßen Auge schaut, aber auch für den Experten, der ausgerüstet mit Optivisor und
Makrolinse einen technisierten Blick wirft, genau darin liegt, verstehen zu wollen,
wie das mimetische Verhältnis zwischen dem Material der Bilder (Öl, Pigmente,
Farbschichten, Farbauftrag) und dem Material der Darstellung (Stein, Bronze,
Haut, Haare, Wasser) zustande kommt.61 Was Gell als Transsubstantiation öliger
Pigmente in dargestellte Materialien beschreibt, lässt uns Technologie und Magie
und damit auch Material und Abbildung zusammen denken. Die religiöse Meta-
pher, die Gell verwendet, sollte jedoch keinesfalls Unantastbarkeit suggerieren. In
einem nächsten Schritt gilt es mithin die Art und Weise der Umwandlung genauer
zu verstehen. Dazu sind feinere Werkzeuge vonnöten.

V. Öl und seine affordances

Diese liefert James J. Gibsons Theorie der »affordances«, die der Psychologe in den
siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte.62 Der Begriff der
»affordances« lässt sich am besten als »Angebotscharakter eines Objektes« 63 über-
setzen und bedeutet, dass die Eigenschaften eines Dinges, einer Substanz oder

60Ebd., 170.
61Im Rahmen des eingangs erwähnten Impact-of-Oil-Forschungsprojektes haben die Mit-
arbeiter in zahlreichen Sammlungen ausführliche visuelle und fotografi sche Analysen frühnie-
derländischer Gemälde vornehmen können. Ein Höhepunkt war die Betrachtung der Tafeln des
Genter Altars im Sommer 2010 im Zuge der Vorarbeiten zur Restaurierung. Immer wieder
konnte ich bei mir selbst, aber auch den anderen Mitarbeitern erleben, wie die Vergrößerung
und gemeinsame visuelle Analyse der kleinsten Details – etwa der Haare auf den Beinen der
Adam-Figur – keinesfalls eine Entzauberung zur Folge hatte, sondern im Gegenteil das Entzif-
fern der Technik das ›enchantment‹ noch verstärkte.
62 James Jerome Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979; ders.: The
theory of Affordances, in: Perceiving, Acting and Knowing, ed. by Robert Shaw and John Bransford,
New York 1977, 67–82.
63 Nicole Zinnien: Die (Wieder-)Entdeckung der Medien – Das Aff ordanzkonzept in der Medienso-
ziologie, in: Sociologica Internationalis – Internationale Zeitschrift für Soziologie, Kommunkations- und
Kulturforschung 2 (2009). Der Aufsatz bietet eine sehr gründliche Darstellung und Übersicht der

