Abnett, Dan - Warhammer 40000 Das Attentat
Abnett, Dan - Warhammer 40000 Das Attentat
40.000
DAN ABNETT
Das Attentat
Roman
Deutsche Erstausgabe
»Ich schlage vor, von Mann zu Mann«, sagte Lugo, »dass wir
alle vergangenen Unannehmlichkeiten hinter uns lassen.«
Lugo war ein hochgewachsenes knochiges Individuum mit
dünner, fettiger Haut, die wie Pergament an den Kurven seines
rasierten Schädels klebte. Er trug eine weiße Galauniform,
deren Brust mit Orden behangen war.
»Das könnte von Vorteil sein, Marschall«, sagte Gaunt.
»Dinge sind gesagt worden auf Hagia. Taten wurden
vollbracht. Mit Ihrer kleinen Exkursion zur Schreinfeste haben
Sie sich und Ihre Fähigkeiten in meinen Augen rehabilitiert.
Also … reden wir nicht mehr darüber, lautet mein Vorschlag.«
Gaunt nickte. Er fand es schwierig zu antworten. Marschall
Lugo war seiner Ansicht nach einer der unfähigsten und
selbstherrlichsten Offiziere im Führungsstab des Kreuzzugs,
eher ein Politiker als ein militärischer Führer. Im Jahre 770
hatte er sich den Oberbefehl über die Befreiung der
Schreinwelt Hagia in dem Glauben gesichert, sie sei eine
einfache Aufgabe, mit der er viel Ruhm erringen und seine
politischen Ambitionen untermauern könne. Als das
Befreiungsunternehmen eine katastrophale Wendung nahm,
hatte er Gaunt die Schuld gegeben und versucht, den
Befehlshaber des Ersten Tanith zum Sündenbock zu machen.
Dadurch hätte er beinahe die ganze Schreinwelt an das Chaos
verloren – eine fatale Situation, die nur durch die Tanither im
Zuge der sonderbaren Geschehnisse in der Schreinfeste selbst
bereinigt worden war. Nach Hagia und wieder mit weißer
Weste war Gaunt mit seinen Truppen nach Phantine versetzt
worden. Lugo war zwar nicht offiziell degradiert worden, aber
als Statthalter des Imperiums auf Hagia geblieben, was seinen
Ambitionen einen Riegel vorgeschoben hatte.
Traurigerweise hatte das auch bedeutet, dass er sich genau
am richtigen Ort befunden hatte, um von den
außergewöhnlichen Ereignissen zu profitieren, die dann dort
stattgefunden hatten. Sein Stern war nun wieder im Aufgehen
begriffen. Er hatte praktisch die Kontrolle über den
möglicherweise einflussreichsten Teil des gesamten imperialen
Interesses an den Sabbatwelten. Es kursierten bereits Gerüchte,
Lugo könne sich darauf freuen, Macaroth als Kriegsmeister
abzulösen, falls die gegenwärtige Stagnation andauere. Er war
tatsächlich so etwas wie der kommende Mann.
Gaunt konnte das Selbstvertrauen und den Ehrgeiz beinahe
am Marschall riechen. Tatsächlich war es der Geruch nach
Rasierwasser, aber für Gaunt entsprachen diese Gerüche
einander. Lugo war auf Macht aus. Wirkliche Macht. Und die
Aussicht darauf weckte in ihm einen so großen Appetit darauf,
dass man fast seinen Magen knurren hören konnte.
Und es war absolut offensichtlich, dass Ibram Gaunt, der
Lugo auf Hagia so beschämt hatte, das Letzte war, was Lugo
im Weg haben wollte.
»Warum lächeln Sie, Gaunt?«
Gaunt zuckte die Achseln. »Ohne Grund, Marschall. Ich bin
nur froh, dass wir die Angelegenheit zwischen uns regeln
konnten.« In der Tat ohne Grund. Gaunt lächelte, weil er zum
ersten Mal, seitdem er auf Aexe Cardinal seine Befehle
erhalten hatte, froh darüber war, auf Herodor zu sein.
Wie man ihm zu verstehen gegeben hatte, war er nur hier,
weil sie es verlangt hatte. Lugo hätte Gaunt niemals
angefordert. Wer – oder was – sie auch war, sie hatte Einfluss.
Sie hatte hier das Kommando, wirklich das Kommando, und
Lugo war gezwungen, ihrem Willen zu gehorchen. Lugo und
seine Taktiker nahmen sie ernst. Entweder das, oder Lugos
Befähigung zur Intrige war so groß, dass Gaunt ihre
heimtückischen Mechanismen nicht einmal im Ansatz
erkannte.
»Sie sagen, sie hat darauf bestanden, dass die Nachricht ihrer
Rückkehr überall verbreitet wird?«, fragte Gaunt.
Lugo nickte. Er war zum Fenster gegangen und schaute auf
die Stadt, während sich die ersten Schleier des Abends über die
Szenerie legten. »Sie wollte es nicht geheim halten, wie
energisch meine Berater auch Einspruch erhoben haben. Soviel
ich verstanden habe, kann sie nicht begreifen, warum ihre
Rückkehr nicht allgemein bekannt gemacht werden sollte. Sie
bezeichnet sich selbst als Werkzeug, Gaunt. Als Werkzeug des
Goldenen Throns. Sie verkörpert eine Macht und einen
Vorsatz zum Wohle der Menschheit. Wäre es geheim gehalten
worden, hätte sie weder Macht noch einen Vorsatz gehabt. In
gewisser Weise ergibt es einen Sinn.«
»Es macht sie verwundbar. Es macht diese Welt und diese …
verzeihen Sie meine Offenheit … schwache Stadt
verwundbar.«
Lugo beobachtete, wie die Lichter der Stadt in der
zunehmenden Dunkelheit angingen. Ein Wind aus der Wüste
war aufgefrischt und ließ winzige Glassplitter gegen die dicke
Fensterscheibe prasseln. »Das tut es. Das tut es in der Tat.«
»Warum sind wir dann hier, Marschall? Warum hier auf
diesem unbedeutenden Planeten? Ihre Macht und ihr Vorsatz
könnte doch an der Spitze des Kreuzzugs sehr viel
wirkungsvoller zum Einsatz gebracht werden. Zum Beispiel
beim Kriegsmeister auf Morlond?«
Lugo wandte sich vom Fenster ab. Er lächelte jetzt. »Es freut
mich wirklich sehr, diese Worte aus Ihrem Mund zu hören,
Gaunt. Sie entsprechen genau meiner Überzeugung. Sie dürfte
nicht hier sein. Wir müssen sie zu einem … Ortswechsel
bewegen.«
»Natürlich«, sagte Gaunt, »obwohl all das voraussetzt, dass
sie ist, was sie zu sein behauptet.«
Lugos Miene verfinsterte sich plötzlich. »Sie glauben es
nicht?«
»Ich …«, begann Gaunt.
Lugo trat einen Schritt vor. »Wenn Sie nicht glauben, kann
ich kaum einen Sinn in Ihrer Anwesenheit hier sehen.«
»Ich wäre noch zu überzeugen, Marschall.«
»Sie wären was? Sie reden wie ein verdammter Ketzer,
Gaunt.«
»Nein, Marschall, ich …«
»Die Heilige Sabbat wurde reinkarniert. Sie ist wieder
Fleisch geworden, sodass sie uns hier auf den Welten, die ihren
Namen tragen, zum Sieg führen kann. Dies ist ein Moment,
wie ihn sich die Menschheitsgeschichte nicht hätte träumen
lassen! Der Moment eines heiligen Wunders! Und Sie wären
noch zu überzeugen?«
Gaunt öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er
begegnete dem harten Blick des Marschalls.
»Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass Sie ihr begegnen«,
sagte Lugo. »Entweder das, oder es wird höchste Zeit, dass Sie
auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.«
In einer kalten, einsamen Nacht wie der, die sich gerade über
Civitas Beati senkte, aber sechstausend Jahre zuvor, hatte die
Heilige ihr Zeichen auf Herodor hinterlassen. Damals war
Civitas Beati noch nicht so genannt worden. Es war nur ein
einziger Kolonieturm gewesen, die Basis dessen, was eines
Tages die Altmakropole werden sollte, die zentrale
Makropolspitze, und damals hatte er Habitat Alpha geheißen.
An der Spitze ihrer zusammengewürfelten Kavalkade von
einer Armee, einem Heer, das aus kolonialen Regimentern,
bewaffneten Pilgern, einer Komturei der Militanten
Schwestern, die später den Orden Unserer Märtyrerin bilden
sollten, sowie einer Abteilung des mittlerweile ausgelöschten
Astartes-Ordens der Messingschädel bestand, hatte die Heilige
an der Gnadenschlucht eine Chaos-Streitmacht besiegt und
vertrieben, und sie war nach Habitat Alpha gekommen, um
ihre Wunden zu reinigen. Sie und ihre Auserwählten hatten in
den Thermalquellen gebadet und sie damit für alle Zeiten
gesegnet. Am nächsten Morgen hatte sich das Heer erfrischt
aufgemacht und die Chaos-Truppen im Scherbental bei deren
neuerlichem Vorstoß ausgelöscht. Es hieß, dabei habe sie
allein achtzehnhundert feindliche Krieger besiegt, darunter
auch ihren Archon, Marak Vore.
All das stand in den Annalen und Geschichtsbüchern. Gaunt
wusste es seit seiner Kindheit. Unter Slaydo hatte er alles
auswendig gelernt.
Der Badeschrein, wo Sabbat ihre Wunden gewaschen hatte,
befand sich in den tiefsten Tiefen der Altmakropole. Er war
aus schwarzem Basalt gefertigt und wurde lediglich von
Elektrokerzen und Biolichtkugeln erhellt. Bedienstete und
Schreinpriester eilten hinaus, als sich Lugo mit seinen
höchsten Stabsoffizieren und den Soldaten seiner Leibgarde
durch den langen Steinkorridor näherte. Es war heiß und feucht
und roch nach Schwefel und Eisen.
Sie erreichten die Tür. »Wir warten hier«, sagte Lugo. »Wir
alle«, fügte er mit einem vielsagenden Blick auf Stabsärztin
Curth hinzu, die Gaunt hatte rufen lassen, um ihn zu begleiten,
bevor er dem Marschall in die Tiefen des Makropolturms
gefolgt war. Curth sah Gaunt an, der nickte.
»Bleiben Sie hier. Ich rufe Sie, falls ich Sie bei mir haben
will.«
Gaunt trat durch die massiven Türen, die sich hinter ihm
schlossen. Es war düster und still, und die feuchtheiße Luft war
von Dampf erfüllt, der aus den tief ausgeschnittenen
Badebecken aufstieg. Eine schmale, hundert Stufen lange
Treppe, die aus leuchtend weißem Kalkstein gehauen war,
führte von der Tür nach unten, deren Seitenränder von vielen
Tausend Elektrokerzen gesäumt wurden. Der Kerzenschein
wurde vom träge schwappenden Wasser unten reflektiert. Im
Osten lag die Kapelle des Imperators, im Westen die
Gedenkkapelle der Heiligen. Gaunt ging die gebleichten,
polierten Stufen hinunter und setzte seine Mütze ab. Er
schwitzte bereits. Er ging zum Hauptbecken und starrte auf
sein aufgewühltes Spiegelbild im rostfleckigen Wasser. Das
Wasser stieg aus einer Grundwasserschicht tief unter der Stadt
empor und wurde von den vulkanischen Öffnungen in der
Kruste erhitzt und zum Sieden gebracht. Angeblich heilte es
alle Wunden. Am Rand des Bades sah Gaunt viele Hundert
Löffel, Becher und Kellen aus Messing, mit denen die
Gläubigen tranken, sich tauften oder wuschen. Tief unten im
Becken sah er Millionen Münzen, Klingen, Abzeichen, Orden
und andere Opfergaben schimmern.
Er kniete sich neben das Becken, zog einen Handschuh aus
und fuhr mit den Fingern durch das warme Wasser.
Auf der anderen Seite des Badebeckens ertönte ein Platschen,
und Wellen schwappten auf seine Seite. Als er aufschaute, sah
er gerade noch eine hellhäutige Gestalt mit dem Rücken zu
ihm aus dem Wasser steigen. Es war eine Frau, die ein
schlichtes weißes Unterhemd trug. Sie stieg tropfend die
Seitentreppe des Beckens empor. Das nasse Leinen klebte an
ihrem Körper, und er wandte den Blick ab. Zwei
Schreinadepten tauchten aus dem Dampf auf und hüllten sie in
ein langes, graues Gewand. Sie raffte es eng zusammen und
zog sich die Kapuze über den Kopf.
Dann drehte sie sich um und sah Gaunt über das Wasser des
heiligen Balneariums hinweg an. »Ibram.«
Er sah auf. »Sie kennen meinen Namen?«
»Natürlich.« Ihre Stimme klang leise und rauchig. Er sehnte
sich danach, ihr Gesicht zu sehen. Ein lieblicher Duft drang
ihm in die Nase, als hätten die scheidenden Adepten
Räucherwerk auf die Elektrokerzen gebröselt. Islumbine, das
war es. Der Duft nach Islumbine, der heiligen Blume der Beati.
»Ich bin froh, dass Sie da sind«, sagte sie.
»Ich bin gekommen, weil man mir gesagt hat, dass ich
kommen soll«, sagte Gaunt. »Es wurde mir befohlen.«
Sie verschränkte die Arme und sah ihn über das dampfende
Becken hinweg an. »Sie können aufstehen, wenn Sie wollen.
Sie müssen sich nicht verbeugen.«
Er erhob sich langsam.
»Ich habe Sie angefordert. Ich habe die tanithischen Geister
angefordert. Es freut mich, dass Gaunts Geister hier bei mir auf
Herodor sind.«
Die Stimme war so lieblich und doch so eindringlich. Es war
fast so, als kenne er sie bereits.
»Warum wir?«, fragte Gaunt.
»Wegen Ihrer Leistungen auf Hagia. Sie und Ihre Männer
haben Ihr Leben riskiert, um meine sterblichen Überreste vor
dem Erzfeind zu beschützen. Sie haben die Schreinfeste bis
zum Letzten verteidigt. Da ist es nur recht und billig, wenn ich
Sie hier und jetzt bitte, mich wieder zu beschützen, wie Sie es
schon einmal getan haben. Ich will, dass die Geister mein
innerster Kreis sind. Meine Ehrengarde.«
»Wir werden vor dieser Aufgabe nicht zurückschrecken«,
sagte Gaunt. Er machte ein paar Schritte und bewegte sich
langsam am Beckenrand entlang zur anderen Seite. »Ich hatte
eine … nun ja, ich weiß eigentlich nicht, was es war. Ich hatte
eine Vision auf Aexe Cardinal, dass sich dies ereignen würde.
Eine Frau, die seit sechs Millennien tot ist, hat mir gesagt, dass
ich Sie hier finden würde.«
»Wirklich?«, sagte sie, als überlege sie einen Moment. »Das
ist gut. Das ist so, wie ich es beabsichtigt habe.«
»Haben Sie?«
»Natürlich.«
Er trat noch einen Schritt näher. »Sie hatten das beabsichtigt?
Die Vision von der Sororitas? Sie haben diese Kapelle im
Wald aus dem Nichts erschaffen?«
»Natürlich, Ibram.«
»Daran habe ich geglaubt. Es war wirklich. Beltayn und ich,
wir waren völlig überzeugt davon. Wir hatten das Gefühl …
von etwas Fremdartigem berührt zu werden, das wir nicht
erklären konnten.« Er kam noch einen Schritt näher. Sie wich
unmerklich vor ihm zurück.
»Nicht so wie jetzt«, fügte er hinzu.
»Ibram, Sie beunruhigen mich. Warum sind Sie so aufgeregt?
Warum nähern Sie sich mir?«
»Weil ich Ihr Gesicht sehen will.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil …«
»Ich will Ihr Gesicht sehen, weil ich Ihre Stimme kenne!«
Er sprang nach ihr und packte sie. Sie streckte eine Hand aus
und schob seinen Kopf weg, doch er schüttelte die Hand ab
und riss ihre Kapuze nach hinten.
»Ich kenne Ihre Stimme«, wiederholte er, während sie darum
kämpfte, sich zu befreien.
»Sanian.«
Sanian löste sich von ihm und zog ihr Gewand zusammen.
Sie starrte ihn mit Augen an, die er nicht ergründen konnte.
»Sie glauben nicht.«
Gaunt wich einen Schritt zurück und schüttelte laut lachend
den Kopf. »Ich wollte. Glauben Sie mir, ich wollte. Fünf
Monate in einem Transporter, während man darauf wartet, die
Wahrheit zu sehen? Nach diesem Augenblick sehne ich mich,
seitdem Slaydo mir zum ersten Mal Sabbats Mysterien erklärt
hat. Ich habe mit allem Möglichen gerechnet … Wahrheit,
Lügen, Fantastereien. Aber nicht mit Ihnen, Sanian.«
Sie funkelte ihn an. Das schwarze Haar rahmte ihr
wunderschönes Gesicht mit schwarzen Löckchen ein. Es war
gewachsen, seit er sie zuletzt gesehen hatte, und von dem kahl
rasierten Kopf mit dem Zopf der Esholi war nichts mehr zu
sehen. »Sie müssen eins begreifen, Ibram: Ich bin nicht
Sanian.«
»Das sind Sie. Ich kenne Sie. Sie sind die Esholi, die meine
Männer zur Schreinfeste geführt hat. Milo redet immer noch
von Ihnen.«
Der Ausdruck in ihren Augen veränderte sich plötzlich und
brachte ihn aus der Fassung. »Ach, Ibram. Natürlich bin ich
Sanian. Zumindest mein Fleisch ist es. Ich brauchte ein Gefäß,
und sie war das richtige. Sie war ein reizendes Mädchen und
hat mir ihr Fleisch gegeben. Ich sehe wie Sanian aus. Meine
Stimme klingt wie ihre. Aber ich bin nicht Sanian. Ich bin
Sabbat. Das Mädchen aus den Bergen Hagias, in diesem
zerbrechlichen Leib wiedergeboren.«
»Nein …«
»Beantworten Sie mir eins, Ibram. Wie hätte ich sonst
zurückkehren sollen? Wie hätte ich sonst Fleisch finden sollen,
um mich zu kleiden?«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist ein Trick. Lugo benutzt Sie.
Sie sind nicht meine Heilige.«
Gaunt trat in den Korridor vor dem Bad, und Lugos Gruppe
wich zurück, um ihn passieren zu lassen.
»Nun?«, fragte Lugo.
Gaunt starrte Lugo einen Moment an. »Es spielt keine Rolle,
was ich glaube, oder?«
»Warum nicht?«
»Weil, soweit es das Imperium betrifft, soweit es
Hunderttausende von Pilgern betrifft … und soweit es den
Erzfeind betrifft … wir hier auf Herodor eine reinkarnierte
Heilige haben. Und alles andere spielt keine Rolle.«
Lugo grinste. »Endlich verstehen Sie, worum es geht,
Gaunt.«
Unheilige Nacht
Der Panzer schoss noch einmal und begrub eine Granate in der
Fassade der brennenden Manufaktur hinter ihnen. Glas und
Gestein wurden in die Luft geschleudert. Die Kinder und die
Pilger schrien.
