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Jahrbuch Sexualitäten 2022 Jan

Feddersen Marion Hulverscheidt Rainer


Nicolaysen Eds
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Jahrbuch Sexualitäten 2022
Jahrbuch Sexualitäten
2022
Herausgegeben im Auftrag der
Initiative Queer Nations
von
Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt
und Rainer Nicolaysen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022


www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Aldus
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Umschlagmotiv: Illustration für die LGBT Afghans Campaign
© Kushagra Singh.
ISBN (Print) 978-3-8353-5269-8
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4929-2
ISSN (Print) 2509-2871
INHALT

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Essay

Alexander Zinn
Von Blüher zu Butler
Über die zerstörerische Wirkung queerer Identitätspolitik . . . . . . 17

Queer Lectures

Rüdiger Lautmann
Hinter den sieben Bergen
Der Rechtsanwalt Hans Holbein aus Apolda –
ein bürgerlicher Queeraktivist vor 100 Jahren . . . . . . . . . . . . 33

Matthias Gemählich
Homosexuellenverfolgung in der frühen Bundesrepublik
Urteilspraxis und Rechtsprechung nach § 175 StGB
in Frankfurt am Main 1949-1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Melanie Babenhauserheide
Vom Lesen zwischen den Zeilen
Fallstricke der Thematisierung von Patriarchat, Heteronormativität
und Rassismus in der als »queer-friendly« gefeierten
Kinderbuchadaption »Anne with an E« . . . . . . . . . . . . . . . . 82

Im Gespräch

»Sie sind die Ersten, die hingerichtet werden,


aber die Letzten, die evakuiert werden.«
Vera Kallenberg im Gespräch mit dem amerikanisch-
afghanischen LGBTQ -Aktivisten Nemat Sadat über Queers
in Afghanistan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Miniaturen

Jan Feddersen, Peter Obstfelder, Clemens Schneider und


Manuel Schubert
Eine gute Zukunft – für unser Wissen
Aktuelles zur Initiative Queer Nations . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Patsy l’Amour laLove, Till Randolf Amelung und


Vojin Saša Vukadinović
»Ich habe es nicht gelesen, aber …«
Fünf Jahre »Beißreflexe« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Jan Feddersen
Bissige Intervention gegen Queerreligiöses
Gegen wen sich »Beißreflexe« richtete –
und warum es als Buch Furore machte . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Till Randolf Amelung


Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten
von Transpersonen vereinbar?
Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung
psychodynamischer Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Chantal Louis
Trans Wars
Ein Kommentar zum LesbenFrühlingsTreffen 2021 . . . . . . . . . . 169

Stephan Wackwitz
Unsere intellektuellen Körper
Bemerkungen zu Susan Sontag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Rezensionen

Julia König: Kindliche Sexualität. Geschichte, Begriff und Probleme


(Marco Kammholz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Michael Navratil/Florian Remele (Hg.): Unerlaubte Gleichheit.


Homosexualität und mann-männliches Begehren in
Kulturgeschichte und Kulturvergleich (Norman Domeier) . . . . . . 193
Heinz-Jürgen Voß (Hg.): Westberlin – ein sexuelles Porträt
(Martin Reichert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

Bill Kaulitz: Career Suicide. Meine ersten dreißig Jahre


(Patrick Henze-Lindhorst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Herausgeber*innen und Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Editorial

Dieses Vorwort, verfasst Mitte Mai 2022, steht unter dem Eindruck des
russischen Überfalls auf die Ukraine vor knapp drei Monaten. Wie sich
dieser Angriffskrieg entwickeln wird, bis Sie das gedruckte Jahrbuch im
Spätsommer in Händen halten, wissen wir nicht. Ganz in den Hinter-
grund gerückt ist angesichts der weltpolitischen Zeitenwende nicht nur
die Corona-Pandemie, sondern noch weit mehr jenes Ereignis, das uns
bewegte, als im Juli 2021 das letzte Jahrbuch Sexualitäten gerade erschie-
nen war und der neue Band geplant wurde: der Abzug der Nato-Trup-
pen aus Afghanistan nach 20-jährigem Einsatz und die Übernahme der
Macht durch die Taliban binnen weniger Wochen. Bilder vom Chaos auf
dem Kabuler Flughafen, von Verzweifelten, die sich an Tragflächen klam-
merten, gingen damals um die Welt. Zu den besonders gefährdeten Be-
völkerungsgruppen im Land zählten sogleich die LGBT-Menschen – eine
Notlage, die der US-amerikanisch-afghanische Aktivist Nemat Sadat auf
den Punkt gebracht hat: »Sie sind die Ersten, die hingerichtet werden,
aber die Letzten, die evakuiert werden.«
Für dieses Jahrbuch hat Vera Kallenberg im Dezember 2021 ein Ge-
spräch mit Nemat Sadat geführt, der von San Diego aus die Flucht von
LGBT-Menschen aus Afghanistan organisiert. Im Jahr 1979 in Afghanis-
tan geboren, dann in der Bundesrepublik und vor allem in den USA auf-
gewachsen, hatte sich Sadat 2013 während einer zweijährigen Tätigkeit
an der American University in Kabul öffentlich als schwul geoutet, ein
Novum in Afghanistan. Im Interview gibt er Auskunft über das Leben in
seinem Geburtsland vor 2021 und vor allem über seinen Einsatz für dor-
tige Schwule und Lesben seit dem Machtwechsel. Auf seiner Rettungs-
liste standen zum Zeitpunkt des Interviews Namen von 870 Personen,
für deren Ausreise er Geld sammelte und Visa besorgte. Sadats Appell,
die vom Tod bedrohten LGBT-Menschen in Afghanistan zu unterstützen,
hat seither an Dringlichkeit nicht verloren.
Einen Schwerpunkt dieses Jahrbuchs bildet wie schon im letzten die
Debatte über Identitätspolitik, die in den vergangenen zwölf Monaten an
Intensität eher noch zugenommen hat. Im diesjährigen Essay analysiert
Alexander Zinn die zerstörerische Wirkung einer queeren Identitäts-
politik, deren Vertreter*innen sich im Besitz der letzten Wahrheit wäh-
nen, die Welt entsprechend in Freund und Feind aufteilen und eine ra-
tionale Auseinandersetzung kaum mehr zulassen. Die Frage nach den
Ursprüngen eines solchen Fanatismus führt den Historiker Zinn zu
strukturellen Gemeinsamkeiten von Hans Blühers vor 100 Jahren
10 editorial