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Das Medium als Mediator 83

Materials uns anbieten, bestimmte Handlungen auszuführen. So bietet die Erde


die Möglichkeit, auf ihr zu laufen (ein Beispiel Gibsons), lädt ein Stuhl zum Sitzen
ein (das ist der Grund, warum Gibsons Theorie außerhalb der Wahrnehmungs-
psychologie zuerst von Designern aufgegriffen wurde, denn der eine Stuhl bietet
ein angenehmeres Sitzen als ein anderer, was bedeutet, dass »affordances« gestaltet
werden können64) oder ermöglichen Steine das Bauen, aber genauso auch die Zer-
störung einer Behausung. Das Letztere ist wichtig, denn »affordances« sollten auf
keinen Fall mit der Aufforderung zum korrekten Handeln verwechselt werden,
einem materialgerechten etwa, denn das würde eine moralische Aufl adung des
Konzeptes suggerieren, die es ursprünglich nicht hat. Natürlich können Objekte
aber so gestaltet werden, dass sie bestimmte Handlungen herausfordern und andere
unterdrücken, ein gutes Beispiel ist Software.65
Die Wahrnehmung der Umwelt in »affordances« führt zu einer Umkehrung des
anthropozentristischen Effektdenkens, in dem Idee, Handlung und materielles Re-
sultat aufeinander folgen, und generiert eine alternative Begriffskette, in der Mate-
rial den Ausgangspunkt für eine Handlung bildet, aus der ein Resultat hervorgeht.
Diese Umkehrung macht die »agency« nicht-menschlicher Dinge erkennbar und
damit auch Gibsons immense Bedeutung für die ANT, auf die Latour in Reassem-
bling the Social recht knapp verweist. Im Kapitel »Objects too have Agency« fasst
Latour die vielleicht griffigste »take-home message« der ANT zusammen, wenn er
schreibt 66: »In addition to ›determining‹ and serving as a ›backdrop for human ac-
tion‹, things might authorize, allow, afford, encourage, permit, suggest, influence,
block, render possible, forbid, and so on«, und in der dazugehörigen Fußnote heißt
es: »This is why the notion of affordance, introduced by James G. Gibson, has been
found so useful.«
Sie ist in der Tat sehr nützlich, auch für das Verständnis des Materials Öl, das in
erster Instanz eine Flüssigkeit ist. Die extrem polymorphe Gestalt von Flüssigkeiten
»affords«, so Gibson, die Herstellung von Formen 67: »fluid substances […] can be
poured, spilled, splashed, and they can be smeared, painted, and dabbled in. The
human infant explores these possibilities with great zest; the adult artisan has lear-
ned to perceive and take advantage of them.« Neben der allgemeinen »affordance«,
Bilder zu machen, sind es die spezifi schen Möglichkeiten der Flüssigkeit Öl, die
Handwerker erkennen lernen mussten und dann in einem langwierigen Prozess,

Weiterentwicklung des Konzeptes, besonders für die Medienwissenschaften. Vgl. auch Henry
S. Jenkins: Gibson’s ›Affordances‹ – Evolution of a Pivotal Concept, in: Journal of Scientifi c Psychology
2008 (December), 34-45. [URL: http://psyencelab.com/images/Gibsons_Affordances_Evolu-
tion_of_a_Pivotal_Concept.pdf ].
64 Zur Anwendung der ›affordance‹-Theorie im Design vgl. Donald A. Norman: Dinge des
Alltags, Frankfurt a. M. 1989/1988.
65 Vgl. Zinnien: Aff ordanzkonzept [Anm. 63], bes. III Das Affordanzkonzept in der neueren
Medienforschung.
66 Latour: Reassembling [Anm. 1], 72.
67 Gibson: Ecological Approach [Anm. 62], 24-25.

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84 Ann-Sophie Lehmann

den die Kunstgeschichte noch lange nicht vollständig erforscht hat, optimal aus-
zunutzen lernten. Da ist zunächst die Viskosität, die die Mischung mit Pigmenten
erleichtert und die resultierenden Farben extrem manipulierbar macht, so dass sie
sich auf der Palette, aber auch noch auf dem Bildträger mengen lassen. Aufgrund
seiner relativen Dickflüssigkeit (die sich mit Verdünnern verändern lässt) ist Öl
plastisch, ist also nicht beschränkt auf die Fläche, sondern hat auch ein Relief.
Desweiteren ermöglicht die Transparenz von Öl Lasuren und erzeugt eine Licht-
brechung innerhalb der Farbschichten, die Glanz und eine hohe Farbsättigung zur
Folge hat.68 Weil sie langsam trocknet, kann Ölfarbe zudem lange überarbeitet
werden, was Verbesserungen erlaubt und das Verreiben verschiedener Farbzonen,
sodass gleitende Übergänge entstehen. Im Trocknen verändert sich die chemische
Zusammensetzung des Öls irreversibel, es polymerisiert, härtet aus und ist darum
stabil und dauerhaft.
Es ist dieses komplexe Konglomerat der Eigenschaften des Mediums, das zusam-
men genommen den visuellen Realismus der frühniederländischen Malerei ermög-
lichte. Als Panofsky (dessen wenige Beobachtungen zum Material sehr scharfsinnig
sind) schrieb69: »The paint that renders skin, or fur, or even the stubble on an imper-
fectly shaved face seems to assume the very character of what it depicts«, so stimmte
dies nur zum Teil, denn die Ölfarbe ›scheint‹ nicht nur den Charakter dessen an-
zunehmen, was sie darstellt, sie ›hat‹ tatsächlich die Eigenschaften der Materialien,
die sie nachbildet. So bietet (»affords«) die Plastizität der Farbe die Bearbeitung mit
Pinselstiel, Kämmen und Stoffen an, wodurch Strukturen entstehen, die etwa die
materielle Erscheinung von Haar, Pelz oder groben Stoffen haben. Die Transparenz
ermöglicht die mimetische Wiedergabe von Wasser, aber auch semi-transparenter
Substanzen wie Marmor, Rauch und menschliche Haut, und sie formt darüber
hinaus eine tatsächliche Haut wenn sie trocknet, was die mimetische Beziehung
zwischen dem Malmaterial und dem darzustellenden Material noch erhöht.70 Die
Transparenz fordert aber auch zum Vergessen des Mediums selbst auf und fördert
damit die Illusion der Unmittelbarkeit der Darstellung und damit der scheinbaren
Immaterialität des Bildes.
Die Dauerhaftigkeit der einmal getrockneten Farbe hat nicht nur für die Er-
haltung der Bilder über Jahrhunderte hinweg gesorgt, sondern hat auch die »af-
fordance« der Transportierbarkeit: Der Siegeszug der Technologie verdankt sich
nicht Nachzeichnungen, Kopien in anderen Medien oder schriftlichen Berich-
ten über diese Bilder, sondern dem tatsächlichen Export fl ämischer Ölbilder nach

