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Soziale Räume und kulturelle Praktiken

Über den strategischen Gebrauch von


Medien Georg Mein Editor Markus
Rieger Ladich Editor
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Georg Mein/Markus Rieger-Ladich (Hg.)
Soziale Räume und kulturelle Praktiken
Georg Mein/Markus Rieger-Ladich (Hg.)
Soziale Räume und kulturelle Praktiken
Über den strategischen Gebrauch von Medien
Gedruckt mit Unterstützung der Universität Bielefeld.

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek


Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld


Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld
Lektorat & Satz: Olja Rehl, Bielefeld
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
ISBN 3-89942-216-3

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INHALT

Einleitung 7
GEORG MEIN/MARKUS RIEGER-LADICH

Soziale Räume ...

Das Konzept des sozialen Raums: Eine zentrales Achse in


Pierre Bourdieus Gesellschaftstheorie 15
FRANZ SCHULTHEIS

Pädagogische Räume – Räume der Pädagogik.


Ein Versuch über das Dickicht 27
KARIN PRIEM

In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den


Sozialwissenschaften 47
ROLAND LIPPUNER/JULIA LOSSAU

Kulturwissenschaftliche Orientierung und Interdiskurstheorie der


Literatur zwischen ,horizontaler‘ Achse des Wissens und ,vertikaler‘
Achse der Macht. Mit einem Blick auf Wilhelm Hauff. 65
JÜRGEN LINK

Das Andere der ‚Kultur‘: die ‚Kultur‘ der Kulturwissenschaften 85


JÜRGEN FOHRMANN

... und kulturelle Praktiken

„Schizoide Disposition“ oder „gespaltener Habitus“?


Eine pädagogische Lektüre von Franz Kafkas Brief an den Vater. 101
MARKUS RIEGER-LADICH

5
Alles nach Plan, alles im Griff. Der diskursive Raum der
DDR-Literatur in den Fünfziger Jahren. 123
KLAUS-MICHAEL BOGDAL

Messbare Dichtung? Eine Feldstudie zur exakten


Literaturwissenschaft in den 1960er Jahren. 149
OLIVER MÜLLER

Pierre Bourdieu und Jürgen Habermas angesichts


der Ereignisse von 1968. 181
INGRID GILCHER-HOLTEY

Ernster Comic, komische Wissenschaft. Art Spiegelmans Maus. 203


ANNINA KLAPPERT

Zeit und Raum in Dramen der 1990er Jahre – Elfriede Jelinek,


Rainald Goetz und Marlene Streeruwitz. 235
FRANZISKA SCHÖSSLER

Von Zauberfrauen und Superweibern. Hera Linds Roman


Das Superweib (1994) als Erfolgsgeschichte der neunziger Jahre. 257
OLIVER SILL

Substanzielle und strukturelle Dimensionen kulturellen Kapitals.


Habitusspezifische Sinnbildungsprozesse bei der Rezeption
von Fotografien. 271
BURKHARD MICHEL/JÜRGEN WITTPOTH

Humanressourcen. Anmerkungen zur Semantik des


Wissenschaftsraums. 291
GEORG MEIN

Epilog 313

Autorinnen und Autoren 315

6
Georg Mein/Markus Rieger-Ladich
SOZIALE RÄUME UND KULTURELLE PRAKTIKEN.
EINE EINLEITUNG

Obwohl es in der deutschsprachigen Soziologie gegenwärtig zum guten Ton


zu gehören scheint, die Vernachlässigung der räumlichen Dimension sozialer,
gesellschaftlicher und kultureller Phänomene zu beklagen und eine Intensivie-
rung der theoretischen Anstrengungen zu deren systematischer Berücksichti-
gung anzumahnen1, so spricht doch manches dafür, dass Michel Foucault für
seine gänzlich anders ausfallende Einschätzung nicht weniger Plausibilität be-
anspruchen kann. In seinem Systematisierungsversuch unterschiedlicher Hete-
rotopien, den er unter den Titel Andere Räume gestellt hat, findet sich eine
knappe historische Skizze, in der er die Vermutung formuliert, dass die Fixie-
rung auf die Geschichte, die noch das 19. Jahrhundert charakterisiert habe,
längst von einer Orientierung an räumlichen Ordnungen abgelöst worden sei:
„Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtapo-
sition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Aus-
einander.“2
Mustert man daraufhin etwa die Geschichte der Soziologie, fällt auf, dass
sich schon zu Beginn der noch jungen Disziplin namhafte Vertreter wiederholt
räumlichen Phänomenen sozialer Ordnungen zuwenden. So arbeitet etwa Ge-
org Simmel in seine Soziologie nicht nur den bereits 1903 skizzierten Entwurf
einer ‚Soziologie des Raumes‘ ein, in der er die Neutralisierung körperlicher
Nähe als Voraussetzung für die Entwicklung sozialer Differenzierung behaup-
tete, sondern rückt darüber hinaus in das Zentrum seines vielleicht bekanntes-
ten Exkurses die Figur des Fremden, um die unterschiedlichen Effekte von
Nähe und Distanz, von Vertrautheit und Fremdheit, von Inklusion und Exklu-
sion zu demonstrieren.3 Und als es bald darauf – in den 1920er Jahren – zur
Begründung der Wissenssoziologie durch Karl Mannheim kommt, greift die-
ser ebenfalls auf die Kategorie des Raums zurück. Allerdings nimmt er eine

1 Vgl. etwa Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt/Main 2001.


2 Michel Foucault: „Andere Räume“, in: ders., Short Cuts, hg. v. Peter Gente/Hei-
di Paris/Martin Weinmann, Frankfurt/Main 2001, S. 20-38, hier S. 20.
3 Vgl. Georg Simmel: „Soziologie des Raumes (1903)“, in: ders., Schriften zur
Soziologie. Eine Auswahl, hg. u. eingel. v. Heinz-Jürgen Dahme/Otthein Ramm-
stedt, Frankfurt/Main 1995, S. 221-242; ders., Soziologie. Untersuchungen über
die Formen der Vergesellschaftung, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt/Main
1992, S. 764-771.

7
GEORG MEIN/MARKUS RIEGER-LADICH

bedeutsame Verschiebung vor: Während sich Simmel noch vornehmlich für


Phänomene des physischen Raums interessierte, arbeitet Mannheim nun mit
einem Modell des sozialen Raums. Zu einem zentralen Element seiner Wis-
senssoziologie wird dieses, weil es ihm die Möglichkeit eröffnet, das berühm-
te Theorem von der „Seinsverbundenheit des Wissens“ sozialwissenschaftlich
zu reformulieren und es dadurch gleichzeitig von allen metaphysischen Rest-
beständen zu entschlacken.4 In der Folge arbeitet er in unterschiedlichen wis-
senssoziologischen Studien überzeugend heraus, dass die spezifische Lage-
rung innerhalb des sozialen Raums zu einer unvermeidlichen Präfiguration
des Handelns und Erlebens führt: Wann immer politische Überzeugungen, re-
ligiöse Gesinnungen oder etwa kulturelle Interessen zum Gegenstand einer
Untersuchung werden, muss – so die Forderung Mannheims – der sozial-
räumliche Index in Rechnung gestellt und die erhebliche Prägekraft des „kon-
junktiven Erfahrungsraums“ berücksichtigt werden.5
Unter jenen Vertretern der Sozialwissenschaften, die derzeit mit einer
Theorie des sozialen Raums arbeiten, war (und ist) der vor zwei Jahren ver-
storbene französische Soziologe Pierre Bourdieu zweifellos einer der einfluss-
reichsten und inspirierendsten. Obwohl zwischen seinem Entwurf einer refle-
xiven Soziologie und Mannheims Beiträgen zur Wissenssoziologie durchaus
deutliche Affinitäten existieren, greift er doch kaum einmal auf dessen Stu-
dien zurück, als er – angeregt und sensibilisiert nicht zuletzt durch Erfahrun-
gen bei ethnologischen Forschungen in der Kabylei6 – in den 1960er Jahren
seine Theorie des sozialen Raums auszuarbeiten beginnt. Anders als Mann-
heim, der die unterschiedlichen Erfahrungsräume auf einer neutralen, horizon-
talen Achse anzusiedeln scheint, entwirft Bourdieu ein zweidimensionales
Modell, das geeignet ist, die Herrschaftsbeziehungen zwischen den unter-
schiedlichen Segmenten des sozialen Raums präzise abzubilden. Abgesichert
durch eine ausdifferenzierte Kapitaltheorie, die neben dem ökonomischen
auch kulturelles, soziales und symbolisches Kapital kennt, entwickelt er ein
streng relationales Modell des sozialen Raums, das ausschließlich über die
Beziehungen definiert wird, die die einzelnen Akteure miteinander unterhal-
ten. Setzt man nun die unterschiedlichen Positionen, die über den Gesamtum-
fang und das besondere Profil des Kapitals definiert werden, zueinander in
Beziehung, fallen zahlreiche Agglomerationen und Clusterbildungen ins Au-
ge. Diese verweisen zwar auf verwandte Modi des Handelns, Wahrnehmens
und Bewertens und hohe Übereinstimmungen des Lebensstils – sie können
freilich nicht als Indiz für existierende soziale Klassen gelten: Obwohl sich in
den gesellschaftlichen Machtkämpfen herrschende und beherrschte Fraktionen
gegenüberstehen, existieren soziale Klassen doch nur in einem gleichsam vir-
tuellen Modus. Bourdieus Modell eines hierarchischen sozialen Raums zeich-
net daher das Bild eines vibrierenden Gesellschaftskörpers, der von dem Be-

4 Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Frankfurt/Main 1995.


5 Karl Mannheim: Strukturen des Denkens, Frankfurt/Main 1980, S. 229.
6 Vgl. hierzu den Beitrag von Franz Schultheis, in diesem Band.

8
SOZIALE RÄUME UND KULTURELLE PRAKTIKEN. EINE EINLEITUNG

mühen um die Akkumulation von Kapital, dem Ringen um die Definitionsho-


heit und dem Streben nach Einfluss auf die Wechselkurse der unterschiedli-
chen Kapitalsorten geprägt ist – und das über keinerlei trostspendende Rah-
mung verfügt.7 Dass sich dieser Verzicht als Vorzug erweist, hat Dirk Ruste-
meyer herausgestellt: „Das Modell des sozialen Raumes, wie Bourdieu es
konstruiert, bezieht seine empirische und theoretische Überzeugungskraft aus
der schonungslosen Abkehr von geschichtsphilosophischen Hoffnungen im
Anschluß an Marx. Seine Konsistenz eröffnet theoretisch keinen Ausweg aus
der Totalität des sozialen Raumes, der immer ein Raum sozialer Ungleichheit
ist.“8
Vor diesem Hintergrund unternehmen es die Beiträge des vorliegenden
Bandes, kulturelle Praktiken in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern
zu untersuchen. Den einzelnen Studien, die vornehmlich das Feld der Wissen-
schaft, der Literatur und der Kunst inspizieren und sich dabei etwa Fachdis-
kursen und literarischen Texten, Dramen und Comics, Fotografien und Brie-
fen zuwenden, ist daher der Bezug auf das Modell des sozialen Raums ge-
meinsam. Weiterhin ist für die Fallstudien, die im zweiten Teil des Sammel-
bandes zusammengestellt sind, charakteristisch, dass sie von der Annahme
ausgehen, dass der Gebrauch von Medien nur in seltenen Ausnahmefällen ge-
zielt eingesetzte Distinktionsstrategien zeigt: Die Wahl eines Forschungsge-
genstandes, die Lektüre eines Romans oder die Interpretation einer Fotografie
folgen ungleich häufiger einer wenig bewussten Logik, in der sich die Aus-
prägung eines bestimmten Habitus verrät. Die Beiträge rechnen daher mit
Handlungsmustern, die einem praktischen Sinn geschuldet sind, der aus der
passgenauen Abstimmung von Feld und Habitus hervorgeht. Bourdieu hat
diese eigentümliche Form der Handlungslogik, die hier im Zusammenspiel
mit unterschiedlichen Medien untersucht wird, denn auch als eine „intentions-
lose Intentionalität“ bezeichnet, „die im Sinne eines Prinzips von Strategien
ohne strategischen Plan, ohne rationales Kalkül, ohne bewusste Zwecksetzung
funktioniert.“9
Gerahmt werden die einzelnen Fallstudien, die im zweiten Teil des Bandes
präsentiert werden, durch Beiträge, die im ersten Teil das Modell des sozialen
Raums nicht nur vorstellen und problematisieren, sondern es darüber hinaus
auch dadurch profilieren, dass sie es von verwandten Theoriemodellen kontra-
stiv absetzen. Franz Schultheis erläutert zu Beginn Bourdieus Konzept des so-
zialen Raums, indem er dessen bislang vernachlässigten biographischen Wur-
zeln herausarbeitet: In Form einer Lektüre von dessen frühen ethnologischen

7 Vgl. etwa Pierre Bourdieu: „Sozialer Raum und ,Klassen‘“, in: ders., Sozialer
Raum und ,Klassen‘. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt/Main
1995, S. 7-46.
8 Dirk Rustemeyer: Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Mo-
ral, Hamburg 2001, S. 102.
9 Pierre Bourdieu: „Antworten auf einige Einwände“, in: Klaus Eder (Hg.), Klas-
senlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit
Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt/Main 1989, S. 395-410, hier S. 397.