»Granaten!«, rief Bonin.
»Du kommst niemals nah genug heran!«, brüllte Milo zurück,
während er seinen Kopf vor dem fallenden Trümmerregen
schützte. Er huschte zu Bonin und drückte ihm die Granaten
aus seinem Tornister in die Hand. »Nur, wenn er abgelenkt
wird! Bei drei!«
Die nächste Granate heulte über sie hinweg. Der Panzer war
jetzt noch zwanzig Meter entfernt. Der fest darauf montierte
Karabiner fing an zu knattern und beharkte die
Trümmerbarrikade.
Die beiden Geister rannten mit gesenktem Kopf in
entgegengesetzte Richtungen los. Bonin rannte die linke
Straßenseite entlang, dicht an der Häuserwand, während er die
Granaten mit Klebeband zusammenzuheften versuchte. Milo
rannte nach rechts, warf sich in einen Hauseingang und wälzte
sich dann herum. Durch den Rauch sah er, wie Alphant und die
anderen erwachsenen Pilger versuchten, die Kinder in die
wenige noch verbliebene Deckung zu zwängen.
»Fertig?«, knisterte Bonins Stimme in Milos Helmkom.
»Los!«, sagte Milo. Er lehnte sich aus seiner Deckung und
gab Dauerfeuer mit seinem Lasergewehr. Die Schüsse prallten
vom ramponierten Metallrumpf des Panzers ab, der abrupt
anhielt, und dann wurde der Karabiner zu ihm
herumgeschwenkt.
Er konnte sich gerade noch rechtzeitig zu Boden werfen. Die
großkalibrigen Kugeln des Geschützes zerlegten Wand und
Tür hinter seiner zusammengekrümmt daliegenden Gestalt in
ihre Bestandteile. Es reichte nicht. Er hatte ihn nicht so lange
abgelenkt, dass Bonin in seine Nähe kommen konnte.
Milo fing wieder an zu kriechen, als mehr jaulende
Karabinerkugeln über ihn hinwegfegten. Wenn er doch nur …
Er hörte Alphant etwas rufen und sah auf.
Das Mädchen rannte aus seiner Deckung. Rannte mitten auf
die vom Krieg verheerte Straße und direkt vor den Panzer.
»Feth, nein!«, schrie Milo. Er sprang auf und rannte ihr nach.
Sie stand direkt vor dem Panzer, beide Hände erhoben wie
ein Beamter der Arbites beim Regeln des Verkehrs. Der Panzer
blieb stehen, als sei er verwirrt. Der Hauptgeschützturm drehte
sich, und der Kanonenlauf senkte sich wie das Stielauge eines
Zyklopen, um sie anzustarren.
Bonin tauchte aus der Rauchwolke neben dem Panzer auf und
warf die Granaten. Sie holperten über den hinteren Teil des
Rumpfes und blieben unter dem Rand der achteren
Abdeckhaube des Geschützturms liegen.
Milo warf sich vorwärts und riss das Mädchen in dem
Augenblick mit sich zu Boden, als das Geschütz des Panzers
feuerte.
Und die Granaten explodierten.
Magnificat
– Zweil, Ayatani
In den Straßen von Gildenhang in der Stadtmitte war ein rosa-
gelber Nimbus zu sehen, der die Dunkelheit über den
Nordwest-Ausläufern des Stadtgebiets durchdrang. Einzelne
Lichtfunken flackerten in diesem Schein wie geerdete Blitze.
Dumpfes Donnern und Krachen, eingepfercht durch den
Schalldeckel, den der Stadtschild bildete, drang an ihre Ohren,
und Rauch, ebenfalls durch den Schild eingesperrt, ballte sich
zu einem dunstigen Dach zusammen wie eine tief hängende
Wolke. Den nun sehr hektischen Berichten von Tak-Log
zufolge wurde die Stadt von über tausend Feinden mit
Panzerunterstützung angegriffen.
Und die Stadt fiel. Zum Teil unter der Wucht des Angriffs
und zum Teil unter der Last eines unentrinnbaren Gefühls der
Niederlage und des Verlusts, das die Bevölkerung im Laufe
der Nachtstunden überkommen hatte.
Viktor Hark konnte es sich nicht erklären, aber er konnte es
spüren. Einen Schmerz, ein Gefühl der Desillusionierung,
eines entkräftenden Elends. Vielleicht war es das unerwartete
Tempo und die Härte des Chaos-Angriffs. Vielleicht war es die
allgemeine Erkenntnis, wie brüchig und labil die imperiale
Stellung tatsächlich war.
Nicht einmal in seinen schlimmsten Katastrophenszenarien
hatte Gaunt damit gerechnet, dass die Lage so rasch eine so
drastische Wendung zum Schlechteren erfahren könnte. Hark
wusste das mit Sicherheit. Er hatte sehr viel Zeit mit Gaunt
verbracht, um die Risiken der kläglichen
Abwehrmöglichkeiten der Civitas Beati, die nicht annähernd
adäquate numerische Stärke zu ihrer Verfügung und das
völlige Fehlen von Vorbereitungszeit abzuschätzen. Es war ein
trübes, freudloses Bild, und Gaunt hatte kein Geheimnis aus
seiner Furcht gemacht, der Kampf um Herodor werde mit dem
Eintreffen der Hauptstreitmacht des Erzfeindes so gut wie
vorbei sein.
Doch diese Hauptstreitmacht hatte Herodor noch gar nicht
erreicht, und doch schien die Stadt bereits nach einer Nacht
kurz vor dem Kollaps zu stehen.
Tak-Log bezeichnete die Angreifer immer noch als
»ketzerische Dissidenten«. Hark seufzte, als er das hörte, und
zog sich den Hörer aus dem Ohr. Er wollte nicht mehr
zuhören.
Die Straßen waren verstopft, von Leuten und von Gejammer.
Das war es. Es waren keine Laute des Entsetzens und der
Angst, die aus der Menge aufstiegen. Es war Wehklagen.
Hark fuhr in einem schweren Truppentransporter ziemlich
weit vorne in einer Verstärkungskolonne. Sie bestand
insgesamt aus zwölf Transportern, alle identisch grau lackiert,
lang gestreckte Munitoriumsfahrzeuge, und sie kamen
überhaupt nur wegen der drei massiven Chimären aus der
Leibkompanie des Marschalls voran, die ihnen den Weg
freimachten. Der Anblick von Panzern mit Ketten bewirkte,
dass sich die bestürzte Menge rasch teilte.
Oberst Kaldenbach, Lugos Feldkommandant, hatte den
Befehl über die Kolonne, und die Trupps der Tanither und der
Planetaren Streitkräfte waren ihm verantwortlich. Hark kannte
Kaldenbach aus seiner Zeit im Stab des Marschalls noch recht
gut. Er war ein kompromissloser, aber begabter Offizier, der
eine gute Laufbahn bei den Ardeleanischen Kolonialen mit der
Beförderung an die Spitze von Lugos Leibkompanie gekrönt
hatte.
Die Kolonne verließ Prinzipal II und bog nach Westen unter
die breiten Aquädukte ab, die den agroponischen Bezirk
versorgten. Dann fuhr sie auf den ausgedehnten Platz des
Astronomenkreises im Schatten des großen vulkanischen
Stöpsels, auf dem sich die Astronomenplattform befand, die
Bastion der Wissenschaft und des Lernens auf Herodor. Hier
oben in diesen alten Observatorien, die bereits seit über
zweitausend Jahren beständig in Betrieb waren, hatte Cazalon
sein Traktat über nichtbaryonische Materie verfasst, und drei
Jahrhunderte später hatte Hazmun Zeng seine Theorie der
Gravitation auch im Angesicht heftigen Missvergnügens der
Inquisition stur vollendet. Hark hatte erfahren, dass es möglich
war, Zengs Werkstatt zu besuchen, die auf Befehl des ersten
Offiziars genauso erhalten worden war, wie der große Mann
sie verlassen hatte. Die Vorstellung gefiel Hark ungemein. Die
Stufen, die grob in die Seite des Vulkanstumpfs gehauen
waren, zu dieser kleinen ruhigen Insel der Observatorien,
Makroskoptürme, siderischen Tabellen und Bibliotheken hoch
über dem Gemurmel der Stadt zu erklimmen und ein paar
ruhige Augenblicke in dem staubigen Raum zu verbringen, wo
Zeng solch einen unglaublichen Beitrag zur imperialen
Wissenschaft geleistet und Notizbücher mit Spiegelschrift
gefüllt hatte, um die wachsamen Augen der Inquisition zu
täuschen.
Doch wie immer verankerte der Krieg Hark am Boden. In
zwanzig Jahren hatte er über vierzig Welten besucht und auf
ihnen gedient, und viele davon waren reich an kulturellen
Schätzen und bedeutsamen Stätten. Er hatte niemals den Luxus
genossen, auch nur eine davon zu besuchen. Immer mussten
Kämpfe ausgetragen oder Schlachtordnungen begutachtet
werden, und wenn das erledigt war, wartete bereits ein Schiff
der Flotte, um ihn zum nächsten Kriegsschauplatz zu fliegen.
Die Kolonne hielt im Kreis, und die Einheiten stiegen aus.
Kaldenbach, der in dem langen grünen Mantel mit der Mütze
auf dem Kopf robust und entschlossen wirkte, schritt die Linie
der Versammelten ab und gab Befehle. Zur
Unterstützungseinheit gehörten auch fünfzig Soldaten aus
Lugos Leibkompanie, die alle schweren grünen Drillich und
Tarnhelme trugen. Ein Major namens Pento aus dem Regiment
Civitas Beati befehligte den herodorischen Teil, zwei
Elitetrupps der Civitas Beati und fünf Trupps reguläre
Planetare Streitkräfte. Sergeant Varl hatte das Kommando über
die fünf Trupps der Geister: seinen Eigenen, Hallers, Arcudas,
Raglons und Ewlers.
Während Hark seine Kommissarsmütze mit dem Schirm
zuerst aufsetzte – »Gaunt-Stil«, nannten es die Geister –, kam
er sich ein wenig wie das fünfte Rad am Wagen vor.
Kaldenbach hatte seine eigenen Kommissare, ein
unzertrennliches Paar eineiiger Zwillinge namens Keetle. Sie
waren magere, knochige Rotschöpfe mit heller Haut, die
schwarze lange Ledermäntel trugen, die beim Gehen knarrten,
während sie beständig flammende und stärkende Wahlsprüche
in Stereo von sich gaben. Nach Harks Maßstäben schlechter
Stil. Die sich versammelnden Soldaten waren eindeutig
verängstigt. Sie standen an der Grenze eines Stadtgebiets, in
dem erbarmungslose und unerbittliche Straßenkämpfe tobten,
in die man sie wie ins kalte Wasser werfen würde, und sie
befanden sich mitten in einer Stadt, die bereits aufgegeben zu
haben schien.
»Soldaten des Imperiums!«, brüllte Keetle Eins.
»Seht ihr das da oben?«, bellte sein Bruder, während er auf
die Astronomenplattform zeigte.
»Der Sitz der Bildung auf Herodor! Dort studieren
Astronomen beständig die sich entfaltende Majestät des
Himmels und versuchen, seine Geheimnisse zu ergründen und
seine Wahrheiten zu begreifen!«
»Doch selbst ihre Wachsamkeit«, brüllte Keetle Zwo, »ist nur
ein flüchtiger Blick verglichen mit der ewigen Wachsamkeit
des heiligen Gott-Imperators!«
»Gelobt sei der Gott-Imperator!«
»Gelobt sei der Gott-Imperator, der über uns alle wacht, zu
allen Zeiten und in allen Dingen!«
»Sein Blick ruht jetzt auf euch allen«, verkündete Keetle
Eins. »Er schweift nicht ab, er beurteilt und begutachtet jede
Eurer Taten!«
»Also enttäuscht ihn nicht! Lasst ihn in dieser großen Stunde
des Krieges nicht im Stich!«
So plapperten sie noch eine ganze Weile weiter. Hark konnte
eine erhebende Rede schwingen, wenn es nötig war, aber das
hier war einfach zu viel des Guten. Wie Gaunt manchmal die
weiche, freundliche zweite Stimme zu Harks Schwefel und
Eisen sang, so hatte Hark jetzt das Gefühl, dass es ihm zukam,
mitfühlender zu sein.
Er begann bei den Sergeanten Arcuda und Raglon. Beide
waren gerade erst zum Truppführer befördert worden. Sie
mussten sich erst noch zurechtfinden, und auf Aexe Cardinal
war Raglons erster Einsatz als Truppführer mit reichlich Pech
und schweren Verlusten verflucht gewesen.
Sie spannten sich, als er sich ihnen näherte, also lächelte er,
und das war wohl so ungewöhnlich, dass sie feixten.
»Einsatzbereit?«
»Herr Kommissar«, bestätigten beide.
Er betrachtete ihre Trupps, die in Dreierreihe Aufstellung
genommen hatten, und nahm sich zusätzlich einen Moment
Zeit, um Soldat Costin aus Raglons Trupp zu mustern. Costins
auf Trunkenheit beruhende Fehler hatten sich nämlich auf
Aexe als so kostspielig für Raglons Einheit erwiesen. Gaunt
hätte ihn von Rechts wegen erschießen müssen und hätte es
auch getan, wäre Dordens leidenschaftliche Intervention nicht
gewesen. Dorden hatte seinen Hals riskiert, um Costins zu
retten, und dabei Gaunts Autorität untergraben. Die einst
warme Freundschaft zwischen dem Kommissar-Oberst und
seinem Oberstabsarzt hatte darunter sehr gelitten. Seitdem
hatte Hark ein Auge auf Costin, aber der Mann schien sich in
aufrichtigem Bemühen, sich zu rehabilitieren, ernsthaft
gewandelt zu haben.
»Lassen Sie mich Ihnen eines sagen«, sagte Hark leise zu
Raglon und Arcuda. »Ich weiß, was jetzt bei Ihnen im Kopf
vorgeht. Sie haben Angst. Angst vor Schmerzen und Tod,
Angst vor Versagen. Die Last Ihrer neuen Verantwortung.
Dieses entsetzliche Gefühl, Sie könnten es vermasseln und Ihre
Kameraden im Stich lassen. Und diese beiden helfen Ihren
Nerven mit ihrem aufgeblasenen Gequatsche überhaupt nicht.«
Er zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Keetles, die
gerade die widerwilligen Herodorer durch eine Rezitation des
imperialen Glaubensbekenntnisses führten. Raglon und Arcuda
lachten nervös.
»Vergessen Sie sie«, sagte Hark. »Denken Sie an Folgendes:
Die Männer da draußen, unsere Freunde und Kameraden, die
anderen Geister in der Kampfzone, stecken bis zum Hals im
schlimmsten Schlamassel. Denken Sie an sie und denken Sie
an Folgendes … Sie sind es, die sie am liebsten sehen wollen.
Nicht einfach nur Verstärkungen, sondern Geister. Die
verdammt besten Feldtruppen, die zu kennen ich je die Ehre
hatte. Auf nichts hoffen sie mehr als auf den Anblick dieser
fünf Trupps, wie sie mit flammenden Gewehren und Feuer im
Herzen angestürmt kommen, um ihnen dabei zu helfen, ihre
schwere Bürde zu tragen. Für sie werden Sie ein Traum sein,
der sich erfüllt. Denken Sie daran, was es ihnen bedeuten wird,
und ich verspreche Ihnen, dass Ihnen all Ihre Sorgen
vergleichsweise unbedeutend vorkommen werden.«
Sie nickten, entschlossen und resolut.
Hark klopfte beiden auf die Schulter. »Sie werden Ihre Sache
gut machen, Sergeanten. Geben Sie das an Ihre Männer weiter,
und stimmen Sie sie ein.«
Hark ging weiter zu Haller, einem verghastitischen
Veteranen, und Ewler, einem ergrauten alten tanithischen
Berufssoldaten. Diese beiden brauchten keine Aufmunterung,
und eine Unterhaltung mit ihnen war eher eine fachmännische
Plauderei über Taktik und Aufstellung! Er beantwortete ihre
Fragen, lobte sie und die Leistungen ihrer Trupps und erzählte
ihnen einen Witz über einen Konvent der Ekklesiarchie und
eine kurios geformte Frucht, über den sie so laut lachten, dass
sie sich damit missbilligende Blicke der Keetles einhandelten.
Schließlich schlenderte er zu Varl. Für die Geister war Varl
der ideale Soldat, schlagfertig, selbstsicher, spitzbübisch, aber
im Gefecht absolut kühl und beherrscht. Er hatte sich vom
gemeinen Soldaten zum Truppführer hochgedient,
ausschließlich aufgrund seiner Leistungen, und war bei allen
beliebt. Auf Fortis Doppelstern hatte er eine Schulter verloren
und dafür eine künstliche bekommen. Wenn es irgendwo in
einer Schlacht einen Brennpunkt gab, war Varl mit einiger
Sicherheit darin zu finden. Wenn in der Kaserne irgendein
Schwindel abgezogen oder ein Streich gespielt wurde, war
Varl auch daran an vorderster Front beteiligt. Der Witz über
die Nonnen und die Frucht war von ihm. Hark hatte ihn erst
dreißig Minuten zuvor gehört, als Varl seinen Trupp
aufwärmte.
»Bereit?«
»Ich wurde bereit geboren, Herr Kommissar«, erwiderte Varl
und stutzte dann kurz. »Das ist gelogen. Ich wurde geil
geboren. Bereit war ich dann, kurz, nachdem ich zehn
geworden war.«
Hark lachte, aber er konnte Varls Art entnehmen, dass ihn
irgendwas störte. »Was liegt an, Ceg?«
Varl schaute unbehaglich drein. Er tippte sich mit einem
Finger an den Stöpsel im linken Ohr. »Ich habe mich in die
hiesige Frequenz eingeschaltet, in die Meldungen Tak-Logs,
und mir den Kom-Verkehr angehört«, sagte er leise. »Es hört
sich an, als würde da vorne Scheiße in einer Nalnuss abgehen.
Und die Stimmung auf der Straße ist heute Nacht so, als hätten
wir schon verloren.«
»Ja, ich spüre es auch. Ich werde nicht lügen. Ich glaube, es
wird ziemlich schlimm.«
»Es ist nicht nur das, Herr Kommissar«, sagte Varl. »Vor
fünf Minuten kam eine Meldung. Es hieß, der zweite Offizier
der Tanither wäre außer Gefecht.«
»Außer Gefecht?«
»Tot oder schwer getroffen, sie wussten es nicht genau. Und
es gab keine Bestätigung.«
»Wer war gemeint, Corbec oder Rawne?«
Varl zuckte die Achseln. »Es könnte jeder sein, beide sind
drinnen. Aber bevor die erste Welle der Verstärkungen
reingeschickt wurde, war Hauptmann Daur der zweite Offizier
in der Kampfzone.«
Corbec, Rawne oder Daur tot. Jeder dieser Vorfälle wäre ein
schwerer Schlag für die Moral der Tanither.
»Sie haben den Männern nichts davon gesagt?«, fragte Hark.
»Ich bin nicht dämlich«, erwiderte Varl mit einiger Schärfe,
und Hark wusste, dass er den Rüffel verdient hatte.
