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-SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL | PHILIP VERGEINER, DOMINIK

WALLNER

FRAGENKATALOG

Vorbemerkung:

• Die Fragen, bei denen es um das theoretische Wissen respektive die Diskussion von
Konzepten geht, werden in etwa so wie hier gestellt werden. Womöglich werden aber
die Fragen etwas umformuliert / zusammengelegt / gekürzt o.ä.

• Bei den Analysefragen werden selbstverständlich andere Beispiele gewählt


• Wie hier, werden Sie auch bei der Klausur zu den Analysefragen – wenn nötig –
Zusatzinformationen, bspw. zur Etymologie, erhalten. Sie sollten fähig sein, diese
Informationen selbständig rezipieren zu können

• Die Länge der Antworten hängt von der jeweiligen Frage ab: Manchmal sind ein bis
zwei Sätze / Begriffe ausreichend, manchmal etwas mehr. Gestellt werden zwanzig bis
dreißig Fragen. Jede Frage gibt zwischen zwei und acht Punkten. Die Schlussklausur
gibt 100 Punkte.

Einführung

1. Was meint der Begriff ‚Variante‘? Geben Sie Beispiele für einzelne Varianten in
unterschiedlichen Systembereichen (Phonetik / Phonologie, Lexik, Morphologie,
Syntax etc.)

Varianten können sowohl frei als auch gebunden auftreten. Viele Varianten sind an
außersprachliche Faktoren gebunden (Bsp. Raum, Klasse, Alter, . . .). Sprachen sind niemals
statisch, sondern vielmehr heterogen, die Variation in der Sprache wird von dem Bestehen von
Varianten gekennzeichnet. Varianten sind verschiedene Möglichkeiten, dasselbe zu sagen.

Beispiele für einzelne Varianten in unterschiedlichen Systembereichen:

● Phonetisch/Phonologisch: Variation beim r-Laut: [r] [ʀ]Realisierung von ich: /ɪç/


/iː/ /ɪʃ/ /ɪk/...
● Morphologisch: Diminutivsuffix (Würst-chen Würst-el) Pluralbildung (zwei Fisch-e
zwoa Fisch-Ø)...
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● Syntaktisch: Possessivkonstruktionen (das Haus des Mannes dem Mann sein Haus)
Negation (ich habe keine Zeit I hob koa Zeit nit)...
● Lexikalisch: Möhre Karotte, Klöse Knödel ...Semantisch Was bedeutet der
Ausdruck Pfannkuchen?...
● Pragmatisch: Begrüßung: Hoi Moin Servus Griaß di...Verabschiedung: Ciao
Tschüß Servus Pfiat di...

Varianten können frei sein, können aber auch gebunden auftreten, viele Varianten sind an
außersprachliche Faktoren gebunden:

● Raum (Österreich/Tirol/Pinzgau, . . .)
● Klasse/Schicht/soziale Gruppe (Oberschicht ggf. Mittelschicht ggü. Unterschicht)
● Alter (Jugendsprache, Sprache im Alter usf.)
● Geschlecht (männlich vs. weiblich)
● Medium (geschrieben vs. gesprochen)
● Situation (formell vs. informell)

2. Definieren Sie den Begriff ‚Varietät‘. Nennen Sie auch Beispiele für unterschiedliche
Varietäten sowie die außersprachlichen Faktoren, mit denen sie (primär)
zusammenhängen.

Varianten bündeln sich zu Varietäten, diese sind eine Anzahl von Varianten, die in der
Sprachwendung meist gemeinsam vorkommen (Kookkurrenz), da sie an dieselben
außersprachlichen Merkmale gebunden sind (Kovarianz). Varietäten werden auch als „Lekte“
bezeichnet:

● Dia-lekt/Regio-lekt: Räumlich bestimmte Varietät


● Sozio-lekt: Sozial bestimmte Varietät
● Funktio-lekt: Funktional bestimmte Varietät
● Situo-lekt: Situativ bestimmte Varietät
● Gender-lekt: Nach Geschlecht bestimmte Varietät
● Idio-lekt: Individuell bestimmte Varietät (Besonderheiten eines Individuums)

Es gibt unterschiedliche Variationsbereiche, die wichtigsten drei davon sind:

● Diatopisch (griech. tópos: „Ort“)


● Diastratisch (lat. stratum: „Schicht“)
● Diaphasisch (griech. phásis: „Erscheinung“)
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Es gibt eine Interaktion dieser Bereiche! Dialekte sind regional unterschiedlich, zugleich gibt
es diastratische Unterschiede in der Verwendung (Stadt-Land-Gefälle) und situative Varianz
(eher in informellen Situationen gesprochen).

1. Knorke (‚gut‘, ‚super‘) ist / war ein eher in Norddeutschland verbreitetes Jugendwort.
Ist das ein Beispiel für diatopische und / oder diastratische und / oder diaphasische
Variation? Wieso?

Das Wort “knorke” kann sowohl diatopisch, diastratisch und diaphasisch sein, da es auch hier
einen Zusammenhang zwischen Ort, Schicht und Erscheinung gibt. Schließlich findet das Wort
„knorke“ vor allem in Norddeutschland Gebrauch und wird vor allem von Jugendlichen
verwendet, die wohl kaum aus der Oberschicht stammen.

2. Inwiefern ist der Sprachwandel beobachtbar? Welche Positionen existieren dazu?

Fater unseer, thu pist in himile, uuihi namun dinan (Althochdeutsch)

Got vater unser, da du bist in dem himelriche gewaltic alles dis dir ist, geheiliget so werde din
nam (Mittelhochdeutsch)

Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name (Neuhochdeutsch)

Auch hier haben wir Varianten, man spricht von diachroner im Unterschied zu synchroner
Variation, denn auch hier bestehen verschiedene Möglichkeiten, dasselbe zu sagen.

Diachrone Varianten sind wieder auf allen Ebenen sichtbar:

● Phonetisch: mhd. sunne vs. nhd. Sonne


● Morphologisch: ahd. demo gasto vs. nhd. dem_ Gast_
● Syntaktisch: ahd. hwelihhes cnuosles du sis vs. nhd. aus welcher Sippe du bist
● Lexikalisch: ahd. ostaramanoth (= „Ostermond“) vs. nhd. April
● Semantisch: Uns ist in alten maeren wunders vil geseit: von heleden lobebaeren, von
grozer arebeit

Strukturalistische Position

Sprachwandel ist nicht beobachtbar, Synchronie und Diachronie sind getrennt zu untersuchen,
denn: Sprache ist als statisches System konzipiert, in dem jedes Zeichen seinen Wert nur in
Differenz zu anderen Zeichen erhält; sobald sich ein Zeichen ändert, ändert sich der Wert aller
anderen Zeichen und ein komplett neues System liegt vor. Der Wandel liegt daher nur als
Sukzession vor (System A → B → C denkbar).
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Sprachdynamische Sichtweise

Sprachwandel ist eine fundamentale Eigenschaft des sprachlichen Systems; Sprachwandel lässt
sich beobachten, nämlich über das Vorhandensein von synchroner Variation. Dies spiegelt sich
auch in der generationenspezifischen Sprachverwendung wieder, beispielsweise bei „Samstag“
und Sonnabend“.

3. Inwiefern hängen Sprachvariation und Sprachwandel zusammen? Verdeutlichen Sie


den Zusammenhang an einem Beispiel

Synchrone Variation ist ein Resultat vergangenen Sprachwandels. Synchrone Variation ist Indiz
für laufenden Sprachwandel und synchrone Variation ist Ursache für künftigen Sprachwandel.
Die drei genannten Fälle sind allerdings idealisiert, Sprache wandelt sich laufend und ist auch
nie vollständig homogen, wir sind mit einem klassischen „Henne-Ei-Problem“ konfrontiert.

Beispielsweise kann man sich versprechen und es liegt kein Sprachwandel vor, allerdings kann
eine Sprachvariation vorliegen.

4. Was unterscheidet die „apparent-time methodology“von der „real-time methodology“?

Unterscheidung von Sprachwandel in real-time:

Daten aus derselben Probandengruppe werden zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben und
verglichen, es zeigt sich, dass bei zwei konkurrierenden Varianten eine im späteren
Erhebungszeitpunkt häufiger verwendet wird und man geht daher von einem Wandel aus.
Wohingegen bei:

Untersuchung von Sprachwandel in apparent-time:

Daten aus zwei Gruppen (i. a. R. ältere und jüngere Sprecher*innen) werden zu einem Zeitpunkt
erhoben, zeigt sich, dass bei zwei konkurrierenden Varianten eine von jüngeren Sprecher*innen
häufiger verwendet wird, wird von einem Wandel ausgegangen.

Sprachvariation

5. Definieren Sie den Begriff ‚Dialekt‘, kontrastieren Sie ihn mit dem Begriff
‚Standardsprache‘. In welchen prototypischen Merkmalen unterscheiden sich beide
Varietäten?

Den Begriff „Dialekt“ kann man als „standardfernste, lokal oder kleiregional verbreitete
Vollvarietät“ bezeichnen und ihn vertikal (im Abstand zur Standradsprache) und horizontal (in
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Bezug auf andere Varietäten) definieren. Im Gegensatz zur Standardsprache wird der Dialekt
von der Standardsprache überdacht.

Dialekt Standard

Medium Primär gesprochen Geschrieben und gesprochen


(Ausnahme z.B. online)

Normierung „Subsistente“ Normen, die Niedergeschrieben in


auf Sprachverwendung Wörterbücher / Grammatiken
beruhen – nach Usus

Vermittlung Primärsprachlich erworben z.T. primärsprachlich, in der


Schule als Bildungssprache (
sekundäre Sozialisierung)

Verbreitung Lokal, kleinräumig, große Überregional, horizontal relativ


horizontale Heterogenität homogen, Dialekte werden vom
Standard „überdacht“

Verwendung In informellen/ Privaten/ In formellen/ öffentlichen/


nähe sprachlichen distanzsprachlichen Situationen
Situationen

Verwender Eher am Land? Alt? Eher in der Stadt? Jung? Frauen?


Männer? -> Befunde Befunde unklar!
unklar!

Prestige / Verdecktes Prestige, Hohes offenes Prestige, Ausdruck


Einstellungen Ausdruck von von Status
Solidarität/Identität

6. Erklären Sie die Ziele und Methoden der Dialektologie im deutschen Sprachraum

Die Ziele der Dialektologie sind zum einen von dokumentarischem Interesse (Angst vor
Aussterben der Dialekte → Sprechform verdient es, dass man sie aufzeichnet) aber auch zum
anderen zur Beschreibung von Sprachstrukturen (auch Fallstudien zu Lautveränderungen) und
Auffinden von Dialektgrenzen. Man sucht nach homogenen Dialekten und Dialektgebieten
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sowie nach scharfen Dialektgrenzen. Die Methoden der Dialektologie sind vor allem
Befragungen (diese können direkt oder indirekt sein), die mit einem Fragebuch ausgeführt
werden, es gibt eine gezielte Auswahl von Probanden (das sind NORM-Sprecher: non-mobile,
old, rural, male). Es werden Dialektatlanten sowie Ortsgrammatiken erstellt und seit den
1970er Jahren kommt es zur einer Ausweitung der Sozio-Dialektologie – zwei- und
dreidimensionale Dialektologie – wobei nicht nur der Raum als Faktor beachtet wird, sondern
auch soziale Faktoren wie Geschlecht, Alter, soziale Schicht, etc. Städte werden untersucht
und es ist eine Abkehr vom ausschließlichen Fokus auf den „Basisdialekt“ zu erkennen.

7. Was ist eine Isoglosse?

Eine Isoglosse bezeichnet Dialektgrenzen, also eine Linie, die verschiedene Ausprägungen
sprachlicher Erscheinungen trennt (eine Linie auf Sprachkarten, die Gebiete gleichen
Wortgebrauches begrenzt).

8. Wodurch unterscheiden sich die Sprachverhältnisse in Österreich und Süddeutschland


von denen in Norddeutschland einerseits, der Schweiz andererseits?

Die Sprachverhältnisse in Österreich und Süddeutschland kann man dem bairisch-


österreichischen Dialekt zuordnen und zählen somit zu Oberdeutsch, die in Norddeutschland
vorherrschend Dialekte wie westniederdeutsch und ostniederdeutsch zählen zu Niederdeutsch
und in der Schweiz ist der alemannische Dialekt vorherrschend (zählt auch noch zu
Oberdeutsch).

9. Welche drei Positionen existieren zur Variation in der Standardsprache? Erklären Sie
sie kurz. Gehen Sie auch auf den Begriff Gebrauchsstandard ein

- Monozentrismus: Es existiert ein einziger homogener Standard im gesamten


deutschsprachigen Raum; dieser deckt sich mit den präskriptiven (vorgegebenen) Normen
in den Kodizes.
- Plurizentrismus: Die deutschsprachigen Staaten DE, Ö und CH konstituieren eigene
nationale und kulturelle Zentren mit je eigenen Kodizes. Es gibt 3 gleichberechtigte
nationale Standardsprachen. Linguistische Laien bewerten allerdings oft das
bundesdeutsche Deutsch als korrekter (asymmetrische Plurizentrik)
- Pluriarealität: Es existieren – u. a. basierend auf traditionellen Dialektgrenzen –
unterschiedliche regionale Gebrauchsstandards, die sich nicht mit nationalen Grenzen
decken.
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 7

- Gebrauchsstandard = alle Varianten, die „normale“ Sprecher*innen in formellen


Situationen als „unmarkierte“ Varianten verwenden.

10. Erklären Sie kurz W. Labovs Ansatz in der Sprachvariationsforschung: Welche


Erkenntnisinteressen hat er, welche Methoden nutzt er, zu welchen Ergebnissen kommt
er?

Seine Ausrichtung war stark soziologisch, sowohl in Erkenntniszielen als auch Methodik. Er
nutzte eine empirische Vorgehensweise und zeichnete reale Sprachproduktion in verschiedene
Situationen von verschiedenen Probandengruppen auf und analysierte sie quantitativ-statistisch
(Variablenregeln). Grundhypothesen: In einer Sprachgemeinschaft existieren parallel
Varianten, deren Verwendung probabilistisch von sozialen und situativen Faktoren gesteuert
wird, neben Inter- auch Intraindividuelle Variation fokussiert. Erklärung soziologisch: Prestige,
Spracheinstellungen und Normen regeln das Sprachverhalten, Sprechen als Ausdruck von
Identität/Gruppenzugehörigkeit.