9
GEORG MEIN/MARKUS RIEGER-LADICH

Arbeiten weist er nach, dass Bourdieus erstaunliche biographische Flugbahn


ihn gleichsam dafür prädestinierte, die Bedeutung sozial-räumlicher Katego-
rien zu erfassen und diese zu einem zentralen Element seiner Gesellschafts-
theorie auszuarbeiten. Karin Priem demonstriert – auch mit Blick auf Arbei-
ten Michel Foucaults und Maurice Halbwachs’ – in ihrem Beitrag, dass die
erziehungswissenschaftliche Reflexion auf Theoriemodelle angewiesen ist,
die der Bedeutung räumlicher Ordnungen systematisch Rechnung tragen.
Weil sich Bildung, Erziehung und Sozialisation meist in der Überlagerung un-
terschiedlicher Raumtypen vollziehen, bleibt deren theoretisch angeleitete
Analyse für pädagogische Diskurse unverzichtbar. Vor einer leichtfertigen
und unkritischen Verwendung räumlicher Kategorien warnen hingegen Ro-
land Lippuner und Julia Lossau. Im Rückgriff auf neuere Arbeiten der politi-
schen Geographie und des Postkolonialismus setzen sie sich kritisch mit
Bourdieus Theoriemodell auseinander und sensibilisieren sowohl für die theo-
retischen als auch für die politischen Folgen, die sich einstellen können, wenn
kontingente soziale Artefakte als unumstößliche, physische Gegebenheiten be-
trachtet werden. Jürgen Link entwirft in seinem Beitrag ein zweidimensiona-
les topologisches Modell, das es ihm erlaubt, Pierre Bourdieus Begriff des so-
zialen Feldes, Michel Foucaults Konzept der diskursiven Formation und Nik-
las Luhmanns Rede von gesellschaftlichen Funktionssystemen miteinander zu
vergleichen und voneinander abzugrenzen. Dabei stellt er heraus, dass die be-
sondere Stärke von Bourdieus Theoriemodell in der differenzierten Analyse
der ‚vertikalen‘ Dimension der Kultur liegt. Jürgen Fohrmann nähert sich im
letzten Beitrag des ersten Teils dem Modell des sozialen Raums ebenfalls über
den Begriff der Kultur. Er skizziert die wichtigsten Verschiebungen, an deren
vorläufigem Ende die Ausprägung des zeitgenössischen Kulturbegriffs steht,
deckt die unterschiedlichen theoretischen Optionen auf und vergleicht ab-
schließend Bourdieus Entwurf einer sozial-räumlichen Soziologie mit jenem
der soziologischen Systemtheorie und der Cultural Studies.
Die Fallstudien, die das Modell des sozialen Raums an unterschiedlichen
Formen kultureller Praxis zu erproben suchen, werden eingeleitet von Markus
Rieger-Ladich. In seiner Interpretation von Franz Kafkas ‚Brief an den Vater‘
(1919) wirbt er dafür, die problematische Beziehung zwischen Vater und
Sohn nicht länger als Ausdruck einer vermeintlich archetypischen Konflikt-
konstellation zu interpretieren, sondern eher als Folge einer fortschreitenden
sozialen Entfremdung, die von der extrem beschleunigten – und überaus ris-
kanten – Durchquerung des sozialen Raums durch die Mitglieder der Familie
Kafka ausgelöst wird. Klaus-Michael Bogdal wendet sich der DDR-Literatur
in den 1950er Jahren zu und arbeitet in Form einer Feldstudie die Techniken
heraus, durch die der literarische Raum formiert und reguliert wurde. Als be-
deutsame Praktiken, die zur Funktionalisierung der Literatur für politische
Zwecke eingesetzt wurden, identifiziert er insbesondere die Betonung des
Kollektivismus und die Einrichtung von Kontrollinstanzen. Oliver Müller
wendet sich dem Feld der Literaturwissenschaft zu und entwirft die machtkri-
tische Skizze einer Debatte der westdeutschen Germanistik, die an Bourdieus

10
SOZIALE RÄUME UND KULTURELLE PRAKTIKEN. EINE EINLEITUNG

Theorie des wissenschaftlichen Feldes geschult ist. Die Diskussion um die


Mathematisierbarkeit literarischer Texte, die in der zweiten Hälfte der 1960er
Jahre geführt wird, interpretiert er als Auseinandersetzung um die Anerken-
nung unterschiedlicher Wissensformen innerhalb des akademischen Feldes,
bei der sich Gruppen von Akteuren unterschiedlicher Rangordnungen gegen-
überstehen. Während die Ereignisse von 1968 hier bereits erwähnt werden,
weil sie für die Rahmung der Auseinandersetzung zwischen Etablierten und
Außenseitern bedeutsam sind, konzentriert sich Ingrid Gilcher-Holtey in ih-
rem Beitrag auf dieses Phänomen: In Gestalt einer historischen Studie skiz-
ziert sie das akademische Feld in Frankreich und der BRD in diesen Jahren
und die Bedeutung der Vergangenheit des Nationalsozialismus, um vor die-
sem Hintergrund die theoretischen Reflexionen und öffentlichen Interventio-
nen von Pierre Bourdieu und Jürgen Habermas zu vergleichen. Es gelingt ihr
auf diese Weise, die unterschiedlichen Reaktionen als Antworten auf je spezi-
fische Strukturen des wissenschaftlichen und des politischen Feldes zu inter-
pretieren und zueinander in Beziehung zu setzen. Annina Klappert rückt in ih-
rem Beitrag den Comic in den Mittelpunkt und dechiffriert die literaturwis-
senschaftlichen Bemühungen, diese eigentümlich hybride und gleichsam ‚an-
stößige‘ Gattung zu kategorisieren, als diskursive Gesten der Macht, die den
Raum der Germanistik zu formieren suchen. Am Beispiel von Art Spiegel-
mans ‚Maus‘ (1986/1991) zeichnet sie nach, wie eine Wissenschaft, die sich
über Seriosität und Ernsthaftigkeit zu definieren bemüht, auf einen Comic re-
agiert, der nicht nur die Unterscheidung in höhere und minderwertige Kunst
unterläuft, sondern auch auf selbstreflexive Weise die Shoah thematisiert –
und von diskursiven Ausgrenzungsstrategien daher kaum getroffen werden
kann. Der Umgang mit der Shoah und die Verdrängung des Nationalsozialis-
mus ist auch für die Interpretation von Dramen der 1990er Jahre bedeutsam,
die Franziska Schößler vornimmt. Mit Blick auf Dramen von Elfriede Jelinek,
Rainald Goetz und Marlene Streeruwitz führt sie vor, dass gegenwärtig tem-
porale Erzählmuster von räumlichen Vorstellungen abgelöst werden: Immer
häufiger tritt an die Stelle linearer Zeitmodelle die Organisation eines Raums
sprachlicher Zeichen, der dem historischen Stillstand und dem Verblassen der
Emanzipationserzählungen geschuldet scheint. Oliver Sill wirft im Anschluss
daran die Frage auf, ob der häufig diagnostizierte Differenzierungsprozess des
gesellschaftlichen Raums, der zur Ausbildung unterschiedlicher Milieus führe,
nicht von gegenläufigen Phänomenen der Entdifferenzierung begleitet werde.
Zu diesem Zweck unterzieht er Hera Linds Roman ‚Das Superweib‘ (1994)
einer kultursoziologisch informierten Lektüre und formuliert die Vermutung,
dass dessen großem, milieuübergreifenden Erfolg bei der weiblichen Leser-
schaft ein (illusionäres) Glücksversprechen zugrunde liegt: Zentrale Anliegen
der Emanzipation wie berufliche Selbstverwirklichung und sexuelle Selbstbe-
stimmung sollen erreicht werden können, ohne die Idylle der Kleinfamilie
preisgeben und die Geborgenheit der Partnerschaft aufgeben zu müssen.
Burkhard Michel und Jürgen Wittpoth beziehen sich in ihrem Beitrag auf die
aktuelle Debatte um Bourdieus Begriff des kulturellen Kapitals und warnen

11
GEORG MEIN/MARKUS RIEGER-LADICH

vor einem substantialistischen Missverständnis: Kulturelles Kapital erweist


sich weniger in der Kenntnis bestimmter, für kanonisch gehaltener Kunstwer-
ke, als vielmehr im Umgang mit Kulturgütern aller Art. Wie sich ein bestimm-
ter Habitus in distinkte kulturelle Praktiken übersetzt, zeigen sie am Beispiel
einer Fotografie, die drei Gruppen vorgelegt wurden, die sich hinsichtlich des
kulturellen Kapitals signifikant voneinander unterscheiden und je spezifische
Rezeptionsformen entwickeln. Beschlossen werden die Fallstudien durch ei-
nen Beitrag von Georg Mein, der sich den derzeitigen Diskussionen um eine
Reform des Bildungswesens zuwendet und dabei insbesondere die Auswir-
kungen auf den Wissenschaftsraum kritisch in den Blick nimmt: Am Beispiel
von Erklärungen und Dokumenten des Bologna-Prozesses entzaubert er die
Verlautbarungen, die einer Rhetorik der Steigerung und der Selbstverantwor-
tung verpflichtet sind, als Elemente einer Semantik des Neoliberalismus, die
die zunehmende Dominanz des ökonomischen und die Gefährdung des wis-
senschaftlichen Feldes indiziert.
Was bei der Analyse kultureller Praktiken unterstellt wurde, gilt selbstver-
ständlich auch für die Beiträge, die in diesem Band zusammengestellt sind –
dass es zu groben Verzerrungen und Verfälschungen führt, wenn sie unabhän-
gig von der Position interpretiert werden, die ein Akteur innerhalb des sozia-
len Raums einnimmt. Pierre Bourdieus Forderung nach „wissenschaftlicher
Reflexivität“ nachzukommen10, bedeutet daher weit mehr, als bereitwillig
einzuräumen – was wir gerne tun –, dass keine/r der beteiligten Autor/innen
ihre bzw. seine Ergebnisse einer souveränen und unangreifbaren Beobachter-
position verdankt und dass diese immer auch wissenschaftlichen Fachkulturen
und persönlichen Medienpräferenzen geschuldet sind. Es würde darüber hin-
aus auch bedeuten, etwa der Frage nachzugehen, wie die Wahl des Themas,
der Zuschnitt der Fragestellung und die Reichweite der These mit der Position
korreliert, die die bzw. der Einzelne (gegenwärtig) innerhalb des wissen-
schaftlichen Feldes einnimmt. Aber diese, zweifellos sehr interessante Frage
zu beantworten und die Verstrickungen der Autor/innen in die Eigengesetz-
lichkeiten des wissenschaftlichen Feldes aufzudecken, sei der Leserin und
dem Leser vorbehalten...
Zum Schluss gilt unser Dank neben den einzelnen Autorinnen und Auto-
ren der Beiträge auch dem sympathischen Team des transcript-Verlags, das
nicht nur die Idee zu diesem Band von Beginn an gefördert, sondern auch alle
weiteren Schritte in sehr angenehmer und kompetenter Weise begleitet hat.
Olja Rehl sind wir ebenfalls zu großem Dank verpflichtet: Ihr gelang das be-
sondere Kunststück, die zahlreichen Manuskripte formal zu vereinheitlichen
und in druckreife Typoskripte zu verwandeln. Schließlich bedanken wir uns
bei Karin Priem, die sofort ihr Einverständnis erklärte, als wir sie darum ba-
ten, eine ihrer Fotografien als Abbildung auf der Titelseite verwenden zu dür-

10 Vgl. Pierre Bourdieu: „Narzißtische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexi-


vität“, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die
Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/Main 1993, S. 365-374.

12
SOZIALE RÄUME UND KULTURELLE PRAKTIKEN. EINE EINLEITUNG

fen, und bei Jochen Sperber, in dessen Kölner Plattenladen Normal wir das
Max Goldt-Zitat entdeckten, das den Band beschließt. Er gab uns auch die
„sachdienlichen Hinweise“, die es uns ermöglichten, die Textstelle letztend-
lich doch noch aufzuspüren.

Literaturverzeichnis

Bourdieu, Pierre: „Antworten auf einige Einwände“, in: Klaus Eder (Hg.), Klassen-
lage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre
Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt/Main 1989, S. 395-410.
Bourdieu, Pierre: „Narzißtische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexivität“, in:
Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der e-
thnographischen Repräsentation, Frankfurt/Main 1993, S. 365-374.
Bourdieu, Pierre: „Sozialer Raum und ,Klassen‘, in: ders., Sozialer Raum und ,Klas-
sen‘. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt/Main 1995, S. 7-46.
Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: ders., Short Cuts, hg. v. Peter Gente/Heidi
Paris/Martin Weinmann, Frankfurt/Main 2001, S. 20-38.
Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/Main 2001.
Mannheim, Karl: Strukturen des Denkens, hg. v. David Kettler/Volker Meja/Nico
Stehr, Frankfurt/Main 1980.
Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, Frankfurt/Main 1995.
Rustemeyer, Dirk: Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral,
Hamburg 2001.
Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaf-
tung, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt/Main 1992.
Simmel, Georg: „Soziologie des Raumes (1903)“, in: ders., Schriften zur Soziologie.
Eine Auswahl, hg. u. eingel. v. Heinz-Jürgen Dahme/Otthein Rammstedt, Frank-
furt/Main 1995, S. 221-242.

13
Franz Schultheis
D A S K O N ZE P T D E S S O Z I A L E N R A U M S .
E I N E ZE N T R A L E S A C H S E I N P I E R R E B O U R D I E U S
GESELLSCHAFTSTHEORIE

Ich erinnere mich, dass ich vor vielen Jahren


manchmal zu meinen Studenten sagte: ‚Nehmt ein
Blatt Papier und zeichnet mir eine gesellschaftli-
che Welt.‘ Fast alle zeichneten ein Pyramide. Seit-
dem sehe ich, um ein anderes Bild zu verwenden,
die gesellschaftliche Welt wie ein Mobile von Cal-
der, bei dem es kleine Universen gibt, die sich in
einem mehrdimensionalen Raum miteinander und
gegeneinander drehen und wenden.
Pierre Bourdieu1

Das Konzept ‚Raum‘ hat in Pierre Bourdieus Theorie der gesellschaftlichen


Welt zweifellos einen zentralen und systematischen Stellenwert inne. Visuali-
siert und plausibilisiert anhand der Calderschen Raum-Kompositionen präsen-
tiert sich Bourdieu der „globale gesellschaftliche Raum“ abstrakt als ein
„Feld, d.h. zugleich als ein Kräftefeld, dessen Notwendigkeit sich den Akteu-
ren, die sich in ihm bewegen, aufzwingt, wie auch als ein Kampffeld, in dem
die Akteure mit je nach der von ihnen in der Struktur des Kräftefeldes einge-
nommenen Position variierenden Mitteln und Zielen aufeinander treffen und
hierbei dazu beitragen, dessen Struktur zu erhalten oder zu verändern.“2 Raum
heißt bei Bourdieu aber auch konkret ein Ensemble an Positionen, die mehr
oder weniger weit voneinander entfernt koexistieren und deren Distanzen mit-
tels eines mehrdimensionalen Koordinatensystems beschreibbar und messbar
sind: wie zwei Städte auf dem Globus lassen sie sich mittels der Längen- und
Breitengrade situieren und hinsichtlich ihrer Entfernung bestimmen. Das Kon-
zept ‚Raum‘ ist für Bourdieus Blick auf die soziale Welt zunächst dadurch
von heuristischer Bedeutung, dass es zum Denken in Relationen und Struktu-

1 Pierre Bourdieu in: Lire les sciences sociales, 1989-1992, zit. nach: Sciences
Humaines, No spécial: L’ œuvre de Pierre Bourdieu 2002, S. 94.
2 Pierre Bourdieu: „Espace social et champ du pouvoir“, in: ders., Raisons prati-
ques, Paris 1994, S. 55.