»Natürlich nicht.«
»Ich wünschte nur, wir könnten endlich ausrücken. Da
reingehen und es rausfinden«, sagte Varl. Er warf einen Blick
auf Kaldenbach, der jetzt mit den allgegenwärtigen Keetles
eine Ansprache an die Leibkompanie des Marschalls richtete.
»Ich meine, wir sind hier. Das ganze Rumgeeiere, worauf
warten wir noch?«
»Wir warten darauf«, sagte Hark, »dass Lugo uns über Kom
den Befehl zum Abrücken gibt.« Er überlegte einen Moment.
»Begleiten Sie mich«, sagte er.
Sie gingen zum Oberst. »Was gibt es, Hark?«, fragte
Kaldenbach.
»Sollen wir vorrücken, Oberst? Wir sind bereit, und die
Nacht wird nicht jünger.«
»Wir warten auf das Startzeichen«, sagte Kaldenbach, ein
blasser, gut aussehender Mann Mitte fünfzig mit klaren
Gesichtszügen und borstigen grauen Haaren. Wenn man
bedachte, dass es sich anhörte, als habe Tak-Log Mühe, ihren
Arsch von ihrem Ellbogen zu unterscheiden, konnte dieses
Zeichen Harks Ansicht nach noch eine Weile auf sich warten
lassen.
»Nun, Herr Oberst«, sagte Hark freundlich, »meine Soldaten
sind berühmt für ihre Fähigkeiten als Kundschafter. Wir
sollten schon vorgehen und Ihrer Einheit den Weg bereiten.«
Kaldenbach runzelte die Stirn. »Ich wusste gar nicht, dass es
Ihre Soldaten sind, Hark. Als ich beim letzten Mal
nachgesehen habe, waren Sie ein ganz normaler Kommissar,
nicht … auch noch ein Oberst.« Der unwillkommene Verweis
auf Gaunts ungewöhnliche und ungeliebte Doppelfunktion war
ein kaum verhohlener Seitenhieb.
»Meine Soldaten sind berühmt für ihre Fähigkeiten als
Kundschafter, Herr Oberst«, sagte Varl rasch. Der Zeitpunkt
für seinen Einwurf war perfekt gewählt. »Und als ich das letzte
Mal nachgesehen habe, war ich hier der ranghöchste
tanithische Offizier. Ich bin sicher, Kommissar Hark wird mir
zustimmen.«
Hark lächelte und nickte.
Kaldenbach sah Varl kalt an, und die Keetles flüsterten
grimmig miteinander.
»Sind Sie scharf darauf zu sterben, Sergeant?«, fragte
Kaldenbach.
»Ich bin scharf darauf, dem Gott-Imperator zu dienen … und
Ihnen, Herr Oberst.«
»Na schön«, schnauzte Kaldenbach. »Dann rücken Sie aus.
Wir warten, bis das Signal kommt. Machen Sie uns den Weg
frei, wenn Sie so verdammt gut darin sind. Und halten Sie
ständigen Kom-Kontakt.«
Varl salutierte und eilte mit Hark neben sich zu seinen
Männern. »Geister von Tanith!«, rief er. »Tummeln wir uns!
Das Spiel ist eröffnet!«
Die Geister formierten sich um ihn.
»Gut gemacht, Ceg«, flüsterte Hark ihm zu.
»Sie haben ihn für mich vorbereitet, Herr Kommissar. Ich
war nur rechtzeitig da, um ihm den Gnadenstoß zu geben.«
Die Abteilung der Geister trabte über den gepflasterten Platz.
Die Männer hüllten sich in ihre Tarnumhänge und
verschmolzen förmlich mit den schmalen Straßen dahinter.
Prento, der herodorische Offizier, sah sie verschwinden. Das
Letzte, was er oder einer seiner Männer wollte, war, sich
verfrüht in den Kampf zu stürzen.
Anders, so schien es, als die Fremdweltler in Schwarz.
»Ich bin froh und glücklich und alles, aber ich wünschte, sie
würde damit aufhören.«
»Womit?«, fragte Feygor, der die Stimme hob, um sich trotz
des Lärms verständlich zu machen.
»Mich so anzusehen«, erwiderte Rawne. Der dritte Trupp
stand in der Menge genau gegenüber von Gaunt auf der
anderen Seite der Plaza. »Sie hört einfach nicht auf, mich
anzusehen.«
»Sie sieht mich an«, sagte Feygor. »Nicht Sie. Warum sollte
sie Sie ansehen?«
»Das weiß ich doch nicht …«, sagte Rawne und verdrehte
dabei die Augen.
»Ich schon«, sagte Banda. »Der Major ist Sex auf zwei
Beinen, wie Katzenminze für uns Frauen.«
Feygor lachte. Rawne sah Banda verächtlich an.
»Aber ich enttäusche Sie nur ungern«, fuhr Banda fort. »Ihre
Heiligkeit die Beati sieht tatsächlich mich an.«
Hark schob sich durch die Menge. Er wäre fast über Daur
gestolpert, der sich die Augen ausweinte, und stieß dann gegen
Meryn, der nur gaffte.
»Meryn?«
»Sie ist echt.«
»Ich glaube, das ist die Grundidee, Sergeant.«
Neben ihnen war Sergeant Varl auf den Karren eines
Uhrenschreins gestiegen und fing an zu tanzen, während er ein
mit Struthidfedern verziertes Barett aufsetzte und es sich
komisch über die Ohren zog.
Hark musste unwillkürlich lachen.
»Was nun? Ich soll laufen?« Zweil beugte sich auf seinem
Rollstuhl vor, den Lesp schob, und starrte auf die von Kerzen
beleuchtete weiße Treppe unter ihnen. Sie konnten das
schwefelhaltige Wasser riechen.
Zweil drehte mühsam den Kopf zu Gaunt. »Erwarten Sie,
dass ich aufstehe und da runterlaufe?«, knurrte er.
»Nein«, sagte Gaunt. »Lesp? Helfen Sie mir.«
Der Oberbefehlshaber der Tanither und der schlanke
Sanitäter hoben Zweil an und trugen ihn gemeinsam die
Treppe hinunter. Es war schwer. Gaunt ging jetzt erst auf, wie
wenig belastbar sein verwundetes Bein war. Wenn er jetzt fiel
…
Hinter ihnen schüttelte Dorden müde den Kopf und schob
den leeren Rollstuhl auf eine Seite. Dann folgte er den anderen
langsam in die feuchte Kammer des Heiligen Balneariums.
»Könnten Sie mit dem Zappeln aufhören?«, grunzte Lesp.
»Ich zapple nicht!«, beschwerte sich Zweil.
»Doch, Sie zappeln. Das ist nicht leicht«, sagte Gaunt.
Infolge der Anstrengung hatten sich Schweißperlen auf seiner
Stirn gebildet, und Lesp keuchte. Jede Stufe der glatten
Kalksteintreppe war nass, und mit jedem Schritt konnte die
Katastrophe eintreten.
»Was … was bei Feth geht da unten vor?«, sagte Dorden
plötzlich hinter ihnen.
Gaunt wäre beinahe gestürzt. Sie waren auf halbem Weg die
weiße Treppe hinunter. »Setzen Sie ihn ab! Setzen Sie ihn ab,
Lesp!«
Sie senkten den gelähmten Zweil langsam auf die Treppe und
ließen ihn los. Lesp musste in die Hocke gehen und den alten
Ayatani festhalten, damit er nicht die nassen Stufen
hinunterglitt. Gaunt erhob sich und schaute zu der Stelle, auf
die Dorden zeigte. Unter ihnen standen drei Gestalten im
Badebecken.
»Warten Sie hier«, sagte Gaunt.
Dorden nahm Gaunts Stelle neben Zweil ein und half Lesp,
ihn festzuhalten. Die drei beobachteten Gaunt, der mühsam
den Rest der Treppe nach unten stieg.
Am Fuß der Treppe angelangt, hinkte Gaunt zum Rand des
Beckens. Die drei Gestalten im Wasser waren jetzt
untergetaucht, und eine drückte den beiden anderen die Hände
auf den Hinterkopf, um sie unterzutauchen.
Oder sie zu ertränken. Oder sie zu taufen.
Gaunt konnte es nicht sagen. Er stieg selbst ins Wasser hinab.
Die Gestalten tauchten in einem Wirbel von Blasen und
Spritzwasser wieder auf. Kolea. Mkvenner.
Und sie.
»Was geht hier vor?«, rief Gaunt.
Die Beati, die nur ein weißes Hemd trug, lächelte ihn an und
wischte das Wasser weg, das ihr aus den Haaren über das
Gesicht lief.
»Das Wasser heilt, Ibram«, sagte sie.
Ihr bloßer Anblick vertrieb all seine Ängste. Er blieb stehen,
wo er war, während das warme Wasser gegen seine Beine
schwappte.
Mkvenner drehte sich um und watete zu ihm.
»Ven?«
Mkvenner erklomm die Treppe und setzte sich völlig
durchnässt hin. Er fing an zu lachen.
»Ven? Ist alles in Ordnung?«
Mkvenner lachte herzlich wie über einen gewaltigen
kosmischen Witz. Ein Mann in seiner Verfassung konnte
unmöglich so lachen. Es sei denn …
»Ich hab’s doch gesagt«, sagte Kolea, der ebenfalls zur
Treppe gewatet kam und neben Mkvenner aus dem Wasser
stieg. »Hab ich’s dir nicht gesagt? Das heilt alles. Das ist der
Witz hier, es …«
Kolea hielt inne und sah sich blinzelnd in der feuchten Luft
um. Sein Blick verharrte schließlich auf Gaunts Gesicht.
»Ich …«, sagte er. »Herr Kommissar, ich glaube, mir ist
irgendwas entfallen. Wie bin ich hierher gekommen?«
SECHS
Unruhe
Die Narben waren noch da: alt, rosa, glatt und wulstig, vom
Halsansatz über den Hinterkopf bis zum höchsten Punkt seines
Schädels. Das Haar war durch das Narbengewebe nie wieder
richtig nachgewachsen, und Kolea hatte seinen Schädel kahl
rasiert.
»Lassen Sie es mich noch mal sehen«, sagte er.
Ana Curth stutzte kurz und hob dann noch einmal den
Handspiegel. Kolea verdrehte die Augen, um die Narben auf
der Rückseite seines Kopfes zu studieren.
»Echte Schweinerei.«
»Ja, das kann man wohl sagen«, stimmte sie ihm zu. Sie legte
den Spiegel weg, weil ihre Hände zitterten und sie ihn nicht
fallen lassen wollte. »Nur noch ein paar Tests«, sagte sie in der
Hoffnung, heiter und unbeschwert zu klingen.
»Haben Sie noch nicht genug durchgeführt?«, fragte er.
Sie begegnete seinem Blick und schluckte. In seinen Augen
war wieder ein Licht, ein menschlicher Funke, der seit jenem
Tag auf Phantine vor zwei Jahren abhanden gekommen war.
Es war, als sei er von den Toten auferstanden, und obwohl sie
überglücklich war, dass er wieder da war, verängstigte und
erschreckte sie es auch. Es überstieg ihre Berufserfahrung, und
sie konnte es nicht erklären.
»Warum setzen Sie sich nicht?«, schlug er vor. »Sie sehen
aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.«
Sie lachte, albernerweise über den grässlichen Witz erheitert,
und setzte sich auf einen hölzernen Hocker mit Blick auf das
Bett, auf dem er hockte. Im Lazarett war es still, obwohl die
noch wachen Patienten gehört hatten, was los war, und von
Bett zu Bett miteinander flüsterten. Von nebenan war das leise
Surren eines Magnetresonanzgeräts zu hören, während Dorden
den Abtaster zum zigsten Mal über Mkvenners Oberkörper
wandern ließ. Dorden schaute von seiner Arbeit auf, erblickte
die ihn ansehende Curth und zuckte die Achseln. Beiden war
der Schreck in die Glieder gefahren. Sie hatten im Laufe ihrer
Zeit beim Regiment eine Menge erlebt, aber noch nichts wie
das hier.
»Woran können Sie sich noch erinnern, Gol?«, fragte sie.
Er runzelte die Stirn und spitzte die Lippen, und einen kurzen
Moment ähnelte er dem Gol Kolea mit dem Hirnschaden, der
versuchte, sich an einen Namen oder daran zu erinnern, was er
gerade tat.
»Mit einiger Klarheit erinnere ich mich an eine Straße in
Ouranberg in den Habs der Alpha-Kuppel. Criid war
verwundet. Feindfeuer. Diese verdammten Loxatl-
Missgeburten. Ich erinnere mich noch an die Einschläge ihrer
Flechette-Werfer. An das unverkennbare Geräusch … zuerst
das Zischen und dann das Klackern der Splitterdornen. Ich bin
Tona holen gegangen. Sie war mit Allo und Jenk zusammen,
und die waren beide tot. Sie hatte Splitter in den Arm und in
die Hüfte bekommen. Es sah schlimm aus. Ich habe sie mir
geschnappt und bin losgelaufen. Ich …«
»Was?«
»Danach kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ab da ist
alles ein verschwommener Nebel. Sie wissen, wie es ist, wenn
man schwimmen geht und untertaucht und die Geräusche von
oben alle gedämpft und hohl klingen? So kommen mir meine
Erinnerungen seitdem vor. Vage und unscharf. Als mein Kopf
in dem Bad wieder aus dem Wasser auftauchte, waren
plötzlich alle Geräusche wieder da, und ich wusste wieder, wer
ich bin.«
»Inzwischen sind zwei Jahre vergangen.«
»Zwei Jahre?«, ächzte er. »Erzählen Sie.«
»Was soll ich Ihnen erzählen?«
»Erzählen Sie mir, wo ich war. Erzählen Sie mir, was passiert
ist.«
Sie seufzte tief und sah zu Boden. »Es war der Schuss eines
Loxatl. Sie wurden am Hinterkopf getroffen, und … und wir
konnten nichts machen. Sie wären beinahe gestorben. Sie
müssen verstehen, Gol …«
»Ich verstehe, dass Sie Ihr Bestes getan haben.«
»Nein, ich meine … das hier ist nicht normal. Sie hatten
einen beträchtlichen Teil Ihrer Hirnmasse verloren. Ihre
Persönlichkeit wurde zerstört. Sie haben kaum noch auf Ihren
eigenen Namen gehört. Sie waren nur noch ein Schatten. Ein
leerer Körper.«
»Aber jetzt nicht mehr.«
Sie starrte ihn an. »Gol, ich habe Ihren Schädel mit dem
Inframeter und dem Magnetresonator abgetastet. Keine
Veränderung. Ihr Gehirn ist immer noch genauso geschädigt
wie zuvor. Es hat keine Neubildung von Hirngewebe gegeben,
nur grundlegende Gewebeheilung. Es ist vollkommen
unmöglich, dass Sie wieder so … beieinander sind.«
Kolea hob die Hand und strich mit den Fingern über das
Narbengewebe.
»Sie sagten, es wäre ein Wunder.«
»Das ist es auch. Im strengsten, buchstäblichsten Wortsinn.
Sie und Ven.«
»Und das macht Ihnen Angst.«
»Ja, das tut es.«
Er blinzelte daraufhin und sah weg.
Curth sprang auf. »Ach, Gol! Nein! Missverstehen Sie mich
nicht! Ich habe nur Angst vor dem Unbekannten. Dorden geht
es genauso … Gott-Imperator, allen geht es so!«
Sie streckte die Arme aus, umarmte ihn fest und drückte ihm
einen Kuss auf die Wange, bevor sie ihn wieder losließ.
»Aber wir sind verdammt froh, Sie wieder bei uns zu haben.«
Er lächelte. Das alte Lächeln. Das Lächeln, für das sie einmal
Feuer und Flamme gewesen war.
»Erzählen Sie mir den Rest«, sagte er. »Wo sind wir hier?«
»Auf Herodor.«
»Und davor waren wir wo?«
»Auf Aexe Cardinal. Grabenkrieg.«
Er nickte zögernd. »Ich habe eine vage, gedämpfte
Erinnerung an Schlamm und Wasser. Und Bombardierungen.
Gewaltige Bombardierungen. Wer führt den Trupp?«
»Criid«, sagte Curth und lachte, als er vor Überraschung den
Mund aufriss. »Der erste weibliche Sergeant. Die Dinge haben
sich in den letzten zwei Jahren recht gut entwickelt. Jajjo hat es
zum Späher gebracht.«
»Unser erster verghastitischer Späher? Heiliges Terra …«,
murmelte Kolea, der aufrichtig gerührt und stolz war. »Das
wurde auch Zeit.«
»Muril hätte es auch fast geschafft. Sie war im Programm,
und Ven hat gesagt, er hätte ihren Wechsel zu den Spähern
empfohlen.« Curths Miene verfinsterte sich. »Aber sie ist auf
Aexe gefallen.«
»Wer noch?«, fragte er leise. »Bringen wir es hinter uns. Wen
haben wir sonst noch verloren, während ich weg war?«
Epsin drang durch den dichten Rauch vor, der von der
Luftschleuse in den Gang wallte. Die Wände waren von
Schüssen beschädigt worden, und mehrere Leichen lagen auf
dem Boden. Schmutzige Männer in roter Rüstung, die
schwarze Gesichtsmasken aus Eisen trugen.
Mehr als nur simple Ketzer, dachte Epsin.
Er winkte seine Männer nach oben. Aus dem Seitengang, der
zu den anderen Schleusen führte, hörte er sporadische Schüsse.
Und wieder das Summen, dieses verdammte Summen. Wie
ein Insekt in einem Glas.
Epsin sah eine Gestalt vor sich im Rauch. Eine
hochgewachsene Gestalt …
Nein, drei Gestalten. Ein großer Mann im Grün eines Pilgers
und einer Kapuze, der zwei kleinere Gestalten neben sich mit
dicken, starken Armen festhielt, die über und über tätowiert
waren. Die kleineren Gestalten waren in Lumpen gehüllt,
zitterten und klammerten sich an den Mann in Grün wie
verängstigte Kinder. Sie wandten ihm die Gesichter zu, und
Epsin ächzte, als er ihre verdrehten, verwachsenen, augenlosen
Visagen erblickte.
In perfektem Gleichklang öffneten sie den Mund, und das
Summen wurde viel lauter, als sei der Deckel vom Glas
abgeschraubt und das Insekt befreit worden. Epsin hustete und
schwankte und schüttelte hektisch den Kopf, um sich von
diesem Summen zu befreien.
Er wusste, was es war. Er versuchte das Helmkom
einzuschalten und seinem Kapitän eine Warnung zu senden.
Der Soldat neben ihm, ein robuster Veteran, der seit neun
Jahren in Epsins Mannschaft war, drehte sich langsam um.
Sein Mund war schlaff, und er blutete heftig aus Nase und
Tränendrüsen.
Er hob seine Schrotflinte und blies Epsin den Kopf weg.
Landung
Hinter ihr gab es viel Gelächter und Gebrüll. Criid schritt die
Reihen mit leeren Feldbetten ab. Sie spürte das Lächeln auf
ihrem Gesicht. Es wollte nicht verschwinden. Kolea war
wieder da. Kolea war wieder da! Das musste der schönste Tag
ihres Lebens sein. Zusammen mit dem Tag, als sie zum
Sergeant befördert worden war, und dem Tag, als Caffran ihr
gesagt hatte, dass er sie liebte.