11. Was sind Indikatoren, Marker und Stereotype? Geben Sie Beispiele dafür

Indikatoren sind Merkmale, die von einer Person kaum variiert werden, sie sind den Sprechern
in der Regel nicht bewusst (werden nicht metasprachlich kommentiert). Beispiel: Ausdrücke
wie ich, dieser, da, hier, etc., deren Bedeutung vom jeweiligen Zusammenhang der Äußerung
abhängt.
Marker sind Merkmale, die in sozialen oder stilistischen Kontexten variabel verwendet werden
und die durch einen wiederkehrenden Gebrauch in bestimmten Kontexten soziale Bedeutung
erlangen können. Beispiel: Ich schwöre (als jugendspezifischer Diskursmarker); ja, nee, gut,
okay (als turneinleitende Diskursmarker).
Stereotype sind Merkmale, die den Sprechern völlig bewusst sind, das heißt, sie werden von
ihnen nicht nur kommentiert, sondern auch Gegenstand von Korrekturen und Stilisierungen
(Sprachspott, Comedy, etc.). Beispiel: Wenn etwas sehr einprägsam und bildhaft ist, stellt dies
eine Stereotype dar, beispielsweise ist das bei Mentalitäten der Fall (die Österreicher essen
Schnitzel und Kaiserschmarrn; die Briten trinken Tee).

12. Was unterscheidet ‚Sprachwandel von oben‘ und ‚Sprachwandel von unten‘?

Während Sprachwandel von oben bewusste Varianten der oberen Schichten sind und sich
aufgrund von Prestige durch Übernahme (borrowing) zunächst in formellen, dann aber auch in
informellen Situationen verbreiten, stammt Sprachwandel von unten eher von den unteren
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Schichten, diese Varianten sind unbewusst und verbreiten sich aus innerlinguistischen Gründen
(Bsp. Ökonomie) zunächst in informellen, dann aber auch in formellen Situationen.

13. Welche Modelle gibt es zur diaphasischen Variation? Erklären Sie einen Ansatz genauer

Es gibt vier unterschiedliche Modelle:

- Formalität (Labov):

Aufmerksamkeit beim Sprechen entscheidend - bes. in formellen Situationen achten Sprecher


eher auf ihre Sprachverwendung und nähern sich einer Norm an.

- Diglossie (Ferguson):

In vielen Gesellschaften gibt es zwei Varietäten, eine H-Varietät und eine L-Varietät;
Unterschiede zwischen H- und L-Varietät (u. a.): H-Varietät kodifiziert, verschriftet, hat mehr
Prestige, wird in der Schule erlernt; H-Varietät wird in der Schriftlichkeit und in formellen
Situationen verwendet, L-Varietät im Alltag.

- Domäne (Fishman):

Je nach Domäne wird eine andere Sprache/Varietät verwendet; Domäne meint dabei eine aus
der Abstraktion gewonnene Klasse von Situationen, in denen Individuen in gewissen
Rollenkonfigurationen agieren und gewisse Themen besprechen und das auf Basis von Normen.

- Interaktionale Modelle:

Code-Switching:

Sprach-/Varietätenverwendung als Ressource, die in einem Gespräch verwendet werden kann,


um konversationelle Bedeutungen zu erzeugen (Kontextualisierungshinweise). Bsp.
Dialektgebrauch zur Markierung von Humor, Standardgebruach zur Markierung von
Ernsthaftigkeit.

Akkommodationstheorie:

Sprachgebrauch als Mittel zur Aushandlung von Beziehungen und Identität - stilistische
Änderungen im wesentlichen adressatenorientiert, unterschiedliche
Akkommodationsstrategien:

Konvergenz: Modifikation des individuellen Sprachgebrauchs, um Ähnlichkeiten zum


Gegenüber zu erzeugen, stiftet soziale Zusammengehörigkeit, schafft Sympathie.
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 9

Divergenz: Modifikation des individuellen Sprachgebrauchs, um Differenzen zum Gegenüber


zu erzeugen, drückt soziale Distanzierung aus, Abgrenzung betont Identität.

Theorien des Sprachwandels

14. Stellen Sie eine erwerbsbasierte Sprachwandelauffassung einer gebrauchsbasierten


Sprachwandelauffassung gegenüber

Erwerbsbasierte Sprachwandelauffassung Gebrauchsbasierte


Sprachwandelauffassung

Besonders Generativistik, seit 1950er Etwa der Soziolinguisten - Kompetenzen


Jahre - Sprachwandel findet im können sich ändern (auch noch im
Wesentlichen beim Spracherwerb statt: Erwachsenenalter:
Kompetenz (= I(nternal)-language) vs. Kompetenz und Performanz stehen in einer
Performanz (=E(xternal)-language). engen Wechselwirkung.
Kinder bilden I-langugage aus dem Input Sprachwandel durch Sprachgebrauch!
(Performanz) der Eltern, wobei das
rekonstruierte Sprachsystem der Kinder
von dem der Eltern abweichen kann.
Treten gleiche oder ähnliche
Abweichungen beim Kompetenzerwerb
mehrerer Kinder auf, findet Sprachwandel
statt.
Annahme: Das einmal gelernte
Sprachsystem (I-language) ist
(weitgehend) unveränderlich und
homogen (Variation zwischen Sprechern,
aber nicht in Sprechern).

15. Welche beiden Formen der Sprachökonomie gibt es? Definieren Sie sie und
verdeutlichen Sie sie an einem Beispiel

- Quantitative Sprachökonomie:

Verringerung/Minimierung der Artikulationsmenge unter Gewährleistung einer erfolgreichen


Kommunikation.
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Bsp. wanne > wann gehabt > ghabt

- Qualitative Sprachökonomie:

Verringerung/Minimierung des Artikulationsaufwandes oder des kognitiven Aufwands


(einfachere statt komplexere Formen) unter Gewährleistung einer erfolgreichen
Kommunikation.

Bsp. empfangen > empfangen; ich warf, wir wurfen > ich warf, wir warfen

16. Im Deutschen existieren die Wortformen backte und buck: Welche der Formen ist in
welchem Sinne ökonomischer und warum?

Quantitative und qualitative Sprachökonomie können im Konflikt stehen. Ökonomie


funktioniert häufig, da der Kontext Verstehbarkeit ermöglicht. Allerdings kann Ökonomie
auch zu Uneindeutigkeiten führen → andere sprachliche Mittel müssen eingesetzt werden, um
dies zu kompensieren (Bsp. Abbau der Kasusendungen aus Ökonomiegründen > Aufkommen
von Artikeln, um den Kasus zu markieren). Daher ist backte ökonomischer als buck (was
außerdem sehr veraltet klingt), ein weiteres Beispiel dazu wäre bestreitete und bestritt.

17. Im Althochdeutschen existiert das Substantiv giskaf (‚Beschaffenheit, Erschaffung,


Hervorbringung‘), bis zum Neuhochdeutschen wurde daraus das Suffix –schaft. Wie
nennt man diesen Prozess, wie verläuft er und worauf beruht er?

Diesen Prozess nennt man Grammatikalisierung, er basiert auf folgenden Schritten:

- Prozess, bei dem neue grammatische Zeichen entstehen


- Aus Inhaltswörtern werden Funktionswörter (Syntaktisierung), aus Inhaltswörtern oder
Funktionswörtern werden Affixe (Morphologisierung)
- Es handelt sich um einen graduellen Prozess
- Beruht auf allgemeinen kognitiven Prinzipien, bspw. dem Gesetz der Nähe,
Analogiebildung, Reanalyse, Frequenz usf.
18. Erklären Sie kurz folgende Begriffe und ihre Relevanz für den Sprachwandel: Analogie,
Reanalyse, Implikatur

Analogie: Analogie ist die Angleichung von einem Element an andere Elemente auf Basis eines
Schemas bzw. Musters.

Reanalyse: Umdeutung einer strukturell ambigen Konstruktion, wodurch eine neue Struktur
entsteht.
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Implikatur: Ist ein impliziter Schluss aufgrund kontextueller Faktoren; kann zu einer neuen
Konstruktion führen.

Diese Begriffe sind besonders relevant für den Sprachwandel, da sie eine große Rolle im
grammatischen Wandel sowie im Spracherwerb spielen.

19. In vielen bairischen Dialekten wird temporales wann (vgl. etwa ‚wonnst wüüst‘) für nhd.
wenn gebraucht. Welches Prinzip steckt hinter dem Zusammenhang von wenn und
wann? Können Sie ein weiteres Beispiel dafür nennen?

Das Prinzip der Implikatur steckt dahinter. Ein weiteres Bsp. wäre:

temporal diu wîle > die weil > dieweil > weil kausal

20. Welche Rolle hat der Sprachkontakt beim Sprachwandel? Erklären Sie kurz die Begriffe:

‚Transfer‘, ‚Pidgin/Kreol‘, ‚Substrat-/Superstratwirkung‘

Der Sprachkontakt spielt insofern eine Rolle, da der Sprachwandel durch außersprachliche
Faktoren angestoßen werden kann.,

Transfer: Man übernimmt Elemente von einer Sprache in die andere und das erfolgt auf
verschiedenen Ebenen auch unbewusst und langfristig können Transfers die beteiligten Sprachen
ändern.

Kreolsprachen sind Aushilfssprachen zwischen zwei Ländern und diese werden benötigt bei
gelegentlichen Kontakt durch Handel aber v.a. durch Sklaverei; aus so einer Aushilfssprache, die
zuvor als Hilfssprache diente, kann sich auch eine Muttersprache entwickeln und diese nennt man
dann Pidinsprachen wie man sie beispielsweise. heute in der Karibik oder in Südostasien findet.

Substrat/Superstratwirkung: Wenn beim Zusammentreffen von zwei Sprachgemeinschaften die


Macht ungleich verteilt ist (Bsp. im Kontext einer Eroberung), kann die mächtiger Gruppe die
Sprache der weniger Mächtigen annehmen (Bsp. Normannen in England) oder umgekehrt (Bsp.
Gallier im röm. Reich); dieser Sprachwechsel führt wiederum zu Änderungen in der neuen
gemeinsamen Sprache

21. Wieso ist für Keller Sprachwandel ein Phänomen dritter Art? Was sind Phänomene dritter
Art?

Weil der Sprachwandel von einer unsichtbaren Hand gesteuert wird (nicht natürlich, nicht
künstlich, sondern “dazwischen”). Menschenhandel auf der Mikroebene intentional, folgen
dabei gewissen Prinzipien und verändern “nebenbei” die Makroebene. Ein Phänomen dritter Art
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ist demnach die Bildung von Trampelpfaden: Personen wählen Abkürzungen, um schneller ans
Ziel zu kommen und wenn genau viele das machen, entsteht ein neuer Pfad. (wanne - wann)

22. Was meint Diffusion im weiteren und was im engeren Sinne? Machen Sie den Unterschied
an einem Beispiel deutlich

Als Diffusion bezeichnet man die Ausbreitung von sprachlichen Varianten und im engeren Sinn
die Ausbreitung im Raum und im weiteren Sinn die Ausbreitung in einer Sprachgemeinschaft.
Bsp.: an diesem Tage vs. an diesem Tag, 1. Stadium: Form A gebräuchlich, 2. Stadium: Form
A und Form B gebräuchlich, 3. Stadium: Form B gebräuchlich

23. Wie sieht die idealisierte Verbreitung einer Variante in der Sprachgemeinschaft aus? Was
sind „early adopters“ und was sind „laggards“?

Die idealisierte Verbreitung sieht aus wie eine S-Kurve also ein expoententieller Verlauf. Early
apoters = wenige Personen übernehmen die Variante zuerst, langsame Verbreitung

Wenn dann aber plötzlich die Verbreitung zu stark ist, übernimmt die Sprachgemeinschaft die
Form in kürzester Zeit.

Laggards = sind diejenigen nachdem die Kurve abflacht und die dennoch an der alten Variante
festhalten.

24. Beschreiben Sie das Gravitationsmodell (Trudgill 1974). Worin unterscheidet es sich von
der Wellentheorie?

Beim Gravitationsmodell ist es so, dass die Ausbreitung nicht nur von räumlicher Distanz,
sondern auch von der Bevölkerungszahl und der sprachlichen Ähnlichkeit abhängt (Städte
erfahren zuerst von Wandel und dann Umland) beim Wellenmodell hingegen gibt es eine
gleichförmige Ausbreitung im Raum (von Wien aus und Salzburg erst spät) unabhängig von der
Bevölkerungszahl.

25. Skizzieren Sie kurz drei Strömungen der Sprachwandelforschung

Stammbaumtheorie: Sprachen haben Vor und Nachkommen, Stammbäume und


Verwandtschaftsbeziehungen, stärkere oder schwächere genealogische Verwandtschaft; es gab
Ursprache und dann erfolgte Abspaltung durch geographische Abwanderung. Probleme: Wann
hört eine Sprache auf und wann beginnt eine neue? Wie bestimmt man sprachliche
Verwandtschaft? Beeinflussung synchroner Sprachstufen?
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 13

Wellentheorie (Johannes Schmidt): Sprachliche Neuerungen („Innovationen”) breiten sich wie


Wellen im Raum aus, führt mit der Zeit zur Ausdifferenzierung in Einzelsprachen und auch
geographisch benachbarte Sprachen haben Ähnlichkeiten, selbst wenn sie nicht verwandt sind
(Sprachbund) → Einteilung in Sprachfamilien daher problematisch

Junggrammatiker: Sie lehnen sich an Naturwissenschaften und Positivismus an, Lautwandel


unterliegt Lautgesezten, die so ausnahmslos gelten wie Naturgesetze, ein bestimmter Laut
entwickelt sich in einer bestimmten Lautumgebung in allen Wörtern einer Sprache gleich,
Erklärung der regelhaften Beziehungen zwischen verwandten Sprachen

Überblick Sprachgeschichte

26. Was ist das Indogermanische? Wer sprach es? Was wissen wir über die Sprecher und woher
wissen wir das?

Das Indogermanische ist eine rekonstruierte Sprache aus Verwandtschaft diverser europäischer
und asiatischer Sprachen und bildet die Vorstufe vieler Sprachen. Aufgrund dieser
rekonstruierten Sprache kann man auch ein Urvolk der Indogermanen rekonstruieren, obwohl
es keine archäologischen Funde dafür gibt. Was wir heute über die Sprache wissen, ist, dass sich
durch Wanderungsbewegungen sich die idg. Dialekte zu eigenen Sprachen, das Idg. liegt
heutigen germanischen, slawischen, romanischen, indoiranischen u. a. Sprachen zugrunde. Die
ältesten idg. Sprachen mit schriftlicher Überlieferung sind: Hethitisch (16. Jh. v. Chr.) und
Mykenisch (17. Jh. v. Chr.).

27. Welche außereuropäischen Sprachen sind indogermanisch, welche europäischen Sprachen


sind nicht indogermanisch? (Drei Beispiele jeweils genügen)

Außereuropäische Sprachen, die indogermanisch sind wären indische Sprachen wie Sanskrit,
Hindi-Urdu oder Bangali, Kurdisch, Persisch, Tocharisch (im Westen Chinas, ausgestorben)
und Sprachen aus dem Kaukasusgebiet wie Armenisch und kaspische Dialekte). Finnisch,
Ungarisch und Baskisch sind europäische Sprachen, die nicht indogermanisch sind.