15
FRANZ SCHULTHEIS

ren zwingt und sich in besonderer Weise dazu anbietet, einer substanti-
alistischen bzw. essentialistischen Spontantheorie vorzubeugen. Gegenstand
der Soziologie ist für Bourdieu zuvorderst das Kräfte- und Spannungsverhält-
nis zwischen individuellen und kollektiven Akteuren in einem von eben die-
sen Kräften aufgespannten und entfalteten Raum. Die gesellschaftliche Wirk-
lichkeit manifestiert sich für ihn daher primär in Gestalt der sich wechselseitig
bedingenden wie auch einander ausschließenden Elemente, die in ihren Wech-
selwirkungsbeziehungen diesen Raum erst zur Geltung bringen.
Die den Raum bevölkernden Elemente sozialer Wirklichkeit, Individuen
oder Gruppen, existieren in dieser relationalen Sicht immer vermittelt durch
ihre Differenz, d.h. sie besetzen relative Positionen in einem Raum von
Relationen, welcher zwar als solcher gar nicht unmittelbar sichtbar ist,
dennoch aber seine wirkungsmächtige Realität ständig durch die in ihm und
durch ihn vermittelten Manifestationen der Elemente unter Beweis stellt.
Diese Vorstellung von Differenz und Abstand ist für das bourdieusche
Konzept des gesellschaftlichen Raums ausschlaggebend.3 Letzterer wird von
sich wechselseitig ausschließenden und einander äußerlichen Positionen
gebildet, deren Nachbarschaft oder Entfernung immer auch mit Wertigkeiten
in einem hierarchisch geordneten Neben-, Unter- und Übereinander
einhergeht. Da ein Individuum in diesem Ensemble an interdependenten
Positionen zu einem gegebenen Zeitpunkt stets nur einen Platz einnehmen
kann, zielt Bourdieus Soziologie darauf ab, den Zusammenhang zwischen der
Position eines Individuums und dessen Dispositionen für spezifische Formen
des Urteilens und Handelns zu analysieren.
Für Bourdieus Sicht der individuellen Akteure hat das konsequent relatio-
nale Denken zur Folge, dass diese immer als sozial Positionierte gesehen wer-
den – eine mit den Prämissen etwa des methodologischen Individualismus un-
vereinbare epistemologische Grundannahme, die bei Bourdieus Theorie des
Habitus ausschlaggebend wird. Jedes Individuum befindet sich hiernach zu ei-
nem gegebenen Zeitpunkt seiner biographischen Flugbahn an einem spezifi-
schen Ort des sozialen Raums und nimmt die gesellschaftliche Welt von die-
sem Standort aus perspektivisch wahr4, wobei sich die bis zu diesem Zeit-
punkt sukzessive eingenommenen früheren Standpunkte aber noch mehr oder
minder ausgeprägt in relativierenden oder reflexiven Haltungen (Sichtweisen
und Erwartungen) zum Ausdruck bringen können.
Für Bourdieus Sicht der gesellschaftlichen Klassen wiederum führt die
mittels des Raum-Paradigmas systematisierte relationale Sicht der Sozialwelt
ebenfalls zu einer Entsubstantialisierung und einer kritischen Rezeption des

3 Diese Sicht erinnert nicht grundlos an die strukturalistische Sprachtheorie.


4 Vgl. zur Unterscheidung von Lage und Stellung, von Position und Perspektive:
Eva Barlösius: „,Das Elend der Welt‘. Bourdieus Modell für die ,Pluralität der
Perspektiven‘ und seine Gegenwartsdiagnose über die ,neoliberale Invasion‘“,
in: BIOS 12 (1999), S. 3-27.

16
DAS KONZEPT DES SOZIALEN RAUMS

Marx’schen Klassenkonzeptes.5 Ausschlaggebend für die soziologische Sicht-


weise ist daher nicht die Zergliederung und Teilung der sozialen Welt in Klas-
sen, die lediglich Ausdruck einer rigiden, objektivistischen und unhistorischen
Denkweise wäre, sondern die Konzeptualisierung von sozialen Räumen, in
denen individuelle und kollektive Elemente in unterschiedlichen Konfigurati-
onen auftauchen und dann je nach soziohistorischem Kontext als Klassen ab-
gebildet und entsprechend analysiert werden können. Wichtig ist es aus Bour-
dieus Sicht, die für einen solchen Raum konstitutiven Schließungs- und Aus-
schließungslogiken aufzudecken bzw. sie theoretisch zu konstruieren.
Soweit, so gut! Die hier einzulösende These vom zentralen Stellenwert des
Raum-Konzeptes in Bourdieus Theorie der gesellschaftlichen Welt würde
aber viel zu kurz greifen, wenn man sich von einer solchen ohnehin recht tri-
vialen Einsicht zu einer exegetischen Betrachtungsweise seines Werks auf der
Suche nach expliziten Verwendungen des Raum-Begriffs verführen ließe und
darüber vergäße, dass die bourdieusche Sicht der gesellschaftlichen Welt als
solche durch und durch eine sozialräumliche ist und ihr diese Dimension
schon von ihrer Genese her zu eigen ist.
Um dieser These im Folgenden die notwendige Plausibilität zu geben,
werden wir den Versuch wagen, gleichsam im Schnelldurchgang durch das
Werk Bourdieus, mit besonderer Berücksichtigung seiner Anfänge als ethno-
logischer und soziologischer Autodidakt in Algerien, dieses soziologische
Denken in seinen vielfältigen Variationen themenzentriert ins Gedächtnis zu
rufen und dessen Konstruktionslogik im Hinblick auf gesellschaftliche Gegen-
stände durch ein konzentrisches Kreisen um diese zentrale Achse seines
Werkes freizulegen.

B i o g r a p h i s c h e F l u g b a h n u n d S i c h t d e r g e s e l l s c h a f t l i c h en
Welt bei Pierre Bourdieu

Fragt man nach dem erkenntnistheoretischen Stellenwert des Raum-Paradig-


mas in der bourdieuschen Wissenschaft von der gesellschaftlichen Welt, so
fällt auf, wie eng dieses mit seiner eigenen biographischen Flugbahn und den
mit ihr einher gehenden gesellschaftlichen Erfahrungen verknüpft ist. So be-
tont Bourdieu etwa gleich zu Beginn seiner posthum erschienenen Studie Ein
soziologischer Selbstversuch die besonderen Prägungen, die von der beachtli-
chen Spanne seines Weges durch den sozialen Raum und der „praktischen
Unvereinbarkeit der sozialen Welt, die er verbindet ohne sie zu versöhnen“,
ausgingen.6 Anders gesagt war für Bourdieu Erkenntnis in sozialräumlichen

5 Franz Schultheis/Michael Vester: „Soziologie als Beruf. Hommage an Pierre


Bourdieu“, in: Mittelweg 36 11,5 (2002), S. 41-58. Vgl. hierzu auch: Pierre
Bourdieu: „Sozialer Raum und ,Klassen‘“, in: ders., Sozialer Raum und ,Klas-
sen‘. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt/Main 1995, S. 7-46.
6 Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt/Main 2002, S. 9.

17
FRANZ SCHULTHEIS

Kategorien nicht allein Grundvoraussetzung einer der gesellschaftlichen


Wirklichkeit in ihren konstitutiven Merkmalen angemessenen Sicht, sondern
zugleich auch Grundlage soziologischer Reflexivität, die nach seiner Auffas-
sung zuallererst die gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen und Grenzen
des Erkennens sozialer Wirklichkeit beinhaltet. Reflexivität setzt in bourdieu-
scher Sicht voraus, dass sich das erkennende Subjekt der Position im gesell-
schaftlichen Raum bewusst ist, von der her es seinen Blick auf eben diese
Welt lenkt und von der aus es diese wahrnimmt und interpretiert. Da die ge-
sellschaftliche Welt durch eine Vielzahl an Schließungen und Ausschließun-
gen konstituiert wird, kennt sie keine neutralen Standorte und Standpunkte,
keinen frei schwebenden und ungebundenen Blick. Die Schwerkraft der ge-
sellschaftlichen Welt macht daher auch vor dem gelehrten Beobachter nicht
halt: auch er ist zunächst und zuvorderst ‚in‘ der gesellschaftlichen Welt und
kann sich nur Dank einer reflexiven Objektivierung schrittweise und partiell
aus seiner eigenen Verhaftetheit lösen und diese Distanz wiederum zur Selbst-
verortung und Standortbestimmung im gesellschaftlichen Raum nutzen.
Beschäftigt man sich nun mit Bourdieus Werk und seinem biographischen
Werdegang, so fällt auf, wie stark er sich von Beginn an um soziologische Re-
flexivität bemüht hat. Wie ein roter Faden zieht sie sich von den frühesten
Schriften aus der Zeit der algerischen Feldforschung über die ethnologischen
Untersuchungen über die agrarische Gesellschaft im heimatlichen Béarn bis
zu den großen Studien Die feinen Unterschiede, Sozialer Sinn oder Homo aca-
demicus. Hinter dieser Dauerbaustelle bourdieuschen Denkens steht der Ver-
such, die erkenntnistheoretische Problematik Kants ‚auf die Füße zu stellen‘
und in der neukantianischen Tradition Ernst Cassirers und vor allem Emile
Durkheims, dieser beiden so ungleichen und doch wahlverwandten Bezugs-
größen seiner Problemstellung, dann in marxscher Art und Weise zu ra-
dikalisieren – also die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Erkennt-
nis in einem ‚soziologischen‘ Kantianismus aufgehen zu lassen.7 Dabei ging
es Bourdieu stets darum, das von Emile Durkheim und Marcel Mauss ent-
worfene erkenntnistheoretische Programm konsequent fortzusetzen und eine
Art soziologischer ‚Genealogie‘ kognitiver, moralischer und ästhetischer Ka-
tegorien zu entwerfen.8 Während sich jedoch diese großen Vorläufer darauf

7 Bourdieu machte in seinen frühen algerischen Studien bereits mit der Idee eines
solchen soziologischen Kantianismus ernst, in dem er Zeitstrukturen als in öko-
nomischer Praxis verankert analysierte und rekonstruierte. Zeit und Raum als die
nach Kant grundlegenden Kategorien der Wahrnehmung von Wirklichkeit wer-
den schon beim jungen Bourdieu, der sich autodidaktisch vom Philosophen hus-
serlscher Orientierung zum Anthropologen, Ethnologen und Soziologen wandelt,
als in gesellschaftlicher Praxis im Sinne der Marxschen Feuerbach-Thesen ange-
legt analysiert. Vgl. hierzu Pierre Bourdieu: Die zwei Gesichter der Arbeit. In-
terdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnolo-
gie der algerischen Übergangsgesellschaft, Konstanz 2000.
8 „Es war durchaus nicht so, [...] daß nämlich die logischen Beziehungen zwischen
den Dingen die Grundlage für die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen

18
DAS KONZEPT DES SOZIALEN RAUMS

beschränkten, eine soziologische ‚Kritik der Urteilskraft‘ am Gegenstand ar-


chaischer Klassifikationssysteme und Repräsentationsstrukturen vorzuführen,
versuchte Bourdieu, mit der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von
Erkenntnis ‚ernst‘ zu machen: sie nicht nur in die heutige ‚Lebenswelt‘ zu
versetzen, sondern auch in eine Frage nach den Grundlagen, Möglichkeiten
und Grenzen des erkennenden Subjekts umzumünzen. Dass er damit bei sich
selbst nicht halt machte, war eine der radikalen Konsequenzen, die jenes Un-
ternehmen der Herstellung und Aufrechterhaltung eines ‚Dauerzustands‘ so-
ziologischer Reflexivität von Beginn an auszeichnete. Und doch wurde diese
erkenntniskritische Haltung nicht ‚frei gewählt‘, vielmehr resultierte sie aus
einer ganzen Reihe von soziobiographischen Brüchen und Einschnitten.9

gebildet hätten; in Wirklichkeit dienten die sozialen Beziehungen als Vorbild für
die logischen; [...] In der Tat haben wir gesehen, dass diese Klassifikationen
nach dem Modell der nächstliegenden und fundamentalsten sozialen Organisati-
on gestaltet wurden.“ (Emile Durkheim/Marcel Mauss: „Über einige primitive
Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstel-
lungen“, in: Emile Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, Frank-
furt/Main 1990, S. 250.)
In dieser scheinbar lapidaren Feststellung findet sich u.E. ein zentraler theoreti-
scher Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Wissenssoziologie gesellschaft-
licher Repräsentations- und Klassifikationssysteme. Ihre theoretische Perspektive
am Gegenstand archaischer Symbolsysteme entwickelnd, vergaßen Durkheim
und Mauss jedoch, auf den Aspekt der je sozio-historisch gegebenen gesell-
schaftlichen Organisation und Teilung der Klassifikations- und Repräsentations-
arbeit einzugehen, der ja gerade die Beschäftigung mit symbolischen Ordnungs-
systemen ‚moderner’ Gesellschaften so unvergleichlich schwieriger gestaltet.
Seit der Entstehung von Klassengesellschaften sind es je spezifische gesell-
schaftliche Eliten, die sich der Aufgabe symbolischer Repräsentationsarbeit aus
‚Berufung’ bzw. von Berufs wegen annehmen und dieses Monopol auf legitime
Repräsentation von ‚Wirklichkeit’ immer auch im Sinne eines Herrschaftsinstru-
mentes nutzen. Der bourdieuschen Soziologie ist es folglich nicht darum bestellt,
den bereits kursierenden Sichten der gesellschaftlichen Welt eine vermeintlich
‚objektive’, wissenschaftlich begründete Alternative entgegenzustellen, sondern
vielmehr mittels der Analyse der Kämpfe zwischen konkurrierenden Repräsenta-
tionen von Wirklichkeit deren Spezifikum als Produkt und Konstrukt eben jener
Durchsetzungen sichtbar zu machen.
9 Bourdieu stellt die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der eigenen subjek-
tiven Erkenntnis der gesellschaftlichen Welt ausgehend von seiner biographi-
schen Flugbahn, anstatt von dem beim Erkennen eingenommenen Standort und
den zu ihm hinführenden lebensgeschichtlichen Erfahrungen innerhalb eines
hochgradig differenzierten und hierarchisierten gesellschaftlichen Raums abzu-
sehen und es in der Reinheit theoretischer Reflexion zu verorten. Er unterstreicht
daher nicht ohne Grund, wie viel seine Kompetenz zur kritischen Reflexion und
Objektivierung alltäglicher gesellschaftlicher Erfahrung der oft schmerzvollen
Erfahrung der sozialen Entwurzelung und Fremdheit verdankt.