Ihr war gar nicht klar gewesen, wie sehr sie Kolea vermisst
hatte, und sie wusste nur zu genau, dass sie ihm alles
verdankte. Ohne ihn wäre sie in den Straßen Ouranbergs
gefallen.
Sie fand Koleas Feldbett und durchwühlte seinen Rucksack.
Alles war so ordentlich und präzise, alles war gefaltet und
gebügelt. Kolea würde sie für das Chaos hassen, das sie in
seinem Rucksack anrichtete.
Von der Figur war nichts zu sehen. Sie drehte den Rucksack
um und leerte den Inhalt auf die Matratze. Kleidung, Reserve-
Magazine, Rasierzeug, Stiefelwichse, ein Päckchen
Spielkarten, ein Stapel hololithische Ausdrucke, die in einem
vergilbten Umschlag steckten.
Und die Figur. Wirklich ein hässliches Ding. Die grelle
Bemalung war noch schlimmer, als sie sie in Erinnerung hatte.
Sie legte die Figur an die Seite und packte Koleas Sachen
wieder in den Rucksack. Die Foto-Ausdrucke fielen aus dem
alten Umschlag, als sie ihn aufhob.
Sie warf einen Blick darauf.
Ein Mann. Eine Frau. Ein kleiner Junge. Ein Baby.
Gruppenfotos, Einzelaufnahmen. Ein Vater mit einem
Neugeborenen auf dem Arm. Eine Mutter und ihre Kinder.
Der Mann war Gol Kolea. Jünger natürlich. Sauberer. Ein
Bild zeigte ihn als Grubenarbeiter.
Plötzlich stutzte sie.
Sie waren zwar Jahre jünger, aber sie erkannte die Gesichter
der Kinder. Dalin und Yoncy. Und die Mutter. Sie hatte die
Mutter nur ein paar kurze Minuten lang gesehen, im Bahnhof
C4/a in der Vervunmakropole. Criid hatte ihr mit ihrem Jungen
und dem Kinderwagen helfen wollen. Dann waren die
Granaten eingeschlagen.
Gak! Sie hatte diese Frau sterben sehen, diese Frau auf den
Bildern. Die Mutter der Kinder, die Criid nun als ihre eigenen
betrachtete.
Was um alles in der Welt machten diese Bilder in Gol Koleas
R…
»Nein«, sagte sie. »Heiliger Imperator, nein!«
Sie stand auf und fiel zu Boden, wobei sie den offenen
Rucksack vom Feldbett riss. Koleas Zeug fiel auf den Boden.
Sie kroch auf dem Boden herum, sammelte die Sachen wieder
ein und stopfte sie in den Rucksack.
Eine Alarmsirene fing so laut an zu heulen, dass sie
zusammenfuhr.
»Tut mir Leid, dass ich die Gesellschaft auflösen muss,
Mädels«, rief Rawne, der nicht so klang, als täte es ihm Leid.
Er schob sich durch die Menge der Geister rings um Kolea.
Sirenen heulten.
»Wir bekommen Arbeit. Der Erzfeind ist in der Umlaufbahn
und landet, und wir rechnen mit Massenangriffen in der
nächsten Stunde. Zieht euch an, holt eure Ausrüstung und
macht euch fertig. Wenn ihr gläubig seid, bittet den Gott-
Imperator um seinen Segen. Wenn ihr Laien seid, nehmt den
Kopf zwischen die Beine und gebt eurem verdammten Arsch
einen letzten Kuss. Es wird ernst.«
Die Menge der Geister löste sich sofort auf. Soldaten liefen
zu ihren Feldbetten, zogen sich eiligst an und machten ihre
Waffen bereit.
»Ist es so schlimm?«, fragte Corbec, der neben Rawne
auftauchte.
»Schlimmer, als Sie sich möglicherweise vorstellen können«,
erwiderte der Major.
Die Pracht von Cadia traf die Cicatrice so schwer und mit
solcher Wucht, dass sie zu brennen begann. Esquine genoss
den Sieg, als er sah, dass das Feindschiff wendete.
Die unrettbar verlorene Cicatrice opferte sich und
verbrauchte ihre letzte Reaktorkraft, um Vollschub nach vorn
zu geben. Sie rammte die Pracht mittschiffs, und die beiden
Schiffe brannten in gemeinsamer Umarmung wie eine kleine
Sonne im planetennahen Raum.
Die Lauf der Gefahr und die gewaltige Inkarnadine deckten
die Omnia Vincit mit ihren Batterien ein. Esquine spürte die
Schmerzen der Schilde.
»Nehmen Sie das Hauptschiff aufs Korn, Velosade«, keuchte
er.
»Fähnrich! Fähnrich!«
In Valdeemers Traum drang eine Stimme ein, die seinen
Namen rief und nicht verstummen wollte.
Er blinzelte und stellte fest, dass er im Strategium der Omnia
Vincit auf dem Rücken lag.
»Fähnrich Valdeemer! Leben Sie noch?«
Valdeemer richtete sich auf und sah sich um. Alles war voller
Rauch, blinkender Alarmlichter und dem unheilvollen Jaulen
von Sirenen und Schadensalarmen.
»Fähnrich!«
Er stand auf. Das Deck erbebte, und er stützte sich an einer
Konsole ab. Der Servitor an der Konsole arbeitete immer noch
fieberhaft, und seine künstlichen Hände huschten über die
Anzeige. Der Servitor nahm das Chaos ringsumher überhaupt
nicht zur Kenntnis.
Valdeemer schüttelte den Kopf, versuchte die
Verschwommenheit abzuschütteln, in die alles gehüllt zu sein
schien. Blut spritzte auf das Deck. Er hob die Hand und
ertastete eine tiefe Schramme in der Stirn.
Sie hatten einen Treffer abbekommen.
Er hatte neben Esquine gestanden, als der Torpedo sie
unterhalb des Brückenturms getroffen hatte. Er erinnerte sich
an die betäubende Erschütterung und an umherfliegende
Leiber. Ja, richtig. Er war auf das Deck geschleudert worden.
Wie lange war er bewusstlos gewesen?
»Fähnrich!«
Er torkelte nach vorn zum Thron des Flottenkapitäns.
»Herr Kapitän?«
»Sie müssen die Hauptstation bemannen. Schaffen Sie das?«
Esquine sah aus, als leide er, als habe er starke Schmerzen,
aber körperlich schien er völlig unversehrt zu sein.
»Herr Kapitän? Das ist der Posten des Kommandanten.«
»Tun Sie’s!«
Valdeemer machte kehrt und eilte durch den Rauch zur
Hauptstation. Das Deck war mit rauchenden Trümmern und
heruntergefallenen Paneelen übersät. Er musste über mehrere
Leichen hinwegsteigen. Besatzungsmitglieder, Deckoffiziere,
Servitoren, alle waren von der Explosion zerfetzt oder von
umherfliegenden Trümmern getötet worden.
Zu ihnen gehörte auch Velosade. Ein Stück Deckpanzerung
von der Größe eines Esstellers hatte ihn beinah, aber nicht
ganz enthauptet.
Valdeemer musste schwer schlucken, als er den Platz an der
Station einnahm und die Schalttafel begutachtete. Drei
Schildausfälle. Zwei Lecks im Rumpf. Brände auf den Decks
sieben bis achtzehn und außerdem in Hangar vier. Die Lanzen
waren ausgefallen. Die strukturelle Integrität betrug nur noch
siebenundvierzig Prozent.
»Helfen Sie mir, Valdeemer«, flüsterte Esquine mit
zuckenden Fingern.
Valdeemer versuchte einen Beschluss zu fassen. Seine Finger
huschten über die Konsole, aktivierten und deaktivierten
Runen, riefen Anzeigen auf – Maschine, Struktur, Schilde,
Deck-für-Deck – und löschten sie wieder. Er leitete Energie
weg von dem gewaltigen Feuerorkan, der auf Deck acht tobte.
Er überbrückte zwei beschädigte Cogitator-Knoten auf Deck
elf und nahm Lanze drei wieder in Betrieb. Er versiegelte die
Deckschleusen, die sich nicht automatisch geschlossen hatten,
und unterbrach die Sauerstoffzufuhr zu den untersten
brennenden Decks. Er schaltete Reaktor zwei ab, der im roten
Bereich arbeitete und eindeutig beschädigt war, und schaltete
den Notstrom zu, der vom Notreaktor im Bauch der Omnia
Vincit erzeugt wurde.
Warum hatte Esquine all diese Dinge noch nicht erledigt? Es
waren allesamt offensichtliche und übliche Maßnahmen. Das
große Schlachtschiff blutete und brannte sich zu Tode, und
Esquine hatte nicht einmal mit den Notfallmaßnahmen
begonnen.
»Meldung?«
»Schaden wurde eingedämmt. Eine Lanze ist wieder in
Betrieb. Wir sind jämmerlich schwach, aber ich würde gerne
alle Kraft von den Maschinen auf die Schilde umleiten.«
»Tun Sie das, Valdeemer!«
»Ich … ich brauche die entsprechende Befugnis, Herr
Kapitän. Ich bin nicht autorisiert!«
»Der Code lautet Vesta 1123!«
Valdeemers blutige Hände zitterten, als sie den Code
eingaben. Er leitete die Energie um, wobei er das Protestgeheul
der Techpriester überhörte.
»Jagdschutz?«, fragte Esquine drängend.
»Praktisch nicht mehr vorhanden. Ihre kleinen Schiffe
umschwärmen uns.«
»Wo ist der Feind?«, fragte Esquine.
Valdeemer drehte sich zum Flottenkapitän um. »Die
Inkarnadine steht auf unserer Backbordseite und feuert volle
Breitseiten ab. Schilde sind noch bei fünfunddreißig Prozent.
Die Lauf der Gefahr steht steuerbord an unserem Bug und
richtete ihre Hauptlanzen auf uns aus. Herr Kapitän … können
Sie das nicht sehen?«
»Nein«, sagte Esquine, dessen Stimme über den Sirenen und
dem Kom-Geschnatter kaum zu vernehmen war.
Der Torpedotreffer hatte die Gedankenverbindung des
Flottenkapitäns und damit dessen Verbindung zu dem
gewaltigen Schiff durchtrennt. Er war blind und taub und aller
fest verdrahteten wie drahtlosen Verbindungen zur Omnia
Vincit beraubt, spürte aber noch die Schmerzwellen, die durch
das große Schiff zu ihm geleitet wurden, wenn es Schaden
nahm.
»Ach du Heiliges Terra …«, hauchte Valdeemer, als ihm dies
aufging. Das bedeutete, er hatte jetzt das Kommando. Er, ein
junger Fähnrich, hatte tatsächlich die Herrschaft über das
Imperiumsschlachtschiff Omnia Vincit.
Wie oft hatte er davon geträumt? Wie viele Stunden hatte er
schon damit verbracht, sich nach so einer Rolle zu sehnen?
Aber nicht so. Götter von Terra, nicht im Entferntesten so …
»Befehle, Flottenkapitän?«, übertönte er den Lärm.
Esquines Antwort war nur ein Flüstern. »Töten Sie alle …
und wenn das nicht möglich ist, verkaufen Sie unsere Haut so
teuer wie möglich.«
Die Inkarnadine schob sich unter Einsatz ihrer
Korrekturdüsen näher an die angeschlagene Omnia Vincit
heran. Ihre Backbordbatterien hielten ihren brutalen Beschuss
aufrecht. Ihre ständigen Abtastungen der Omnia Vincit
ergaben, dass sie tot im Wasser lag, da ihre gesamte
Reaktorenergie von den Maschinen auf die Schilde umgeleitet
worden war. Dadurch war sie zwar eine harte Nuss, aber auch
eine ruhende.
Die Lauf der Gefahr, die schräg vor dem Bug an Steuerbord
des imperialen Kriegsschiffs lauerte, konzentrierte ihren
Lanzenbeschuss auf die Schwachstellen der Schilde, und zwar
an der hastig eingerichteten Überlappung an der Stelle des
Torpedotreffers, der den fünften Rückenschild zerstört und den
Flottenkapitän verkrüppelt hatte.
Die Omnia Vincit erbebte, als die Lauf der Gefahr einen
harten, soliden Treffer erzielte. Ein großer Teil des oberen
Rumpfs splitterte und löste sich ab.
Die Omnia Vincit feuerte ihre reaktivierte Lanze ab und traf
die Schilde der Lauf der Gefahr so schwer, dass sie gezwungen
war, sich zurückzuziehen. Die schwitzenden, halb toten
imperialen Geschützmannschaften jubelten.
Die vereinigten Jägergruppen der Inkarnadine und der Lauf
der Gefahr, die bereits den Jagdschirm der Omnia Vincit
ausgelöscht hatten, konzentrierten ihre Bemühungen auf
Hangarbucht drei auf der Steuerbordseite. Die letzten
Imperiumsjäger wurden von den Schwärmen der mit
blitzenden Kanonen heranrasenden Heuschrecken atomisiert.
Drei Heuschrecken gelang es, in die Hangarbucht
einzudringen. Eine wurde von den Abwehrgeschützen
innerhalb des Hangars zerstört. Die Zweite wurde zwar
getroffen, doch es gelang ihr noch, ihre sämtlichen sechs
Raketen in den Bauch des Hangars abzufeuern, bevor sie
explodierte.
Die dritte beschleunigte, und schaffte es ins Hauptdeck, wo
sie sich in eine Rechtskurve legte und in die
Munitionsladebucht raste. Bevor ihr dort mit katastrophalen
Folgen der Flugraum ausging, feuerte sie noch ihre Raketen in
die Autoladeschächte unterhalb der Flugdecks ab, die Munition
aus dem gepanzerten Herzen der Omnia Vincit nach oben
beförderten.
Die Kettenreaktion sprengte die Seite des edlen
Imperiumsschiffs in einer gewaltigen Abfolge aus
Unterdeckexplosionen und sich auflösender Panzerplatten.
Durchbohrt und mit entblößten Eingeweiden gierte die Omnia
Vincit. Im Strategium leitete der verzweifelte Valdeemer drei
Prozent der Schildenergie wieder auf den Antrieb um und
beförderte das Schlachtschiff damit aus der Würgeklammer der
beiden Schiffe des Erzfeindes.
Die Omnia Vincit glitt aus dem Schussfeld der Inkarnadine.
Ein dreiprozentiges Absinken der Schildenergie war nicht viel,
aber die Lauf der Gefahr, die am Bug wie ein Schakal auf eine
entscheidende Blöße wartete, zögerte keinen Augenblick. Sie
legte sämtliche Reaktorenergie auf die Lanzen und schoss
damit auf die Schwachstelle am Torpedoeinschlag.
Valdeemer wandte sich Esquine zu. Der Flottenkapitän
zitterte vor Wut und Gram, ohnmächtig und leidend.
»Es tut mir Leid, Herr Kapitän«, sagte Valdeemer, »aber ich
fürchte …«
Er wurde eingeäschert, bevor er noch ein Wort sagen konnte.
Esquine wurde ebenfalls eingeäschert, und sein goldener Thron
schmolz um seinen verbrennenden Leib. Feuer fegte durch das
Strategium und die Brücke, verbrannte Besatzungsmitglieder
auf der Stelle und verdampfte Kontrollstationen. Die dicken
Panzerglasfenster barsten und wurden von dem durch die
extreme Hitze entstehenden Überdruck nach außen geblasen.
Die verbliebenen Schilde erloschen.
Die Inkarnadine gab die letzte Breitseite ab, um die Omnia
Vincit von ihrem Todeskampf zu erlösen. Aufgerissen,
verbogen und geborsten, während die Blitze elektrischer
Entladungen über den Rumpf zuckten, wälzte sich die Omnia
Vincit auf die Seite.
Die Schiffe des Erzfeindes fuhren die Waffensysteme und
Schilde herunter und gingen über Herodor vor Anker.
Die ausgebrannte Ruine der Omnia Vincit blieb noch
neunhundertdrei Jahre in der Umlaufbahn um Herodor, bis die
Umkreisungen, die keiner Korrektur unterzogen wurden,
schließlich enger wurden und das Schiff vom Schwerefeld des
Planeten in die Atmosphäre gezogen wurde, wo es verbrannte.
Die Teile, die nicht verdampften, erfüllten den Himmel des
Südkontinents wie Sternschnuppen und regneten auf das
Kleine Süd-Trockenmeer herab, wo sie Einschlagnarben und
Krater hinterließen, die später zu radioaktiven Seen in dieser
Wildnis wurden.
Aber das ereignete sich natürlich erst, nachdem jede in
diesem Bericht erwähnte Person schon viele Jahrhunderte tot
war.
BAE 3
– Kaldenbachs Kommissaren
zugeschrieben
Mkoll rief: »Runter!« Seine Stimme, selten so durchdringend
zu vernehmen, hallte im Kom, und jeder, sogar Gaunt und
Rawne, gehorchten.
Nur eine Sekunde sichtbar und einen kurzen,
verschwommenen Schatten werfend, raste etwas
Hakenflügeliges im Tiefflug durch die Straßen des Hab-
Blocks. Einen Moment später fegten Laserschüsse durch die
Gebäude zu ihrer Linken.
Die Heuschrecke war gegen den Wind angeflogen, sodass das
Heulen ihrer Triebwerke erst im letzten Moment zu vernehmen
gewesen war. Gaunt hatte keine Ahnung, wie Mkoll sie
ausgemacht hatte.
»Der Stadt-Schild muss schon unten sein«, murmelte Rawne,
während er sich erhob. Der Wind wehte Asche und Ziegelstaub
aus den Trümmern des Angriffs zu ihnen.
»Nicht unbedingt«, erwiderte Gaunt. »Es ist nur ein
Klimaschild. Wenn so ein Bomber seine vorderen Schirme auf
volle Leistung stellt …«
Wie um das Argument des Kommissars zu unterstreichen,
rasten zwei weitere Heuschrecken hintereinander etwa einen
halben Kilometer vor ihnen in Ost-West-Richtung über die
Stadt hinweg. Die einsitzigen Angriffsmaschinen, schwarze, in
der Sonne glitzernde Leiber, flogen in Höhe der Dächer. Sie
zogen hoch und in die Sonne, eine mit einer Rolle. Hinter
ihnen breiteten sich Feuerbälle am Boden aus. Die Geister
konnten das Donnern und Krachen hören.
Es gab auch andere Geräusche. Das beständige Wumm-Krach
von Artilleriegeschützen und Panzerkanonen vom gesamten
Nordrand der Stadt. Hin und wieder, wenn der Wind richtig
stand, konnten sie in der Ferne das heftige Knattern und
Zischen von Gewehrfeuer hören.
Lugo und sein Strategie-Stab hatten die Taktisch-Logistische
Zentrale der Civitas übernommen und überwachten die
imperialen Bemühungen von den obersten Ebenen der
Makropoltürme. Von dort waren sie in der Lage,
bemerkenswerte akkurate und aktuelle Einschätzungen der
Invasion des Erzfeindes abzugeben. Was von ihnen kam,
waren sämtlich Hiobsbotschaften.