diskutierter Homosexualitätstheorie und der heute wirkmächtigen Gen-


der-Theorie Judith Butlers: In beiden Fällen zeige sich die Gefahr, die
radikale politische Konzepte bergen, wenn sie eher emanzipatorische
Traumwelten entwerfen als auf Realitäten Bezug zu nehmen. Zinn warnt
vor der Alternative einer »queeren Erziehungsdiktatur« oder eines »gro-
ßen ›Backlashs‹« und plädiert dafür, »das Spielfeld zurückzuerobern« und
jenen eine Stimme zu verleihen, die Zweifel und Widerspruch anmelden.
In ebendiesem Sinne intervenierte bereits 2017 der Sammelband
»Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten,
Sprechverboten«, mit dem die Beteiligten eine Debatte »gegen den dog-
matischen Muff der letzten zehn Jahre« anstoßen wollten. Fünf Jahre nach
Erscheinen dieses Buches halten die Herausgeberin Patsy l’Amour laLove
sowie mit Till Randolf Amelung und Vojin Saša Vukadinović zwei der
weiteren 26 Autor*innen in einer gemeinsamen Miniatur Rückschau auf
ihre damalige Motivation und die breite Rezeption des Bandes seither. In
einer weiteren Miniatur stellt Jan Feddersen »Beißreflexe« in eine Reihe
mit anderen kontrovers verhandelten Debattenbüchern seit den frühen
Zeiten der Schwulenbewegung in den 1970er Jahren – als wichtigste In-
tervention aus einer linken Perspektive zur Kritik an inzwischen nicht
mehr schwuler, sondern queeristischer Identitätspolitik.
Um den »Kampf der Identitäten« geht es auch in den Miniaturen
von Till Randolf Amelung über Psychotherapien bei Transpersonen und
von Chantal Louis über »Trans Wars«. Amelung plädiert dafür, die von
Transaktivist*innen im Zusammenhang mit Transitionen abgelehnte Psy-
chotherapie zu rehabilitieren: Gerade angesichts des irreversiblen Cha-
rakters medizinischer Transitionsmaßnahmen sollte diese nicht als Kon-
versionstherapie diffamiert, sondern als unterstützende Begleitung von
der ersten Entscheidung für Transitionsschritte an genutzt werden. Louis
berichtet, wie das jährliche LesbenFrühlingsTreffen, das traditionsreichste
und größte Lesbentreffen in Deutschland, das 2021 in Bremen stattfand,
von Transaktivist*innen und ihren Verbündeten als transphob stigmati-
siert und derartig mit einem Shitstorm und Boykottaufrufen überzogen
wurde, dass es in Existenznot geriet. Die Trennlinie in diesem Konflikt
sieht Louis nicht »zwischen ›Transfrauen‹ und ›Cisfrauen‹, sondern zwi-
schen feministischen Trans- und Cis-Frauen und solchen, die im Namen
von Transaktivismus und Queerfeminismus Frauenrechte zugunsten an-
derer ›marginalisierter Gruppen‹ hintanstellen«.
Eröffnet wird die Rubrik »Miniaturen« mit einem Bericht der Initia-
tive Queer Nations über das vergangene Jahr, verfasst von ihren vier
Vorstandsmitgliedern – mit einem erneuten Rückblick auf die geschei-
terte Etablierung eines Queeren Kulturhauses (E2H) in Berlin und einem
editorial 11