19
FRANZ SCHULTHEIS

Die Genese einer sozialräumlichen Theorie der


gesellschaftliche Welt: Skizze einer bio-bibliographischen
Rekonstruktion

Auffällig ist die erhebliche Diskrepanz zwischen sozialer Herkunft und dem
Einschlagen einer schulischen Laufbahn, die ungeheure soziale Zukunftsmög-
lichkeiten zu eröffnen versprach und Bourdieu sowohl im physischen Raum
(vom Provinznest über die Provinzhauptstadt nach Paris, die Capitale aller
Kapitalien, ja schließlich zum weltweit nachgefragten und gewissermaßen
‚globalisierten‘ Autor) als auch im sozialen Raum (vom Sohn eines kleinen
Postbeamten bäuerlicher Herkunft, über die atemberaubende Flugbahn durch
alle Etagen der französischen Bildungspyramide bis hin in den Olymp des
französischen Geisteslebens, dem Collège de France) von seinem angestamm-
ten gesellschaftlichen Ort wegkatapultierte. Diese grundlegende Erfahrung der
Entwurzelung setzt sich fort in jener noch grundlegenderen Erschütterung al-
ler Gewißheiten, die der Zögling der berühmten Pariser Elitehochschule Ecole
Normale Supérieure angesichts der dramatischen Erfahrungen während eines
mehrjährigen Aufenthalts im Algerien des Befreiungskrieges erfuhr.10 Bewäl-
tigen wird Bourdieu diese tiefgehende Krise nicht zuletzt durch seine ‚Kon-
version‘ vom Philosophen zum Ethnologen und schließlich zum Soziologen.
Angesichts einer traditionalen Gesellschaft, die sich in einem tief greifenden
Umbruch befindet, durchschaut Bourdieu die naive Relativität der dem philo-
sophischen Habitus eigentümlichen Selbstverkennung und entdeckt in der
Auseinandersetzung mit der ganz eigenen Rationalität einer sich gegenüber
dem eindringenden Geist der ‚Moderne‘ und seines Ökonomismus sperrenden
Praxis die Grenzen des akademischen Theoretisierens. Angestoßen von die-
sem massiven Praxisschock, entscheidet er sich dafür, seine bis dahin in philo-
sophischer Form gestellten theoretischen Fragen umzuwidmen, von den Hö-
hen der theoretischen Spekulation in die Niederungen der gesellschaftlichen
Praxis hinab zu steigen und deren eigene Rationalität, jenseits ihrer gängigen
Vereinnahmungen durch den intellektuellen Ethnozentrismus und seiner aka-
demischen Fehlschlüsse, im Umgang mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit
selbst zu ergründen. Fortan weigert er sich konsequent, wie er es nennt, „den

10 Vgl. hierzu im Einzelnen Franz Schultheis: „Algerien 1960: Zur Genese der
Bourdieuschen Theorie der gesellschaftlichen Welt“, in: Margareta Steinrücke
(Hg.), Pierre Bourdieu: Politisches Forschen, Denken und Eingreifen, Hamburg
2004, S. 14-33; Franz Schultheis: „Pierre Bourdieu und Algerien. Eine Wahlver-
wandtschaft“, in: Pierre Bourdieu, In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, hg.
v. Franz Schultheis und Christine Frisinghelli, Graz 2003, S. 9-20; Franz Schult-
heis: „Algerien 1960 – ein soziologisches Laboratorium“, in: Boike Rehbein/
Gernot Saalmann/Hermann Schwengel (Hg.), Pierre Bourdieus Theorie des Sozi-
alen. Probleme und Perspektiven, Konstanz 2003, S. 25-40.

20
DAS KONZEPT DES SOZIALEN RAUMS

Philosophen zu spielen“.11 Fremdheit bzw. Distanz gegenüber den vertrauten


und eingefleischten Positionen und Dispositionen werden bei Bourdieu jetzt
zu einer dauerhaften Distanzierung von den vermeintlichen Selbstverständ-
lichkeiten der eigenen, akademischen Lebenswelt – und somit zur wertvollen
Ressource für eine Selbstreflexion und Selbstobjektivierung, die sich gegen
jede exotistische Verzauberung des ‚Anderen‘ stemmt.
Bourdieu beginnt in Algerien, einem wie er sagt „gigantischen soziologi-
schen Laboratorium“, sich autodidaktisch Denkweisen, Methoden und Instru-
mente der Sozialwissenschaften anzueignen.12 Er experimentiert mit allen
greifbaren quantitativen und qualitativen Methoden und liefert dann schon
bald ein klassisches Musterbeispiel der soziologischen Analyse des gesell-
schaftlichen Raums. Am Beispiel des kabylischen Hauses und seiner symboli-
schen Ordnung entwickelt er eine umfassende Sozialtopographie dieser Ge-
sellschaft und ihrer kosmologischen Ordnungsvorstellungen.13 Bei dieser Stu-
die spielen jene geschlechtsspezifischen Schließungen und Ausschließungen
eine zentrale Rolle, die Bourdieu später unter ihrer modernen Variante der Di-
chotomie ‚privat-öffentlich‘ als sozialräumlich institutionalisierte Form der
Männerherrschaft analysieren wird. Bourdieus strukturalistisches Gesellen-
stück, von dem er sich später teilweise distanzieren wird, analysiert die dimor-
phe Organisation des gesellschaftlichen Raums entlang der Geschlechterlinie
und kann als zentraler Beitrag zur Analyse der Ordnungs- und Herrschafts-
funktion des sozialen Raums angesehen werden. Dieser frühe Aufsatz macht
zugleich deutlich, mit welcher Akribie Bourdieu die Homologien zwischen
physischem Raum und sozialem Raum analysierte und welche enorme symbo-
lische Macht er der räumlichen Ordnung beimaß. In seinen sozialtopologi-
schen Analysen der algerischen Alltagswelt analysierte er erstmals die For-
men und Funktionen sozialräumlicher Segregation, wie sie etwa in der Tei-
lung der Welt in ‚Orte der Männer‘ und ‚Orte der Frauen‘ zur Geltung kamen
und entwickelte bereits hier ansatzweise die These von der Wahlverwandt-
schaft von Habitat und Habitus.
Von Algerien führte ihn 1960 der Weg zurück nach Frankreich, und zwar
in die Heimat des Béarn, wo er gemeinsam mit seinem algerischen Schüler
und Freund Abdelmalek Sayad den Versuch unternahm, die ethnologischen
Prinzipien seiner algerischen Feldforschung auf die eigene soziale Welt an-
zuwenden. Von einer Soziologie des noch immer ausgeprägt „traditionellen“
Béarn richtete sich dann der soziologische Blick Bourdieus auf Paris – und da-
mit von der ländlichen Welt auf die der Pariser Studenten, von der Frage nach

11 Vgl. Franz Schultheis: „Initiation und Initiative: Entstehungskontext und Entste-


hungsmotive der Bourdieuschen Theorie der sozialen Welt“, in: P. Bourdieu, Die
zwei Gesichter der Arbeit, S. 145-162.
12 Siehe im Einzelnen Pierre Bourdieu: Travail et travailleurs en Algérie, Paris-La
Haye 1963; Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologi-
schen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/Main 1976.
13 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frank-
furt/Main 1987.

21
FRANZ SCHULTHEIS

den bäuerlichen Strategien sozialer Besitzstandswahrung auf jene nach der


Reproduktionslogik sozialer Ungleichheit in modernen Gesellschaften unter
den Bedingungen der Illusion der Chancengleichheit beim Zugang zu Bil-
dungsgütern und kulturellem Kapital.14 En passant sei hier auch angemerkt,
dass sich die Stadt Paris für die Entwicklung einer sozialtopologischen Sicht
der gesellschaftlichen Welt geradezu wie ein Laboratorium anbietet, wo sich
„Orts-Effekte“, wie Bourdieu sie unter dem gleich lautenden Kapitel des Ge-
meinschaftswerks Das Elend der Welt beschreibt, wie unter einem Vergröße-
rungsglas beobachten lassen.15 Tatsächlich erscheint Paris in den verschiede-
nen empirischen Studien Bourdieus als ein Ort, an dem physischer Raum und
sozialer Raum in besonders ausgeprägter Form überein zu stimmen scheinen,
man denke etwa an die für den Raum der Positionen wie auch jenen der Le-
bensstile so massiv prägende Opposition „rive gauche-rive droite“, die sich
fast wie eine generativen Transformationsgrammatik der dichotomen Struktu-
rierung gesellschaftlicher Beziehungen ausnimmt.16
Bildung, die nach Max Weber, der Bourdieu schon in Algerien zum stän-
digen Begleiter geworden war, das zentrale ständisches Unterscheidungsmerk-
mal moderner Gesellschaften ist, gilt ihm nun als ausschlaggebender Faktor
der gesellschaftlichen Differenzierung17, dem er in seiner Konzeption des ge-
sellschaftlichen Raums bildlich gesprochen die Rolle eines Längengrades quer
zur Koordinate der Verteilung ökonomischen Kapitals zugestehen wird. In der
Folge wird sich Bourdieus zweidimensionales Modell des gesellschaftlichen
Raums, welches auf der Kombination dieser beiden Faktoren der sozialen Po-
sitionierung beruht, in unterschiedlichen Studien als empirisch fruchtbares
theoretisches Konstrukt erweisen und zugleich auch als empiriegesättigte the-

14 Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, Les Héritiers. Les étudiants et la culture,


Paris 1964; Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron: La Reproduction. Eléments
pour une théorie du système d’enseignement, Paris 1970.
15 Vgl. Pierre Bourdieu: „Ortseffekte“, in: ders. u. a., Das Elend der Welt. Zeugnis-
se und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997, S.
159-167.
16 Vgl. hierzu etwa Bourdieus Analyse der Education sentimentale von Gustave
Flaubert, die sich zugleich auch als höchst aufschlussreiche Analyse der unter-
schiedlichen Machtfelder, die Paris prägen, lesen lässt: Pierre Bourdieu: Die Re-
geln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/Main
1999.
17 Vgl. hierzu Franz Schultheis/Stephan Egger/Andreas Pfeuffer: „Bildungsfor-
schung in einer Soziologie der Praxis: Pierre Bourdieu“, in: Jahrbuch Bildung
und Arbeit 1 (1996), hg. v. Axel Bolder u. a., Bielefeld, S. 312-335; Franz Schul-
theis/Andreas Pfeuffer/Pierre Bourdieu: „Mit Weber gegen Weber“, in: Franz
Schultheis/Stephan Egger/Andreas Pfeuffer (Hg.), Pierre Bourdieu: Das religiöse
Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000, S. 111-129;
Franz Schultheis/Stephan Egger/Andreas Pfeuffer: „Vom Habitus zum Feld. Re-
ligion, Soziologie und die Spuren Max Webers bei Pierre Bourdieu“, in: Pierre
Bourdieu: Das religiöse Feld, S. 131-176.

22
DAS KONZEPT DES SOZIALEN RAUMS

oretische Grundannahme über die Strukturen der gesellschaftlichen Welt in


der Moderne fungieren.
Pierre Bourdieu, selbst Kind dieser Bildungsgesellschaft, der er, wie er im-
mer wieder betonte, seine gesamte soziale Existenz verdankte, fragt in seinen
für die 1960er Jahre so richtungsweisenden Forschungen über das Bildungs-
system nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen eines ‚Marktes symboli-
scher Güter‘, der nicht nur Bildungsgüter ‚verteilt‘ und darüber gesellschaft-
liche Verkehrsformen prägt, sondern gerade auch die Formen der Aneignung
dieser Güter, den ‚Habitus‘ des ‚Gebildeten‘ und sein Verhältnis zur sozialen
Welt. Hier kommt es zu einer weiteren Zuspitzung der bourdieuschen Frage
nach den gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis: die ge-
sellschaftliche Welt, dies ist der unvermeidliche Schluss, ist zutiefst von sozi-
alen Herrschaftsbeziehungen durchdrungen. Bourdieus ‚Kritik der Urteils-
kraft‘ und seine Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse gehen von nun an Hand
in Hand, das Unternehmen eines soziologischen Kantianismus nimmt immer
deutlicher die Umrisse einer Herrschaftssoziologie an, in der die symbolische
Ordnungen von Gesellschaften in ‚weberscher‘ Art und Weise als eine Radi-
kalisierung des marxschen Materialismus weitergedacht werden.18
Es folgen soziologische Untersuchungen, in denen diese kritische Reflexi-
vität an je besonderen, für Bourdieu jedoch ganz bezeichnenden Gegenstän-
den erprobt wird. Der Fotoliebhaber Bourdieu19 unterwirft seine kulturelle
Praxis, seine persönlichen Vorlieben einer systematischen Reflexion im Hin-
blick auf deren gesellschaftliche Bedingungen20, der Kunstliebhaber Bourdieu
geht daran, die – zunächst eigene – ‚Liebe zur Kunst‘ zum Gegenstand einer
Untersuchung über die Museumsbesucher verschiedener Länder und Einrich-
tungen zu machen und dabei die Frage nach den sozialen Grundlagen der äs-
thetischen Erfahrung zu stellen.21 All diese Fragestellungen münden schließ-
lich ein in die für unsere Frage nach Bourdieus Konzept des sozialen Raums
wohl maßgebliche Studie: Die feinen Unterschiede des Geschmacks und die
gesellschaftlichen Grundlagen der Kategorien ästhetischer Wahrnehmung.
Hier entzündet Bourdieu ein Feuerwerk soziologischer Reflexivität, dessen
‚teilnehmender Objektivierung‘, untermauert durch eine strenge Methodik und
ein massives Aufgebot statistischer Daten, keine noch so beiläufige Erschei-
nung der ‚gesellschaftlichen Urteilskraft‘ entgeht.22 Die hier eindringlich vor-
geführten Potentiale dieser Reflexivität zeigen sich nicht zuletzt im Vermö-

18 Vgl. St. Egger/A. Pfeuffer/F. Schultheis: Vom Habitus zum Feld, S. 131-176.
19 Pierre Bourdieu: „,Teilnehmende Objektivierung: Fotografische Zeugnisse einer
untergehenden Welt‘. Interview mit Franz Schultheis“, in: Camera Austria 75
(2001), S. 8-14.
20 Pierre Bourdieu u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der
Photographie, Frankfurt/Main 1981.
21 Pierre Bourdieu u. a.: L’amour de l’art. Les musées d’art et leur public, Paris
1966.
22 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Ur-
teilskraft, Frankfurt/Main 1987.