Vier Angriffskolonnen hatten sich binnen fünfzig Minuten
nach der Landung in den Großen Obsidae im Westen und
Norden formiert, die sehr rasch mobil machten und zum
nördlichen Stadtrand vorrückten. Eine zielte von Nordwesten
auf Glaswerke, zwei direkt südlich nach Eisenhalle und die
vierte von Nordosten in den Bezirk Masonae. Die Kolonnen
setzten sich größtenteils aus leichten Kampfpanzern und
Brigaden von Sturmtrupps aus der ersten Welle der
Landekapseln zusammen. Insgesamt annähernd dreihundert
Fahrzeuge und achttausend Mann mit Luftunterstützung sowie
Artillerie, die in den Obsidaes Stellung bezogen hatte.
Das wäre auch so bereits schlimm genug gewesen. Die
Imperialen in der Civitas Beati zählten knapp unter
siebzehntausend Mann, die Milizen und Arbites eingerechnet.
Aber die Imperialen hatten nur ungefähr hundertachtzig
gepanzerte Fahrzeuge, von denen siebzig unbewaffnete
Transporter waren. Keine Luftunterstützung. Und nur ein paar
leichte Feldartilleriegeschütze des Regiments Civitas Beati.
Diese Ungleichung wurde ein Witz, wenn man den Rest des
Bildes berücksichtigte. Draußen in der Landezone, hinter der
anfänglichen, sich rasch formierenden feindlichen Speerspitze,
versammelte sich eine riesige Streitmacht. Es dauerte seine
Zeit, Panzer und Soldaten in ungezählten Wellen von
Landungsbooten herunterzuschaffen. Die Speerspitze hatte die
Aufgabe, Breschen zu schlagen, und dann würde die
Hauptstreitmacht nachrücken, um die Lage zu konsolidieren.
Draußen in den Obsidaes, kalkulierte Tak-Log, warteten über
eine halbe Million Mann und hunderttausend Kampfmaschinen
darauf, die zweite Welle zu beginnen. Und diese Zahlen
erhöhten sich mit jeder eintreffenden Welle.
Gut geführt und mit einer Unmenge Glück auf ihrer Seite, so
schätzte Gaunt, würde sich der imperiale Widerstand fünf,
vielleicht sechs Tage vor der Vernichtung halten können. Mit
Lugo am Ruder hatten sie vielleicht zwei. So oder so wartete
am Ende der Tod. Die einzige Variable war die Zeit.
Durch Elemente des Regiments Civitas Beati verstärkt,
rückten die Geister durch den Bezirk Masonae vor, über den
Gaunt den Oberbefehl hatte. Kaldenbach leitete den
Widerstand in Eisenhalle, und ein Oberst der Planetaren
Streitkräfte Herodors namens Vibreson kommandierte die
Linie in Glaswerke. Biagi und ein Offizier der Leibkompanie,
Major Landfreed, hielten den größten Teil der restlichen
viertausend Mann mitten in der Stadt für kurzfristige
Erfordernisse in Reserve. Fünfhundert Mann des Regiments
Civitas Beati bewachten das Makropolviertel, hauptsächlich zu
dem Zweck, glaubte Gaunt, Lugo in der letzten,
unvermeidlichen Phase der Invasion die Zeit zu erkaufen, um
per Fähre von den Startplattformen auf den Dachebenen
fliehen zu können. Wohin, das wusste nur der Gott-Imperator.
Die Geister und deren Verbündete eilten durch die schmalen
Straßen östlich der Beatiplaza. Dieser Bezirk war bis auf die
von der feindlichen Luftunterstützung angerichteten Schäden
noch unberührt vom Krieg. Die Durchgangsstraßen waren
ominöserweise leer. Die Einwohnerschaft war geflohen.
Häuser und Geschäfte standen leer, und die Straßen waren voll
von weggeworfenen Habseligkeiten.
Während sie von einer Häuserblockecke zur nächsten
schlichen und sich dabei gegenseitig Deckung gaben, überlegte
Gaunt, dass sie trotz allem in gewisser Hinsicht Glück gehabt
hatten. Nun, da die feindlichen Kriegsschiffe den Raum rings
um Herodor beherrschten, hätten sie den Krieg rasch mit einem
Bombardement aus der Luft beenden können. Stattdessen hatte
sich der Feind zu einem mit gewaltigen Kosten und Mühen
verbundenen Bodenangriff entschlossen. Er wusste, was das
bedeutete.
Sie wollten die Beati.
So schlecht geschützt und verteidigt sie auch sein mochte, die
Civitas Beati war riesig, und sie Straße für Straße zu nehmen
würde für jede Armee eine blutige und schmerzhafte Erfahrung
werden. Der Erzfeind unternahm diese Anstrengung nur wegen
der lockenden Beute. Tatsächlich war der Erzfeind überhaupt
nur wegen dieser Beute nach Herodor gekommen. Der
feindliche Oberbefehlshaber wollte die Heilige. Zumindest
einen Leichnam … aber eine Gefangene, das wäre die größte
Trophäe überhaupt. Also kam eine Auslöschung durch ein
Bombardement aus der Umlaufbahn nicht infrage. Danach
würde kein greifbarer Beweis der Anwesenheit der Beati mehr
übrig sein.
Alles drehte sich um Sabbat. Alles, was sie taten, alles, was
der Feind tat. Es drehte sich nur um Sabbat.
Tak-Log knisterte in Gaunts Ohr. Kaldenbachs Einheiten
hatten Feindberührung.
Gaunt wollte dies gerade seinen Offizieren mitteilen, als
Mkoll wieder ein Signal über Kom gab.
»Kontakt!«
Die Tür schlug hinter ihm zu. Rawne ging wieder zurück in die
Wohnung. Am Fenster richtete Banda ihr Präzisionsgewehr
aus.
»Was ist …«
»Psst«, sagte sie. »Ich arbeite. Fenster im zweiten Stock. Ein
Blutpakt-Offizier mit einem Raketenwerfer. Er glaubt,
niieeeemand kann ihn sehen …«
Ihre Stimme war nur ein leises Zischen. Sie hielt den Atem
an. Das Präzisionsgewehr bockte in ihrer Hand.
»Hast du ihn erwischt?«, fragte Rawne.
Sie drehte sich um und grinste sarkastisch. »Was denkst du
denn?«
Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. Es war ein
kurzer, aber hungriger Kuss.
»Du weißt, was ich denke«, sagte er, als er sich wieder
entfernte. »Töte etwas anderes für mich.«
»Wie zum Beispiel? Ich könnte zu einem Seitenfenster laufen
und Gaunt aufs Korn nehmen, wenn er abrückt.«
Rawne lächelte und schüttelte den Kopf. »Danke, nein.
Entweder der Erzfeind erwischt ihn oder ich. Keine
Gefälligkeiten.«
Sie zuckte die Achseln und legte ein neues Magazin ein.
»Aber der Gedanke hat etwas für sich«, fügte Rawne hinzu.
»Ach, ich könnte es ohnehin nicht. Gaunt ist in Ordnung. Ich
mag ihn.«
Sie sah den Ausdruck in seinen Augen und fügte honigsüß
hinzu: »Natürlich nicht so, wie ich dich mag.«
»Natürlich nicht.«
»Also«, sagte Banda, während sie sich ein neues Ziel suchte.
»Du hast jetzt das Kommando. Wie lautet der Plan?«
»Wir bringen sie weiterhin um, bis sie alle tot sind … oder
wir. Oder war das eine Fangfrage?«
– Sabbat, Episteln
Es war sie.
»Ach, leck mich! Die Beati«, flüsterte Corbec.
Milo gaffte. Er war noch nicht über den Schock des Todes
des Pilgermädchens hinweg und sah immer noch vor seinem
geistigen Auge, wie es vor den Panzer lief, um ihn abzulenken.
Die Szene kam ihm zu sehr wie eine Wiederholung der
Geschichte vor.
»Brin!«, brüllte Corbec, doch Milo rannte bereits aus seiner
Deckung.
»Du bist noch mal mein Tod, Junge!«, fügte Corbec hinzu,
während er Chirias Hände abschüttelte und ihm folgte.
Milo rannte auf die Schnellstraße. Die Beati schien ihn gar
nicht zu sehen. Gott-Imperator, aber sie sah in ihrer
vergoldeten, gravierten Rüstung so wunderschön aus.
Er schrie etwas. Einen Moment später hatte Corbec ihn
erreicht und riss ihn mit einem Hechtsprung zu Boden. Beide
landeten hart und schrammten sich am Straßenbelag die Haut
auf.
Die Koaxialwaffen des Todesklinge schwenkten herum, um
die goldene Gestalt vor ihnen aufs Korn zu nehmen, und
feuerten los, aber die Heilige war nicht mehr da. Die leere
Stelle auf der Straße wurde mehrfach in ihre Bestandteile
zerlegt und aufgelöst.
Mit einem einzigen Sprung hatte sie sich auf den Rumpf des
gewaltigen Vehikels hinter der Demolierer-Kanone und neben
dem Hauptgeschütz befördert. Das Schwert kreiste wie eine
Sense in ihrer Hand.
Der massige Lauf des Hauptgeschützes fiel krachend auf den
Rumpf und rollte dann auf die Straße. Die Schnittstelle am
Stumpf des Geschützlaufs knisterte vor sich entladender
elektrischer Energie.
»Du lieber Gott-Imperator …«, stammelte Corbec ungläubig.
Die Beati riss das Schwert hoch, fasste es mit beiden Händen
und stieß es mit der Spitze voran tief in den Rumpf des
Panzers.
Der Panzer blieb abrupt stehen. Sie hatte den Fahrer
gefunden und getötet.
Die Dachluke klappte auf, und ein Offizier kletterte nach
draußen und machte Anstalten, sich hinter die drehbar
angebrachte Boltkanone zu klemmen. Sie sprang wieder,
wobei sie einen Salto beschrieb, und landete auf den Füßen
oben auf dem Turm hinter dem Luk. Ihre schnurrende Klinge
durchschnitt Hals und Waffe gleichermaßen.
»Corbec … Corbec, haben Sie das gesehen …?«, keuchte
Milo, der die Geschehnisse fasziniert beobachtete.
»Der Imperator beschützt ganz gewiss, mein Junge«,
murmelte Corbec.
Die Beati zog eine goldene Granate aus dem Gürtel, schaltete
den Zünder ein und ließ sie durch das offene Luk fallen. Dann
sprang sie mit weitem Satz vom Panzer hinunter.
Milo und Corbec sprangen auf und rannten in Deckung.
Der Todesklinge explodierte nicht, stattdessen wogte Feuer
durch sein Inneres und sprengte mehrere Luken weg. Ein
Besatzungsmitglied taumelte brennend nach draußen und fiel
auf die Straße.
Das nach unten zeigende Schwert locker in der rechten Hand,
schritt die Beati mit dem brennenden Panzer im Rücken und in
funkelnder Rüstung auf sie zu.
Milo und Corbec drehten sich zu ihr um.
»Ich wünsche einen guten Tag, Brüder«, sagte sie.
Beide Geister lächelten unwillkürlich.
»Das war erstaunlich, Heiligkeit«, sagte Milo.
»Heiligkeit?«, wies sie ihn zurecht. »Begrüßt ihr so eine
Freundin? Ich bin Sabbat. Nennt mich so, wenn ihr mich etwas
nennen müsst.«
Corbec sah Milo an. Er war verblüfft. Der Junge sah es
wirklich nicht. Dies war Sanian, ein Mädchen, von dem Milo
jahrelang geträumt hatte. Aber von Angesicht zu Angesicht
erkannte er sie nicht wieder.
Doch bei näherem Hinsehen, ging Corbec auf, hätte er sie
auch nicht wiedererkannt. Er wusste nur, dass es Sanian war,
weil Gaunt es ihm gesagt hatte. Diese Frau, dieses Wesen, war
nicht mehr die Esholi, die er auf Hagia kennengelernt hatte.
Sanian war still, bescheiden und zurückhaltend gewesen. Diese
Frau strotzte nur so vor Selbstsicherheit, Macht und Elan.
Und wenn Sanian ein Augenschmaus gewesen war, dann war
die Frau vor ihnen schön. So schön, dass es schmerzte. Sie
strahlte. Jenseits von allem Sex, jenseits von allem Verlangen.
Sie war eine göttliche Inkarnation der Schönheit.
Und sie hatte soeben einen Superschweren Panzer in
direktem Zweikampf besiegt.
Corbec kam sich plötzlich albern und erbärmlich vor.
»Das ist nichts im Vergleich zu den Heldentaten, die Sie in
Ihrer Zeit vollbracht haben, Colm«, sagte sie zu ihm, als könne
sie seine Gedanken lesen.
»Sie sind zu freundlich«, murmelte er.
Milo wollte etwas sagen, aber dann riss er sein Lasergewehr
abrupt in die Höhe und zielte – so schien es – direkt auf ihren
Kopf.
Er schoss, und der Schuss zischte über ihre linke Schulter
hinweg. Ein Besatzungsmitglied aus dem Todesklinge war
halb aus dem Seitenluk des Panzerwracks herausgeklettert und
hatte eine Boltpistole erhoben und auf den Rücken der Beati
gerichtet. Milos Schuss traf ihn in den Hals, und er fiel auf das
Gesicht, während die Waffe auf den Rumpf des Panzers
schepperte.
Die Beati zuckte zusammen und schaute sich um. Als sie sich
wieder Milo zuwandte, lächelte sie strahlend.
»Seht ihr?«, sagte sie. »Seht ihr? Ohne euch bin ich nichts.
Der Imperator, gesegnet sei seine göttliche Gnade, hat mir
Kraft, Schnelligkeit und Macht über jedes menschliche Maß
hinaus verliehen. Aber ich kann nicht allein gegen den Feind
kämpfen. Allein würde ich überwältigt. Für das Überleben und
für den Sieg verlasse ich mich auf euch … auf Sie, Milo und
auf Sie, Colm, auf die tapferen Männer und Frauen der
Imperialen Garde, auf alle meine Mitstreiter … eine Tatsache,
die Milo gerade sehr deutlich demonstriert hat.«
»Wir dienen nur, Beati«, murmelte Corbec.
»Wir alle dienen nur, Colm«, versicherte sie ihm, indem sie
ihm eine Hand auf die Stirn legte. Ein rasender Kopfschmerz,
den er noch gar nicht richtig zur Kenntnis genommen hatte, die
Nachwirkungen jenes entsetzlichen tiefen Geräuschs, ließ nach
und verschwand. Er fühlte sich gut. Feth! Er fühlte sich wieder
wie einundzwanzig!
»Wir alle gehen gemeinsam auf die Reise in die Nacht. Ich
bin vielleicht so etwas wie … wie … ich weiß nicht genau.
Zumindest eine Galionsfigur. Ein Sammelpunkt. Ein Anführer.
Aber ich bin nichts ohne euch. Ein Anführer ist nichts, wenn er
niemanden zum Anführen hat.« Sie sah beide an. »Versteht ihr
das? Es kommt mir so vor, als redete ich Unfug.«
»N-nein!«, versicherte ihr Corbec.
»Wir verstehen«, sagte Milo.
»Hier geht es nicht um mich«, sagte sie. »Hier geht es um uns
alle. Seelen aus dem Imperium, die sich zusammentun, um die
Finsternis zurückzudrängen.«
»Wir verstehen«, wiederholte Milo. Sie wandte sich ihm zu
und lächelte wieder.
»Ich wusste, dass Sie es verstehen würden, Milo. Tatsächlich
ist es so festgelegt, im Warp. Sie werden jetzt bei mir bleiben.
Bis das hier vorbei ist. Sie werden mich beschützen. Gaunt hat
es versprochen.«
»Das werde ich, Beati«, sagte Milo.
»Sie haben doch keine Angst, oder?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich hätte welche«, sagte sie zu ihm.
Gaunt und seine drei Trupps trafen ein paar Minuten später
ein. Gaunt starrte voller Verblüffung auf das Wrack des
Superschweren Panzers.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Die Beati ist passiert«, sagte Corbec.
»Wo ist sie jetzt?«
»Sie rückt vor. Domors Trupp begleitet sie. Milo auch.«
»Milo?«
»Ich hatte den Eindruck, dass er befördert worden ist. Zu
ihrem ganz persönlichen Spezi.«
Gaunt runzelte die Stirn. »Sie sehen müde aus«, sagte er zu
Corbec.
»Es war ein langer Tag, Herr Kommissar.«
Und er würde noch länger dauern und nicht enden. Die
Imperialen hatten der ersten Welle des Erzfeindes mit Mühe
und Not standgehalten, und die Zweite war bereits im
Anrollen. In diesem Kampf würde es keine Atempause geben.
Der Feind würde die Civitas angreifen, bis sie fiel.
»Ich habe Verstärkung angefordert«, sagte Gaunt zu seinem
Oberst. »Ich will, dass sich einige ausgepumpte Einheiten
zurückfallen lassen und sich ausruhen. Sorgen Sie dafür, dass
Ihre dazugehört.«
»Es geht uns bestens, Herr Kommissar«, protestierte Corbec.
»Ich weiß. Aber tun Sie es trotzdem. Soric zieht sich zurück,
Haller, Burone, Ewler, Scafond, Folore und Meryn. Schließen
Sie sich ihnen bitte an. Lassen Sie sich verarzten. Morgen wird
es sich bezahlt machen, wenn ich Trupps wie Ihren frisch aus
dem Hut ziehen kann.«
»Falls es ein Morgen gibt«, seufzte Corbec.
»Auf jeden Fall«, sagte Gaunt mit Nachdruck. »Und jetzt
sammeln Sie Ihre Männer ein und ziehen Sie sich zurück.«
Der Krieg grollte weit über ihm wie der Albtraum eines
anderen. Beine klatschten durch warmes Wasser. Karess drang
weiter vor. Wenn die Kalksteinkavernen zu eng wurden,
benutzte er seine Strahler, um sie zu öffnen. Es roch nach
erhitztem Gestein und Asche.
Karess konnte den Geruch nicht wahrnehmen. Er konnte die
Hitze nicht spüren. Er spürte nichts außer dem maschinell
hervorgerufenen Schmerz seines Wesens. Meter um Meter
arbeitete er sich in den Bauch der Civitas voran.
Die Nachtluft war bitter und trocken. Lamm eilte mit seinen
Truppen durch die leeren Straßen dem Feuerschein entgegen,
der den Vorstoß des Feindes markierte. Sie hatten alle auf die
Atemmasken umgeschaltet. Bei dieser Invasion waren schon
zu viele Luftreiniger zerstört worden.
Seine viel zu weit aufgefächerten Einheiten erreichten
Prinzipal II, und einige bekamen Feindkontakt. Lamm brach in
ein Habitat ein und ging mit einem Signalmann und drei seiner
Offiziere in die oberste Etage, um sich einen guten Überblick
zu verschaffen.
Lamm kniete sich vor ein Fenster und ließ den Feldstecher
über die brennende, sterbende Civitas unter sich wandern.
Feuer und Explosionen waren so grelle weiße Lichtpunkte,
dass sie die Filter des Geräts überforderten.
»Da«, sagte Lamm. »Da, der Gehweg. Dahin muss sofort
eine Einheit.«
Der Signalmann antwortete nicht.
Lamm sah sich um und blinzelte, um seine Augen an die
Düsternis in dem Raum zu gewöhnen. Von Forbes, seinem
Signalmann, war nichts zu sehen. Auch nicht von den drei
anderen Offizieren.
Lamm erhob sich verwirrt.
»Was …?«, begann er.