28. Nennen Sie drei sprachstrukturelle Merkmale des Indogermanischen

Es gibt auch einen Ablaut (nhd.: lesen, las, lat.: feci, factum), einen freien Wortakzent,
ein komplexes Flexionssystem: Drei (oder zwei?) Genera (mask., fem., neut.), acht
Kasus (Nom., Vok., Akk., Instr., Dat., Abl., Gen., Lok.) und drei Numeri (sing., pl.
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und dual), kein Tempus-, sondern ein Aspektsystem (imperfektiv, perfektiv,


resultativ) sowie vier Modi (Indikativ, Konjunktiv, Optativ und Imperativ).

29. Was ist das Germanische? Wie entstand es, welche Quellen haben wir dafür?

Das Germanische bildet sich aus einem Dialekt des Indogermanischen heraus und Es
gibt seit dem 2. Jh. v. Chr. einen neuen Kulturkreis im heutigen Norddeutschland,
Dänemark und Schweden (ist archäologisch nachweisbar) und die späteren
Germanen entstanden durch Verschmelzung der dort einheimischen
Megalithgräberkultur und der (wahrscheinlich indogerm) Schnurkeramiker. Als
Quellen haben wir heute die Runen (meist sehr kurze Inschriften, G. weitgehend
schriftlose Kultur), griechische und lateinische Quellen die über die Nachbarvölker
berichten und Entlehnungen in andere Sprachen (bes. FInnisch) und vergleichende
Rekonstruktion.
30. Welche Sprachen sind germanisch? Nennen sie mindestens fünf
Nordgermanisch: Isländisch, Dänisch, Norwegisch
Westgermanisch: Englisch, Deutsch, Niederländisch
31. Nennen Sie zwei sprachstrukturelle Merkmale des Germanischen
Das Germanische unterscheidet sich insofern vom Indogermanischen durch die erste
Lautverschiebung, die die indogerm. Plosive erfasst: p zu f, t zu th, b;d;g zu p,t,k und außerdem
wird der Ablaut (der bereits im Idg. existiert) ausgebaut und er wird zum Mittel der
Tempusunterscheidung und auch die Entstehung der schwachen Verben. Die zweite
Lautverschiebung unterscheidet schließlich das Ahd. vom Mhd. (betroffen sind Konsonanten
und Vokale).
32. Was ist das Gotische, wie ist es belegt?
Das Gotische ist die bis heute einzig bekannte ostgermanische Sprache aber sie ist heutzutage
ausgestorben. (Nachbar zu südostdt.) Man kann sie belegen durch die Wulfila Bibel (im Codex
Argentus) der um 520 n.Chr. in Ravenna entstanden ist. Zudem basierte die Entwicklung der
Schrift auf der griechischen.
32. Inwiefern veränderte die Völkerwanderung die europäische Sprachenlandschaft?

Die Völkerwanderung führte zum Aufbrechen des germanischen Verständigungskontinuums,


es gab eine Abwanderung der Angeln/Sachsen und Jüten nach England. Die Ostgoten kamen
auf den Balkan, die Westgoten nach Südfrankreich und Spanien, die Vandalen nach
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Nordafrika, die Franken beiderseits des Rheins, die Burgunder am Mittelrhein, die
Langobarden in Norditalien, sie alle übernehmen i. d. R. die Sprache der Eroberten.

33. Woher stammt das Wort Deutsch, was ist seine Bedeutung?

Das Wort „Deutsch“ hatte seinen Erstbeleg in lat. Sprache theodiscus (786), geht aber auf das
Germanische zurück: germ. peudo “Volk” + “-iska” (nhd. -isch) > ahd. diutsk und bezeichnet
zunächst die Sprache des Volkes gegenüber dem Lateinischen. Ursprünglich auch etwa für
Englisch verwendet (= walhisc). Das heißt so viel wie, dass das Lateinische den Gebildeten
vorbehalten war und das Deutsche als Volkssprache den einfachen Leuten. Erst im
Mittelhochdeutschen (ab 1090, Annolied) wurde „Deutsch“ auch auf Land und Leute bezogen,
nicht nur Sprache (aber auch Bsp. für die heutigen Niederlande bzw. das Ndl, vgl. dutch)
34. Problematisieren Sie kurz die Periodisierung des Deutschen. Wie geht man
gängigerweise vor, nennen Sie eine alternative Theorie.

Es gibt unterschiedliche Datierungen aufgrund unterschiedlicher Kriterien:

Nicht-sprachbezogene Kriterien (politisch, religiös, wirtschaftlich)


Sprachbezogene Kriterien:
• Äußere Sprachgeschichte, d. h. auf die Sprachverwendung bezogen (Bsp.
sprachsoziologisch, literarisch, medial)
• Innere Sprachgeschichte, d. h. auf die Sprachstruktur bezogen (Bsp. phonologisch,
syntaktisch, etc.)

Gängige Periodisierung nach Scherer (1890):

Bezeichnung Kriterien

750 Althochdeutsch (Ahd.) 2. Lautverschiebung (vermutlich schon im 5./6. Jh.!)


Einsetzen der Überlieferung (Abrogans)

1050 Mittelhochdeutsch (Mhd.) u. a. Nebensilbenabschwächung, Sekundärumlaut


(aber beides u. U. schon ahd.), Überlieferungslücke im
10. und 11. Jh. . . .

1350 Frühneuhochdeutsch (Frhd.) Ausbreitung der frnhd. Diphthongierung und


Monophtongierung sowie weiterer Lautprozesse
(setzen aber alle schon im Mhd. ein!), Niedergang der
höfischen Dichtung
16 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

1650 Neuhochdeutsch (Nhd.) Relative Vereinheitlichung der Schriftsprache


(allerdings noch im Nhd. keine völlige Homogenität!)

Alternative Theorie - Modifikation nach Elspaß (2008):

Bezeichnung Kriterium: Von wem stammen die Überlieferungen

750 Althochdeutsch Klöster

1050 Mittelhochdeutsch Adelshöfe

1350 Frühneuhochdeutsch Städte

1650 Mittelneuhochdeutsch Schreibendes Bürgertum

1950 Gegenwartsdeutsch Gesamtbevölkerung

35. Welcher der folgenden Ausschnitte des Vaterunsers ist Altsächsisch, welcher
Althochdeutsch? Warum? (Übersetzung: ‚Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib
uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern‘)

(a) Gef ûs dago gehuuilikes râd […], endi alât ûs […] managoro mênsculdio, al sô uue
ôðrum mannum dôan.

(b) unsar brôt tagalîhhaz gib uns hiutu, inti furlâz uns unsara sculdi, sô uuir furlâzemês
unsarên sculdigon;

(a) ist altsächsisch und (b) ist althochdeutsch, das Altsächsische wurde einmal von den Engländern
gesprochen und man kann in dem Textausschnitt noch Parallelen zum heutigen Englisch erkennen
(“us” = “uns”).
36. Thematisieren Sie die soziolinguistische Situation in althochdeutscher Zeit: Wer sprach
wie, welche Formen der Schriftlichkeit existierten?

● Historisch: Reichsgründung, Missionierung (Hl. Bonifaz)


● “Deutsch” als Sammelbezeichnung für engverwandte germanische
Stammessprachen
● Beginn der schriftlichen Überlieferung des Ahd. im 8. Jh. (neben dem
Lateinischen, punktuell auf Klöster beschränkt, lokale Schreibtraditionen)
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 17

37. In welchen Textsorten ist das Althochdeutsche überliefert? Erläutern Sie drei davon
näher

Am häufigsten in Glossen, Glossare (Erstes deutsches “Buch”: Abrogans) - Erklärung: Glossen


dienten der Erklärung der Bedeutung eines Wortes, der Abrogans ist beispielsweise ein
Wörterbuch.
Es gibt Interlinearübersetzungen, freie Übersetzungen und Umdichtungen lateinischer Texte -
lateinische Texte, die schließlich vom Polytheismus geprägt waren, wurden oftmals auch so
umgedichtet, dass der Text zum christlichen Glauben passte, allerdings kamen auch
Abschreibfehler vor.
Dichtungen: Zaubersprüche, Heldendichtungen, Gebete, geistliche Lieder, die Dichtung ist ein
künstlerischer Schaffensprozess, der keine wahre Geschichte erzählt, sondern eine Kunstform
ist, meist ist es Lyrik
Gebrauchsliteratur: Gebete, Predigten, Eidesformeln, Rezepte; einzelne ahd. Rechtswörter in
den lat. abgefassten Volksrechten (. . . quod theodisca lingua harisliz dicitur)
38. Wann beginnt das Althochdeutsche, wann endet es? Wieso werden gerade diese
Zeitpunkte für die Periodisierung genutzt?

Das Althochdeutsche dauerte etwa von 750-1050 n. Chr. Der Beginn dieser Zeitspanne wird
mit den ersten schriftlichen Überlieferungen in Form von Inschriften (6./7. Jh.) und
Handschriften (seit dem 8. Jh.) angesetzt. Im Zusammenhang mit der politischen Situation ging
im 10. Jh. die Schriftlichkeit im Allgemeinen und die Produktion deutschsprachiger Texte im
Besonderen zurück, ein neues Einsetzen in Schrift und Literatur ist erst um 1050 erkennbar,
diese schriftlichen Überlieferungen des 11. Jh.s unterscheiden sich deutlich von älteren
Überlieferungen, weshalb hier das Althochdeutsche endet und das Mittelhochdeutsche beginnt.

39. Welcher der beiden Ausschnitte des Vaterunsers (Übersetzung: ‚geheiligt werde dein
Name‘) ist Mittelhochdeutsch, welcher Althochdeutsch? Woran erkennen Sie das?

(a) si giheilagôt thîn namo (b) geheiliget sô werde dîn nam

(a) ist ahd. und (b) ist mhd. Das erkennt man an den Änderungen durch die zweite
Lautverschiebung, außerdem erinnert (b) bereits mehr an das Nhd.

40. Nennen Sie mindestens zwei historische Entwicklungen, die sich im Hochmittelalter
zugetragen haben und erklären Sie, wieso sie sprachgeschichtlich relevant sind

1.) Vollendung der Feudalisierung: es entsteht eine höfische Ritterkultur nach dem
französischen Vorbild
18 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

sind sprachges. relevant, da durch den Sprachkontakt mit dem Französischen frz. Lehnwörter
wie turnei (Turnier) und vassal(Ritter) in den mhd. Sprachgebrauch kommen um das höfische
Leben zu beschreiben

2.) Aufblühen der Städte (damit einher geht auch Geldwirtschaft, Verwaltung, erste
Stadtschule und Unis) -> immer mehr Leute(v.a. Bauern) ziehen in die Stadt,
sprachgeschichtlich relevant, da durch das Bevölkerungswachstums mehr Dialekte in die Stadt
gelangen & die Stadt die Schrift braucht sind sich so Ausgleichstendenzen, neue Varietäten
(bzw. Fachsprachen) oder auch Kanzlei- und Urkundensprachen entwickeln. Zudem hat auch
die Stadt eine sprachliche Ausstrahlungskraft, die sich auf das Umfeld auswirkt.

41. Inwiefern unterscheidet sich die Überlieferung des Mittelhochdeutschen von der des
Althochdeutschen? Welche neuen Textsorten traten auf?

Beim Ahd. Wurde es v.a. von den Mönchen in Klöstern übermittelt, da ansonsten wenige lesen
und schreiben konnte. Beim Mhd. entwickelt sich nun eine Laienkultur (niederer Adel
(Ministeriale), die nur eine geringe Lateinbildung vorzuweisen hatten, was das Aufleben der
deutschsprachigen Literatur ab 1100 begründet. So traten anstelle von religiösen Texten und
Gebrauchsliteratur wie Predigten nun Unterhaltungsliteratur wie Spielmannsepik, Höfische
Dichtung ung das Wiederaufleben germanischer Heldendichtung (z.b. Nibelungenlied).

42. Wieso wird / wurde die höfische Dichtersprache bisweilen als Standardsprache
betrachtet? Was spricht gegen eine solche Sichtweise?

Weil es insbesondere in der Lexis und Syntax/Stil gewisse Homogenität sich herausbildet bzw.
gültige Schreibkonventionen wie die Vermeidung kleinräumiger Dialektformen. Dagegen
spricht, dass es keine Standardsprache war, sondern vielmehr ein Funktiolekt, der mit
literarisch-ästhetische Verwendungszwecken zusammenhängt (Texte einheitlicher und
leserlicher machen), und so nur von Adelige für Adelige war ( nur eingeschränkt als Reflex
der tatsächlichen Sprache am Hof zu verstehen)

43. Datieren sie das Frühneuhochdeutsche; welche Ausgangslage und welche


Entwicklungen kennzeichnen diese Epoche? Welche historischen Entwicklungen waren
sprachgeschichtlich relevant?

Das Frühneuhochdeutsche wird als Übergangsperiode zwischen 1350 und 1650 datiert. Die
Ausgangslage war, dass es viele Schreibdialekte gab, die durch gesprochene Dialekte
beeinflusst wurden. Zusätzlich gab es keine einheitliche Schriftsprache und nur
Schreibkonventionen in einzelnen Kanzleien, aber es gab auch keine Bedarf an einer
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 19

einheitlichen Schriftsprache, da nur wenige Kommunikationsformen überregionale


Verständlichkeit erforderten. Bei der gesprochenen Sprache gab es Lokal und
Regionaldialekte. In dieser Epoche kam es dann zu einer zunehmenden Vereinheitlichung und
Entstehung großräumig verbreitetet regionaler Schriftsprache, die hochdeutsche Schriftsprache
drang bis in den Norden vor und drängte die niederdeutsche Schriftsprache zurück und in
Bezug auf die gesprochene Sprach blieben die Dialekte kontinuierlich.

Historisch relevant waren vor allem die Urbanisierung und die Herausbildung eines städtischen
Bürgertums, wozu es zu einem neuen Träger der Schriftlichkeit kam. Auch die Schule &
Universitätsgründungen trugen zu einer Zunahme der Lese und Schreibkenntnisse bei und auch
der Ausbau der Verwaltungsschriftlichkeit (Herausbildung gewisser Schreibkonventionen).

44. Inwiefern veränderten sich im Frühneuhochdeutschen die Produktions- und


Rezeptionsbedingungen von Schriftlichkeit? Zu welchen Zwecken wurde damals
vermehrt auf Deutsch geschrieben, wer trug diese neuen Formen der Schriftlichkeit?
Kontrastieren Sie die Entwicklung mit dem Mittel- und Althochdeutschen einerseits und
dem Neuhochdeutschen andererseits

Schrift wurde vielhäufiger produziert, da es nun Schul &Universitätsgründungen stattfanden


und daher wurden auch mehr Bücher benötigt. Deutsch wurde nun auch die Gottesdienstsprache
(Träger ist das Bürgertum)

45. Wie vollzog sich die Einigung der deutschen Schriftsprache? Welche Schriftsprachen
waren relevant, welche setzte sich durch? Welche Gründe gibt es, dass die Entwicklung
diesen Lauf nahm?