23
FRANZ SCHULTHEIS

gen, jene zweifache Wirklichkeit von Gesellschaft, die sich in den subjektiven
Strukturen des Wahrnehmens und Urteilens, Denkens und Handelns und den
objektiven Strukturen der Klassifizierung und Hierarchisierung von Haltungen
und Handlungen niederschlägt, an den Tag zu bringen.
Schließlich muss die Rede auf die herausragende Bedeutung einer spezifi-
schen Methode der statistischen Datenanalyse kommen und damit der zentra-
len Rolle des Korrespondenzanalyse innerhalb der bourdieuschen Sicht und
Theorie des gesellschaftlichen Raums Rechnung getragen werden. Die Kor-
respondenzanalyse wird dem Leser Bourdieuscher Werke, allen voran der Stu-
die Die feinen Unterschiede, als ein hilfreiches Mittel der Visualisierung der
Verteilung von Positionen und Manifestationen im Raum des Gesellschaftli-
chen in Erinnerung sein. Mittels dieser alles andere als ‚trivialen‘ Methode der
Datenanalyse und -präsentation, mit der sich Bourdieu schon in den 1960er
Jahren im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit Vertretern des INSEE, des
Amtes für Statistik, vertraut machte, setzte er ein sich als besonders effizient
erweisendes Erkenntnisinstrument ein, welches seinen Sozialstrukturanalysen
eine besondere Prägung gab. In gewissem Sinne stellen sie die soziologische
‚Brille‘ dar, mittels der sozialräumliches Sehen durch die Visualisierung eben
jener Räumlichkeit und Mehrdimensionalität der gesellschaftlichen Welt nicht
nur möglich, sondern unumgänglich wird. Gleichwohl erfüllt die Korrespon-
denzanalyse mehr als nur rein darstellungstechnische Funktionen. Sie bildet
nicht nur abstrakte und nur statistisch messbare Beziehungen ab, was schon
als solches von großem heuristischen Wert wäre, sondern verkörpert bzw. ma-
terialisiert gewissermaßen das für Bourdieus räumliche Sicht der gesellschaft-
lichen Welt ausschlaggebende ‚probabilistische‘ Denken, welches so häufig
als ‚deterministische‘ und ‚mechanistische‘ Sicht sozialer Wirklichkeit miss-
verstanden wurde. In der Korrespondenzanalyse fand Bourdieu ein seiner the-
oretischen Sicht der gesellschaftlichen Welt wahlverwandtes Instrument, wel-
ches ihm und seinen Lesern immer wieder vor Augen führte, dass der soziale
Raum die in ihm manifest werdenden Erscheinungen ganz wie das postulierte
Kräftefeld strukturiert und den sozialen Tatbeständen ihren „Platz“ zuweist.
Man denke etwa an die in den Die feinen Unterschiede sehr beeindruckende
Analyse der Homologien zwischen dem Raum gesellschaftlicher Positionen
(der Verteilung der beiden für moderne Gesellschaften zentralen Kapitalfor-
men) und dem Raum der Lebensstile (der symbolischen Ordnung des Alltags-
lebens).
Abschließend sei hier noch darauf hingewiesen, dass die Perspektiven,
Methoden und Instrumente der bourdieuschen Sozialtopologie von der öffent-
lichen Statistik Frankreichs längst aufgenommen – und damit gleichsam offi-
zialisiert – wurden und dem Leser in den Publikationen des INSEE, wie etwa
den einflussreichen Données Sociales, auf Schritt und Tritt begegnen. Wäh-
rend sich diesseits des Rheins die Idee der nivellierten Mittelstandsgesell-
schaft noch immer großer Beliebheit erfreut, ist es nicht zuletzt Pierre Bour-
dieu zu verdanken, dass jenseits des Rheins das sozialräumliche Denken we-

24
DAS KONZEPT DES SOZIALEN RAUMS

sentlich stärker ausgeprägt und auch im Alltagsdenken sehr viel tiefer veran-
kert ist.23

Literaturverzeichnis

Barlösius, Eva: „,Das Elend der Welt‘. Bourdieus Modell für die ,Pluralität der Per-
spektiven‘ und seine Gegenwartsdiagnose über die ,neoliberale Invasion‘“, BIOS 12,
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Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Fel-
des, Frankfurt/Main 1999.
Bourdieu, Pierre: Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und
Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsge-
sellschaft, Konstanz 2000.

23 Vgl. hierzu etwa Franz Schultheis: „Quelques particularités allemandes dans la


représentation statistique du monde social“, in: Enjeux et usages des catégories
socioprofessionnelles en Europe, Sociétés contemporaines, 2002, Nr. 45-46, S.
17; Franz Schultheis: „La construction des représentations collectives des inéga-
lités: une comparaison France-Allemagne“, in: Mesurer les inégalités. De la con-
struction des indicateurs aux débats sur les interprétations, Paris 2000, S. 7-18;
Franz Schultheis: „Repräsentationen des sozialen Raums. Zur Kritik der soziolo-
gischen Urteilskraft“, in: Berliner Journal für Soziologie 1 (1996), S. 97-119.

25
FRANZ SCHULTHEIS

Bourdieu, Pierre: „,Teilnehmende Objektivierung: Fotografische Zeugnisse einer


untergehenden Welt‘. Interview mit Franz Schultheis“, in: Camera Austria 75
(2001), S. 8-14.
Bourdieu, Pierre: Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt/Main 2002.
Durkheim, Emile/Mauss, Marcel: „Über einige primitive Formen von Klassifikation.
Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen“, in: Emile Durkheim,
Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt/Main 1990, S. 169-256.
Schultheis, Franz/Egger, Stephan/Pfeuffer, Andreas: „Bildungsforschung in einer
Soziologie der Praxis: Pierre Bourdieu“, in: Jahrbuch Bildung und Arbeit 1 (1996),
hg. v. Axel Bolder u. a., Bielefeld, S. 312-335.
Schultheis, Franz: „Repräsentationen des sozialen Raums. Zur Kritik der soziologi-
schen Urteilskraft“, in: Berliner Journal für Soziologie 1 (1996), S. 97-119.
Schultheis, Franz: „Initiation und Initiative: Entstehungskontext und Entstehungs-
motive der Bourdieuschen Theorie der sozialen Welt“, in: Pierre Bourdieu, Die zwei
Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Bei-
spiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft, Konstanz 2000, S.
145-162.
Schultheis, Franz: „La construction des représentations collectives des inégalités:
une comparaison France-Allemagne“, in: Mesurer les inégalités. De la construction
des indicateurs aux débats sur les interprétations, Paris 2000, S. 7-18.
Schultheis, Franz/Pfeuffer, Andreas/Bourdieu, Pierre: „Mit Weber gegen Weber“,
in: Schultheis, Franz/Egger, Stephan/Pfeuffer, Andreas (Hg.), Pierre Bourdieu: Das
religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000, S. 111-
129.
Schultheis, Franz/Egger, Stephan/Pfeuffer, Andreas: „Vom Habitus zum Feld.
Religion, Soziologie und die Spuren Max Webers bei Pierre Bourdieu“, in: Pierre
Bourdieu, Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz
2000, S. 131-176.
Schultheis, Franz: „Quelques particularités allemandes dans la représentation statis-
tique du monde social“, in: Enjeux et usages des catégories socioprofessionnelles en
Europe, Sociétés contemporaines, 2002, Nr. 45-46, S. 17
Schultheis, Franz: „Algerien 1960 – ein soziologisches Laboratorium“, in: Boike
Rehbein/Gernot Saalmann/Hermann Schwengel (Hg.), Pierre Bourdieus Theorie des
Sozialen. Probleme und Perspektiven, Konstanz 2003, S. 25-40.
Schultheis, Franz: „Pierre Bourdieu und Algerien. Eine Wahlverwandtschaft“, in:
Pierre Bourdieu, In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, hg. v. Franz Schultheis
und Christine Frisinghelli, Graz 2003, S. 9-20.
Schultheis, Franz: „Algerien 1960: Zur Genese der Bourdieuschen Theorie der ge-
sellschaftlichen Welt“, in: Margareta Steinrücke (Hg.), Pierre Bourdieu: Politisches
Forschen, Denken und Eingreifen, Hamburg 2004, S. 14-33.
Schultheis, Franz/Vester, Michael: „Soziologie als Beruf. Hommage an Pierre
Bourdieu“, in: Mittelweg 36 11,5 (2002), S. 41-58.
Sciences Humaines, No spécial: L’ œuvre de Pierre Bourdieu 2002, S. 94.

26
Karin Priem
PÄDAGOGISCHE RÄUME – RÄUME DER PÄDAGOGIK.
EIN VERSUCH ÜBER DAS DICKICHT

Bei der Rekonstruktion pädagogischer Vorgänge greift man, da Unbeobacht-


bares häufig begrifflich erst zugänglich gemacht werden muss, nicht selten auf
räumliche Umschreibungen zurück, die das Nicht-Sichtbare zeigen sollen und
die gleichzeitig unser Bild von Erziehung und Lernen prägen. Walter Herzog
hat zu Recht darauf hingewiesen, dass „sich die Erziehungswissenschaft ihres
Gegenstandes insbesondere mittels räumlicher und visueller Metaphern“ ver-
sichert: „Das Bild des Wächters, der das Kind dank seiner synoptischen
Kenntnis der pädagogischen Landschaft sicher seiner Bestimmung zuführt,
dominiert das Denken in Pädagogik und Didaktik“.1 Was die Phänomene Er-
ziehung und Bildung genauer kennzeichnet, gilt als nur schwer erschließbar
und pädagogische Raummetaphorik ist hier theoretisches Hilfs- und Anschau-
ungsmittel. Dieser Kunstgriff enthält aber zudem einen empirisch unhinter-
gehbaren Hinweis darauf, dass Erziehung und Bildung innerhalb räumlicher
Ensembles stattfinden. Daran können auch der Mediengesellschaft verpflich-
tete Spekulationen über das Verschwinden des Raumes nichts ändern. Kon-
krete biographische Raumerfahrungen des Menschen lassen sich durch Be-
schleunigung nicht auslöschen.
Erziehung, Bildung und Sozialisation, so lautet daher meine These, voll-
ziehen sich innerhalb eines Zusammentreffens sich überlagernder Räume, die
ständig ineinanderwirken und dabei verschiedene Abstraktionsgrade aufwei-
sen. Räumliche Ensembles sind nicht nur Schauplatz, sondern wichtiger Ein-
flussfaktor von Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen. Die Indi-
viduen sind unweigerlich in sie eingesponnen.
Vor allem Schule wird mit widersprüchlichen Raumvorstellungen ver-
knüpft, und sie ist mein Beispiel, mit dessen Hilfe ich die Frage nach pädago-
gischen Dimensionen des Raums als bildungsgeschichtliche Fragestellung be-
handeln werde. Ihre Beantwortung erfolgt unter Aspekten wie Ordnung, Auf-
lösung der Ordnung, Disziplinierung, Selbstdisziplinierung und freie Entfal-
tung in einem Moratorium.
Ich beschreibe dabei zwei Wege. Der erste bezieht sich ganz allgemein auf
Raumvorstellungen pädagogischen Denkens, wie sie auch die Institution

1 Walter Herzog: Zeitgemäße Erziehung. Die Konstruktion pädagogischer Wirk-


lichkeit, Weilerswist 2002, S. 40.

27
KARIN PRIEM

Schule betreffen. Der zweite behandelt ein aktuelles, im kollektiven Gedächt-


nis allerdings fest verankertes Beispiel. Im Mittelpunkt steht das „Klassen-
zimmer als pädagogischer Raum“ und seine Wirkung auf die in schulische Er-
ziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse Einbezogenen.
Meinen beiden Zugängen bzw. Wegen zum Thema „Pädagogische Räume
– Räume der Pädagogik“ werde ich zunächst einige Bemerkungen zu meinen
theoretischen Bezugspunkten voranstellen.