68 Marjolijn Bol: Oil and the Translucent – Varnishing and Glazing in Practice, Recipes and Histo-
riography, 1100 –1600, unpublished PhD thesis, Utrecht 2012.
69 Erwin Panofsky: Early Netherlandish Painting, Cambridge/MA 1953, 181.
70 Vgl. Ann-Sophie Lehmann: Fleshing out the Body – The ›Colours of the Naked‹ in Dutch Art
Theory and Workshop Practice 1400-1600, Body and Embodiment in Netherlandish Art, in: Nederlands
Kunsthistorisch Jaarboek 58, ed. by Ann-Sophie Lehmann and Herman Roodenburg, Zwolle 2008,
108-131.

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Das Medium als Mediator 85

Italien, Spanien, Portugal, Polen und in andere europäische Länder.71 Nicht nur
Papier, also die wissenschaftliche Zeichnung, das Diagramm oder die maßstabs-
getreue Karte, auch Ölfarbe und hölzerner Bildträger produzieren folglich »im-
mutable mobiles«, die die Ähnlichkeit und Präsenz einer Person ( Jan van Eycks
verschollenes Portrait der Isabella von Portugal für ihren zukünftigen Gatten) oder
die Dokumentation von Ereignissen transportieren.72
Aus diesen »affordances« nun erwächst die »agency« des Mediums, sich die Welt
mimetisch anzueignen. »Agency«, so defi niert Latour, »lies in the blind spot in
which society and matter exchange their properties«.73 Öl, das unscheinbare Bin-
demittel, ist ganz buchstäblich dieser blinde Fleck der Kunstgeschichte. Durch Öl
tauschen ›matter‹ und ›society‹ im Bild ihre Eigenschaften aus, wird die Farbe zu
Haut, zu Haar, Portrait, Landschaft, Architektur, zur ganzen Welt, während das
Medium selbst durch seine materiellen Eigenschaften im Bild zu verschwinden
scheint. Darum ist die interessanteste »agency« des Öls vielleicht seine Suggestion
der Immaterialität, die Betrachter, aber auch Kunsttheorie und -wissenschaft im-
mer wieder verführt, das Material des Mediums zu vergessen. Aus der Perspektive
des Materials betrachtet wird hier eine substantielle Verwandtschaft zwischen Öl,
Wachs, Glas und Plastik bis hin zur Computergrafi k ersichtlich, ihres Zeichens
ebenfalls Materialien, die allesamt (semi-)transparent und polymorph sind, die Re-
alismus ›afforden‹ und eine Entmaterialisierung der aus ihnen hergestellten Arte-
fakte zuwege bringen. Die Theorie der »affordances« ermöglicht, so ist hier gezeigt
worden, das Sichtbarmachen aktiver Materialeigenschaften. Nun gilt es das Mate-
rial in der Dynamik der (künstlerischen) Herstellungsprozesse von Bildern zu ver-
stehen, was möglicherweise die schwierigste Aufgabe einer Materialtheorie ist.