Die wichtigste deutschen Schriftsprachen waren Mitteniederdeutsch (im Norden),


Ostmitteldeutsch(v.a. im Zentrum, später auch im Norden, Sprache der Protestanten) und das
Gemeine Deutsch(katholischer Süden). Während Omdt. Und Gedt. Sprache von Religionen
waren, wurden die nordischen Städte immer unwichtiger und Mndt. Entwickelte sich mehr
Richtung Süden. (altniedeng/nd.)

46. Welche Gründe gab es für den Niedergang des Mittelniederdeutschen auf deutschem
Boden?

Durchsetzten konnten sich jedoch nicht das Mittelniederdeutsche, dass sukzessiv vom
Ostmitteldeutschen verdrängt wurde, da es zum Niedergang der Hanse kam, die politische und
kulturelle Orientierung passierte zunehmend in Nord-De nach Süd/Mittel-DE und dennoch
20 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

überlebt das Niederdeutsche in der Mündlichkeit bis heute in plattdeutschen Dialekten. So


setzte sich am Ende nur eine Schriftsprache durch die vom Ostmitteldeutschen geprägt war.

47. Nennen Sie drei Faktoren bei der zunehmenden Vereinheitlichung der
neuhochdeutschen Schriftsprache und beschreiben Sie kurz deren Relevanz

1)Vorbildfunktion einzelner Personen wie Martin Luther, der sich zum mitgelesene Autor
entwickelt und der großen Einfluss hatte.

2) Beschreibung von Gebrauchsnormen durch erste Grammatiker (zunächst nicht präskriptiv)

3) Vorbildfunktion bestimmter Regionen

48. Wieso ist die Erfindung des Buchdruckes für die Entwicklung des Neuhochdeutschen
zentral?

Durch die Erfindung des Buchdrucks gibt es eine überregionale Verbreitung von Schrifttum,
sodass auch „kleinere“ Leute Zugang hatten z.B. Flugschriften, Zeitungen und kommt das
kommerzielle Interesse hinzu, was dazu führt, dass nach hohen Absatzahlen gestrebt wird,
damit einher geht auch eine möglichst allgemeinverständliche Sprache.

49. Welcher dieser beiden Schreiber folgt bei welchem Wort welchem Schreibprinzip?

A: Es widerstrebte ihm wieder ohne Grunt alles gründlich durchzurechnen

B: Es wiederstrebte ihm wieder ohne Grund alles gründlich durchzurechnen

Der Schreiber A folgt dem phonologischen Schreibprinzip, weil er „Grund“ mit hartem „t“ (also
„Grunt“) schreibt, er schreibt es so, wie er es spricht, mit Auslautverhärtung, die allerdings heute
graphisch nicht umgesetzt wird bzw. zurückgenommen wurde. Der Schreiber B folgt dem
morphologischen Schreibprinzip bei dem Wort „wieder“. Er schreibt es beides Mal gleich, da Laut
dem Prinzip Wörter des gleichen Wortstammes gleich geschrieben werden.

50. Welche Relevanz hat das Meißnische bei der Entstehung einer überregionalen
Schriftsprache im Deutschen?

Vorbild: Meißnische/Sächsische (17./18. Jh.), Ursachen - Dominanz Sachsens in


politischer, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht:

● Kurfürstenhof der Wettiner in Meißen Habsburgern bedeutendes Machtzentrum


im Reich
● Bedeutende Schriftsteller: Opitz, Klopstock, Gottsched
● Universitäten Leipzig und Erfurt führend
● Leipzig als Messestadt auf Nord-Süd- und West-Ost-Achse
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 21

51. Welche Rolle spielte Martin Luther bei der Entstehung einer einheitlichen
Schriftsprache?

Vorbildfunktion Luthers:

● Durch Reformationsschriften, deutsche Bibelübersetzung (1522)


● Insgesamt sehr große Anzahl an Lutherdrucken (z.T. die Hälfte aller Drucke!)
● Luther wirkte vor allem durch Anknüpfung an bestehende Ausgleichstendenzen
im Ostmitteldeutschen und trug - durch seine Autorität und seinen Einfluss - zur
Verbreitung und Akzeptanz dieser Schriftsprache bei
52. Kennzeichnen Sie kurz die Anfänge und Entwicklung der deutschen
Grammatikschreibung

Beginn der deutschen Sprachbeschreibung durch Grammatiker:

● 1486 - erste deutsche “Buchstabenlehren”


● 1578 - erste vollständige Beschreibung des Deutschen (auf Latein durch
Johannes Clajus)
● 1648 - erste umfassende Grammatik (von Justus Georg Schottel(ius))
● Einflussreichste Grammatiker (nicht mehr Frühneuhochdeutsch) - Johann
Christoph Gottsched, Johann Christoph Adelung
● Zunächst noch nicht präskriptiv, vielmehr Lese- und Schreibhilfen
● Später normativ, Ziel unter anderem Kultivierung der deutschen Sprache,
beginnende Stigmatisierung gewisser Varianten
53. Was meint der Begriff ‚Hauptsprachen‘ in der frühen Neuzeit? Was sind ‚Anomalisten‘
und was sind ‚Analogisten‘?

Ab 2. Hälfte des 16. Jh. zunehmend sprachnormative Haltung:

● Vorstellung einer reinen “Hauptsprache” - zunächst sprachphilosophischer


Begriff (“Ursprache”), später im Sinn von “Hochsprache”, Suche nach der
“besten” Sprache
● Ziele - ein richtiges und gutes Deutsch zu entdecken und durchzusetzen sowie
Sprache zu reinigen (von fremdsprachigen, aber auch soziolektalen und
dialektalen Einflüssen)
● Zwei Hauptpositionen:
- Anomalisten - bestehende Varietät (meist Ostmitteldeutsch) als Vorbild
an
22 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

- Analogisten - wollen eine “Idealsprache” deduktiv und auf Basis von


Vernunftprinzipien ableiten
54. Welche Rolle spielten Sprachgesellschaften in der frühen Neuzeit? Welche Ziele
verfolgten sie, wogegen richteten sie sich?

Sprachgesellschaften ab Beginn des 17. Jh.

● Beispielsweise“Fruchtbringende Gesellschaft” (Mitglieder u. a. Gryphius,


Schottel, Opitz), “Deutschgesinnte Genossenschaft”
● Ziel - Schaffung einer deutschsprachigen Literatur, einer einheitlichen und
reinen deutschen Sprache
● Nationalistisch und sprachpuristisch, Kritik am Französischen, das von Adel und
Hof zunehmend als alltägliche Sprache verwendet wurde
● Einfluss v. a. durch Eindeutschung entlehnter Begriffe:

Verfasser für Autor, Vertrag für Kontrakt, Wörterbuch für Lexikon, . . .

Nicht alle Wörter haben sich durchgesetzt - Jungfernzwinger für Nonnenkloster,


Tageleuchter für Sonne, Zeugemutter für Natur . . .

55. Nennen sie einige historischen Entwicklungen in der Neuzeit und ihre Folgen für das
Neuhochdeutsche

● Aufklärung - Emanzipation des Bürgertums, Hochphase der deutschen Kultur


um 1800
● Aufstieg Preußens, Gründung des deutschen Reiches 1871 (“kleindeutsche
Lösung”)
● Weltkriege - Schrumpfen des deutschen Sprachraumes und (fast) vollständiges
Aussterben ganzer Dialekte im Osten, bspw. Schlesisch
● Massenalphabetisierung (Schulpflicht z.B. 1774 in Österreich, in Preußen 1717)
● Medienrevolutionen
- Zeitungen und Zeitschriften (ab 17./18. Jh.)
- Im 20. Jh. Hörfunk (ab 20ern) und Rundfunk (ab 1950ern) - endgültige
Durchsetzung der Norm, bei gleichzeitigem Höhepunkt der
Sprachnormierung Ende 19./Anfang 20. Jh.
56. Wie vollzog sich die endgültige Vereinheitlichung der Orthographie? Wann vollzog sie
sich?

● Normierung betrifft zunächst v. a. Syntax und Lexik!


SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 23

● Schreibung bis Ende des 19. Jh. uneinheitlich - erst mit Gründung des deutschen
Reiches Vereinheitlichung möglich; Orthographierreform:
- 1876 erste Rechtschreibkonferenz mit Konflikten zwischen
schulgrammatischen und sprachwissenschaftlichen Richtungen;
gescheitert, da Entwurf großteils abgelehnt wurde
- 1880 - “Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen
Sprache” von Konrad Duden
- 1901 - zweite Rechtschreibkonferenz in Berlin bringt einheitliche
Rechtschreibung
57. Wie vollzog sich die Kodifizierung der Aussprache im Neuhochdeutschen? Wann
vollzog sie sich?

Normierung der Aussprache stark verzögert:

● Im 18. Jh. Entwicklung regionaler Konventionen zur Aussprache der Schrift


(“Landschaftliches Hochdeutsch”)
- Zunächst v. a. als Leseaussprache verbreitet (z.B. in der Kirche, Schule)
- V. a. in Norddeutschland in sozial höherstehenden Kreisen auch als
Alltagssprache verwendet (Sprachwechsel vom Niederdeutschen)
● Ende des 19. Jh. - Kodifizierung der Aussprache durch Theodor Siebs
(“Deutsche Bühnenaussprache”), starke Orientierung an der norddeutschen
Sprachverwendung sowie an der Schrift
● Im 20. Jh. - Hör- und Rundfunk verbreiten die Siebsche Norm, jedoch ohne, dass
sie sich als Alltagssprache in breiteren Kreisen durchsetzen könnte . . .
58. Diskutieren Sie kurz den Einfluss politischer Entwicklungen auf den Sprachgebrauch in
der Neuzeit anhand eines historischen Beispiels

● Sprache im Kaiserreich

Puristische Tendenzen, nationlistisch unterfüttert, zum Teil aber auch mit


aufklärerischen Impulsen (“Allgemeiner Deutsche Sprachverein”), bspw.
Generalpostmeister Heinrich von Stephan - Postkarte statt Correspondenzkarte,
eingeschrieben statt recommandiert etc.

● Sprache im Nationalsozialismus

Manipulation durch Sprache, aber keinen großen Einfluss auf Sprache, eher anti-
puristische Haltung, bspw. Frakturschriftverbot 1941 (Fraktur zuvor als
24 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

vermeintlich “deutsche Schrift” im Gegensatz zum “lateinischen” Antiqua


angesehen)

● Sprache in der DDR

Eigene DDR-Standarsprache? Nur wenige Eigenheiten, im Rahmen der


politisch-administrativer Lexik - Planablauf, Abgabesoll etc., gewisse
Entlehnungen aus dem Russischen (Kolchose, Sputnik, Agrotechnik, . . .)

59. Diskutieren Sie entweder das Phänomen „Dialektsterben“ oder das Phänomen
„Sprachverfall“: Handelt es sich dabei um Gegenwartstendenzen der deutschen Sprache,
warum oder warum nicht?

Dialektsterben:

● Bereits im 19. Jh. wurden die Dialekte aufgezeichnet, weil man ihr baldiges
Verschwinden befürchtete - bis heute in weiten Teilen des Deutschen nicht
eingetreten!
● Situation je nach Region verschieden
- Schweiz - Dialekt als die primär gesprochene Varietät, keine Anzeichen
für Dialektverlust
- Österreich, Süddeutschland - Menschen sprechen Dialekt bzw. eine
dialektnahe Regionalsprache als Alltagssprache; die Dialekte wandeln
sich, indem bspw. besonders kleinräumige Formen aufgegeben werden
(d. h. vielfach Dialektumbau statt Dialektverlust; besonders in
Deutschland jedoch Regiolekte als neue Dialekte)
- Nord- und zum Teil in Mitteldeutschland - Dialekt nur mehr von einer
kleineren Minderheit in wenigen Situationen verwendet, v. a.
Niederdeutsch ist Produkt sprachpflegerischer Maßnahmen

Sprachverfall:

● Sprachverfallsklage so alt wie das (dokumentierte) Sprechen über Sprache


● Sprachverfall linguistisch nicht nachweisbar - welche Kriterien sollten
herangezogen werden und wieso? Normative Frage deskriptiv nicht zu
beantworten!
● Die Norm des ggw. Deutsch ist genauso eine historisch emergentes Produkt wie
die Abweichungen davon - Norm kann und wird sich wieder wandeln (nur eine
tote Sprache kann vollständig normiert sein)
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 25

● Sprache wandelt sich ständige > Was wäre die nicht verfallene Sprache? Das
Deutsch Geothes? Das Harmanns? Das Nodkers? Indogermanisch?
● Kritik am Sprachverfall immer Fremdkritik, teilweise als Abgrenzungsstrategie
ggü. anderen Gruppen genutzt (Jugend, “Unterschicht”, etc.), teilweise mit
anderen Diskursen verwoben (bspw. Nationalismus/Fremdenfeindlichkeit)

Lexik und Semantik

61. Der Tag nach Mittwoch heißt heute allgemein ‚Donnerstag‘; bloß in einigen Gegenden
Altbayerns wird er noch immer ‚Pfinztag‘ genannt. Beschreibt diese Aussage
onomasiologische oder semasiologische Variation? Begründen Sie Ihre Antwort

Diese Aussage beschreibt die onomasiologische Variation, da es sich um denselben Inhalt


handelt, lediglich wird ein anderer Ausdruck verwendet, denn Pfinztag bedeut noch immer
Donnerstag, geht auf andere etymologische Wurzeln zurück, also gotisch “den fünften Tag”.

62. Beschreibt die Aussage „In Berlin heißt ‚ich‘ ‚ik‘“ eine Form von lexikalischer
Variation? Begründen Sie Ihre Antwort

Nein, denn es handelt sich dabei um dieselbe lexikalische Variante, da es


Aussprachevarianten mit derselben etymologischen Wurzel sind.

63. Wie vollzieht sich lexikalischer Wandel?

Der lexikalische Wandel vollzieht sich im Allgemeinen schneller als in anderen Bereichen, da
das verwendete Lexikon sehr eng mit der jeweiligen Lebenswelt z.B. Technik verbunden ist.
Zudem gibt es wenig Regularitäten.

64. Erbwort oder Lehnwort?

mich Pers.pron. der 1. Person im Akk. des Singulars ahd. mih, mhd. mich, asächs. mnd.
mik, aengl. mec, anord. got. mik. An den Pronominalstamm ie. *me- (vgl. aind. mā́ m,
mā, griech. emé, me, ἐμέ, με, lat. mē ‘mich’; s. ↗mein, ↗mir) wird im Germ. analog dem
Nom. der 1. Person Sing. (s. ↗ich) ein k angefügt. (Quelle: https://www.dwds.de/wb/ich
)

Beim Wort „mich“ handelt es sich um ein Erbwort, da es bereits im ahd. Wortschatz vorhanden
war.

hart Adj. ‘fest, keinem Druck nachgebend, streng, scharf, heftig, schwer erträglich’,
ahd. hart ‘fest, rauh, unbiegsam’ (8. Jh.), mhd. hert(e), (md.) hart, auch ‘grob,
ausdauernd, hartnäckig, dicht, anstrengend, schwer’, asächs. hard, mnd. hart, hā̌ rde,
26 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

mnl. hart, nl. hard, aengl. hard, heard ‘hart, stark, tapfer’, engl. hard ‘hart, schwer,
streng, rauh’, anord. harðr ‘hart, stark’, schwed. hård, got. hardus ‘hart, streng’ kann
als Ableitung mit tu-Suffix außergerm. vielleicht (trotz abweichender Vokalqualität) mit
aind. krátuḥ ‘geistige Kraft, Verstand, Einsicht, Wille’, griech. krátos (κράτος) ‘Stärke,
Kraft, Macht, Herrschaft, Sieg’, kratýs (κρατύς) ‘stark, mächtig’ verglichen werden. Für
das Germ. ist dann von ie. *kartu- auszugehen, Ableitung von einer Wurzel ie. *kar-
‘hart’. (Quelle: https://www.dwds.de/wb/hart)

Beim Wort „hart“ handelt es sich um ein Erbwort, das es bereits im Ahd. gegeben hat und
dieselbe Bedeutung wie heute hat.