Er hörte, wie sich etwas im angrenzenden Badezimmer
bewegte.
»Das ist ungehörig, ihr Idioten!«, bellte er, zog aber dennoch
seine Pistole. »Wo sind Sie, Forbes? Wir haben keine Zeit für
Scherze!«
»Antworten Sie!«
Die knisternde Stimme ließ Lamm zusammenfahren. Sie kam
aus dem Kom-Gerät. Es lehnte an der Wand. Von dem
Signalmann, der es getragen hatte, war keine Spur zu sehen.
Aus dem Badezimmer drang wieder ein Geräusch. Lamm hob
die Pistole und schoss auf die Tür. Der Laserstrahl bohrte ein
Loch durch das Fasermaterial. Licht fiel hindurch. Mit dem
Lauf seiner Pistole stieß er die Badezimmertür auf.
Die Deckenlampe war an und verbreitete einen schirmlosen,
grellen Schein.
Lamm hatte Forbes und seine drei Offiziere gefunden. Sie
lagen in der Plastikbadewanne.
Man hatte sie ihrer Kleidung und Haut sowie aller
Unterscheidungsmerkmale beraubt. Die Wanne war bis zum
Rand mit einer dickflüssigen, glänzenden Suppe aus Blut,
Fleisch, Knochen und Organen gefüllt. An der Seite lief Blut
den Wannenrand herunter auf den gefliesten Boden.
Lamm ächzte ungläubig, dann sank er auf die Knie und
übergab sich.
Er hörte ein Rascheln hinter sich im Dunkeln. Es war das
Rascheln eines Mantels. Eines Mantels aus nasser
Menschenhaut.
Lamm fuhr herum und jagte Schuss um Schuss auf die Wand
im anderen Raum.
Er hörte auf zu schießen und erhob sich. Die Waffe in seiner
Hand zitterte leicht. Sein eigener keuchender Atem hörte sich
viel zu laut an. Er ließ die Pistole nach rechts und links
wandern. Hatte er es getötet? Hatte er?
Lamms Brust fühlte sich plötzlich warm an. Er blinzelte und
hob die Hand. Seine Brust war über und über mit
dickflüssigem, heißem Blut bedeckt.
Seine Hand fuhr an seinen Hals, und zwei seiner Finger
glitten unerwartet durch einen Schlitz darin, der zehn
Sekunden zuvor noch nicht da gewesen war. Seine
Fingerspitzen stießen gegen den entblößten Kehlkopf, die
Nackensehnen und die Speiseröhre. Seine Kehle war
durchschnitten. Er empfand eigentlich keinen Schmerz, nur
gewaltige Überraschung.
Skarwael beendete sein Kunstwerk. Sein Boline,
doppelschneidig und monomolekular scharf, bohrte sich in
Lamms schwankende, vergeblich nach Luft schnappende
Gestalt. Er legte das Rückgrat bloß, während der Mann noch
aufrecht stand, und durchschnitt Nieren und Lendenmuskeln.
Blut spritzte unter dem Druck heraus. Skarwael öffnete den
Mund und streckte seine lange graue Zunge heraus, als es ihn
traf.
Lamm fiel auf das Gesicht.
Skarwael verschmierte das Blut auf den Wangen rund um
seine tiefen Augenhöhlen. Dadurch wirkten sie vor seiner
straffen, weißen Haut noch dunkler und schienen noch tiefer in
den Höhlen zu liegen.
Er seufzte. Mit der Beati würde er nicht so geduldig und
gnädig umgehen.
– Rawne
Ein paar Minuten vor Sonnenaufgang des zweiten Tages gab
Lugo von seinem Kommandoposten hoch oben in der
Makropole den Rückzugsbefehl.
Nachdem die Vororte im Nordwesten weit offen standen, war
der Bezirk Eisenhalle in der zweiten Nachthälfte unter
zunehmenden Druck geraten, und Kaldenbach hatte schließlich
widerstrebend durchgegeben, seine Einheiten könnten nicht
länger standhalten.
Als der Befehl Gaunt erreichte, fluchte er, obwohl er den
Sinn darin sah. Wenn Kaldenbach sich zurückfallen ließ,
würde Masonae ganz allein dastehen, eine Ausbuchtung in der
Front, die der Zange der rechts und links daran
vorbeiströmenden Truppen des Erzfeindes hilflos ausgeliefert
sein würde.
Die Nordbezirke der Civitas mussten aufgegeben werden.
Glücklicherweise war Kaldenbach ein vernünftiger und
methodischer Anführer. Er brach mit seinen
überbeanspruchten Einheiten nicht einfach in eine wilde Flucht
aus. Er wusste, wie wichtig ein geordneter Rückzug war, dass
der Raum nur für die taktische Konsolidierung hergegeben
werden durfte. Er koordinierte ihn mit Gaunt, damit die
gesamte Linie so sauber wie möglich zurückgezogen werden
und sich gegenseitig Deckung und Unterstützung geben
konnte.
Es war ein zäher, blutiger Vorgang, und er dauerte fünf
Stunden. Bei mehr als einem Dutzend Gelegenheiten stand er
kurz vor dem Scheitern. Zweimal zogen sich PS-Panzer an der
Glaswerke-Flanke zu schnell zurück, ohne den
Infanterietruppen nördlich von ihnen Deckung zu geben, und
schufen dadurch Lücken, die Kaldenbach nur mit viel Glück
stopfen konnte. Dann hätte ein gegen Kaldenbachs eigene
Kommandosektion gerichteter Vorstoß feindlicher
Panzerfahrzeuge beinahe mit Gewalt die Entscheidung
herbeigeführt, doch das drohende Verhängnis wurde durch
einen improvisierten Gegenangriff von Männern des
Regiments Civitas Beati abgewendet. Gaunts sich
zurückziehende Einheiten hatten unter Luftangriffen zu leiden,
von denen drei die Linie stark in Mitleidenschaft zogen und zu
gefährlichen Augenblicken innerhalb der Rückzugsbewegung
führten, da Einheiten der Angreifer die Schwächen
auszunutzen versuchten. Dann wurden Daurs Einheiten nach
Osten in die Farkindelstraße geschickt, um eine Reihe von
Trupps zu stützen, die sich unter starkem Beschuss
zurückzuziehen versuchten, doch Daur kam nicht durch, weil
ihm der Weg durch einen Großbrand versperrt wurde. Raglons
Trupp, der bereits ein gewisses Maß an Sicherheit erreicht
hatte, rückte mutig wieder vor und konnte gerade noch die
Unterstützung leisten, die Daur zu geben nicht imstande war.
Jede dieser Beinahe-Katastrophen hätte leicht ein Loch in die
zurückweichende Linie der Garde reißen können, das rasch
zum sicheren und jämmerlichen Untergang jedes einzelnen
Soldaten der zurückweichenden Truppen hätte führen können.
In der Stunde vor dem Mittag, unter einem bleichen, vom
Rauch der brennenden Vorstädte bleiernen Himmel, erreichten
die letzten Einheiten Gaunts und Kaldenbachs die
Verteidigungslinie in Gildenhang und wurden von der
wartenden zweiten Front aufgenommen. Im Norden und ihnen
dicht auf den Fersen wogten die monströsen Regimenter des
Erzfeindes durch die verlassenen Vorstädte, um mit dem
konzentrierten Angriff auf Gildenhang zu beginnen.
Die zweite Phase der Schlacht um die Civitas Beati hatte
begonnen.
Granaten und Raketen gingen jetzt auf die Innenstadt nieder
und trafen auch die Makropoltürme. Die Explosionen in den
ausgedehnten Fassaden der hochaufragenden Türme mochten
wie Zündfunken auf den Hängen von Bergen aussehen, aber
der Schaden summierte sich. Schwerere Artillerie war aus den
Obsidaes in Stellungen innerhalb der eroberten Nordstadt
vorgerückt. Die Luftwaffe des Feindes konzentrierte ihre
Angriffe jetzt ebenfalls auf die Türme. Luftabwehrbatterien auf
den Dächern und obersten Etagen aller vier Makropoltürme,
die meisten davon in aller Eile in den vergangenen Tagen in
Stellung gebracht, leisteten schroffen Widerstand. Von
Gildenhang aus betrachtet war es ein intensives Schauspiel,
auch wenn gelegentlich Rauch die Sicht versperrte: Die
angreifenden Flugzeuge rasten wie Fliegen durch ein Gewirr
aus Bahnen von Leuchtspurgeschossen und Laserstrahlen, und
manchmal erblühten Explosionen am Himmel.
Auch andere Geräusche hallten durch die Stadt. Grässliche
Geräusche. Schändliche Lesungen von Warptexten
überfluteten die Kom-Frequenzen oder dröhnten mit großer
Lautstärke aus den Lautsprechern der vorrückenden Panzer.
Der gefallene Gebetsverstärker Gorgonaut wurde wieder
aufgestellt und auf die Makropoltürme gerichtet. Durch ihn
wurden Obszönitäten verkündet, oft die verstärkten Schreie
imperialer Soldaten, Bürger oder Pilger, die in der ersten Phase
in Gefangenschaft geraten waren. Der akustische Ansturm
beunruhigte die ohnehin müden und erschütterten Verteidiger
noch mehr. Die Kommissare der Leibkompanie – vor allem die
Keetle-Zwillinge – waren ständig damit beschäftigt, jene
Soldaten – durch Exekution – zu bestrafen, die ihren
Kampfesmut unter der psychologischen Folter verloren.
Denn es wurde schwer zu denken. Es wurde schwer, am
Leben bleiben zu wollen. Zwar waren die Auswirkungen des
Lärmbombardements noch nicht vollständig ins Innere der
Makropole vorgedrungen, aber bis zum frühen Nachmittag war
all jenen in Gildenhang und in der Innenstadt, darunter auch
die Mehrzahl der Verteidiger, übel und heiß. Nerven lagen
blank, und die Männer bekamen Sodbrennen. Dennoch
mussten sie weiterkämpfen. Die Todesbrigaden griffen
Gildenhang von Nordosten und Nordwesten an. Hinter den
Barrikaden und Verteidigungslinien kämpften und starben
imperiale Soldaten mit Tränen in den Augen, da ihnen der
zischende, plappernde Lärm des personifizierten Bösen
körperliche Schmerzen bereitete.
Da war er! Larkin spannte sich und ließ sich gleich darauf
wieder zurücksinken. Er sah Bewegung in dem Hab-Fenster,
aber ein Schornstein war direkt in der Schusslinie.
»Hast du ihn? Sag mir, dass du ihn hast!«, knurrte er in sein
Sprechgerät.
Sauls unversehrter Finger krümmte sich langsam um den
Abzug. Er hörte ein Knister-Zischen, ein entferntes Echo, und
einen herrlichen Moment lang glaubte Saul, er habe
geschossen.
Aber der Zähler an seinem Lasergewehr zeigte nichts an.
Von einem Hochenergieschuss zur Explosion gebracht, löste
sich Sauls Kopf vollständig vom Körper. Sein am Hals
rauchender Leichnam fiel zurück in das Hab. Das
Präzisionsgewehr entfiel seinen Händen, ohne einen Schuss
abgegeben zu haben.
»Sie hat ihn erwischt, Larks!«, sendete Jajjo freudig.
Die im Schutz des Schlafsaalfensters neben ihm kniende
Nessa Bourah hob ihr rauchendes Präzisionsgewehr und
grinste.
Sie war so wie beim letzten Mal: sehr alt und blind. Ein Tuch
aus schwarzer Seide war in Augenhöhe um ihren Kopf
gewickelt. Ihr silbernes Haar lag eng am Kopf an. Das Alter
hatte sie gebeugt, aber in aufrechter Haltung wäre sie größer
als Gaunt gewesen.
Ihre rot-schwarzen Gewänder waren unverkennbar.
»Schwester Elinor«, sagte Gaunt. »Wir sehen uns also
wieder.«
»Das tun wir, Ibram.«
»Das hier sieht aus wie die Kapelle des Heiligen Lichts im
Überfluss von Veniq«, sagte er.
»Sie ist es.«
»Ich dachte, die wäre auf Aexe Cardinal, also ziemlich weit
weg von hier.«
»Früher war sie das auch«, sagte Elinor Zaker. »Aber jetzt
schon lange nicht mehr, nicht einmal bei Ihrem letzten Besuch
dort. Sie existiert jetzt nur noch als eine Erinnerung, eine
Erinnerung, in der ich wohnen kann.«
Beltayn ächzte leise. Mkoll blinzelte ein paarmal.
»Jemand hört das nicht gern«, sagte sie, während sie den
Kopf neigte. »Sie sind nicht allein?«
»Diesmal sind wir zu dritt. Ich, Beltayn und der Anführer
meiner Späher.«
Sie setzte sich auf eine der Bänke, indem sie mit einer Hand
den Weg ertastete und sich mit der anderen auf ihren Stock
stützte. »Also … sind wir schon auf Herodor?«, sagte sie. »Ist
es schon so spät geworden?«
»Ja«, sagte Gaunt. »Und die Gefahr ist groß. Können Sie uns
leiten?«
Sie ließ sich gegen die steife Banklehne sinken. »Die
göttlichen Mächte gestatten mir nur Ratschläge. Aber die
Situation hat sich seit unserem letzten Gespräch zugespitzt.
Kräfte und Elemente, die das Tarot nicht vorhergesehen hat,
sind ins Spiel gebracht worden. Um das auszugleichen, wurde
mir gestattet, noch einmal mit Ihnen zu reden.«
»Sie haben schon zuvor versucht, Kontakt aufzunehmen. Ich
entschuldige mich dafür, die Zeichen übersehen zu haben. Ich
war beschäftigt.« Er hielt kurz inne. »Von wem gestattet?«
Sie wandte den Kopf in seine Richtung. Es war die flüssige
Bewegung eines Menschen, der das Tragen eines Helms mit
Zielsensoren gewöhnt war. Wie bei ihrer ersten Begegnung
hatte Gaunt das Gefühl, als ziele sie auf ihn.
»Den göttlichen Mächten. Ihr Name kann nicht
ausgesprochen werden, denn er strahlt zu hell.«
»Dann sprechen Sie, Schwester«, sagte Gaunt. »Die Zeit
drängt. Die Beati ist bei mir, aber sie könnte durch die Hand
des Erzfeindes den Tod finden. Keine Rätsel mehr.«
Elinor Zaker fuhr zusammen. »Sie ist bei Ihnen?«
»Ja«, sagte Gaunt.
Sie lächelte dünn. »Ach, mein Gott-Imperator, endlich …«
»Es bleibt so wenig Zeit …«, drängte Gaunt.
»Der Mechanismus ist heikel …«
»Seien Sie still!«, fauchte Gaunt. Die Kraft seiner Stimme
ließ Beltayn zusammenfahren. Mkoll betrachtete die Szene
fasziniert mit zusammengekniffenen Augen. Er hatte schon
zuvor Visionen gehabt – und noch wichtiger, akzeptiert.
»Ich habe jetzt genug von diesem vagen Gerede und diesem
rätselhaften Unsinn!«, schnauzte Gaunt. »Sagen Sie es mir!
Sagen Sie es mir einfach! Wenn Sie mir helfen können zu
gewinnen, helfen Sie mir! Wenn nicht, warum haben Sie mich
dann überhaupt in diesen Unfug hineingezogen?«
Sie antwortete nicht.
»Schwester?«
Sie verschränkte die Hände im Schoß. »Sie haben sich selbst
hineingezogen, als Sie der Beati auf Hagia gedient haben. Sie
haben sich selbst hineingezogen, als Sie Brin Milo vor den
Feuern Taniths bewahrt haben. Sie haben sich selbst
hineingezogen, als Sie Kriegsmeister Slaydo dabei zugehört
haben, wie er über die Schlachten aus dem Zeitalter Sabbats
erzählte, und dann Ihren Bluteid schworen, sein Werk zu
vollenden. Sie haben sich schon lange vor Ihrer Geburt selbst
hineingezogen, vor der Geburt Ihrer Vorfahren, denn Sie und
Ihre Geister sind ein kleiner Teil einer manifesten
Bestimmung, deren Dimension so gewaltig ist, dass von hier
aus, nicht einmal auf diesem Höhepunkt, weder der Anfang
noch das Ende zu sehen ist.«
Gaunt schluckte. »Ich verstehe«, stammelte er.
Sie nickte ihm zu. »Ich weiß, Sie tun es nicht. Mehr als das
Folgende brauchen Sie auch nicht zu verstehen, um Ihren Teil
beizutragen. Zuerst Milo. Er ist entscheidend. Entscheidend für
das, was danach kommt. Aber Ihnen muss klar sein, dass es
kein Danach geben wird, wenn Sie hier scheitern.«
»Hier? Auf Herodor?«
»Auf Herodor«, wiederholte sie. »Überall lauert Gefahr,
mehr als ursprünglich vorausgesehen. Aber die größte Gefahr
lauert trotzdem innen. In Ihrem Körper.«
»Sie benutzen das Wort im DeMarchesischen Sinn. Mit
Körper meinen Sie eine Armee. Meine Geister?«
»In der Tat. Sie haben seit unserer letzten Begegnung
gelesen?«
»Ja, Schwester«, sagte Gaunt.
»Nun denn. Zum letzten Mal. Die Gefahr ist zweigeteilt.
Zwei Gefahren: eine wahrhaftig böse, eine missverstanden.
Die Letzte hat den Schlüssel. Es ist wichtig, dass Sie das nicht
vergessen, weil Ihr Kommissare furchtbar schnell den Finger
am Abzug habt. Der Schlüssel ist jetzt für Sie wichtiger denn
je. Und schließlich, lassen Sie sich von Ihrem schärfsten Auge
die Wahrheit zeigen. Das ist alles. Es werden neun sein.«
»Was haben Sie gesagt …?«, begann Gaunt.
Die Wirklichkeit platzte wie eine Seifenblase.
Gaunt stand neben Mkoll und Beltayn in einem sehr leeren,
sehr ramponierten Hab-Modul.
»Was in Feths Namen ist gerade passiert?«, fragte Mkoll.
Beltayn zitterte vor Furcht und Verwirrung.
»Neun …«, murmelte Gaunt. »Bel. Klemmen Sie sich ans
Kom. Finden Sie heraus, wo Soric ist.«
In der Dunkelheit war die Ausdehnung des Gemetzels in der
Civitas sichtbarer. Ganze Abschnitte der Außenbezirke und
Hänge standen in Flammen, und Feuer ballten sich auch rings
um die Nordwände der Makropoltürme eins und zwei. Gaunt
wusste nicht, wann der Schild zusammengebrochen war, aber
mittlerweile war er lange ausgefallen, und aus dem Norden
wehte der Wind durch das Becken der Civitas und fachte die
Flammen zusätzlich an.
Die Imperiumstruppen und Unterstützungsmannschaften
flohen nach Süden die Straßen zum höher gelegenen Teil
Gildenhangs empor, manche zu Fuß, andere in dröhnenden
Transportern und Lastern. Die zweite Verteidigungslinie war
vollständig zusammengebrochen.
Gaunt trieb seine aus drei Trupps bestehende Streitmacht im
Laufschritt voran und kam mit ihr bis zum
Atmosphärenerzeuger auf dem Fenzyplatz, wo sie auf eine
Kolonne von vier Truppentransportern der PS aufsprangen, die
sie das letzte Drittel Gildenhangs zum Burgfried der Oberstadt
emporfuhren, der dem Regiment Civitas als Hauptkaserne
diente.