VI. Öl in Bewegung, oder: Latours Pinsel

In dem fi ktiven Gespräch zwischen Doktorand und Professor, dass Latour als Inter-
ludium in Reassembling the Social aufgenommen hat, bedauert der Professor gleich
am Anfang die Dominanz des Begriffes Netzwerk. Das Netzwerk würde eine sta-
tische Anordnung suggerieren, die sich kartografi sch erfassen lässt; das aber will
die ANT keinesfalls leisten. Viel besser wäre darum eigentlich der Begriff eines
Werknetzes, der die Bewegung und die Arbeit (vor allem die des Doktoranden),
Aktanten in Bewegung und in Beziehung zu setzten, beschreibt. Statt als eine

71 Vgl. Paula Nuttall: From Flanders to Florence – The Impact of Netherlandish Painting 1400–
1500, New Haven/London 2004.
72 Schüttpelz: Akteur-Medien-Theorie [Anm. 29], 33-38. Indem sich das Konzept des »immu-
table mobile« ausschließlich auf graphische Techniken konzentriert, wird interessanterweise eine
klassische Dichotomie der Kunstgeschichte reproduziert, die zwischen Linie und Farbe und
damit Ratio und Sinnlichkeit.
73 Bruno Latour: Pandora’s Hope – Essays on the Reality of Science Studies, Cambridge, MA 1999,
190.

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86 Ann-Sophie Lehmann

Form, die er mit seiner Analyse zeichne oder male, solle sich der Student die ANT
als Name eines Stiftes oder Pinsels vorstellen, mit dem er hantiere. Das mache die
ANT aber nicht zu einem neutralen Werkzeug, denn Holzkohle produziere andere
Striche als ein Bleistift.74
ANT ist selbst ein Mediator, scheint Latour hier mit den Material-Metaphern
aus der Kunsttechnik anschaulich machen zu wollen. Sie ist in Bewegung und
verändert, was sie analysiert. Während nun Gibsons »affordance«-Theorie dem
Materialtheoretiker einen geordneten Satz Schraubenschlüssel in die Werkzeug-
kiste legt, erfordert die Untersuchung der Interaktion mit dem Material ein breiter
einsetzbares Instrument. Eines, dass die Bewegungen des Materials nicht einfriert,
sondern ihre Dynamik erfahrbar macht – vielleicht kann man sich dieses Instru-
ment, mit der Metapher Latours im Hinterkopf, wie einen breitgefächerten, etwas
borsteligen Pinsel vorstellen.
Die Frage nach der Interaktion zwischen dem jeweiligen Material und dem Bil-
dermacher wirft uns zunächst auf den Unterschied zwischen den Akteuren zurück:
Inwiefern ist Material wirklich aktiv, verglichen mit dem Werkzeug in der Hand
und den Ideen im Kopf des Malers? Denn von ganz alleine malt Öl keine Gemälde.
Sind es also doch Ideen, die es in Bewegung setzen, auch wenn diese sicherlich von
dem Wissen um das Material beeinflusst werden? Und wo liegt der Unterschied
zwischen einer »human« und »non-human agency« in diesem Fall? In dem Buch
Material Agency, dass sich mit dieser Frage auseinandersetzt, schreibt der Archäo-
loge Lambros Malafouris in einer Fallstudie über das Drehen von Ton auf der Töp-
ferscheibe, dass »agency« grundsätzlich dazwischen anzusiedeln sei75: »[…] while
agency and intentionality may not be properties of things, they are not properties
of humans either: they are the properties of material engagement, that is, of the grey
zone where brain, body and culture confl ate.« Diese Grauzone ist bereits 1934 von
John Dewey in seinem Buch Art as Experience als aktionsreicher Ort erkannt wor-
den.76 Dewey defi nierte den materiellen Herstellungsprozess von Kunstwerken als
intellektuelle Leistung und unterschied sich damit radikal von herrschenden Auf-
fassungen der Ästhetik.77 Er beließ es jedoch nicht bei der Verbindung traditionel-
ler Gegensätze zu einem »making is thinking«78 , sondern lieferte auch ein Modell
dazu. Zunächst fasst Dewey all das, was allgemein der immateriellen Domäne des
»embodied mind« zugeordnet wird – Gedanken, Beobachtungen, Erinnerungen,
Fantasien, Gefühle – zusammen und beschreibt es als »inner material«.79 Mit die-