65. Diskutieren Sie, ob es sich bei den Worten Clown, Tomate und Kaiser jeweils um
Fremdworte oder Lehnwörter im engeren Sinn handelt

Clown ist im eigentlichen SInn ein Fremdwort, aber es gibt Clown schon seitdem 18 Jahrhundert
im Deutschen, ist aber dennoch noch nicht an die deutsche Sprache ganz angepasst, denn
eigentlich müsste man es “klaun” schreiben.

Beim Wort Tomate kann auch schwer eine Aussage treffen, da das Gewächs selbst über
Frankreich und Italien ursprünglich aus Mexiko kommt und länger als Liebesapfel und
Paradiesapfel bezeichnet wird und als es im 19 Jahrhundert zum Verzehr kommt wird der
französische Name übernommen. Womit es eigentlich ein Fremdwort wäre, aber das Wort
Tomate ist an die deutsche Schreibung, Aussprache und Grammatik angepasst.

Beim Wort “Kaiser” handelt es sich um ein Lehnwort bzw eine Entlehnung vom lateinischen
“Caesar”, dass eben an die deutsche Rechtschreibung angepasst wurde und diese Wort existiert
im Deutschen schon sehr lang. Ob es sich nun um ein Lehnwort im engeren Sinn handelt kann
man nicht ganz sagen, da es ja zu Beginn nur lediglich ein Wort für Herrscher in Bezug auf
Cäsar war.

66. Reihen Sie die folgenden drei Lehnwörter nach ihrem Integrationsgrad ins Deutsche
anhand von drei Untersuchungskriterien Ihrer Wahl: Ziegel, Ananas, Bourgeoisie

Integrationsgrad ins Aussprache Schreibung Grammatik


Deutsche

Ziegel + + +

Ananas +/ - +/ - +/-
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 27

Bourgeoisie - - -
Da ich nun diese Wörter untersucht habe, würde ich sie genau in dieser Reihenfolge von am
meisten integriert zu am wenigsten integriert einteilen.

67. Welche Form von Lehngut liegt beim Substantiv Menschenfeind vor?

Menschenfeind m. ‘Menschenhasser, -verächter’ (16. Jh.), von griech.-lat.


misanthropus (s. ↗Misanthrop). (Quelle: https://www.dwds.de/wb/Mensch);
Misanthrop kommt dabei von von griechisch μισεῖν miseín ‚hassen', ‚ablehnen' und
ἄνθρωπος ánthrōpos ‚Mensch‘

Es wird aus dem Griechischen und Lateinischen entlehnt, dabei handelt es sich um eine
sogenannte Gebersprache.

68. Was meinen die Begriffe ‚Nehmersprache‘, ‚Gebersprache‘, ‚Mittlersprache‘?


Beschreiben Sie sie am Beispiel des Lexems Tabak

Tabak m. in Amerika beheimatetes nikotinhaltiges Nachtschattengewächs, das aus


dessen Blättern hergestellte ‘Genußmittel zum Rauchen, Kauen, Schnupfen’. Aus der
Sprache der InselAruaks stammendes tabaco (Bezeichnung für eine Art Zigarillo, d. h.
für in ein Deckblatt eingerollte Tabakblätter zum Rauchen) wird ins Span. übernommen;
entsprechend steht in dt. abgefassten Reisebeschreibungen aus span. tabaco entlehntes
Tabacco, Tabaco (2. Hälfte 16. Jh.). (Quelle: https://www.dwds.de/wb/Tabak)

Die Nehmersprache ist in diesem Fall die Sprache, in die entlehnt wird, was beim Wort Tabak,
Deutsch ist. Die Gebersprache, also die Sprache aus der entlehnt wird, ist die Sprache der Insel
Aruaks tabaco. Die Mittlersprache, also die Sprache über die entlehnt wird, ist in diesem Fall
Spanisch, tabaco.

69. Charakterisieren Sie drei große Entlehnungswellen ins Deutsche: Welche Sprache
betrafen sie, wann vollzogen sie sich und welche Bereiche des Wortschatzes erfassten
sie? Welche Gründe gab es dafür, dass jeweils aus diesen Sprachen entlehnt wurde?

Es haben unterschiedliche Wellen stattgefunden, zuerst das Lateinische, dann das


Französische und das Englische.

Der erste Kontakt mit dem Lateinischen fand von ca. 50. v. Chr. bis 500 n. Chr. statt, es handelt
sich dabei um die Römerzeit, hierbei wurden vor allem im Bereich der Sachkultur,
beispielsweise im Hausbau (murus - Mauer, tegula - Ziegel, fenestra - Fenster), in der
28 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

Verwaltung und im Handelswesen (tolonium - Zoll, pondo - Pfund). Die zweite lateinische
Welle fand von ca. 500 bis 800 statt und kann als Christianisierung beschrieben werden. Hier
kam es vor allem zu Übernahmen im Bereich Religion und Kirche (claustrum - Kloster, signare
- segnen, crux - Kreuz), damit zusammenhängend auch Schrift- und Schulwesen (tincta - Tinte,
schola - Schule), es kam aber auch zu Übernahmen im Gartenbau (cipolla - Zwiebel, petrosilium
- Petersil(ie)). Die dritte lateinische Welle fand im 15./16. Jh. statt und war durch Humanismus
und Renaissance geprägt, vor allem Fach- und Wirtschaftstermini aus dem Lateinischen wurden
übernommen (Advokat, Testament, Patient, Konjunktion, Fraktur).

Der erste Kontakt mit dem Französischen fand circa um 1150 bis 1250 statt, das ist die höfische
Zeit des altfranzösischen Rittertums, es kam zu Übernahmen im Bereich des Rittertums
(aventure - aventiure - Abenteuer, tournier - turnei, tornei, turnoi - Turnier) und des höfischen
Lebens (dancier - dansen, danzen - tanzen, rime - rim - Reim). Die zweite französische Welle
fand im 17. und 18. Jh. statt, auch “Almode”-Zeit genannt, hierbei kam es zur Nachahmung der
französischen Mode im Adel und Bürgertum (Complimente, Plaisir, Coquetterie,
Conversation, Karessieren, Parlieren, Maskieren, logieren, Palais, Hotel, Kabinett, Salon,
Etage, Möbeln, Sofa, Gobelin, Stuck, Galerie, Balkon, Terreasse, . . .)

Der Sprachkontakt mit dem Englischen setzt vor allem im/ab 19. Jh. ein, auch aufgrund der
großen Ausdehnung des Britischen Empire (Sport, Whisky, Pudding), nach dem Zweiten
Weltkrieg verstärken sich die Übernahmen von englischen Wörtern ins Deutsche, u. a. in den
Bereichen Werbung, Computer und Fachsprachen.

70. Welche(n) Faktor(en) semantischen Wandels können Sie beim Bedeutungswandel von
Geld plausibilisieren?

Geld n. ‘Zahlungsmittel’ in Form von Münzen und Banknoten, ahd. gelt (um 800), asächs. geld
‘Bezahlung, Vergeltung, Lohn, Opfer’, mhd. mnd. mnl. gelt ‘Bezahlung, Vergütung, Zahlung,
Schuldforderung, Preis, Zahlungsmittel’, aengl. gield ‘Opfer, Zahlung, Abgabe, Tribut,
Vergeltung, Bruderschaft’ (s. ↗Gilde), anord. gjald ‘Bezahlung, Lohn, Strafe, Steuer’, got. gild
‘Steuer, Zins’, germ. * gelda- ist ein Verbalsubstantiv zu dem unter gelten (s. d.) behandelten
Verb. Es gehört anfangs in die kultische und rechtliche Sphäre und bedeutet ‘Opfer, Buße,
Tribut’, eigentl. ‘das, womit man Opfer, Buße erstatten, entrichten kann’, begegnet später im
wirtschaftlichen Bereich für ‘Abgabe, Zahlung’ (in Zusammensetzungen wie Brücken-, Wege-
, Kost-, Lehr-, Schulgeld bewahrt) und bezeichnet schließlich das, ‘was als Zahlungsmittel
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 29

dient’. Vom 14. Jh. an nimmt Geld allmählich seine heutige Bedeutung ‘gesetzliches
Zahlungsmittel’ an. (Quelle: https://www.dwds.de/wb/Geld)
Das Wort „Geld“ hat eine Bedeutungsverengung erfahren, während es im Ahd. und Mhd. auch
noch die Bedeutung „Vergeltung“ und „Opfer“ beinhaltet hat, änderte sich dies im Laufe des
14. Jh. „Geld“ war also nicht nur positiv, sondern auch negativ behaftet und erhielt schließlich
eine Bedeutungsverbesserung, da man heute „Geld“ als etwas Positives sieht.
71. Hat das Wort schön eine Bedeutungserweiterung, Bedeutungsverengung oder
Bedeutungsverlagerung durchgemacht? (Begründen Sie Ihre Antwort mithilfe der
Begriffe ‚Extension‘ und ‚Intention‘) Hat das Wort dabei eine Bedeutungsverbesserung
oder -verschlechterung erlebt? Welche(r) Mechanismen/Mechanismus könnten diesen
Sprachwandel erklären?

schön Adj. ‘in jeder Hinsicht gut anzusehen, wohlgefällig, bewundernswert’, ahd. scōni
‘ansehnlich, glänzend, rein, herrlich, gut, angenehm’ (8. Jh.), mhd. schœn(e), auch ‘schonend,
freundlich’, asächs. skōni, mnd. schȫn(e), mnl. scōne, nl. schoon, afries. skēne, aengl. scīene,
scēne, engl. (poetisch) sheen, anord. (als zweites Kompositionsglied) -skjōni, got. skauns oder
skauneis ‘anmutig’ (germ. *skauni-) ist ein mit dem Suffix ie. bzw. germ. -ni- gebildetes
Verbaladjektiv zu der unter ↗schauen (s. d.) genannten Wurzel ie. *(s)keu- ‘worauf achten,
beobachten, schauen’. Auszugehen ist von einer Bedeutung ‘sichtbar, anschaubar’, die sich zu
‘ansehnlich’ und ‘gut, angenehm’ (auch von Gehörseindrücken) weiterentwickelt. (Quelle:
https://www.dwds.de/wb/sch%C3%B6n)

Das Wort „schön“ hat eine Bedeutungserweiterung durchgemacht, aufgrund von Wegfall von
Bedeutungsmerkmalen, die Extension wurde demnach durch Reduktion der Intension
ausgebaut. Das Wort „schön“ hat weder eine Bedeutungsverbesserung noch eine
Bedeutungsverschlechterung erlebt.

72. Zum Teil wird heute statt von Altersheim von Seniorenresidenz gesprochen: Welche
Gründe könnte es dafür geben? Wie könnten sich diese Begriffe weiterentwickeln?

Ein Grund könnte sein, dass man mittlerweile mit dem Begriff “Heim” an ein Heim für
Behinderte denkt bzw. das Wort Heim eine Bedeutungsverschlechterung erfährt und sich
deswegen auf die Suche nach einem euphemistischeren Begriff gemacht hat, der keinen
negativen Unterton hat. Zudem verschiebt sich die Bedeutung mittlerweile eben auf
Behindertenheim, Frauenheim und so weiter und das was früher als “Heim” bezeichnet wurde
wird heutzutage als Zuhause bezeichnet. Daher schätze ich das sich der Begriff “Heim” bzw.
30 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

Behindertenheim oder auch Altersheim ins Positive verändern möchten und sich daher “neuere”
Begriff mehr und mehr durchsetzen.

73. Die Präposition wegen hängt mit dem Substantiv Weg zusammen: Welche besondere
Form von Bedeutungserweiterung liegt hier vor? Welcher Mechanismus könnte die
Entwicklung erklären?

wegen Präp. mit Gen., heute auch mit Dat. ‘infolge, auf Grund (von)’, spätmhd. wegen (2.
Hälfte 14. Jh.), verkürzt aus mhd. von … wegen ‘von … Seiten’ (mit eingeschlossenem Gen.,
mhd. von unser beider wegen, 13. Jh.), daher eigentl. Dat. Plur. von mhd. wec ‘Weg’ in der
Bedeutung md. mnd. ‘Ort, Stelle, Seite’. (Quelle: https://www.dwds.de/wb/wegen)

Phonetik & Phonologie I

74. Was ist der Unterschied zwischen phonetischem und phonologischem Wandel?

Phonetischer Wandel: Wandel in den Lauteigenschaften einzelner Lautsegmente ohne


Auswirkungen auf das System.

Phonologischer Wandel: Wandel des Aussprachesystems, d. h. Wandel der distinktiven


Einheiten.

75. Beim phonologischen Wandel haben Sie die Begriffe „Phonemverschiebung“,


„Phonemzusammenfall“, „Phonemspaltung“ kennengelernt. Was ist damit jeweils
gemeint? Können Sie je ein Beispiel nennen?

Phonemverschiebung: ü → oi; gilt für alle Umgebungen

● mhd. /y/ > nhd. /oi/


● mhd. vriunt > nhd. Freund

Phonemzusammenfall: Laute fallen zusammen; langes u & ou zu au

● mhd. /u:/ und /ou/ > nhd. /au/


● mhd. boum > nhd. Baum
● mhd. hûs > nhd. Haus

Phonemspaltung: Aus einem Laut werden neue Laute - u => u; u => ü

Warum wird u zu ü? - Nebensilbe i (Senkung von i zu e) + fernassimilierter Umlaut

(wenn in Nebensilbe i oder j, dann wird der Vokal gehoben)

● ahd. /u/ > mhd. /u/ und /y/


● ahd. burg > mhd. burc
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 31

● ahd. wurfil > mhd. würfel

76. Was ist spontaner, was kombinatorischer Lautwandel? Geben Sie je ein Beispiel

Spontaner Wandel: Lautwandel findet unabhängig von der lautlichen Umgebung statt, Bsp.
frühneuhochdeutsche Diphthongierung

mhd. mîn niuwes hûs > mein neues haus

Die hohen mhd. Langvokale werden in allen Positionen zu Diphthongen

Kombinatorischer Wandel: Lautwandel abhängig von der lautlichen Umgebung, Bsp. i-Umlaut

ahd. gast - gesti

/a/ wird nur bei i, j in der Folgesilbe zu einem e-Laut, sonst bleibt /a/ erhalten.