Der Burgfried war größtenteils intakt. Er war von ein paar
Langstreckengranaten getroffen worden, aber das
Hauptgebäude mit Blick auf Prinzipal I hatte überlebt. Im
Appellhof sammelten sich Hunderte herodorischer Soldaten
und beluden wartende Transporter mit überzähligen
Geschützen.
Gaunt sprang von seinem Transporter und sah sich um,
während Mkoll und Ewler eine Zählung vornahmen. Es roch
nach Abgasen, und überall wurden Befehle gebrüllt. Gaunt sah
auf. Die Oberstadt befand sich an der Basis der
Makropoltürme, deren riesige Silhouetten sich
schwindelerregend hoch und wohltuend massiv vor ihm
erhoben. Eigentlich waren es keine Türme, sondern vertikale
Städte von zyklopischer Konstruktion. Gaunt holte tief Luft. Er
hatte vergessen, wie massiv sie waren. Vielleicht hielten sie
stand, wenigstens für eine Weile.
»Gaunt!« Beim Klang seines Namens drehte er sich um und
sah Biagi durch die Menge zu ihm kommen. Der Marschall
hatte offenbar selbst Feindberührung gehabt. Eine Wunde an
der Hüfte war notdürftig mit einem Feldverband versorgt
worden.
Gaunt salutierte. »Wir konzentrieren uns jetzt auf die Türme,
nehme ich an?«, sagte er.
»Auf die Altmakropole«, sagte Biagi. »Der Marschall und die
Offiziare der Civitas haben sich dorthin zurückgezogen. Wir
werden unsere Verteidigung um sie aufbauen.«
»Ist die Altmakropole nicht die verwundbarste?«, fragte
Gaunt. »Sie ist uralt und weit weniger robust als die anderen
Türme.«
»Die Altmakropole ist der Sitz der herodorischen Kultur«,
sagte Biagi. »Sie ist unser Herz. Das Heilige Balnearium ist
dort ebenso wie die ältesten Schreine. Wenn wir uns irgendwo
konzentrieren, muss es dort sein.«
Die Implikationen waren grimmig. Die anderen Türme
würden schutzlos bleiben. Ihre Bewohner würden sterben. Es
musste eine schwere Entscheidung für Biagi gewesen sein.
Gaunt fing sich. Nein, die Entscheidung war leicht. Es war
genau dieselbe, die er beim Untergang Taniths getroffen hatte.
Alles konnte nicht gerettet werden, und jeder Versuch, es
dennoch zu tun, war zum Scheitern verurteilt. Die einzige
Möglichkeit bestand darin, alle Anstrengungen zu
konzentrieren, um wenigstens einen Teil zu retten.
Biagi starrte auf den Feuerschein, der den Nordhorizont
erhellte.
»Wenn ich mir vorstelle, dass ich Ihnen die Benutzung von
Flammenwerfern verboten habe, Gaunt. Sehen Sie nur, wie
meine Stadt brennt.«
»Seien Sie dankbar, Herr Marschall, dass ich Ihre
diesbezüglichen Befehle missachtet habe. Ohne meine
Flammer hätte sie sehr viel früher sehr viel heftiger gebrannt.«
Gaunt sah Biagi an. »Ich habe eine Kom-Nachricht auf
meinem Weg hierher geschickt. Sie betraf einen meiner
Soldaten. Sergeant Soric?«
»In der Tat. Ich habe ihn wie gewünscht aus dem Turm
hierher bringen lassen. Was ist so wichtig an ihm?«
»Begleiten Sie mich, dann finden wir es vielleicht heraus.«
»Er ist hier drinnen«, sagte Dorden, der die vier Soldaten bis
zur Tür von Zelle fünf führte. Der tanithische Arzt hatte es sich
nicht nehmen lassen, Soric persönlich zu begleiten. Ein
berobter Astropath und zwei bullige Männer in langen grauen
Ledermänteln standen neben der Zellentür. Die grauen
Männer, die Schockstäbe in den Händen hielten, waren
Mitglieder des psionischen Kaders der Lebenskompanie.
Augmetische Dämpfer-Einheiten mit Drahtgittern waren in
ihre Ohren und Augenhöhlen eingepasst.
»Ich habe gehört, was Sie gesagt haben. Gerade, zu Meryn«,
sagte Dorden.
»Haben Sie? Ich nehme an, ich fange langsam an, Ihren
hohen Maßstäben zu entsprechen, Doktor?«
Dorden lächelte sarkastisch. »Eins verstehe ich nicht«, sagte
er. »Vor kurzem haben Sie noch gesagt, Sie glaubten, der
Warp würde der Menschheit niemals die Wahrheit zeigen, vor
allem nicht dem Ungeübten und dem Ungeduldeten.«
»Ich habe meine Meinung geändert«, sagte Gaunt. »Ich bin
weder geübt noch geduldet, aber wie Zweil festgestellt hat,
haben Mächte, göttliche oder andere, sich entschieden, zu mir
zu sprechen. Heute Nachmittag, in einer kleinen Kapelle …«
»Was?«
»Schon gut. Sind wir da?«
Dorden öffnete die Zellentür.
Soric lag im grellen Licht der Phosphalampen an der Decke
auf der Pritsche aus perforiertem Metall. Er war übel
zusammengeschlagen worden. Dorden hatte sich alle Mühe
gegeben, ihn wieder zusammenzuflicken.
»Feth! Was ist passiert?«
»Meryns Trupp ist passiert. Auf dem Weg hierher haben sie
ihm einen Vorgeschmack auf die Hölle gegeben.«
»Dreckskerle, ignorante Dreckskerle …«
»Was ist das denn?«, murmelte Biagi und bückte sich, um
einige der vielen hundert zerknitterten blauen Papierfetzen
aufzuheben, die auf dem Zellenboden lagen. Gaunt sah ihm
über die Schulter. Die Zettel in den Händen des Marschalls
waren mit einer hastigen, kaum leserlichen Schrift voll
gekritzelt.
»Ich würde sagen, die sind von einem ganz normalen
Meldezettelblock der Garde abgerissen worden«, sagte
Beltayn.
»Haben Sie ihm Papier gegeben? Schreibzeug?«, fragte Biagi
die Wärter.
»Nein, Herr Marschall«, grunzte einer von ihnen mit
monotoner Stimme, die aus einem künstlichen Kehlkopf kam.
»Wir haben dem Gefangenen alle persönlichen Habseligkeiten
abgenommen. Aber sie kehren immer wieder zu ihm zurück.«
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Biagi.
Der Wärter ging zu Soric und durchsuchte ihn. Soric ächzte
bei seiner Berührung. Der Wärter holte einen Messingzylinder
aus Sorics Oberschenkeltasche.
»Ich weiß nicht mehr, wie oft wir ihm den schon
abgenommen haben. Alle paar Sekunden verschwindet er aus
unserem Beutel mit den Beweismitteln und taucht in seiner
Tasche wieder auf.« Der Wärter öffnete den
Nachrichtenzylinder und schüttelte den nächsten blauen Zettel
heraus. »Und jedes Mal ist eine neue Nachricht darin.«
»Haben Sie so etwas schon mal erlebt?«, fragte Gaunt.
»Nein, Herr Kommissar«, antwortete der Wärter.
Gaunt kniete sich neben Soric. »Agun? Chef? Können Sie
mich hören?«
Sorics Auge öffnete sich zu einem schmalen Schlitz in
seinem zugeschwollenen Gesicht. Das Auge war
blutunterlaufen.
»Herr Kommissar-Oberst«, seufzte er.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit, Chef. Erzählen Sie mir von
den neun.«
»Bin so müde … solche Schmerzen …«
»Chef! Vorhin wollten Sie es mir unbedingt erzählen! Also
erzählen Sie es mir jetzt!«
Soric nickte langsam und richtete sich mit Dordens Hilfe zu
einer halb sitzenden Position auf.
»Neun sind unterwegs«, sagte er.
»Neun?«
»Neun«, wiederholte er unter Schmerzen. »Es tut mir so
Leid, Herr Kommissar. Es war nie meine Absicht …«
»Heben Sie sich das für später auf, Agun. Erzählen Sie mir
von den neun.«
»Neun. Der Zylinder hat mir gesagt, es würden neun sein.
Weil neun die heilige Zahl der Beati ist …«
»Die neun heiligen Wunden«, sagte Biagi feierlich.
»Die neun heiligen Wunden«, nickte Soric. »Ich habe sie
gesehen. Sie hat mich angeschaut. Direkt angeschaut. Sie
wusste es …«
»Chef! Chef! Kommen Sie, bleiben Sie bei uns!«
Soric war immer leiser geworden und zusammengesackt.
Gaunt sah Dorden an. »Können Sie nichts tun?«
»Was uns hilft? Natürlich. Was ihm hilft? Nein. Außerdem,
wenn er ist, was Sie befürchten, ist ein Aufputschmittel
vielleicht keine so gute Idee.«
»Ich glaube, das müssen wir riskieren«, sagte Gaunt.
»Einverstanden? «
Biagi nickte. Die Wärter schalteten ihre Schockstäbe ein.
Plötzlich stank es in der kleinen Zelle durchdringend nach
Ozon.
Dorden spritzte Soric etwas in den Arm und desinfizierte die
Einstichstelle. Soric zitterte, schauderte und krampfte sich
zusammen.
Dann schlug er das eine Auge auf und starrte Gaunt an.
»Herr Kommissar?«
»Erzählen Sie mir von den neun, Chef.«
»Neun. Das hat er gesagt. Er wollte einfach nicht davon
aufhören.« Soric hob die Hand, und Gaunt sah, dass sie den
Messingzylinder hielt. Wie bei Feth war er wieder in seine
Hand gelangt?
»Seit Phantine, seit meiner Verwundung auf Phantine,
begleitet mich dieses Ding jetzt. Es redet nicht mit mir,
verstehen Sie? Es schreibt mir. Alles sehr zivilisiert. Ich öffne
den Zylinder, und siehe da! Wieder eine Botschaft. Geht nach
links, geht nach rechts, folgt der Mauer … so etwas.
Gefechtskram. Nur ein Rat. Ich habe mir nie Sorgen deswegen
gemacht. Gott-Imperator, ich weiß, ich hätte es tun sollen! Ich
hätte Ihnen schon längst davon erzählen müssen!«
»Warum haben Sie sich nie Sorgen deswegen gemacht?«,
fragte Gaunt.
»Weil es meine Handschrift war. Ich trinke ganz gerne mal
einen, das wissen Sie, Herr Kommissar. Ich habe mich gefragt
… habe ich das geschrieben und wieder vergessen …?«
»All diese Botschaften?«
»Nein. Nein! Aber am Anfang schon. Und dann, als mir klar
wurde, dass mehr dahintersteckt, hatte ich zu viel Angst.«
»Wovor?«
»Vor Männern wie Ihnen«, sagte Soric und zeigte dabei auf
Gaunt. »Vor Männern wie denen«, fügte er verdrossen hinzu
und zeigte auf die Wärter.
»Milo hat mir gesagt, was ich tun soll«, sagte Soric. Gaunt
sah Beltayn an. »Er hat mir gesagt, dass ich ein Mann sein und
gestehen soll.«
»Was … was sagt der Zylinder Ihnen jetzt, Chef?«
»Der Zylinder weiß immer alles. Er wusste das mit Herodor
schon lange, bevor wir die Nachricht bekamen. Er wusste es.
Er weiß einfach Bescheid. Neun. Neun sind unterwegs.«
»Neun was?«
»Neun Attentäter.«
»Die kommen, um die Beati zu töten?«
Soric nickte.
»Auf Herodor gibt es eine riesige Armee, die versucht, die
Beati zu töten«, sagte Biagi.
»Aber die neun sind etwas Besonderes. Sie haben den
besonderen Auftrag vom Magister erhalten. Sie sind längst zu
uns vorgedrungen. Viel weiter vorgedrungen, als wir
wahrhaben möchten.«
»Was sind das für Attentäter?«, fragte Gaunt.
»Warten Sie«, sagte Soric. Er schob den Nachrichtenzylinder
in seine Oberschenkeltasche und zog ihn dann wieder heraus.
Als er ihn öffnete, befand sich ein zusammengefalteter Zettel
aus dünnem blauen Papier darin.
Er glättete das Blatt, um es zu lesen, und hielt es dabei dicht
vor sein zugeschwollenes Auge.
»Neun. Ein Scharfschütze. Drei Psioniker. Drei Reptilien. Ein
Phantom. Eine Todesmaschine.«
In Sabbats Namen
– Ibram Gaunt
Einige der Männer in Corbecs Trupp machten ihrem Unmut
Luft, und Corbec konnte verstehen, warum.
»Wann lassen wir uns denn nun endlich zurückfallen?«, sagte
Bewl.
»Um Feths willen, warum sind wir immer noch hier
draußen?«, sagte Cown.
»Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen, Jungens«, versicherte
Corbec ihnen. Die Anweisungen waren simpel gewesen.
Findet die Beati und bringt sie in die Altmakropole. Und passt
ganz besonders auf die richtig schlimmen Sachen auf. Von
denen es anscheinend neun gab.
Sie kämpften nicht mehr. Sie schlichen. Verhüllt, verstohlen,
unter Einsatz all ihrer tanithischen Schleichfähigkeiten,
tasteten sie sich durch die Trümmerwüste Gildenhangs. Sie
wichen vorrückenden Blutpakt-Einheiten aus und versteckten
sich, wenn rote Panzer mit flammenden Lampen
vorbeischepperten. Ab und zu kam es zu einem Feuergefecht,
wenn die Umstände es verlangten, aber sonst spielten sie
ausschließlich Verstecken.
Sie hielten sich im Schatten und blieben am Leben.
Corbec war froh, dass er Mkvenner wieder bei sich hatte. Er
hatte längst aufgehört, die Blutpakt-Kehlen zu zählen, die Ven
in dieser Nacht schon durchgeschnitten hatte, während er sie
führte. Es gab kein Entrinnen vor der Erkenntnis, dass sie alle
so oder so hier auf Herodor sterben würden. Das waren ihre
Aussichten, und nicht einmal Varl oder Feygor hätten ihnen
bessere eingeräumt. Aber bei Feth, sie würden ihre Haut teuer
verkaufen.
Den Tarnumhang wie eine Kapuze um sich gezogen, huschte
Corbec auf ein Zeichen Vens vorwärts und passierte dabei die
in Deckung liegenden Orrin, Cown, Cole und Irvinn. Er
erreichte die Straßenbiegung und nutzte den von einer
brennenden Festhalle geworfenen Schatten aus, um sich weiter
vorzutasten. Er hob eine Hand und gab seinerseits ein Zeichen.
Veddekin, Ponore, Sillo, Androby und Brown folgten ihm mit
kurzem Spurt und verschwanden in einem
zusammengeschossenen Druckerladen zu seiner Linken. Dann
folgten Surch und Loell mit dem Kaliber-50 und den
Munitionsgurten.
Corbec huschte in die nächste Deckung. Für einen derart
massigen Mann war er sehr leise. Rerval und Roskil gaben ihm
Deckung und folgten ihm dann.
Die drei rannten in Einerreihe zum Ende des Häuserblocks.
Ein Panzer oder etwas Ähnliches hatte das Haus dort platt
gewalzt und nur noch zerklüftete Trümmer stehen lassen, aus
denen die abgerissenen Metallverstrebungen ragten.
Mkvenner tauchte wieder auf und kam leichtfüßig zu ihnen
gelaufen. »Irgendein überdachter Markt zur Linken. Die Straße
rechts ist unpassierbar. Wir könnten weiter bergab, wenn wir
der Seitenstraße da folgen.«
»Können wir auch durch den Markt?«, fragte Corbec.
»Den habe ich mir nicht angesehen.«
»Versuchen wir es.« Corbec erhob sich und signalisierte mit
den Fingern etwas nach hinten. Dann liefen er und Ven mit
Brown, Cole, Sillo und Roskil hinter sich weiter.
Der überdachte Markt hatte früher ein Glasdach gehabt, aber
die Druckwellen der Bombardierung hatten es zerstört. Ein
paar Holzschirme waren noch intakt. Die Geschäfte in dem
Markt waren alle abgeschlossen und verrammelt.
»Sieht nicht sehr vielversprechend aus«, sagte Ven.
Corbec nickte und machte kehrt. Dann blieb er abrupt stehen.
Er hatte etwas gerochen. Der Geruch war schwach, sehr
schwach, und ging beinahe im Gestank des Rauchs und des
verbrannten Öls unter.
Etwas wie Zimt. Er kannte diesen Geruch, ganz genau sogar.
Diesen ganz besonderen Gestank. Aus Hagia, der
Doktrinopolis … wie lange war das jetzt her? Vier Jahre?
Er würde ihn nie vergessen. Er war immer noch in seinen
Albträumen. Ein Augenblick in seinem Leben, den auch noch
so viel tiefer Schlaf nicht verblassen ließ. Er und der arme
Junge Yael. Gefangene der Infardi. Und dieses Ding, dieses
Ungeheuer in Menschengestalt. Das Yael abgeschlachtet hatte,
nur um ihn schreien zu hören.
Es konnte nicht sein. Das Dreckschwein war schon lange tot
…
Corbec holte noch einmal tief Luft: Zimt, Schweiß, Fäulnis.
Schwach, aber wahrnehmbar.
»Geben Sie mir Deckung«, sagte er zu Ven, wobei er den
fragenden Blick des Spähers einfach nicht beachtete.
Corbec drang mit dem Lasergewehr im Anschlag in den
Markt ein. Jeder Schritt wurde mit äußerster Vorsicht gesetzt.
Der Boden war mit den Glassplittern des geborstenen Dachs
übersät. Die Nerven aufs Äußerste angespannt und so gewandt
wie die besten tanithischen Späher, verursachte Corbec kein
Geräusch.
Er schlich hinein und kontrollierte jede Ecke und jeden
Winkel. Zweimal erschreckten ihn Schatten zu Tode, und er
hätte fast geschossen. Der Geruch wurde stärker.
Corbec sah Bewegung. Tief unten, unter dem Stand eines
fliegenden Händlers. Er schlich vorsichtig näher und hielt das
Lasergewehr nur noch in einer Hand, während die andere seine
Taschenlampe zückte. Er schlich um den Karren und sah, dass
sich zwei Kinder hinter den Rädern versteckten. Kleine
gebeugte Kinder. Eines wedelte mit einer Hand neben dem
Kopf, als wolle es sich in der stickigen Luft Kühlung
zufächeln. Corbec ging noch weiter herum und schaltete die
Lampe ein. Er strahlte die Kinder mit dem grellen Licht an,
und sie zuckten mit keiner Wimper. Er sah ihre Gesichter.
»Ach, Feth!«, knurrte er.
Etwas traf ihn von hinten, ein schwerer, starker Mann, der
nach Schweiß und Zimt stank. Corbec stolperte vorwärts,
prallte gegen den Karren und kippte ihn um.
Die Last lag auf ihm. Er verspürte einen stechenden Schmerz
in der linken Schulter.