1. Theoretische Bezugspunkte

Michel Foucault2 unterscheidet in einem Essay, der unter der Überschrift


„Andere Räume“ erschienen ist, zwischen einem „Raum des Innen“ und ei-
nem „Raum des Außen“. Der „Raum des Innen“ wird beschrieben als „Raum
unserer ersten Wahrnehmung“, als „Raum unserer Träume“, als „Raum unse-
rer Leidenschaften“. Der Raum des Innen dient so vor allem der Beschreibung
von Gefühlen und Eindrücken.
Der „Raum des Außen“ wird von Foucault ausdrücklich als heterogen be-
schrieben. Dabei unterscheidet er zwischen Utopien und Heterotopien. Uto-
pien sind „unwirkliche Räume“. Foucault beschreibt sie als „Plazierungen oh-
ne wirklichen Ort“, „die mit dem wirklichen Raum der Gesellschaft ein Ver-
hältnis unmittelbarer oder umgekehrter Analogie unterhalten“. Utopien sind
seiner Meinung nach Ausdruck der „Perfektionierung“ bzw. „Kehrseite der
Gesellschaft“. Im Gegensatz dazu werden Heterotopien von Foucault als
„wirkliche“, in der Gesellschaft „wirksame Orte“ beschrieben.
Mein zweiter theoretischer Bezugspunkt ist – wie bereits oben erwähnt –
Maurice Halbwachs’ Lehre vom kollektiven Gedächtnis. Physikalische Räu-
me und materielle Gegenstände, so Halbwachs, vermitteln in ihrer „schweig-
samen“ Unbeweglichkeit häufig „ein Bild der Permanenz und der Beständig-
keit“.3 Sie sind dabei gleichzeitig Ausdruck einer bestimmten Mentalität. Die
„physische Trägheit der Dinge“ ist für Halbwachs ein wichtiger Grund für die
„relative Beständigkeit“ sozialer Gruppen. Der physikalische Raum ist einer-
seits der Rahmen, den sich eine Gruppe selbst gesetzt hat, andererseits prägt er

2 Michel Foucault: „Andere Räume“, in: ders., Shortcuts, hg. v. Peter Gente u.a.,
Frankfurt/Main 2001, S. 24 ff.; Michel Foucaults Konzept habe ich an anderer
Stelle bereits auf die räumlichen Überlagerungen pietistischer Erziehung ange-
wandt. Vgl. Karin Priem: „Innerer und äußerer Raum. Dimensionen des Raums
in der religiösen Erziehung“, in: Franz-Josef Jelich/Heidemarie Kemnitz (Hg.),
Die pädagogische Gestaltung des Raums. Geschichte und Modernität, Bad
Heilbrunn 2003, S. 415-429.
3 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, hier S. 127-130.
Zum Zusammenhang von kollektivem Gedächtnis und Schule am Beispiel eines
Magdeburger Gymnasiums vgl. auch Wolfgang Ortlepp: „SchulRaum als Zeit-
Raum. Eine Fallstudie“, in: Eckart Liebau/Gisela Miller-Kipp/Christoph Wulf
(Hg.), Metamorphosen des Raums. Erziehungswissenschaftliche Forschungen
zur Chronotopologie. Weinheim 1999, S. 149-166.

28
PÄDAGOGISCHE RÄUME – RÄUME DER PÄDAGOGIK

das Denken und die Vorstellung, die sich eine Gruppe von sich macht. Ein
„schwerwiegendes Ereignis“, so Halbwachs, „bringt“ allerdings „immer eine
Wandlung des Verhältnisses der Gruppe zum Ort mit sich.“ Dennoch aber –
und das halte ich vor allem in Bezug auf Schule für wichtig – wirken die Ab-
sichten und das Denken früherer Generationen in erweiterter Form oder als
Bestandteil des Neuen fort. Denn sie haben ohne Frage „in einer“ bestimmten
fortbestehenden „materiellen Anordnung“ Gestalt angenommen.
Wie lassen sich nun diese verschiedenen Aspekte – Raum des Innen, Uto-
pien und Heterotopien als Dimensionen des äußeren Raums sowie räumliche
Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses – auf pädagogische Raumvorstel-
lungen und deren Wirkung beziehen?

2. Raumvorstellungen pädagogischen Denkens

Pädagogische Raumvorstellungen können sowohl einen defizitären Aus-


gangspunkt als auch einen idealen Ursprungs- bzw. Endzustand beschreiben.
Ihr traditionsreicher und beliebter Gebrauch in pädagogischen und erzie-
hungswissenschaftlichen Diskursen war in jüngster Vergangenheit nicht nur
Anlass zur Kritik, in deren Folge der Zeitaspekt von Erziehung stark gemacht
wurde4, sondern von Anfang der 1990 er Jahre an immer häufiger auch Anlass
für Studien zur pädagogischen Inszenierung des Raums, zur Geschichte der
Schularchitektur und zur systematischen Analyse pädagogischer Dimensionen
des Raums.5 Unter der Überschrift „Jenseitslandschaften im pädagogischen

4 W. Herzog: Zeitgemäße Erziehung.


5 In der Reihenfolge Ihres Erscheinens z. B.: Jürgen Oelkers: „Erziehungsstaat und
pädagogischer Raum. Die Funktion des idealen Ortes in der Erziehung“, in: Zeit-
schrift für Pädagogik 39 (1993), S. 631-648; Marleen Noack: Der Schulraum als
Pädagogikum. Zur Relevanz des Lernorts für das Lernen, Weinheim 1996; Ge-
rold Becker/Johannes Bilstein/Eckart Liebau (Hg.), Räume bilden. Studien zur
pädagogischen Topologie und Topographie, Seelze-Velber 1997; Eckart Liebau
u.a. (Hg.), Metamorphosen des Raums, Weinheim 1999; Jutta Buchner-Fuhs:
„Der eigene Raum. Zur Entstehung und Verbreitung des Kinderzimmers“, in:
Petra Larass (Hg.), Kindsein kein Kinderspiel. Das Jahrhundert des Kindes
(1900-1999), Halle/Saale 2000, S. 111-127; Heidemarie Kemnitz: „,Die erziehe-
rische Mission ... ist nie zu verkennen‘. Ludwig Hoffmanns Schulbauten als So-
zialisationswelten im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch für Histo-
rische Bildungsforschung, Bd. 6, Bad Heilbrunn 2000, S. 193-217; Jürgen Zinn-
ecker: Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule. Weinheim, München
2001; Franz-Josef Jelich/Heidemarie Kemnitz (Hg.): Die pädagogische Gestal-
tung des Raums, Bad Heilbrunn 2003. Hinzugefügt werden müssen dieser Liste
zumeist früher verfasste Arbeiten aus der Phänomenologischen Erziehungswis-
senschaft, so z. B. Otto-Friedrich Bollnow: Mensch und Raum. Stuttgart 1963;
Wilfried Lippitz: „Räume – von Kindern erlebt und gelebt“, in: Wilfried Lip-
pitz/Christian Rittelmeyer (Hg.), Phänomene des Kinderlebens. Beispiele und
methodische Probleme einer pädagogischen Phänomenologie, Bad Heilbrunn
1989, S. 93-106; Christian Rittelmeyer: Pädagogik und Architektur, Köln 1994.

29
KARIN PRIEM

Diesseits: Garten, Fabrik und Werkstatt“ erschien im Jahre 1997 ein Aufsatz
von Johannes Bilstein.6 Sein Thema sind pädagogische Raumimaginationen,
genauer „Visionen, die Raum und Ort pädagogischen Handelns zum Gegen-
stand haben“.7 Die in der „antiken und christlichen Tradition“ entstandenen
räumlichen „Leit-Imaginationen“ Himmel und Hölle werden, so Bilsteins
These, in säkularreligiöser Form auch pädagogisch zu Bewertungsmaßstäben.
Sie werden sowohl diskursiv genutzt als auch real inszeniert. Ihre diskursive
Nutzung zeigt sich, mit Foucault gesprochen, in Utopien des pädagogischen
Raums bzw. in utopischen pädagogischen Raumentwürfen, die sich metapho-
risch Ausdruck verschaffen. Zu den in der Regel negativ besetzten pädagogi-
schen Raumimaginationen Urwald, Wildnis, Wüste, Gefängnis und Fabrik
existieren konkurrierende Gegenentwürfe: (Paradies-) Garten, Natur als kulti-
vierte Landschaft, Natur als evolutionärer Prozess der Höherentwicklung,
Dorf, Siedlung, säkularreligiöser Tempel, weltlicher Palast, Werkstatt und La-
bor.8 Und auch die Lehre vom breiten und schmalen Weg pietistischer Erzie-
hung folgt einer räumlichen Utopie: Der beschwerliche schmale Weg unter
dem Vorzeichen christlicher Tugenden wie Fleiß, Ordnung und Sparsamkeit
führt hier direkt in den Himmel, der breite Weg des Müßiggangs, des Lasters
und der Verschwendung mündet in die Hölle.
Werden solche Utopien pädagogisch inszeniert, können sie mit Foucault
als Heterotopien, also als real existierende pädagogische Räume beschrieben
werden. Sie unterscheiden sich durch Vollkommenheit und spezifische Ge-
staltung vom übrigen Raum der restlichen Welt. So gesehen ist auch Schule
als Heterotopie ein wirklich existierender Raum, dessen physikalisch räumli-
che Anordnung eine Symbolik der Ordnung, des planbaren Handelns und der
Hoffnung auf eine bessere Welt überdeutlich ausstrahlt.9 Zweifelsohne ist die-
ser äußere Raum auch Ausdruck einer bestimmten kulturellen Tradition von
Schule und insofern Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Prägend ist
dabei die Vorstellung der Überschaubarkeit, Beständigkeit, Homogenität oder
gar völligen Beherrschbarkeit von Erziehungs- und Bildungsprozessen.
Hermann Hesse (1877-1962) bediente sich in seinem 1906 erstmals er-
schienenen Roman „Unterm Rad“ drastischer räumlicher Umschreibungen
von Erziehung, die wiederum stark auf säkularreligiöse Landschaftsmetapho-
rik zurückgreifen:

Aus umweltpsychologischer Sicht gibt es eine frühe Studie zur räumlichen Situa-
tion der Laborschule Bielefeld von Robert Schmittmann: Architektur als Partner
für Lehren und Lernen, Frankfurt/Main 1985.
6 Erschienen in: Gerald Becker u.a. (Hg.): Räume bilden, S. 19-52.
7 Johannes Bilstein: „Jenseitslandschaften im pädagogischen Diesseits“, in: Gerald
Becker u.a. (Hg.), Räume bilden, S. 21.
8 Zu der Vielfalt pädagogischer Raumimaginationen vgl. v.a. den von Franz-Josef
Jelich und Heidemarie Kemnitz herausgegebenen Sammelband: Die pädagogi-
sche Gestaltung des Raums. Geschichte und Modernität, Bad Heilbrunn 2003.
9 Vgl. Johannes Bilstein: Jenseitslandschaften im pädagogischen Diesseits, in: G.
Becker, Räume bilden, S. 23.

30
PÄDAGOGISCHE RÄUME – RÄUME DER PÄDAGOGIK

„Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsich-
tiges, Gefährliches. Er ist ein von unbekanntem Berge herunterbrechender Strom
und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein Urwald gelichtet, gereinigt
und gewaltsam eingeschränkt werden muß, so muß die Schule den natürlichen Men-
schen zerbrechen, besiegen, gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach
obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede der Gesell-
schaft zu machen“.10

Liest man diese Äußerung, fallen in der Tat zuerst die zahlreichen topographi-
schen und räumlichen Wendungen auf: der Mensch als wilder, gefährlicher
Urwald ohne Weg und Ordnung, als gewaltige Wassermasse, zu deren Ein-
dämmung und Korrektur drastische Ordnungsmaßnahmen erforderlich wer-
den. So zumindest charakterisiert der Erzähler in Hesses Roman den an der
Schwelle von der Kindheit zur Jugend stehenden Protagonisten Hans Gieben-
rath. Dann wendet er sich der Frage zu, welchen Auftrag Schule an diesem zu
erfüllen beabsichtige. Schule, so erfahren wir, ist eine Gegenwelt zum Ur-
wald, sie stiftet Ordnung, zerbricht den Eigenwillen und setzt – wenn nötig
mit Gewalt – dem menschlichen Rohzustand Schranken. Erziehung wäre da-
mit ein Ordnung stiftendes, gewaltsames Eingreifen im Raum, das der Rodung
eines Urwalds sowie der Kanalisierung von Wassermassen gleichzusetzen wä-
re und damit auch deren Beherrschbarkeit unterstellt.
Urwald und Wildnis als pädagogische Raummetaphern dienen aber nicht
nur der Rechtfertigung zur Herstellung von Ordnung, sondern sind – als Aus-
nahme von der Regel – auch Motive der Befreiung, Entfaltung und Kreativi-
tät. Friedrich Nietzsche zum Beispiel setzte einerseits in „Schopenhauer als
Erzieher“ (1874) Natur als geläuterte, modifizierte Wildnis, als eine aus einem
Rohzustand geschaffene (Garten-) Landschaft11 metaphorisch in eins mit Bil-
dung:

„Befreiung ist sie, Wegräumung alles Unkrauts, Schuttwerks, Gewürms, das die zar-
ten Keime der Pflanzen antasten will, Ausströmung von Licht und Wärme, liebevol-
les Niederrauschen nächtlichen Regens, sie ist Nachahmung und Anbetung der Na-
tur, wo diese mütterlich und barmherzig gesinnt ist, sie ist Vollendung der Natur,
wenn sie ihren grausamen und unbarmherzigen Anfällen vorbeugt und sie zum Gu-
ten wendet, wenn sie über die Äußerungen ihrer stiefmütterlichen Gesinnung und ih-
res traurigen Unverstandes einen Schleier deckt“.12

Andererseits wandte sich Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“ (1886)
gegen das darin angesprochene Maßvolle und Moralische, indem er den tropi-
schen Urwald zu einem möglichen rettenden Mittel erhob, um Gleichförmig-
keit und Mittelmaß zugunsten von Geniekraft und Intensität zu sprengen:

„Es scheint, dass es bei den Moralisten einen Hass gegen den Urwald und gegen die
Tropen giebt? Und dass der ‚tropische Mensch‘ um jeden Preis diskreditirt werden

10 Hermann Hesse: Unterm Rad, Frankfurt/Main 1972, S. 47.


11 Zum Verhältnis von Natur, Wildnis und Landschaft vgl. Simon Schama: Der
Traum von der Wildnis. Natur als Imagination, München 1996, S. 16-18.
12 Zit. n. W. Herzog: Zeitgemäße Erziehung, S. 40.