77. Was meint Lautwandel im engeren Sinn, was ist Lautersatz?

Lautwandel ist vor allem innersprachlich bedingt, die Artikulation von Lauten ändert sich,
lexikalisch ausnahmslos (d.h. alle Lexeme mit dem relevanten Lautkontext werden erfasst) =>
phonetisch graduell

Lautersatz ist vor allem außersprachlich bedingt, Laute werden ausgetauscht, lexikalisch
graduell (d.h. die Lexeme werden bspw. je nach Frequenz unterschiedlich schnell erfasst) =>
phonetisch abrupt

78. Nhd. heißt es bspw. essen – aß – gegessen od. schließen – schloss – geschlossen: Wie
nennt man den Vokalwechsel in diesen Stämmen? Auf welche Epoche geht er
sprachgeschichtlich zurück und wie ist er entstanden?

Man nennt dies Ablaut, es hat mit der 2. Lautverschiebung zu tun.

Vom Indogermanischen zum Germanischen:

• Im Indogermanischen: Vokalwechsel beim selben Wortstamm durch unterschiedliche


Akzentverhältnisse oder Abtönung
• Im Germanischen: Systematisierung des Ablauts bei starken Verben, Entstehung
von Ablautklassen je nach Folgelaut

79. Welche Folgen hatte die Festlegung des Wortakzentes auf die Initialsilbe? In welcher
Sprachstufe tritt sie auf?

Vom Indogermanischen zum Germanischen:


32 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

Festlegung des vormals im Idg. dynamischen Wortakzents: Erstsilbenbetonung => bedingt


einen weitgehenden Wandel (zum Teil umstritten)

Fixierung des Akzentes (germanischer Initialakzent)

• Abschwächungen der Nebensilben


• Abbau von Kasusmarkierungen
• Einfluss auf Syntax

Volle Endung: daz wort dero gestio (ahd.)


Reduktionsvokal: daz wort der geste (mhd.)
Ersatzform: s wort vo de gest (bair.)

Volle Endung: ih mahhota (ahd.)


Reduktionsvokal: ich mach(e)te (mhd.)
Ersatzform: i hob gmocht (bair.)

80. Beschreiben Sie kurz die erste Lautverschiebung: Wann vollzog sie sich, welche
Sprachen betrifft sie, welche Laute wandelten sich wie?

Die erste oder germanische Lautverschiebung trennt das Germanische vom


Indogermanischen. Die erste Lautverschiebung führt zu einer partiellen Ausgliederung des
Germanischen aus dem Indogermanischen. Der Prozess der ersten Lautverschiebung ist
zwischen 600 und 250 v. Chr. abgeschlossen. Betroffen sind dabei die indogermanischen
stimmhaften, stimmlosen und behauchten Verschlusslaute (Plosivlaute), deren Artikulationsart
sich ändert, jedoch unter Beibehaltung der Artikulationsstelle (Labial, Dental, Gutural).

81. Was ist das „Vernersche Gesetz“? Illustrieren Sie es an Beispielen.

Es ist kurz nach der ersten Lautverschiebung wirksam, germanisch stimmlose Frikative nach
unbetonter Silbe und in stimmhafter Umgebung stimmhaft. Bsp. Hannover (stimmlos),
Hannoveraner (stimmhaft), weil unbetonte Silbe zwischen Vokalen; Nerven (stimmlos),
nervös (Stimmhaft).
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 33

82. Nhd. heißt es bspw. verlieren – Verlust: Wie nennt man das synchrone Nebeneinander
der im Beispiel markierten Konsonanten? Worauf geht es historisch zurück? In welcher
Periode wurde es teilweise rückgängig gemacht und wie nennt man diesen Vorgang?

Es eine Folge des Vernerschen Gesetz, dass es einen sogenannten Grammatischen Wechsel
gibt, der auf Jacob Grimm zurück geht. In der frühneuhochdeutschen Epoche gab es einen
paradigmatischen Ausgleich bei Verben und so wurde teilweise der grammatische Wechsel
ausgeglichen.
34 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

83. Beschreiben Sie kurz die zweite Lautverschiebung: Wann vollzog sie sich, welche
Sprachen / Dialekte betrifft sie, welche Laute wandelten sich wie?

Die zweite Lautverschiebung fand im 6. bis 9. Jhd. statt und trennt das Althochdeutsche
vom Germanischen, es ist anders als niederdeutsch und platt, es geht um die
Tenuesverschiebung. Tenues p, t und k postvokalisch (Frikative) – intervokalisch – Anlaut
oder nach Konsonant (wieder ist di Umgebung entscheidend) → open – offen; eat – essen;
make – machen → Geminaten schließen und öffnen eine Silbe.

• Verschiebung zu Affrikata im Wortlaut und nach Konsonant: p > pf; t > tz; k > kx
• Verschiebung zu Geminaten (Doppelkonsonanten) intervokalisch: p > ff; t > zz; k > xx
• Verschiebung zum einfachen Frikativ im Auslaut nach Vokal: p > f; t > z; k > x

84. Wieso ist die zweite Lautverschiebung für die deutsche Dialektologie relevant? Nennen
Sie die großen Dialekträume in Deutschen und zwei zentrale Isoglossen

Relevanz für die deutsche Dialektologie

• Merkmal des Hochdeutschen, im Unterschied zum Niederdeutschen:


➢ Niederdeutsch: 2. Lautverschiebung nicht durchgeführt
• Verschiebung bei germ. p/pp uneinheitlich:
➢ Hochdeutsch: 2. Lautverschiebung (teilweise) durchgeführt
➢ Mitteldeutsch: -pp- unverschoben (Appel)
o Westmitteldeutsch: p- unverschoben (Pund)
o Ostmitteldeutsch: p- verschoben zu f- (Fund)
➢ Oberdeutsch: -pf-, pf- verschoben (Apfel)
➢ Verschiebung von k- und –kk- nur in Teilen des Bairischen und im
Allemanischen, ebenso von b und g

Isoglossen:

• Niederdeutsch von Hochdeutsch (Benrather Linie) => maken/machen


• Mitteldeutsch von Oberdeutsch (Speyerer Linie) => Appel/Apfel
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 35

85. Problematisieren Sie die Idee ausnahmsloser Lautgesetze am Beispiel der zweiten
Lautverschiebung: Wer propagierte diese Ausnahmslosigkeit, durch wen wurde sie
überprüft, welche Ergebnisse zeigten sich?

• Lautliche Variation gilt als relativ systematisch, d.h. dass lautliche Varianten in
allen Wörtern, in denen sie vorkommen, tendenziell gleich verteilt sind, und
gleiche oder ähnliche Verteilungen aufweisen wie andere, ähnliche Varianten
• Junggrammatische Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert
➢ Annahme der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze:
Eine lautliche Veränderung in einer Sprache / einem Dialekt betreffe
immer alle Vorkommen dieses Lautes. Bsp. germ. *k nach Vokal wird
im Ahd. in allen Wörtern zu ch (germ. *ik > ahd. ich, germ. *makōn >
ahd. machōn)
➢ Schlussfolgerung (wenn die Hypothese zutrifft!):
Nicht nur Lautwandel, sondern auch Lautvariation müsse sehr
regelmäßig und systematisch sein, d.h. in einem beliebigen Ortsdialekt
müsse ein beliebiger Lautwandel konsequent durchgeführt sein >
Forschungsdesiderat im 19. Jahrhundert: Nachweis der
Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze anhand der (deutschen) Dialekte
• Sprachatlas des Deutschen Reiches
36 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

➢ Georg Wenker, Universität Marburg


➢ Versand von Fragebögen mit Aufgaben zur Dialektübersetzung an zuerst
die Schulen der nördlichen Rheinprovinz (1876), dann in Nord- und
Mitteldeutschland (1880), schließlich auch nach Süddeutschland;
Ergebnis: 44.251 Bögen aus 40.736 Schulorten
➢ Nacherhebungen in weiteren (teils) deutschsprachigen Ländern: 1888
Luxemburg, 1926–1933 Sudentenland, Österreich, Liechtenstein,
Schweiz, usw.
➢ Insgesamt 51.480 Bögen aus 49.363 Orten

86. Zwischen dem Althochdeutschen und dem Mittelhochdeutschen begegnen zwei


wichtige vokalische Wandelerscheinungen – Nebensilbenabschwächung und i-Umlaut:
Wodurch sind sie jeweils motiviert? Wann erscheinen sie? Welche Vokale wurden in
welchen Positionen jeweils zu welchen Lauten gewandelt?

Als Nebensilbenabschwächung fasst man Lautwandelerscheinungen zusammen, die zu einer


phonetischen Reduktion unbetonter Silben und damit zu einer stärkeren Differenzierung
zwischen akzentuierten und nicht akzentuierten Silben führen.

Ein Beispiel, für die Nebensilbenabschwächung, ist das althochdeutsche Wort ‚namun' und das
mittelhochdeutsche Wort ‚name“. Durch die Verschiebung der Betonung auf die erste Silbe im
Mittelhochdeutschen, hat sich der Vokal von einem ‚u' zu einem ‚e' abgeschwächt.

Vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen:

Ahd.: Volle Nebensilbenvokale: a, i, e, o, u, ā, ē, ī, …

Spätahd.: erste Verwechslungen von Nebensilbenvokalen in der Schreibung (z.B. o statt u) →


Hinweis auf Abschwächung

Mhd.: Abschwächung in der Schreibung vollzogen: Alle ahd. unbetonten Nebensilbenvokale


werden zu mhd. <e> [ə]

Bsp. Verben: ahd. salbōn > mhd. salben (‘salben’)


ahd. habēn > mhd. haben (‘haben’)
ahd. slegit > mhd. sleget (‘schlägt’)

Bsp. Substantiv: ahd. mūsi > mhd. miuse(‘Mäuse’)

Erklärung: Reduktion des Artikulationsaufwandes; Sprachökonomie

Folge des germ. Anfangsakzents > Artikulationsaufwand fokussiert sich auf Anlaut
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 37

i-Umlaut

Antizipierende Assimilation eines Vokals an einen Vokal oder Halbvokal der folgenden Silbe

Drei Phrasen – zumindest in der Schriftlichkeit (womöglich zeitverzögert zur Mündlichkeit)

87. Was ist die Auslautverhärtung? Wann tritt sie auf? Existiert sie heute noch?

Die Auslautverhärtung ist die Verwandlung eines stimmhaften auslautenden Konsonanten in


einen stimmlosen, sie tritt dann auf, wenn sich der Konsonant am Ende einer Silbe befindet,
dann verliert er plötzlich seine Stimmhaftigkeit und wird hart ausgesprochen. Hierbei d wie t,
b wie p und g wie k.

Bsp. Tag, Sieb, Lied, klug

Bereits ab ca. 11. Jh. (Übergangszeit Ahd./Mhd.):

Auslautverhärtung:

nhd. Leid [laɪ̯ t], ahd. *leid /leɪ̯ d/

Wird heute in der Schriftlichkeit nicht mehr wiedergegeben, besteht aber weiterhin!

sk-: [sk] wie in ahd. *skif(e) > mhd. [ʃ] schif(e) ‘Schiff’

88. Wieso ist das Frühneuhochdeutsche eine Übergangsperiode? Diskutieren Sie dies in
Bezug auf den Lautwandel
38 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

Das Frühneuhochdeutsche ist die älteste Stufe des Nhd. (ca. 1350-1650). Man kann es deswegen
als Übergangsperiode bezeichnen, da in dieser Zeit eine Reihe von Lautwandelprozessen
passierten, die das Mhd. vom Nhd. abgrenzen und im Frühneuhochdeutschen begonnen haben,
allerdings nicht abgeschlossen wurden, wie beispielsweise die Dehnung der offenen Tonsilbe,
die nhd. Monophtongierung und die Nhd. Diphtongierung.

• Viele (Laut-)Wandelerscheinungen erstrecken sich über langen Zeitraum: beginnen im


Mhd., verbreiten sich im Fnhd. und werden erst im Nhd. abgeschlossen (wenn
überhaupt)
• Dabei große Unterschiede zwischen einzelnen Dialekträumen!
• Besonders in der Schrift werden nicht alle Wandelerscheinungen konsequent umgesetzt
(Schrift eher konservativ), z.T. geht die Graphie dem Lautwandel aber auch voran!
• Im Folgenden Phänomene genannt, die insbes. mit Blick auf heutiges Standarddeutsch
als ‚Wandel‘ gelten können!

89. Wieso ist die fnhd. Diphthongierung ein Reihenschritt? Was ist ein Reihenschritt?

mhd. û, î, iu > nhd. au, ei, eu

• Erfasst vom 12. Jh. ausgehend von der Steiermark das gesamte Bairische sowie die
mitteldeutschen Dialekte
• Hochallemannisch (und Niederdeutsch) weitgehend ausgespart
• Befund: mehrere, ähnliche Laute haben einen vergleichbaren Wandel vollzogen
➢ mhd. û [uː] > nhd. au [aʊ]
➢ mhd. î [iː] > nhd. ei [aɪ]
➢ mhd. iu [yː] > nhd. eu [ɔʏ]

Sogenannter „Reihenschritt“ (Anton Pfalz): „Vokale gleicher Höhe und Spannung


[verhalten] sich beim Lautwandel gleichmäßig“.

Generalisierung: Die mhd. hohen Langvokale entwickeln sich zum Nhd. hin zu
steigenden Diphthongen.

Merksatz:

mhd. mîn niuwez hûs > nhd. mein neues Haus

[iː] [yː] [uː] [aɪ] [ɔʏ] [aʊ]

90. Erklären Sie den Wandeln von mhd. tac (= [tak]) zu nhd. Tag (= [ta:k])

Dehnung in einem einsilbigem Wort und Auslautverhärtung


SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 39

Das c im Auslaut wird zu k wie in mac,

91. Bei den mhd. e-Lauten, den s-Lauten und dem w-Laut trat zum Nhd. hin jeweils ein
Wandel auf: Erklären Sie diese Wandelerscheinungen kurz. Lässt sich dabei von einem
phonetischen oder einem phonologischen Wandel sprechen?