74 »It’s the work, and the movement, and the flow, and the changes that should be stressed«,
Latour: Reassembling [Anm. 1], 143.
75 Lambros Malafouris: At the Potters Wheel – An Argument for Material Agency, in: Knappet /
Malafouris: Material Agency [Anm. 30], 22.
76 John Dewey: Art as Experience, New York 1934.
77 Ebd., 73.
78 Wie jüngst Richard Sennett, der seinem Buch The Craftsman die Devise »making is thin-
king« voranstellt, Richard Sennett: The Craftsman, London 2008.
79 Dewey: Experience [Anm. 77], 74.

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Das Medium als Mediator 87

sem simplen Spielzug landet die hierarchische Opposition zwischen Idee und Mate-
rial, die dem hylomorphen Modell zugrunde liegt, im Abseits.80 Der künstlerische
Herstellungsprozess ist Dewey zufolge nun eine dynamische Interaktion zwischen
inneren und äußeren Materialien, die einander formen81: »the physical process de-
velops imagination, while imagination is conceived in terms of concrete material«.
Diese frühe Defi nition dessen, was Malafouris griffig als »material engagement«
beschreibt, gibt dem Materialforscher aber noch keine eindeutige Methodik an die
Hand. Das Zusammentreffen von innerem und äußerem Material beansprucht auf
der einen Seite Universalität (denn auf welchen kreativen Prozess würde es nicht
zutreffen?), lässt sich gleichzeitig aber nur ›in action‹, in lebendigen Zusammen-
hängen beobachten, indem man etwa einem Maler oder besser noch vielen Malern
lange Zeit systematisch über die Schulter schaut. Für alle bereits gemalten Ölbilder
ist das unmöglich. Um den Blick über die Schulter der Bildermacher auch für eine
historische Analyse von »material engagement« zu ermöglichen, können Schrift-,
aber vor allem Bildquellen mobilisiert werden, die Herstellungsprozesse visuell
dokumentieren.82
Auch inzidentelle Beobachtungen
können hilfreich sein. So war ich wäh-
rend einer Summerschool, im Rahmen
derer historische Rekonstruktionen von
frühniederländischen Ölbildern ange-
fertigt wurden, Zeuge einer expliziten
Reflektion über den Austausch von in-
nerem und äußerem Material.83 Eine der
Teilnehmerinnen kämpfte sichtlich mit
der Darstellung der langen Haare einer
Heiligen. Sie hatte keinerlei Erfahrung
mit Ölfarbe und erklärte mir: »Ich wollte
die Haare einfach schnell malen, aber das
sah nicht gut aus, dann habe ich eingese-

80 So wie Latour darauf besteht, dass ein Netzwerk keine Zwischenräume hat, kein Innen
und Außen, keinen Schatten (Bruno Latour: On Actor Network Theory – A few clarifi cations. Net
time posting From: Pit Schultz <pit {AT} icf.de> Date: Sun, 11 Jan 1998 09:41:06 +0100), so ist
bei Dewey zwar inneres und äußeres Material gegeben, aber nichts mehr außerhalb dieser ma-
teriellen Welt, keine externe Position. Ähnlich argumentiert Tim Ingold in Materials against
Materiality [Anm. 21], 7.
81 Dewey: Experience [Anm. 77], 75.
82 Vgl. Ann-Sophie Lehmann: Showing Making – On Visual Documentation and Creative Practice,
in: Journal of Modern Craft 1/5 (2012), 9-24 und zahlreiche Beispiele in dies.: Bügeln, Töpfern,
Zeichnen, oder: How To YouTube – Videos kreativer Praxis als Vermittlung und Performanz impliziten
Wissens, in: Hamburger Hefte zur Medienkultur 12 (2011), 124-139.
83 The Impact of Oil, Amsterdam-Maastricht Summerschool, 26.August-2. September 2011.
Universiteit van Amsterdam / Rijksmuseum (URL: http://www.amsu.edu/en/course/3401/the-
impact-of-oil-historical-painting-techniques-in-early-netherlandish-painting/).