31
KARIN PRIEM

muss, sei es als Krankheit und Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und
Selbst-Marterung? Warum doch? Zu Gunsten der ‚gemässigten Zonen‘? Zu Gunsten
der gemässigten Menschen? Der ‚Moralischen‘? Der Mittelmässigen?“13

Für Ellen Key dagegen war – anders als in Hesses Roman „Unterm Rad“ – die
sture „Paukschule“ des 19. Jahrhunderts ein urwaldähnliches Dickicht, dem
selbst durch Reformen kaum beizukommen sei:

„Wer vor die Aufgabe gestellt würde, mit einem Federmesser einen Urwald zu fäl-
len, müßte vermutlich dieselbe Ohnmacht der Verzweiflung empfinden, die den Re-
formeiferer vor dem bestehenden Schulsystem ergreift – diesem undurchdringlichen
Dickicht von Torheit, Vorurteilen und Mißgriffen, wo jeder Punkt sich zum Angriff
eignet, aber jeder Angriff mit den zu Gebote stehenden Mitteln fruchtlos bleibt.“14

Gegen diese traditionelle pädagogische Wildnis halfen für Key nur brachiale
biblische Mittel, die es ermöglichen würden, paradiesische Zustände zurück-
zuerobern:

„Einzelreformen in der modernen Schule bedeuten nichts, solange man durch die-
selben nicht bewußt die große Revolution vorbereitet, die, welche das ganze jetzige
System zertrümmert, und von diesem nicht einen Stein auf dem andern läßt. Ja, es
müßte eine Sintflut der Pädagogik kommen, bei der die Arche nur Montaigne, Rous-
seau, Spencer und die neue kinderpsychologische Literatur zu enthalten brauchte!
Wenn dann die Arche ins Trockene käme, würden die Menschen nicht Schulen bau-
en, sondern nur Weingärten pflanzen, wo die Lehrer die Aufgaben hätten, ‚die Trau-
ben zur Höhe der Lippen der Kinder zu erheben‘, anstatt daß diese jetzt den Most
der Kultur in hundertfacher Verdünnung zu kosten bekommen!“15

Ist der Urwald durch die Sintflut beseitigt, dann entsteht für Key Raum für ei-
ne sich nach den Prinzipien der Evolution selbst regulierende Natur, die „Hö-
herentwicklung und Fortschritt“ der nachwachsenden Generationen garan-
tiert.16
Friedrich Torberg (1908-1979) thematisierte in seinem Roman „Der Schü-
ler Gerber“ aus dem Jahre 1930 die Angst einer Lehrpersonen vor der aktiven
Raumaneignung durch Schüler, die Disziplinprobleme, Unordnung und Un-
beherrschbarkeit schulischen Unterrichts heraufbeschwören könnte:

„Während des Sommerexils peinigte ihn, Jahr um Jahr, die gleiche Furcht: daß sich,
während er nicht da war, alles geändert haben könnte, daß nach seiner Rückkehr auf
den Thron plötzlich, unerforschbar wie, Setzen nicht mehr Setzen bedeuten würde
und daß die Untertanen, denen er es befahl, etwa stehenbleiben möchten oder um-
hergehen. Peinvoll war diese Angst, der er nicht auf den Grund kommen konnte, die

13 Zit. n. Stephan Günzel: Geophilosophie. Nietzsches philosophische Geographie,


Berlin 2001, S. 230.
14 Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes. Mit einem Nachwort von Ulrich Herr-
mann, Weinheim, Basel 1992, S. 144.
15 Ebd., S. 177 f.
16 Vgl. Ulrich Herrmann: „Die ,Majestät des Kindes‘ – Ellen Keys polemische Pro-
vokationen“, in: E. Key: Das Jahrhundert des Kindes, S. 253-264.

32
PÄDAGOGISCHE RÄUME – RÄUME DER PÄDAGOGIK

er als unsinnig empfand und die sich dennoch in mancher schlaflosen Nacht zu
schrecklichen Visionen auswuchs.“17

Wie nah dieses literarisch stilisierte Beispiel von Schule am empirisch nach-
vollziehbaren Fall ist, lässt sich in Martina Löws „Raumsoziologie“ unter der
Überschrift „Gegenkulturelle Schulräume“ nachlesen. Dort nämlich wird be-
schrieben, wie der von Anthony Giddens als geschlossener „Machtbehälter“
bezeichnete Schulraum durchaus umkämpfter Schauplatz „verschiedener –
konkurrierender und hierarchischer – Räume auf dem gleichen Grund und
Boden“ sein kann.18 Die Kontrolle des schulischen Raums durch die Lehrper-
sonen gerät in Konflikt mit raumkonstituierenden Aktivitäten von Seiten der
Schülerinnen und Schüler, deren Habitus durch die räumlichen Regeln der
Straßenkultur und die dort vorherrschende ständige Bewegung beeinflusst ist.
Dadurch wird ein Disziplinproblem geschaffen, dessen Folgen in der Regel
mit Strafen geahndet werden. Entsprechend erleichtert zeigt sich daher auch
der Lehrer in Friedrich Torbergs Roman nach den Ferien, denn:

„Er hat ‚Setzen‘ gesagt, und viele Menschenwesen, ein ganzer Saal voll, haben sich
gesetzt. Er hat die Namen dieser Menschenwesen gesprochen, und jedes ist aufge-
standen und hat sein ‚Hier‘ gemeldet. So war die Gesamtheit und der einzelne wie-
der erfaßt und ihm zu Gebot. Nichts war geschehen in seiner Abwesenheit, alles
klappte. Er befahl, und es wurde gehorcht.“19

Das literarische Beispiel stilisiert – ebenso wie Hesse in seinem Roman „Un-
term Rad“ – ein schulisches Disziplinproblem als Raumproblem und bedient
sich dabei der „schwarzen“ pädagogischen Tradition bzw. negativ besetzter
Bilder und Szenarien des kulturellen Gedächtnisses von Schule.
Die pädagogische Raummetapher „Paradies“ dagegen steht im Zentrum
reformpädagogischer Konzepte. Als Ausdruck eines perfekten pädagogischen
Raums besagt sie, dass für Kinder Orte zu geschaffen werden müssen, die von
schlechten Einflüssen, Zwang und Angst frei sind. In pädagogischen Paradie-
sen sollen Kinder sich vollständig entfalten und nach Kräften pädagogisch ge-
fördert werden. Häufig wird Fröbels Kindergarten als Erschaffung eines sol-
chen Paradieses für Kinder angesehen, als eine von Erwachsenen geschaffene
Heterotopie, in der unschuldige Kindheit geschützt und behütet werden soll.
Doch offensichtlich gilt auch hier eine Einschränkung. Denn Jürgen Oelkers20
hat darauf hingewiesen, dass Fröbel durch seine Beschäftigungsmittel die „na-

17 Friedrich Torberg: Der Schüler Gerber, München 1994, S. 19.


18 Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/Main 2001, insb. S. 231-246, hier S.
234. Zur Frage sich überlagernder und konkurrierender Raumkonzepte am Bsp.
schulischer Subkultur und offizieller Institution Schule vgl. auch Jürgen Zinn-
ecker: „Die Schule als Hinterbühne oder Nachrichten aus dem Unterleben der
Schüler“, in: ders., Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule, Wein-
heim, München 2001, S. 249-343.
19 F. Torberg: Der Schüler Gerber, S. 20.
20 J. Oelkers: Erziehungsstaat und pädagogischer Raum, S. 637.

33
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PLATE XXX

TURTLE-HEAD.—C. glabra.

Common Dodder. Love Vine.


Cuscuta Gronovii. Convolvulus Family.

Stems.—Yellow or reddish, thread-like, twining, leafless. Flowers.—White, in


close clusters. Calyx.—Five-cleft. Corolla.—With five spreading lobes. Stamens.—
Five. Pistil.—One, with two styles.
Late in the summer we are perhaps tempted deep into some
thicket by the jasmine-scented heads of the button-bush or the
fragrant spikes of the clethra, and note for the first time the tangled
golden threads and close white flower-clusters of the dodder. If we
try to trace to their source these twisted stems, which the Creoles
know as “angels’ hair,” we discover that they are fastened to the bark
of the shrub or plant about which they are twining by means of small
suckers; but nowhere can we find any connection with the earth, all
their nourishment being extracted from the plant to which they are
adhering. Originally this curious herb sprang from the ground which
succored it until it succeeded in attaching itself to some plant; having
accomplished this it severed all connection with mother-earth by the
withering away or snapping off of the stem below.
The flax-dodder, C. Epilinum, is a very injurious plant in
European flax-fields. It has been sparingly introduced into this
country with flax-seed.

Traveller’s Joy. Virgin’s Bower.


Clematis Virginiana. Crowfoot Family.

Stem.—Climbing, somewhat woody. Leaves.—Opposite, three-divided.


Flowers.—Whitish, in clusters, unisexual. Calyx.—Of four petal-like sepals.
Corolla.—None. Stamens and Pistils.—Indefinite in number, occurring on
different plants.
In July and August this beautiful plant, covered with its white
blossoms and clambering over the shrubs which border the country
lanes, makes indeed a fitting bower for any maid or traveller who
may chance to be seeking shelter. Later in the year the seeds with
their silvery plumes give a feathery effect which is very striking.
PLATE XXXI

TRAVELLER’S JOY.—Clematis
Virginiana.

This graceful climber works its way by means of its bending or


clasping leaf-stalks. Darwin has made interesting experiments
regarding the movements of the young shoots of the Clematis. He
discovered that, “one revolved describing a broad oval, in five hours,
thirty minutes; and another in six hours, twelve minutes; they follow
the course of the sun.”

Sweet Pepperbush. White Alder.


Clethra alnifolia. Heath Family.

A shrub from three to ten feet high. Leaves.—Alternate, ovate, sharply


toothed. Flowers.—White, growing in clustered finger-like racemes. Calyx.—Of
five sepals. Corolla.—Of five oblong petals. Stamens.—Ten, protruding. Pistil.—
One, three-cleft at apex.
Nearly all our flowering shrubs are past their glory by
midsummer, when the fragrant blossoms of the sweet pepperbush
begin to exhale their perfume from the cool thickets which line the
lanes along the New England coast. There is a certain luxuriance in
the vegetation of this part of the country in August which is generally
lacking farther inland, where the fairer flowers have passed away,
and the country begins to show the effects of the long days of heat
and drought. The moisture of the air, and the peculiar character of
the soil near the sea, are responsible for the freshness and beauty of
many of the late flowers which we find in such a locality.
Clethra is the ancient Greek name for the alder, which this plant
somewhat resembles in foliage.

Thorn-apple. Jamestown Weed.


Datura Stramonium. Nightshade Family.

Stem.—Smooth and branching. Leaves.—Ovate, wavy-toothed or angled.


Flowers.—White, large and showy, on short flower-stalks from the forks of the
branching stem. Calyx.—Five-toothed. Corolla.—Funnel-form, the border five-
toothed. Stamens.—Five. Pistil.—One. Fruit.—Green, globular, prickly.
The showy white flowers of the thorn-apple are found in waste
places during the summer and autumn, a heap of rubbish forming
their usual unattractive background. The plant is a rank, ill-scented
one, which was introduced into our country from Asia. It was so
associated with civilization as to be called the “white man’s plant” by
the Indians.
Its purple-flowered relative, D. Tatula, is an emigrant from the
tropics. This genus possesses narcotic-poisonous properties.

Wild Balsam-apple.
Echinocystis lobata. Gourd Family.

Stem.—Climbing, nearly smooth, with three-forked tendrils. Leaves.—Deeply


and sharply five-lobed. Flowers.—Numerous, small, greenish-white, unisexual; the
staminate ones growing in long racemes, the pistillate ones in small clusters or
solitary. Fruit.—Fleshy, oval, green, about two inches long, clothed with weak
prickles.
This is an ornamental climber which is found bearing its flowers
and fruit at the same time. It grows in rich soil along rivers in parts
of New England, Pennsylvania, and westward; and is often cultivated
in gardens, making an effective arbor-vine. The generic name is from
two Greek words which signify hedgehog and bladder, in reference
to the prickly fruit.

White Asters.
Aster. Composite Family (p. 13).

Flower-heads.—Composed of white ray-flowers with a centre of yellow disk-


flowers.
While we have far fewer species of white than of blue or purple
asters, some of these few are so abundant in individuals as to hold
their own fairly well against their bright-hued rivals.
The slender zigzag stems, thin, coarsely toothed, heart-shaped
leaves, and white, loosely clustered flower-heads of A. corymbosus,
are noticeable along the shaded roadsides and in the open woods of
August.
Bordering the dry fields at this same season are the spreading
wand-like branches, thickly covered with the tiny flower-heads as
with snowflakes, of A. ericoides.
A. umbellatus is the tall white aster of the swamps and moist
thickets. It sometimes reaches a height of seven feet, and can be
identified by its long tapering leaves and large, flat flower-clusters.
A beautiful and abundant seaside species is A. multiflorus. Its
small flower-heads are closely crowded on the low, bushy, spreading
branches; its leaves are narrow, rigid, crowded, and somewhat hoary.
The whole effect of the plant is heath-like; it also somewhat suggests
an evergreen.

Boneset. Thoroughwort.
Eupatorium perfoliatum. Composite Family (p. 13).
Stem.—Stout and hairy, two to four feet high. Leaves.—Opposite, widely
spreading, lance-shaped, united at the base around the stem. Flower-heads.—Dull
white, small, composed entirely of tubular blossoms borne in large clusters.
To one whose childhood was passed in the country some fifty
years ago the name or sight of this plant is fraught with unpleasant
memories. The attic or wood-shed was hung with bunches of the
dried herb which served as so many grewsome warnings against wet
feet, or any over-exposure which might result in cold or malaria. A
certain Nemesis, in the shape of a nauseous draught which was
poured down the throat under the name of “boneset tea,” attended
such a catastrophe. The Indians first discovered its virtues, and
named the plant ague-weed. Possibly this is one of the few herbs
whose efficacy has not been over-rated. Dr. Millspaugh says: “It is
prominently adapted to cure a disease peculiar to the South, known
as break-bone fever (Dengue), and it is without doubt from this
property that the name boneset was derived.”

White Snakeroot.
Eupatorium ageratoides. Composite Family (p. 13).

About three feet high. Stem.—Smooth and branching. Leaves.—Opposite,


long-stalked, broadly ovate, coarsely and sharply toothed. Flower-heads.—White,
clustered, composed of tubular blossoms.
Although this species is less common than boneset, it is
frequently found blossoming in the rich Northern woods of late
summer.
PLATE XXXII

BONESET.—E. perfoliatum.

Climbing Hemp-weed.
Mikania scandens. Composite Family (p. 13).