Zusammenfall bei e-Lauten:

• Kurzvokale: e-Laute (/e/, /ë/, /ä/) fallen zusammen zu [ɛ]:


➢ mhd. g[e]ste, h[ɛ]rze, gesl[æ]hte > nhd. G[ɛ]ste, H[ɛ]rz, Geschl[ɛ]cht
• Langvokale: e-Laute (/e:/, /ɛ:/) fallen zusammen zu [e:]:
➢ mhd. l[e:]ren, t[ɛ:]te > nhd. l[e:]ren, t[e:]te
• Apokope: Ausfall von Schwa am Wortende: mhd. hërze > nhd. Herz_
• Synkope: Ausfall von Schwa im Wortinneren: mhd. maget > nhd. Mag_d
• e-Einschub (‚Sprossvokal‘), d.h. Epenthese:
• mhd. gîr > nhd. Geier, mhd. mûr > nhd. Mauer

92. Nennen Sie mindestens fünf lautliche Wandelerscheinungen vom Mittelhochdeutschen


zum (Früh-)Neuhochdeutschen: Was wandelte sich jeweils zu was, nennen Sie immer
auch Beispiele. Geben Sie auch Beispiele dafür, dass in den hochdeutschen Dialekten
diese Wandelerscheinungen nicht immer bzw. anders erfolgt sind

• „Dehnung in offener Tonsilbe“


➢ „offen“ = auf Vokal endend, „Tonsilbe“ = betonte Silbe

mhd. s[a]gen, l[i]gen, k[e]gel

nhd. s[a:]gen, l[i:]gen, k[e:]gel

➢ Ausnahmen v.a. vor t: mhd. site, zetel, bleter > nhd. Sitte, Zettel, Blätter (Ausnahme
der Ausnahme: mhd. vater wird nhd. Vater!)
• Dehnung in Einsilbern (v.a. bei Vokalen vor r und l):

mhd. [ɛ]r > (f)nhd. [e:]r

mhd. v[i]l > nhd. v[i:]l

• Kürzung: v.a. vor mehrfacher Konsonanz, aber nicht konsequent durchgeführt

mhd. j[a:]mer > nhd. j[a]mmer, mhd. d[a:]hte > nhd. d[a]chte
40 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

93. Vergleichen Sie folgende lautliche Entwicklungen / Korrespondenzen: Nennen Sie pro
Beispielpaar je einen lautgeschichtlichen Wandlungsprozess, der die unterschiedlichen
Lautstände bei den Beispielen erklärt:

a. ahd. winzuril – lat. vinitor: Zweite Lautverschiebung

b. alem. bue – nhd. bauen: Nhd. Diphtongierung

c. mhd. helle – nhd. Hölle: Rundung(e->ö)

d. mhd. leste (engl. last) – bair. letz(e) (= ‚klein’)

e. mhd. lamp, lambes > nhd. Lamm, Lammes : Totale Assimilation mb-mm

f. mhd. stiuz > nhd. Steiß: Nhd. Diphtongierung

g. mhd. palas > nhd. Palast Auslautverhärtung?

h. ahd. (ih) bittu > mhd. (ich) bitte: Restumlaut

i. bair. miad – nhd. müde: Nhd. Monophtongierung

j. ahd. troumen > mhd. tröumen: Nhd. Rundung

Graphematik

94. Was sind die beiden Grundprinzipien von Schriftsystemen? Erklären Sie sie jeweils. In
welche Richtung entwickelte sich die deutsche Schreibung?

Das phonographische Prinzip und hier stehen Zeichen für bestimmte Silbe oder Laute und die
Schrift gibt die Aussprache wieder (z.B. Finnisch)

Beim logographische Prinzip werden Bedeutungseinheiten in Zeicheneinheiten kodiert, sprich


die Zeichen stehen ikonisch für Bedeutungen von Wörtern oder Morphemen. (z.B. Chinesisch)

Deutsch ist dabei ein Mischsystem, da zwar die Aussprache von einem Wort relativ eindeutig
aus seiner Schreibung hergeleitet werden kann, aber es sind lautliche und
semantisch/lexikalische Informationen notwendig.

95. Was sind grundlegende Unterschiede zwischen dem (f)nhd. Schriftsystem und älteren
deutschen Schriftsystemen?

Während beim älteren deutschen Schriftsystem noch Reibelaute unterschiedlich


wiedergegeben werde, es Buchstabenverschmelzungen gibt, versucht wurde möglichst genau
den Laut wiederzugeben (liib – lip) und es keine Einigung in den Schreibtraditionen gibt, gibt
es im frühneuhochdeutschen Schriftsystem ein morphologisches Prinzip (Gleichschreibung
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 41

aller Formen eines Flexionsparadigmas), die Lautwiedergabe wird durch langes ie und
Dehnungs-h ersetzt, die Großschreibung wird entwickelt und auch die Interpunktion wird
ausgebaut.

96. Vor welchem Problem standen die ersten Schreiber des Deutschen bei der
Verschriftlichung des Deutschen? Welche Lösungen wurden gefunden?

Die ersten Schreiber des Deutschen standen vor dem Problem Deutsch mit dem lateinischen
Alphabet zu verschriftlichen, da das lateinische Alphabet ein anderes Phoneminventar hat als
das Deutsche. So war es eben schwierig den Reibelaut [x] wiederzugeben, auch die Umlaute zu
bilden und die Dehnung auszudrücken. Der Reibelaut wird später dann nur mit <ch>
wiedergegeben, für Umlaute gibt es eigene Zeichen und die Dehnung wird durch ein langes ie
oder ein Dehnungs-h ausgedrückt.

97. Welche Möglichkeiten der Dehnungsgraphie gibt es heute? Wie erklärt sich ihre
Entwicklung jeweils sprachhistorisch?

Heute gibt es die ie-Schreibung und die h-Schreibung. Bei der ie-Schreibung geht das [i:] auf
das mhd. ie [ɪə], was im Zuge der nhd. Monophthongierung zu einem Langvokal wurde wie
bei Liebe oder Brief. Bei der Historischen Schreibung wird eben der alte Diphthong in der
Schreibung beibehalten. Zusätzlich wird das ie heute neugeordnet zu Wörtern, die im mhd. ein
kurzes i hatten, das erst durch die Dehnung in offener Tonsilbe lang wurde. Die analoge
Schreibung wäre eben die Interpretation von ie als Längezeichen führt zur Übernahme in
andere Kontexte, in denen zuvor nicht ie geschrieben wurde. Bei der h-Schreibung ist es etwas
anders, da im mhd. h extra gesprochen wurde unf im nhd. eigentlich nurmehr eine Länge
anzeigt und wird es nur noch in der Schreibung beibehalten, der Vokal wird gedehnt (wenn er
nicht schon lang ist) und das unbetonte e in der Aussprache verschwindet. Heute steht eben h
für keine eigenen Laut mehr (außer im Anlaut) und es steht immer nach einem Langvokal und
vor einem Sonorant (r,l,m, n) und wird neuinterpretiert als Längenanzeiger (analoge
Schreibung.)

98. Wie entwickelte sich die Schärfungsgraphie im Deutschen?

Grundsätzlich passiert im Deutschen die Schärfungsgraphie als die Markierung der Vokalkürze
zum Teil durch Doppelkonsonanten (=Geminaten). Im Mittelalter entsprechen
Schreibgeminaten (<bitte>) auch immer Sprechgeminaten, was bedeutet das mhd. gewinnen
eben [ɡəwınnən] ausgesprochen wird. Heute gibt es solche Sprechgeminaten nicht mehr außer
im Dialekt. Im Neuhochdeutschen eben werden die Sprechgeminaten in der Aussprach
42 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

vereinfacht (Degemination) und die Schreibgeminaten bleiben aber erhalten nhd. gewinnen
wird [ɡəvınən] ausgesprochen. (= historische Schreibungen) Im Nhd. sind Schreibgeminaten
keine Anzeiger für Konsonatenlängen mehr, aber sie stehen immer nach Kurzvokalen und
werden uminterpretiert als Anzeiger für Kürze des vorausgehenden Vokals und so werden
Doppelschreibungen in Wörtern übernommen, die in der Aussprache nie eine Geminate
besaßen. (nhd. Gatte (< mhd. gate), nhd. kommen (< mhd. komen) -> analoge Schreibung).

99. Zeichnen Sie die Entwicklung der Großschreibung und der Interpunktion im Deutschen
nach

Entwicklung der Großschreibung: Durch die Minuskel schrieb man im Mittelalter alles klein
und lediglich als Schmuck und Zierde wurden Initialen großgeschrieben und der textbeginn
wird hervorgehoben, was eine Satzanfangsgroßschreibung mit sich bringt. Bis zum Fnhd.
Werden ebenso Begriff wie Gott und Jesus Großgeschrieben (Gott). Erst ab dem 13Jhd.
Entwickelt sich die Großschreibung der Eigennamen vermehr und am dem 17 Jhd. werden alle
Substantive und substantivierte Formen großgeschrieben (nach dem syntaktischen Prinzip –
war lange umstritten)

Interpunktion: Das älteste Satzzeichen ist der Punkt und auch der Doppelpunkt und erst
langsam vom ahd. zum fnhd werden Satzzeichen nach rhythmisch-intonatorischem Prinzip
gesetzt wie z.B. an das Versende. Ab dem 16 Jhd. Gibt es auch eine zunehmende syntaktische
Verdeutlichung durch Virgeln (Schrägstriche), was aber allmählich vom Komma/Beistrich
verdrängt wird und heute werden sie nach dem syntaktischen Prinzip gesetzt.

100. Wenn Sie das nachfolgende Weihnachtslied betrachten – wie würden Sie es anhand der
Schreibung (Großschreibung, Interpunktion usf.) datieren?

Es iſt ein Ros entſprungen / vn̄ hat ein blůmlein


bracht / auß einer wurtzel zart / mitten im kalten
winter Als vns die alten ſungen / wol zu der halben
nacht. auß Jeſſe kam die art /

Ich hätte den Text aufgrund der Großschreibung, weil Ros, Als und Jesse (sprich
Großschreibung von Satzanfangsbuchstaben und Eigennamen werden großgeschrieben) und den
Einsatz von Virgeln als Schrägstriche in das 16 Jahrhundert datiert.

101. Wie ist bei den folgenden Wörtern jeweils die Entstehung der hervorgehobenen nhd.
Schreibung zu erklären? Nennen Sie dabei das zugrundeliegende Prinzip
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 43

a. mhd. gibel > nhd. Giebel : Da es zu einer Dehnung in offener Tonsilbe kommt,
wird im nhd. ie als Längenanzeiger verwendet. Das zugrundeliegende Prinzip ist
die analoge Schreibung, da diese Schreibung ie für [i:] als Folge der fnhd.
Monophthongierung kam.

b. mhd. kint > nhd. Kind : Mit dem t im mhd wurde die Auslautverhärtung
graphisch markiert aber im nhd gibt es das morphologische Prinzip, was besagt,
dass alle Formen eines Flexionsparadigma gleich geschrieben werden sollen
(Kinder, Kindergarten usw.)

c. mhd. zehen > nhd. Zehn : Es handelt sich hier um die historische Schreibung, da
das h im mhd noch ausgesprochen wurde aber im nhd. lediglich in der
Schreibung beibehalten wurde.

Morphologie & Syntax

102. Was ist Allomorphie und wie kann sie entstehen?

Flexion durch Stammmodifikation oder Suppletion erscheinen aus synchroner Sicht i. a. R.


unregelmäßig, das heißt, Flexionsformen sind dann unregelmäßig, wenn sie sich synchron
durch keine Regel herleiten lassen, bei der unregelmäßigen Flexion handelt es sich um
Allomorphie. Eine wichtige Ursache für Allomorphie bzw. die Entstehung von
Unregelmäßigkeiten ist der Lautwandel, beispielsweise der Umlaut.

103. Erläutern Sie, welchen Einfluss Analogie beim morphologischen Wandel hat. Was ist
analogischer Ausgleich?

Analogie ist die regelmäßige Flexion, hier werden Bildungsmuster auf andere Wörter oder
Wortformen übertragen. Dahinter steckt ein Schema (eine Proportion): x1:y1 = x2:y2. Dies
kann man am Beispiel von „backen“ erkennen:

• Alte Flexion (unregelmäßig): back-en, bäck-t, buk, geback-en


• Neue Flexion (regelmäßiger): back-en, back-t, back-te, geback-en

Das Schema dabei ist: x-t und x-te → Proportion (Bsp.): packen : packt : packte → backen :
backt : backte

Analogien können allerdings auch zu Unregelmäßigkeiten führen, beispielsweise bei „winken“,


die alte Flexion war regelmäßig: wink-en, ge-wink-t; die neue Flexion ist unregelmäßiger:
wink-en, ge-wunk-en; hier kann man also folgendes Schema erkennen: x-en; ge-Ablaut-en →
Proportion (Bsp.): trinken : winken und getrunken : gewunken.
44 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

Analogien führen häufig zu einer Angleichung von Flexionsformen in einem Paradigma, das
heißt zu einem (teilweisen) Abbau von Allomorphe → man nennt dies dann „analogischer
Ausgleich“.

104. Erklären Sie kurz den Präteritalausgleich / die Personen- u. Numerusnivellierung / die
Tempusprofilierung in der Entwicklung des deutschen Konjugationssystems und die
Kasusnivellierung / die Numerusprofilierung in der Entwicklung des deutschen
Deklinationssystems

Bei starken Verben führte analogischer Ausgleich des Ablauts im Präteritum zu einer
Angleichung des Stammvokals unterschiedlicher Personen und Numeri (= Präteritalausgleich;
Personen- und Numerusnivellierung) sowie durch die Angleichungen der Präteritumsformen
zu Herausstellung des Präteritums gegenüber dem Präsens (= dies nennt man dann
Tempusprofilierung).

Bsp. „werfen“

Prät. Ind. Mhd. Nhd.


1. Sg. warf warf
2. Sg. würf-e warf-st
3. Sg. warf warf
1. Pl. wurf-en warf-en
2. Pl. wurf-et warf-t
3. Pl. wurf-en warf-en

105. Betrachten Sie folgende Paradigmen – welche Entwicklungstendenzen bei der


Substantivflexion können Sie feststellen?

Ahd. Mhd. Nhd.


daz wort daz wort das Wort
des wortes des wortes des Wortes
demo worte dem worte dem Wort
daz wort daz wort das Wort
diu wort diu wort die Wörter
dero wort der worte der Wörter den Wörtern
dero worto den worten den Wörtern
dem wortum diu wort die Wörter
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 45

Es kommt zu einer Angleichung unterschiedlicher Kasus → Kasusnivellierung sowie zu einer


Angleichung der Singular- bzw. Pluralformen zur Herausstellung des Plurals gegenüber dem
Singular (Numerusprofilierung), dabei kommt es zur „Morphologisierung“ des Umlauts.