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88 Ann-Sophie Lehmann

hen, dass ich darüber nachdenken muss, wie sich die Farbe auf dem Malgrund an-
fühlt und was sie tut, wenn ich sie bewege, und dann habe ich verstanden, wie ich
den Pinsel führen muss, um die Haare so zu malen, dass sie wie Haare aussehen«.
Dieses Beispiel zeigt, wie sich inneres Material (Vorstellung, Erfahrung) und äu-
ßeres Material (Öl, Pigmente, Pinsel) gegenseitig formen. Es zeigt auch, dass diese
Interaktion noch durch eine weitere Beziehung ergänzt wird, nämlich jene zwi-
schen äußerem und darzustellendem Material. So hat Ölfarbe eine Affordanz für die
Darstellung von Haar, weil sie sich auf Grund ihrer Viskosität nach dem Pinselstrich
formen kann. Die Borsten eines härteren Pinsels können feine, haarartige Struktu-
ren in der bereits leicht angetrockneten Farbe schaffen, die wie Haar aussehen, weil
sie von Haaren verursacht werden. Indem nicht nur das Öl, sondern auch der Pinsel,
seine Beschaffenheit und Bewegung mitgedacht werden, lässt sich die »affordance«-
Theorie auch für die Analyse dynamischer Herstellungsprozesse einsetzen.84
Gemeinsam sind die drei Ebenen des inneren, äußeren und darzustellenden Ma-
terials (die man ungefähr mit Malafouris »brain, body and culture« gleichsetzen
kann) und die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander das vorläufig letzte Werk-
zeug, das in die hier imaginierte Materialtheoriekiste gelegt wird. Ob dies nun ein
Latourscher Pinsel ist, und wie dieser genau aussieht, bleibt der Vorstellungskraft
eventueller Anwender überlassen.
Es ist aber sicherlich kein Zufall, dass Latour künstlerische Materialien bemüht,
um seine Metaphorik der Dynamik und Veränderlichkeit zu entwickeln. Die An-
thropologin Susanne Küchler stellte vor einiger Zeit fest, dass die Sozialwissen-
schaften ihr Interesse an der Beziehung zwischen Objekten und Subjekten auf die
Beziehung zwischen Material und Subjekten verlagern müssten, weil die Entwick-
lung neuer, intelligenter und interaktiver Materialien in den materials sciences die
Interaktion und Individuation von Objekten ins Stadium der Verfertigung vor-
verlege 85: »A direct consequence for social science is that it now has to locate social
processes at the stage of material innovation in ways that will bring notions of social
relations into dialogue with the creative transformation of materials«. Für Bilder-
macher, so hoffe ich mit diesem Beitrag gezeigt zu haben, ist die kreative Transfor-
mation von Materialien nicht erst durch innovative Technologien, sondern schon
immer ein sozialer und kultureller Prozess gewesen, den es zu erforschen gilt, will
man die Macht und Bedeutung der Bilder verstehen.

Bildnachweis
Abb. 1 (S. 77): Malmaterial Leinöl, © Holbein.
Abb. 2 (S. 87): Rekonstruktion eines niederländischen Tafelbildes aus dem 15. Jahrhundert,
Summerschool »Impact of Oil«, Universiteit van Amsterdam & Rijksmuseum Amsterdam,
Sommer 2011, © Judith Niessen.

Vgl. das Affordance-in-Interaction Konzept, Zinnien: Affordanzkonzept [Anm. 63], 16.


84
Susanne Küchler: Technological Materiality – Beyond the Dualist Paradigm, in: Theory, Culture
85
& Society 25 (2008), 101-120, hier 102.

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