Stem.—Twining and climbing, nearly smooth. Leaves.—Opposite, somewhat


triangular-heart-shaped, pointed, toothed at the base. Flower-heads.—Dull white
or flesh-color, composed of four tubular flowers; clustered, resembling boneset.
In late summer one often finds the thickets which line the slow
streams nearly covered with the dull white flowers of the climbing
hemp-weed. At first sight the likeness to the boneset is so marked
that the two plants are often confused, but a second glance discovers
the climbing stems and triangular leaves which clearly distinguish
this genus.
Ladies’ Tresses.
Spiranthes cernua. Orchis Family (p. 17).

Stem.—Leafy below, leafy-bracted above, six to twenty inches high. Leaves.—


Linear-lance-shaped, the lowest elongated. Flowers.—White, fragrant, the lips
wavy or crisped; growing in slender spikes.
This pretty little orchid is found in great abundance in
September and October. The botany relegates it to “wet places,” but I
have seen dry upland pastures as well as low-lying swamps profusely
flecked with its slender, fragrant spikes. The braided appearance of
these spikes would easily account for the popular name of ladies’
tresses; but we learn that the plant’s English name was formerly
“ladies’ traces,” from a fancied resemblance between its twisted
clusters and the lacings which played so important a part in the
feminine toilet. I am told that in parts of New England the country
people have christened the plant “wild hyacinth.”
The flowers of S. gracilis are very small, and grow in a much
more slender, one-sided spike than those of S. cernua. They are
found in the dry woods and along the sandy hill-sides from July
onward.
PLATE XXXIII

LADIES’ TRESSES.—S. cernua.

Green-flowered Milkweed.
Asclepias verticillata. Milkweed Family.

Stem.—Slender, very leafy to the summit. Leaves.—Very narrow, from three to


six in a whorl. Flowers.—Greenish-white, in small clusters at the summit and along
the sides of the stem. Fruit.—Two erect pods, one often stunted.
This species is one commonly found on dry uplands, especially
southward, with flowers resembling in structure those of the other
milkweeds. (Pl. .)
Groundsel Tree.
Baccharis halimifolia. Composite Family (p. 13).

A shrub from six to twelve feet high. Leaves.—Somewhat ovate and wedge-
shaped, coarsely toothed on the upper entire. Flower-heads.—Whitish or
yellowish, composed of unisexual tubular flowers, the stamens and pistils
occurring on different plants.
Some October day, as we pick our way through the salt marshes
which lie back of the beach, we may spy in the distance a thicket
which looks as though composed of such white-flowered shrubs as
belong to June. Hastening to the spot we discover that the silky-
tufted seeds of the female groundsel tree are responsible for our
surprise. The shrub is much more noticeable and effective at this
season than when—a few weeks previous—it was covered with its
small white or yellowish flower-heads.

Grass of Parnassus.
Parnassia Caroliniana. Saxifrage Family.

Stem.—Scape-like, nine inches to two feet high, with usually one small
rounded leaf clasping it below; bearing at its summit a single flower. Leaves.—
Thickish, rounded, often heart-shaped, from the root. Flower.—White or cream-
color, veiny. Calyx.—Of five slightly united sepals. Corolla.—Of five veiny petals.
True Stamens.—Five, alternate with the petals, and with clusters of sterile gland-
tipped filaments. Pistil.—One, with four stigmas.
PLATE XXXIV

GRASS OF PARNASSUS.—P.
Caroliniana.

Gerarde indignantly declares that this plant has been described


by blind men, not “such as are blinde in their eyes, but in their
understandings, for if this plant be a kind of grasse then may the
Butter-burre or Colte’s-foote be reckoned for grasses—as also all
other plants whatsoever.” But if it covered Parnassus with its delicate
veiny blossoms as abundantly as it does some moist New England
meadows each autumn, the ancients may have reasoned that a plant
almost as common as grass must somehow partake of its nature. The
slender-stemmed, creamy flowers are never seen to better advantage
than when disputing with the fringed gentian the possession of some
luxurious swamp.
Pearly Everlasting.
Anaphilis margaritacea. Composite Family (p. 13).

Stem.—Erect, one or two feet high, leafy. Leaves.—Broadly linear to lance-


shaped. Flower-heads.—Composed entirely of tubular flowers with very numerous
pearly white involucral scales.
This species is common throughout our Northern woods and
pastures, blossoming in August. Thoreau writes of it in September:
“The pearly everlasting is an interesting white at present. Though the
stems and leaves are still green, it is dry and unwithering like an
artificial flower; its white, flexuous stem and branches, too, like wire
wound with cotton. Neither is there any scent to betray it. Its
amaranthine quality is instead of high color. Its very brown centre
now affects me as a fresh and original color. It monopolizes small
circles in the midst of sweet fern, perchance, on a dry hill-side.”

Fragrant Life-everlasting.
Gnaphalium polycephalum. Composite Family (p. 13).

Stem.—Erect, one to three feet high, woolly. Leaves.—Lance-shaped. Flower-


heads.—Yellowish-white, clustered at the summit of the branches, composed of
many tubular flowers.
This is the “fragrant life-everlasting,” as Thoreau calls it, of late
summer. It abounds in rocky pastures and throughout the somewhat
open woods.
Note.—Flowers so faintly tinged with color as to give a white effect in the
mass or at a distance are placed in the White section: greenish or greenish-white
flowers are also found here. The Moth Mullein (p. 152) and Bouncing Bet (p. 196)
are found frequently bearing white flowers: indeed, white varieties of flowers
which are usually colored, need never surprise one.
II
YELLOW

Marsh Marigold.
Caltha palustris. Crowfoot Family.

Stem.—Hollow, furrowed. Leaves.—Rounded, somewhat kidney-shaped.


Flowers.—Golden-yellow. Calyx.—Of five to nine petal-like sepals. Corolla.—None.
Stamens.—Numerous. Pistils.—Five to ten, almost without styles.

Hark, hark! the lark at Heaven’s gate sings,


And Phœbus ’gins arise,
His steeds to water at those springs,
On chaliced flowers that lies:
And winking Mary-buds begin
To ope their golden eyes;
With everything that pretty is—
My lady sweet, arise!
Arise, arise.—Cymbeline.

We claim—and not without authority—that these “winking


Mary-buds” are identical with the gay marsh marigolds which border
our springs and gladden our wet meadows every April. There are
those who assert that the poet had in mind the garden marigold—
Calendula—but surely no cultivated flower could harmonize with the
spirit of the song as do these gleaming swamp blossoms. We will
yield to the garden if necessary—
The marigold that goes to bed with the sun
And with him rises weeping—

of the “Winter’s Tale,” but insist on retaining for that larger, lovelier
garden in which we all feel a certain sense of possession—even if we
are not taxed on real estate in any part of the country—the “golden
eyes” of the Mary-buds, and we feel strengthened in our position by
the statement in Mr. Robinson’s “Wild Garden” that the marsh
marigold is so abundant along certain English rivers as to cause the
ground to look as though paved with gold at those seasons when they
overflow their banks.
These flowers are peddled about our streets every spring under
the name of cowslips—a title to which they have no claim, and which
is the result of that reckless fashion of christening unrecognized
flowers which is so prevalent, and which is responsible for so much
confusion about their English names.
The derivation of marigold is somewhat obscure. In the “Grete
Herball” of the sixteenth century the flower is spoken of as Mary
Gowles, and by the early English poets as gold simply. As the first
part of the word might be derived from the Anglo-Saxon mere—a
marsh, it seems possible that the entire name may signify marsh-
gold, which would be an appropriate and poetic title for this shining
flower of the marshes.

Spice-bush. Benjamin-bush. Fever-bush.


Lindera Benzoin. Laurel Family.

An aromatic shrub from six to fifteen feet high. Leaves.—Oblong, pale


underneath. Flowers.—Appearing before the leaves in March or April, honey-
yellow, borne in clusters which are composed of smaller clusters, surrounded by an
involucre of four early falling scales. Fruit.—Red, berry-like, somewhat pear-
shaped.
These are among the very earliest blossoms to be found in the
moist woods of spring. During the Revolution the powdered berries
were used as a substitute for allspice; while at the time of the
Rebellion the leaves served as a substitute for tea.

Yellow Adder’s Tongue. Dog’s Tooth Violet.


Erythronium Americanum. Lily Family.

Scape.—Six to nine inches high, one-flowered. Leaves.—Two, oblong-lance-


shaped, pale green mottled with purple and white. Flower.—Rather large, pale
yellow marked with purple, nodding. Perianth.—Of six recurved or spreading
sepals. Stamens.—Six. Pistil.—One.
The white blossoms of the shad-bush gleam from the thicket,
and the sheltered hill-side is already starred with the blood-root and
anemone when we go to seek the yellow adder’s tongue. We direct
our steps toward one of those hollows in the wood which is watered
by such a clear gurgling brook as must appeal to every country-loving
heart; and there where the pale April sunlight filters through the
leafless branches, nod myriads of these lilies, each one guarded by a
pair of mottled, erect, sentinel-like leaves.

PLATE XXXV

MARSH MARIGOLD.—C. palustris.

The two English names of this plant are unsatisfactory and


inappropriate. If the marking of its leaves resembles the skin of an
adder why name it after its tongue? And there is equally little reason
for calling a lily a violet. Mr. Burroughs has suggested two pretty and
significant names. “Fawn lily,” he thinks, would be appropriate,
because a fawn is also mottled, and because the two leaves stand up
with the alert, startled look of a fawn’s ears. The speckled foliage and
perhaps its flowering season are indicated in the title “trout-lily,”
which has a spring-like flavor not without charm. It is said that the
early settlers of Pennsylvania named the flower “yellow snowdrop,”
in memory of their own “harbinger-of-spring.”
The white adder’s tongue, E. albidum, is a species which is
usually found somewhat westward.

Celandine.
Chelidonium majus. Poppy Family.

Stem.—Brittle, with saffron-colored, acrid juice. Leaves.—Compound or


divided, toothed or cut. Flowers.—Yellow, clustered. Calyx.—Of two sepals falling
early. Corolla.—Of four petals. Stamens.—Sixteen to twenty-four. Pistil.—One,
with a two-lobed stigma. Pod.—Slender, linear.
The name of celandine must always suggest the poet who never
seemed to weary of writing in its honor:
Pansies, lilies, kingcups, daisies,
Let them live upon their praises;
Long as there’s a sun that sets,
Primroses will have their glory;
Long as there are violets,
They will have a place in story;
There’s a flower that shall be mine,
’Tis the little celandine.

And when certain yellow flowers which frequent the village roadside
are pointed out to us as those of the celandine, we feel a sense of
disappointment that the favorite theme of Wordsworth should
arouse within us so little enthusiasm. So perhaps we are rather
relieved than otherwise to realize that the botanical name of this
plant signifies greater celandine; for we remember that the poet
never failed to specify the small celandine as the object of his praise.
The small celandine is Ranunculus ficaria, one of the Crowfoot
family, and is only found in this country as an escape from gardens.
PLATE XXXVI

YELLOW ADDER’S TONGUE.—E.


Americanum.

Gray tells us that the generic name, Chelidonium, from the


ancient Greek for swallow, was given “because its flowers appear
with the swallows;” but if we turn to Gerarde we read that the title
was not bestowed “because it first springeth at the coming in of the
swallowes, or dieth when they go away, for as we have saide, it may
be founde all the yeare; but because some holde opinion, that with
this herbe the dams restore sight to their young ones, when their eies
be put out.”

Celandine Poppy.
Stylophorum diphyllum. Poppy Family.
Stem.—Low, two-leaved. Stem-leaves.—Opposite, deeply incised. Root-leaves.
—Incised or divided. Flowers.—Deep yellow, large, one or more at the summit of
the stem. Calyx.—Of two hairy sepals. Corolla.—Of four petals. Stamens.—Many.
Pistil.—One, with a two to four-lobed stigma.
In April or May, somewhat south and westward, the woods are
brightened, and occasionally the hill-sides are painted yellow, by this
handsome flower. In both flower and foliage the plant suggests the
celandine.

Downy Yellow Violet.


Viola pubescens. Violet Family.

Stems.—Leafy above, erect. Leaves.—Broadly heart-shaped, toothed. Flowers.


—Yellow, veined with purple, otherwise much like those of the common blue violet.

When beechen buds begin to swell,


And woods the blue-bird’s warble know,
The yellow violet’s modest bell
Peeps from the last year’s leaves below,

sings Bryant, in his charming, but not strictly accurate poem, for the
chances are that the “beechen buds” have almost burst into foliage,
and that the “bluebird’s warble” has been heard for some time when
these pretty flowers begin to dot the woods.
PLATE XXXVII

DOWNY YELLOW VIOLET.—V.


pubescens.

The lines which run:


Yet slight thy form, and low thy seat,
And earthward bent thy gentle eye,
Unapt the passing view to meet,
When loftier flowers are flaunting nigh,

would seem to apply more correctly to the round-leaved, V.


rotundifolia, than to the downy violet, for although its large, flat
shining leaves are somewhat conspicuous, its flowers are borne
singly on a low scape, which would be less apt to attract notice than
the tall, leafy flowering stems of the other.
Common Cinquefoil. Five Finger.
Potentilla Canadensis. Rose Family.

Stem.—Slender, prostrate, or sometimes erect. Leaves.—Divided really into


three leaflets, but apparently into five by the parting of the lateral leaflets. Flowers.
—Yellow, growing singly from the axils of the leaves. Calyx.—Deeply five-cleft, with
bracts between each tooth, thus appearing ten-cleft. Corolla.—Of five rounded
petals. Stamens.—Many. Pistils.—Many in a head.
From spring to nearly midsummer the roads are bordered and
the fields carpeted with the bright flowers of the common cinquefoil.
The passer-by unconsciously betrays his recognition of some of the
prominent features of the Rose family by often assuming that the
plant is a yellow-flowered wild strawberry. Both of the English
names refer to the pretty foliage, cinquefoil being derived from the
French cinque feuilles. The generic name, Potentilla, has reference to
the powerful medicinal properties formerly attributed to the genus.

Shrubby Cinquefoil. Five Finger.


Potentilla fruticosa. Rose Family.

Stem.—Erect, shrubby, one to four feet high. Leaves.—Divided into five to


seven narrow leaflets. Flowers.—Yellow, resembling those of the common
cinquefoil.

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