106. Was meint „Morphologisierung des Umlauts“?

Der Umlaut betrifft den Wurzelvokal bestimmter Stämme und tritt, morphologisch betrachtet,
in zwei Arten von Fällen auf:

• Vor bestimmten Suffixen → Umlaut ein morphologisch konditionierter phonologischer


Prozess, er schafft Allomorphie in Stämmen
• Ohne eine im Significans präsente Bedingung → Umlaut ein morphologischer Prozess,
nämlich eine Art von innere Modifikation, welche grammatische Bedeutungen wie
Plural (Bsp. in Wörter) oder Konjunktiv (Bsp. in schlügen)

107. Beschreiben Sie die Entstehung von Affixen durch Grammatikalisierung anhand eines
Beispiels. Illustrieren Sie daran das Phänomen Grammatikalisierung

Die Entstehung von Affixe durch Grammatikalisierung besteht aus vier-Teilprozessen, die
häufig auftreten:

1. Desemantisierung: Verlust des semantischen Gehalts


2. Extension: Die desemantisierte Einheit kann nun auch in neuen Kontexten eingesetzt
werden
3. Dekategorialisierung: Das Zeichen verliert ursprünglich morphosyntaktische
Eigenschaften und ggf. auch seine Selbstständigkeit
4. Erosion: Verlust phonetischer Substanz

Affixe waren ursprünglich selbstständige Wörter (freie Morpheme) im Satz, mit der Zeit
verlieren sie ihre konkrete Bedeutung (Desemantisierung) und ihre syntaktische
Selbstständigkeit (d. h. sie werden zu gebundenen Morphemen). Dabei handelt es sich um
keinen abrupten Vorgang, sondern um einen langen Prozess. Synchron nebeneinander von
gleichartigen Formen, die aber unterschiedliche Status (allenfalls funktional-semantische
Variation bzw. Polysemie), wie man beispielsweise hier erkennen kann:

Heiden vs. heiden-:

Er bekehrte die Heiden; Christen und Heiden → aber: Heidenspaß, Höllenaufwand,


Höllenarbeit.
46 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

Es wird häufig angenommen, dass die Grammatikalisierung ein gerichteter Prozess ist (ein
Prinzip der Undirektionalität) – aus lexikalischen Zeichen können grammatische Zeichen
werden, umgekehrt jedoch nicht!

108. Wie stark ist das unterstrichene Morphem grammatikalisiert: Affenhitze. Wie nennt man
derartige Morpheme?

Bei dem unterstrichenen Morphem handelt es sich um ein Präfix(oid), da es vorne im Wort
steht, es ist stark grammatikalisiert → Affen-hitze

109. Wie entstanden „Fugenelemente“? Was sind „Fugenelemente“?

Fugenelemente sind ein zusätzliches Element in Komposita und Derivationen. Im Gegensatz zu


allen anderen Wortbildungseinheiten sind Fugenelemente semantisch leer und bedeuten nichts.
Sie haben ausschließlich morphologische Funktionen.

Bsp: Rindsbraten → {rind}{s}{braten}. Fugenelemente entstanden oft von ursprünglichen


Flexionsmorphemen, beispielsweise in Nas-en-spitze, dieses leitet sich vom alten
Genitivmorphem her: (der) Nas-en (Spitze).

Fugenelemente entstanden also aus Zusammenrückungen von Nominalphrasen, aus der


Flexionsform, die das jeweilige Erstglied in der entsprechenden Nominalphrase hatte, wie man
im Beispiel erkennen kann. Fugenelemente waren daher ursprünglich Flexionsmarker.

110. Illustrieren Sie die Grammatikalisierung für ein syntaktisches und ein morphologisches
Beispiel: Was veränderte sich jeweils wie, wieso handelt es sich dabei um
Grammatikalisierung?

Syntaktisches Bsp. Er geht schlafen oder Er wird schlafen → Er geht langsam schlafen und Er
wird bald tief schlafen → hier wird am Anfang eine häufig auftretende syntaktische
Konstruktion umgedeutet (das nennt man dann Reanalyse). Die Desemantisierung setzt ein und
durch die Extension ändert sich die Möglichkeit der Satzumstellung und/oder der Ergänzung.

Morphologisches Bsp. Ich gehe in das Haus = Ich gehe ins Haus → die Morphologisierung
kann in zwei Teilprozesse aufgespalten werden (Klitisierung und Fusion). Während der
Klitisierung wird die lautlich reduzierte Einheit aufgrund der Frequenzzunahme zum Klitikon
(in diesem Beispiel das Wort ins). Anfangs besteht zwischen der klitisierten und der getrennten
Form kein Bedeutungsunterschied.
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 47

Mit der Zeit können sich jedoch unterschiedliche Bedeutungen entwickeln. Bsp. Ich gehe zu
der Schule und Ich gehe zur Schule → durch den Prozess der Fusion wird eine Abtrennung der
grammatikalisierten Einheit (des Klitikons) unmöglich, an deren Ende ist sie ein Affix.

111. Beschreiben Sie kurz die Entstehung periphrastische Konstruktionen mit haben bzw.
werden

Satzklammer → Fixierung der rechten Satzklammer verzögert ggü. der Fixierung der linken
Satzklammer, im Ahd. noch häufig Elemente hinter dem indefiniten Element:

Dû habest mih kenómen uzer mînero muoter uumbo (N Ps.) (‚Du hast mich aus dem Schoß
meiner Mutter geholt‘

Klammerkonstruktionen nahmen im Mhd. und Fnhd. zu, wofür u. a. auch die zunehmende
Verwendung periphrastischer Verbformen eine Voraussetzung waren (Bsp. die Entstehung von
haben- und werden-Pariphrasen). Die Hauptsatzklammer setzte sich beim Übergang vom Fnhd.
zum Nhd. durch, zugleich wächst die Zahl der Elemente im Mittelfeld. Dabei zeigen sich u. a.
Korrelationen mit sozialen/situativen Faktoren – in formeller Schriftlichkeit (offiziellen
Dokumenten) bereits in Fnhd. Zeit wesentlich häufiger als in informeller Schriftverkehr →
private Korrespondenz.

112. Beschreiben Sie kurz die Entstehung des Definit- und des Indefinitartikels

Definitartikel

Grammatikalisierung von der/die/das (vom Demonstrativ zum Artikel):

• Im Ahd. zunächst noch kein Artikel, semantische Funktion des Artikels (Anzeige von
Definitheit) durch andere Mittel (Bsp. Kontext, Wortstallung, Kasus, Adjektivflexion
etc.): endi got chiscuof mannan (I) (‚Und Gott schuf den Menschen‘)
• Ausbildung des Artikels ausgehend vom Definitpronomen ther („dieser“), stufenweise
Reduktion der demonstrativen Funktion: Verwendung im anaphorischen Gebrauch
(Rückverweis auf Vorerwähntes): Inti gisah einan figboum […]. Inti mitthun sie tho in
morgan fuorun, gisahun then figboum (T) (‚Und er sah einen Feigenbaum (…). Und
während sie da am Morgen gingen, sahen sie diesen Feigenbaum‘)
• Verwendung im anamnestischen Kontexten (Verweis auf etwas, was „Eingeweihten“
aus dem Diskurs bekannt ist): dhiu magad christan gebar in fleische (I) (‚Diese Frau,
die Christus gebar‘)
48 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

• Verwendung in abstrakt-situativen Kontexten (Verweis auf Allgemeinbekanntes): Into


sar gibot her thie iungiron stigan in skef (T) (‚Und dann befahl er den Jüngern ins Boot zu
steigen‘)
• Assoziativ-anaphorischer Gebrauch (Verweis auf etwas, was in einem
Assoziationsverhältnis zu etwas steht, was bereits erwähnt wurde): thaz skef in mittemo
seuue uuas giuuorphozit mit dhen undon (T) (Das Boot wurde mitten auf der See von
den Wellen hin- und hergeworfen‘)
• Die Generalisierung des Artikels folgte dabei auch der Belebtheitshierarchie: Belebtes
> Unbelebtes > Abstraktes, z. T. auch bei Eigennamen

Indefinitartikel

Grammatikalisierung von ein (vom Zahlwort zum Artikel):

• Grammatikalisierung des Indefinitartikels erfolgte später als beim Definitartikel (Ahd.,


Mhd.) und weniger vollständig
• Zunächst ein nur als Zahlwort verwendet, indefinite Kontexte ohne Artikel: Huuer uuas
mezssendi in einemu hantgriffa uuazssar? (I) (‚Wer hat das Wasser mit einem [einzigen]
Handgriff gewogen?‘); chindh uuirdit uns chiboran (I) (‚ein Kind wird uns geboren‘)
• Ausdehnung auf Kontexte, in denen spezifische Exemplare aus einer Menge
ausgesondert werden sollen: Gieng tho zuo ein buochari inti quad imo (T) (‚Da kam
einer von den Schriftgelehrten zu ihm und sagte ihm‘)
• Zunehmende Verwendung von ein als Indefinitum, d. h. als Marker für spezifische, aber
unbekannte Referenten, die neu eingeführt werden – damit wird zunächst das
Außergewöhnliche des Referenten unterstrichen: Fuar er thuruh Samariam, zi einera
burg er thar tho quam (O II) (‚Er reiste durch Samarien und kam dort zu einer
[gewissen] Stadt‘)
• Mit der Zeit wird ein als gewöhnlicher Marker von neuen, spezifischen, jedoch
unbekannten Referenten generalisiert; weitere Generalisierung führt zum Gebrauch in
generischen Kontexten, d. h. der ein wird auch für Unspezifisches verwendet: samo-so
in einero uesti (N Bo II) (‚wie in [irgend]einer Festung‘)
• Später auch Verwendung in prädikativen Kontexten, allerdings bis heute nicht
obligatorisch: ir sît ein künegîn (NL) (‚Ihr seid doch (eine) Königin‘)
• Indefinitartikel bei Massennomen bis heute in der Standardsprache nicht
grammatikalisiert, Indefinitartikel im Plural nur in einigen Dialekten vorhanden

113. Beschreiben Sie die Entstehung der Subjunktion dass


SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 49

Grammatikalisierung von dass (vom Demonstrativpronomen zur Subjunktion):

Entwicklung ausgehend von einem Demonstrativpronomen, das kataphorische einen Folgesatz


verwies: joh gizálta in sar thaz, thiu sálida untar ín was (O II) (‚und er sagte ihnen sofort das:
das Heil war unter ihnen‘)

Ausgehend von solchen Sätzen kommt es zu einer Reanalyse: das wird nicht mehr als Objekt
des ersten Satzes analysiert, sondern als Bestandteil des zweiten Satzes, den er einleitet → führt
zu einer stärkeren syntaktischen Integration zweier zunächst unabhängiger Sätze, wobei die
graphische Unterscheidung von daß/dass/das noch relativ jung ist (ca. seit 16. Jh.)

114. Thematisieren Sie kurz die Entwicklung der Verbstellungstypen / der Klammersyntax /
von Possessivkonstruktionen / der Satznegation im Deutschen
Verbstellungstypen
Die Verbstellung war im Idg. relativ frei (?), im Germanischen war die Verbstellung variabel,
ggf. abhängig von diskurspragmatischen Faktoren → Verbstellung im HS häufig, wenn es zu
einem Situationswechsel kommt oder ein neuer Diskursreferent eingeführt wird, aber auch
Verbletztstellung im HS ist noch häufig belegt, ansonsten tritt auch Verbzweitstellung
zunehmend auf .
In späteren ahd. Texten Verbzweitstellung als Normalfall im deklarativen HS (ggf. befördert
durch die Tendenz zur Voranstellung fokussierter Elemente), Verbletztstellung wird immer
stärker zum Dependenzsignal (d.h. dass ein Nebensatz vorliegt); im Mhd., Fnhd. und Nhd.
Verbzweitstellung in deklarativen HS als Normalfall, Verbletztstellung im HS nahezu
ausschließlich auf poetische Texte beschränkt (und wohl durch Reim und Metrum bedingt).
Klammersyntax
• Fixierung der rechten Satzklammer verzögert ggü. der Fixierung der linken
Satzklammer, im Ahd. noch häufig Elemente hinter infiniten Element
• Klammerkonstruktionen nehmen im Mhd. und Fnhd. zu, wofür u.a. auch die
zunehmende Verwendung periphrastischer Verbformen eine Voraussetzung war (Bsp.
die Entstehung von haben- und werden-Periphrasen)
• Durchsetzung der HS-Klammer beim Übergang vom Fnhd. zum Nhd., zugleich wächst
die Zahl der Elemente im MF
• Dabei zeigen u.a. Korrelationen mit sozialen/situativen Faktoren – in formeller
Schriftlichkeit (offiziellen Dokumenten) bereits in Fnhd. Zeit wesentlich häufiger als in
informeller Schriftlichkeit (private Korrespondenzen)
Possesivkonstruktionen
50 SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL

• Ahd.: Pränominale Genitive dominieren, jedoch auch schon von-Konstruktionen


(ursprünglich mit lokalem Sinn)
• Zunehmende Nachstellung von Genitivattributen (mögliche Ursache: Schwund der
Genitivendungen) > zunächst bei nichtbelebten/indefiniten Possessoren, dann auch bei
Personenbezeichnungen abgesehen von Eigennamen
• Zunehmender Schwund des Genitivs aus der Mündlichkeit (ab 15. Jh.), zugleich
zunehmende Genitivverwendung in schriftlichen Texten
• Ersatzkonstruktionen für Genitivkonstruktionen in gesprochenen Varietäten/Dialekten
→ u.a. possessiver Dativ (womöglich ausgehend von einer Reanalyse ditransitiver
Konstruktionen: Bsp. Ich bringe [dem Vater] [seinen Hut] Ich bringe [dem Vater seinen
Hut])
Satznegation
Zunächst wurde die Negation durch die präverbale Partikel ni ausgedrückt, je nach Realisierung
auch als ne, no, na, nu, neo, en. Für die Satznegation wurde vor allem ni genutzt. Das
Althochdeutsche erbte diese Negationspartikel aus dem Germanischen und Indogermanischen.
Dies stellt den ältesten Typus der Negation dar.
115. Was ist Jespersens Zyklus?
Typologisch denkende Linguisten schreiben dem Deutschen (und anderen Sprachen,
beispielsweise dem Französischen und dem Englischen) i.d.R. ein zyklisches Verfahren zu, das
die Negation festlege → „Jespersens Zyklus“ (benannt nach Otto Jespersen 1917). Demnach
würden Negationsausdrücke abgeschwächt/klitisiert, dann gestärkt durch Kombination mit
freiem Negationsausdruck, dann wieder abgeschwächt durch den Schwund des klitischen
Negationswortes, woraufhin der Zyklus erneut beginnt . . . → allerdings stellt der Zyklus nur
eine Idealisierung dar!
Allgemein

116. Datieren Sie den folgenden Textausschnitt so genau Sie es können (zumindest die
Sprachepoche) – berücksichtigen Sie alles, was Sie in der Lehrveranstaltung gelernt
haben. Nennen Sie möglichst viele Argumente, die für Ihre Datierung sprechen / die
gegen eine andere Datierung sprechen [Bonuspunkte möglich – bei exakter,
umfangreicher Begründung] Das V. Capitel.

DA machte ich gleich den Anfang/ meinen ungluͤcklichen Zuſtand/ den ich vor Augen
ſahe/ zu betrachten/ und zu gedencken/ wie ich mich foͤrderlichſt außdrehen moͤchte;
wohin aber? darzu war mein Verſtand viel zu gering/ einen Vorſchlag zu thun/ doch hat
SPRACHVARIATION & SPRACHWANDEL 51

es mir ſo weit gelungen/ daß ich gegen Abend in Wald bin entſprungen. Wo nun aber
weiters hinauß?
Neuzeit → nach 1500 auf jeden Fall

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