Corbec jaulte auf und rammte den Ellbogen nach hinten. Die
Last wurde leichter, und er wälzte sich herum und tastete nach
seinem Gewehr. Er stieß gegen die Kinder … obwohl er nach
dem kurzen Blick auf sie wusste, dass sie keine Kinder waren
… und spürte, wie sie nach ihm griffen.
»Herr Oberst? Oberst Corbec?«, hörte Corbec Ven rufen. Er
hörte Männer über die Glassplitter laufen. Ein Lasergewehr
schoss.
Mkvenner kam mit Brown und Cole neben sich angelaufen.
Roskil und Sillo waren dicht hinter ihnen. Cole hatte bereits
einen Schuss abgegeben und die Jalousie des Ladens hinter
den Zwillingen damit durchbohrt. Die Zwillinge hielten
einander fest und wandten ihre blinden Köpfe Cole zu. Die
psionische Welle traf ihn und brach ihm jeden Knochen im
Leib. Seine schlaffe Gestalt flog wie ein beschwerter Sack
rückwärts in die Luft und durch das Marktdach und durchbrach
dabei mit widerlichem Knirschen eine Stützstrebe.
Corbec sprang auf und fuhr herum. Er sah grüne Seide und
das Funkeln entblößter Metallzähne.
»Sünde!«, schrie er und landete einen Fausthieb in Pater
Sündes Gesicht. Der große Infardi wurde nach hinten
geschleudert und stürzte über zwei weitere Karren. Eine Flut
aus Knöpfen und Perlen ergoss sich über den Boden.
»Pater Sünde!«, brüllte Corbec noch einmal und hechtete
dem sich abrollenden Infardi hinterher. Die Zwillinge hörten
seinen Aufschrei und wandten den Kopf in seine Richtung. Der
psionische Schock streifte ihn und schleuderte ihn Hals über
Kopf in die Jalousie eines Ladens auf der anderen Seite des
Gangs. Er zerbrach mehrere Stäbe und fiel zu Boden.
Mkvenner sprang Sünde an, als dieser aufstehen wollte. Sie
rangen miteinander, und der Späher riss ihn wieder zu Boden.
Sünde landete einen Hieb mit einem tätowierten Arm, der
Mkvenner zur Seite schleuderte.
Die Zwillinge öffneten den Mund, und plötzlich war ein
Summen zu vernehmen. Brown und Roskil blieben wie
angewurzelt stehen und schwankten, während ihnen Blut aus
Nase und Ohren lief. Roskil hob sein Lasergewehr und schoss
Brown zwischen die Augen. Dann fuhr er schwankend herum
und zielte auf Sillo, der voller Entsetzen zurückwich.
Das Zischen eines auf Dauerfeuer geschalteten Lasergewehrs
ertönte. Mkvenner war auf einem Knie und schoss. Die
Zwillinge wurden gemeinsam gegen die Wand hinter ihnen
geschleudert und glitten daran herab, wobei sie einen klebrigen
blutigen Streifen an der Wand zurückließen. Roskil brach
hirntot zusammen, als sie starben.
Heulend warf Pater Sünde sich auf Corbec. Seine tödlichen
Zahnimplantate knirschten und schnappten nach Corbecs Hals.
Der Oberst wehrte Sünde mit dem linken Arm ab und tastete
mit dem rechten nach etwas, das er gegen den Verrückten
einsetzen konnte. Irgendwas. Egal was.
Seine Finger schlossen sich um einen harten, metallischen
Gegenstand. Er hoffte bei Feth, dass es sein Kampfmesser war,
zog den Gegenstand und stach damit seitlich nach Sündes
Kopf. Es drang nicht ein, aber der Hieb ließ Sünde einen
Moment zurückweichen.
Es war nicht Corbecs ehrliches Silber, ganz und gar nicht. Es
war eine Stabgranate.
Corbec fluchte und zuckte zurück, als Sünde wieder auf ihn
losging. Sein massiger Leib nagelte Corbec am Boden fest,
und die Kiefer mit den künstlichen Zähnen öffneten sich, um
seinem Feind die Kehle durchzubeißen.
Corbec rammte die Granate in das klaffende Maul, als Sünde
zubeißen wollte. Die zugespitzten Zähne bohrten sich in das
Metallgehäuse. Sünde versuchte sich zurückzuziehen. Corbec
brachte die Beine unter Sündes Körper, trat zu und schleuderte
den Ketzer rückwärts von sich.
Ein abgerissener Zündstreifen blieb zwischen Corbecs
Fingern zurück.
»Das ist für Yael, du Fethgesicht!«, brüllte Corbec, während
er sich flach auf den Boden warf.
Die zwischen Pater Sündes Zähnen verankerte Stabgranate
explodierte.
Mit Sündes Überresten bespritzt, erhob sich Corbec. Er eilte
zu Mkvenner, den die Druckwelle der Explosion zu Boden
geschleudert hatte.
»Das Dreckschwein haben wir erwischt«, sagte Corbec.
»Es gab Zeiten«, sagte Sabbat ruhig, »in denen ich nicht
gedacht hätte, dass wir so weit kommen würden.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie redete, als gebe es
immer noch eine Aussicht auf den Sieg. »Lugo hat ein Schiff«,
sagte er. »Ich bezweifle sehr, dass es einen Fluchtversuch
überleben würde, aber er will Sie an Bord haben.«
»Und Sie?«
Gaunt schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es gibt kaum eine
Aussicht, dass Sie den Krieg überleben können, meine Heilige,
und Lugos Schiff bietet ganz sicher keine. Mkoll hat eine
Flucht zu Fuß durch den hinteren Teil des Stadtbeckens in den
Südlichen Schutzwall vorgeschlagen. Sie wäre nicht leicht zu
bewerkstelligen, aber Sie und eine kleine Streitmacht könnten
sich da draußen verstecken und am Leben bleiben.«
»Während Sie Innokenti hier mit Ihrem letzten Gefecht
beschäftigen?«
»Niemand anders ist dazu in der Lage. Biagi ist tot,
Kaldenbach so gut wie. Lugo ist zu verängstigt.«
Gaunt und die Beati saßen allein in einem Debattierraum des
Herodorischen Offiziats in der neunten Ebene der
Altmakropole. Trotz der monolithischen Bauweise des
Bauwerks spürten sie, wie sich die Vibrationen des Krieges in
den tiefsten Ebenen ausbreiteten.
»Ibram?« Sie lächelte. »Haben Sie angenommen, meine
Anwesenheit hier diente keinem Zweck?«
»Wenn sie einen Zweck hat, Sabbat, ist er zu hoch für mich.
Ich habe nie begriffen, warum Sie hierher nach Herodor
gekommen sind. Sie sind zu wertvoll – für uns und für den
Erzfeind. Sie hätten unsere Truppen auf Morlond zum Sieg
führen können. Hier haben Sie sich für nichts und wieder
nichts selbst in die Falle begeben. Mit Ihrer Anwesenheit hier
haben Sie nur den Truppen des Chaos einen Dienst erwiesen.
Ihr Tod wird ihrer Moral viele Jahre Auftrieb geben.«
»Sie kennen sich doch mit Risiken aus, Ibram. Sagen Sie, ist
es besser, ein wenig für einen kleinen Sieg zu riskieren oder
alles für einen großen?«
Gaunt lachte traurig. »Ich sehe keine Paral…«
»Wenn ich nach Morlond gegangen wäre, Ibram, wäre uns
dort in der Tat ein schneller Sieg sicher gewesen. Aber es wäre
auch der Tod des Kreuzzugs gewesen. Macaroth hat eine zu
lange Front. Innokentis Flankenangriff schneidet tief in die
Khan-Gruppe. Der Kriegsmeister und ich hätten einen Sieg auf
Morlond errungen, aber die Truppen hinter uns wären im Zuge
des Gegenangriffs vernichtet worden. Wir wären abgeschnitten
und ausgelöscht worden.«
»Also gehen Sie stattdessen in die Khan-Gruppe? Ohne
zählbare Truppen?«
»Wie wichtig ist Herodor, Ibram?«
»Verglichen mit den bedeutenden Welten der Khan-Gruppe
und den Hauptbevölkerungszentren? Völlig unwichtig.«
»Warum gibt sich dann aber der Magister persönlich … und
so ein großer Teil seines Heers … damit ab?«
Gaunt zuckte die Achseln. »Weil Sie hier sind.«
Sie nickte. »Innokenti hätte den Krieg mit einem gnadenlosen
Vorstoß durch die Khan-Flanke sofort zugunsten des Chaos
entscheiden können. Wir hatten nicht die Truppen, um ihn
daran zu hindern. Aber mir kam der Gedanke, wir könnten ihn
vielleicht ablenken und dazu bringen, wichtige Zeit mit der
sinnlosen Invasion einer wertlosen Welt zu vergeuden.«
»Sie … sie haben sich als Köder hergegeben?«
»Sie haben selbst gesagt, dass ich zu wertvoll bin. Für uns
und den Erzfeind. Innokenti konnte mich nicht übergehen.« Sie
griff in eine Tasche und holte eine Datentafel heraus. »Das hier
haben die Astropathen ein paar Minuten vor der Schließung
der Tore empfangen. Ich hatte die Absicht, es anlässlich der
Zeremonie im Balnearium zu verkünden, aber wir wurden
unterbrochen.«
Gaunt nahm die Tafel und las sie. Der Text hatte einen
extrem hohen Verschlüsselungsgrad gehabt. In einem letzten
blutigen Vorstoß hatten Macaroths Truppen Morlond
eingenommen. Urlock Gaur hatte die Flucht ergriffen. Es
würde seine Zeit dauern, aber jetzt konnten imperiale Truppen
abgezweigt werden, um die Verteidigung der Khan-Gruppe im
Angesicht von Innokentis Angriff zu stärken.
Eines Angriffs, der auf Herodor ins Stocken geraten war,
obwohl der Feind alle Vorteile hatte.
»Beim Goldenen Thron …!«, seufzte Gaunt erstaunt.
»Vielleicht sterben wir hier, Ibram. Aber wenn, dann im
Namen des Siegs.«
»Dem Imperator sei Dank«, sagte er.
Sie erhob sich. »Und sollte ich hier sterben, würde ich mich
gerne so teuer wie möglich verkaufen. Milo?«
Milo hatte im Vorzimmer der Kammer gewartet. Er kam
herein und verbeugte sich vor ihr, bevor er vor Gaunt
salutierte.
»Die Zeit ist gekommen«, sagte sie. »Meine Botschaft?«
»Ich habe sie zur Taktisch-Logistischen Zentrale gebracht.
Dort hat man sie ins öffentliche Nachrichtensystem der Civitas
eingespeist und wartet auf das Signal.«
»Jetzt, Milo.«
Er schaltete das Helmkom ein und sendete einen kurzen
Befehl.
Die Bild-Botschaft war kurz. Sie hatte direkt und mit klarer,
deutlicher Stimme in die Kamera gesprochen. Alle noch
funktionierenden Nachrichtenschirme, Kom-Monitore und
Bild-/Ton-Tafeln in der Civitas sendeten sie, und der
akustische Teil dröhnte aus allen Lautsprechern, die noch an
die Systeme der Stadt angeschlossen waren. Sie dauerte
ungefähr fünfzig Sekunden und konnte in der gesamten Civitas
Beati von Freund und Feind gleichermaßen gesehen und gehört
werden.
Die Botschaft verbreitete die Nachricht vom großen Sieg auf
Morlond. Sie verkündete, dass Innokentis mörderisches
Wagnis gescheitert war. Sie forderte ihn zur Flucht auf, bevor
der Zorn des Gott-Imperators für die auf Herodor von ihm
verübten Gräueltaten über ihn kommen konnte. Die letzten
Worte lauteten wie folgt:
»Alle lebenden Menschen, die es noch in dieser Stadt gibt,
alle noch lebenden Seelen in der Civitas, ich sage Euch: Mit
überwältigenden Truppen hat das Ungeheuer Innokenti uns
körperlich zermalmt, aber unseren Kampfgeist kann er nicht
zermalmen. Unser Opfer hat einen großen Sieg ermöglicht.
Sterbt nicht in Furcht im Verborgenen. Verkauft Euer Leben so
teuer wie möglich. Der Imperator der Menschheit hat Platz für
alle in der Armee seines Imperiums.«
Zuerst kamen sie aus den Agroponischen Kuppeln. Der
Angriff des Erzfeindes hatte die Agrar-Sektoren im Westen in
seinem Bemühen ignoriert, sich auf die Makropoltürme zu
konzentrieren. Feldbeobachter des Blutpakts an der Westflanke
der Invasion sahen plötzlich Gestalten zu Tausenden aus den
Kuppeln stürmen.
Kinder der Beati. Die Pilgermassen.
Trotz der Verluste, die sie in dem kurzen, aber grausamen
Krieg bisher erlitten hatten, zählten sie immer noch
Hunderttausende. Die riesigen Agroponischen Kuppeln hatten
ihnen Schutz geboten, als die Stadt gefallen war. Sie waren
Männer und Frauen, die nach Herodor gekommen waren, ohne
eigentlich zu wissen, warum, nur eben, dass die Beati sie
gerufen hatte.
Und nun rief sie sie wieder, ganz direkt, mit der Botschaft.
Manche hatten sich feindlicher Waffen oder solcher der PS
bemächtigt, andere hatten sich mit landwirtschaftlichen
Werkzeugen, abgebrochenen Rohren und Holzstäben
bewaffnet. Viele hatten nur die bloßen Hände.
Tausende von ihnen starben, den Waffen und der Ausrüstung
des feindlichen Heers jämmerlich unterlegen. Doch sie
zögerten keinen Augenblick.
Eine Stunde, nachdem sie aufgetaucht waren, um ihren
heiligen Zorn auf die Legionen des Magisters abzuladen,
fluteten ähnliche Massen aus den Makropoltürmen eins und
drei und aus den öffentlichen Schutzräumen und Bunkern in
Gildenhang und der Unterstadt.
Die Civitas Beati, von Enok Innokenti beinahe zermalmt,
wand sich wie ein tödlich verwundetes Tier in der Falle und
schnappte nach dem Jäger.
Sabbatmärtyrer
Milo legte der Beati einen Arm um die Schulter und führte sie
über den Platz. Sie zitterte vor Erschöpfung, und mehrere tiefe
Schnitte, die Innokenti ihr zugefügt hatte, bluteten stark.
»Sanitäter! Sanitäter, hierher!«, rief er.
Der Feind war verschwunden, in schneller Flucht. Seine
Moral war gebrochen, ebenso sehr durch den Tod ihres
Anführers wie durch den Sieg der Beati. In diesem Augenblick
kämpften die fliehenden Feindeinheiten gegen die Pilgerarmee
in der Oberstadt, da sie auszubrechen versuchten.
Es war noch nicht vorbei. Tatsächlich war der Krieg auf
Herodor noch lange nicht beendet. Aber einstweilen war die
drohende Niederlage abgewendet worden.
Der ruinierte Platz, rauchverhangen und voller knisternder
Feuer, war mit den Toten beider Seiten übersät. Männer
bahnten sich einen Weg durch die Trümmer, während sie nach
verwundeten und gefallenen Kameraden suchten. Wo sie auf
noch lebende Feinde stießen, ließen sie keine Gnade walten.
Dorden führte einen ganzen Trupp Sanitätsmannschaften auf
das Schlachtfeld.
»Hierher!«, rief Milo, und Dorden kam zu ihnen gelaufen.
Gaunt und andere Offiziere standen wachsam in der Nähe,
während Dorden die Wunden der Beati behandelte.
»Funktioniert das Kom?«, fragte er Beltayn.
»Nein, Herr Oberstabsarzt. Der Todesschrei des feindlichen
Anführers hat jeden Schaltkreis durchbrennen lassen.«
Gaunt wandte sich an die Männer ringsumher. »Wir haben
heute etwas ganz Großes vollbracht. Wir sind vom Rande eines
Abgrunds zurückgekehrt, von dem ich sicher war, dass wir
hineinstürzen würden. Wir haben dem Erzfeind der
Menschheit einen gewaltigen Schlag versetzt. Sammeln Sie
Ihre Einheiten, kümmern Sie sich um die Verwundeten und
sorgen Sie dafür, dass sich die Nachricht verbreitet. Die Beati
hat gesiegt. Innokenti ist tot. Alle sollen es erfahren. Jeder
Bewohner dieser Stadt soll es erfahren.«
Die Offiziere nickten und machten sich an die Arbeit.
»Ich muss sie in ein Krankenhaus schaffen, in dem es Strom
gibt«, sagte Dorden. »Und ich brauche eine Trage …«
»Ich kann laufen«, sagte Sabbat, während sie sich erhob.
»Dann begleiten wir Sie«, sagte Gaunt. »Ehrengarde,
antreten!«
Milo trat ebenso vor wie Daur und Derin. Nessa folgte ihrem
Beispiel. Gaunt nickte.
Larkin, der müde an eine Hauswand gelehnt dasaß, rappelte
sich auf.
»Ich auch, Herr Kommissar«, sagte er.
Gaunt sah ihn an. »Aus irgendeinem besonderen Grund,
Larks?«
Larkin zeigte auf die Geister, die die Beati umringten.
»Die waren schon einmal Ehrengarde. Auf Hagia. Die
Berufenen.«
Gaunt stutzte und erkannte, dass der Scharfschütze recht
hatte. Dorden, Daur, Nessa, Milo und Derin hatten alle an
Corbecs inspirierter Mission auf der Schreinwelt
teilgenommen. Abgesehen von Corbec selbst fehlten nur die
mittlerweile gefallenen Greer, Vamberfeld und Bragg.
»Gleich Nochmal hätte gewollt, dass ich für ihn einspringe«,
sagte Larkin. »Es war ihm wichtig. Sie war ihm wichtig. Ich …
ich weiß jetzt, warum.«
»Weitermachen«, sagte Gaunt.
Die Säge kreischte. Das liebliche Jaulen von gutem Holz, das
geteilt wurde. Die Luft war erfüllt von aromatischem Staub.
Colm Corbec betrat das kleine Holzgeschäft in einer
Seitenstraße in Gildenhang und sah eine Weile zu, wie der alte
Mann – wie hieß er noch gleich … Wyze? – das Holz
bearbeitete. Das Geschäft lief auf Hochtouren. Feth, ja! Särge
für die Gefallenen. Gott-Imperator, das konnte man Angebot
und Nachfrage nennen!
Corbec trat weiter in die stechende, trockene Luft des
Holzgeschäfts und strich mit der Hand über eine Fuhre
gereiftes Holz. Kein Nalholz, aber von guter Qualität.
Dieser Wyze. Er war ganz allein, ohne jede Hilfe. Nicht so,
wie Corbecs Vater den Laden geführt hätte. Er brauchte einen
Helfer.
Corbec krempelte die Ärmel hoch. Er kannte sich mit dieser
Arbeit aus. Er liebte sie. Er würde eine Weile bleiben und
aushelfen.
»Kein anderes Holz kommt infrage. Verstehen Sie?«
»Ja, Herr Gaunt«, sagte Guffrey Wyze.
»Das heißt Kommissar-Oberst …«, begann Gaunt und
schüttelte dann den Kopf. »Nalholz. Und zwar alles.«
»Es ist Ihr Geld, mein Herr. Für einen Freund von Ihnen?«
»Freund, Bruder, Geist«, sagte Gaunt.
Wyze lächelte. »Davon gibt es hier reichlich.«