Überblick über die Aktivitäten des Jahres 2021. Dazu zählen neben der
Veröffentlichung des Jahrbuch Sexualitäten zahlreiche Veranstaltungen –
Vorträge, Gespräche und Buchvorstellungen –, die sämtlich in Koope-
ration mit der Tageszeitung »taz« digital stattfanden. Auf diese Weise
konnte die Reihe der »Queer Lectures« auch in Pandemiezeiten aufrecht-
erhalten werden, wobei sich die Zahl der Veranstaltungen wie auch ihrer
Besucher*innen gegenüber den Vorjahren noch stark erhöhte. In schrift-
licher Fassung liegen aus diesem Jahrgang vier Beiträge vor, die hier ab-
gedruckt werden: der erwähnte Essay sowie drei Aufsätze, womit unsere
Kernrubrik Queer Lectures diesmal etwas schmaler ausfällt als üblich.
Im ersten dieser Beiträge widmet sich Rüdiger Lautmann dem erst
vor wenigen Jahren von Alexander Zinn und Ralf Dose wiederentdeck-
ten »bürgerlichen Queeraktivisten« Hans Holbein (1864-1929) aus dem
thüringischen Apolda, der sich als Strafverteidiger in Sexualitätssachen
einen Namen machte und als Einzelkämpfer in der Provinz beständig
für die Entkriminalisierung der Homosexualität eintrat. Unter Holbeins
zahlreichen, teils ungewöhnlichen Aktionen war seine Testamentsver-
fügung ein besonderer Coup: Der Universität Jena vermachte er die gut
ausgestattete Holbein-Stiftung mit der Auflage, einen »Lehrstuhl für Ge-
schlechtswissenschaft« unter besonderer Berücksichtigung der Bi- und
Homosexualität einzurichten. Nach seinem Tod 1929 wurde die Umset-
zung dieses Vermächtnisses allerdings von der Universität mit der Be-
gründung verweigert, sie wolle nicht »zu einem Sammelpunkt uner-
wünschter Elemente« werden. Holbein zu rehabilitieren und die Stiftung
neu zu gründen, ist das Ziel der 2019 von Zinn, Lautmann und Dose ins
Leben gerufenen »Initiative Holbein-Stiftung«, die beachtliche öffentli-
che Resonanz gefunden hat. Neben einer biographischen Spurensuche ist
Lautmanns Beitrag in diesem Jahrbuch auch ein Plädoyer dafür, den Blick
auf die schwule bzw. queere Geschichte in Deutschland über Berlin sowie
andere großstädtische Zentren und einige wenige Heldenfiguren hinaus
erheblich zu weiten, um Aktionen und Aktivisten »hinter den sieben Ber-
gen« wie Hans Holbein überhaupt wahrzunehmen.
Ein noch immer unterbelichtetes Thema der historischen Forschung
ist die Homosexuellenverfolgung in der frühen Bundesrepublik, in der
der Paragraf 175 StGB bekanntlich noch bis 1969 in seiner von den Na-
tionalsozialisten entgrenzten Fassung weitergalt, was zur Verurteilung
von etwa 50.000 Männern führte. Tiefere Einblicke in die damalige Ur-
teilspraxis und Rechtsprechung gibt der Historiker Matthias Gemählich
in seiner Fallstudie über Frankfurt am Main, für die er die ungewöhn-
lich vollständige Urteilssammlung des dortigen Amts- und Landgerichts,
insgesamt 1.528 Urteile aus den Jahren 1949 bis 1964, systematisch
12 editorial

gewertet hat. Er zeigt, wie sehr sich die Strafverfolgung in dieser Zeit in
den Bahnen der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung be-
wegte, dass in der Regel ähnlich hohe Haftstrafen wie in der NS-Zeit
verhängt wurden und mehrheitlich erwachsene Männer betroffen wa-
ren, die einvernehmliche Sexualkontakte miteinander gehabt hatten, zum
Teil auch solche, die bereits in der NS-Zeit in Gefängnissen, Zuchthäu-
sern und Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren. Die in der For-
schung bisweilen als Beginn oder Höhepunkt der Verfolgung in der Bun-
desrepublik hervorgehobenen »Frankfurter Homosexuellenprozesse« von
1950/51 bezeichnet Gemählich in diesem Zusammenhang insofern als
Mythos, als es sich nicht um den Ausnahme-, sondern um den Normal-
fall der Homosexuellenverfolgung in den 1950er Jahren gehandelt habe.
Ins späte 19. bzw. frühe 20. Jahrhundert und zugleich in die jüngste
Vergangenheit blendet der Aufsatz der Erziehungswissenschaftlerin Me-
lanie Babenhauserheide, die sich kritisch mit der als feministisch und
»queer-friendly« gefeierten, in drei Staffeln bis 2020 auf Netflix gezeig-
ten Serie »Anne with an E« auseinandersetzt, einer Adaption des 1908
erschienenen Kinderbuchklassikers »Anne of Green Gables« von Lucy
Maud Montgomery. Bezogen auf die Themen Kolonialismus, Sexualität
und Geschlecht nimmt Babenhauserheide die Verfilmung genauer unter
die Lupe und zeigt exemplarisch auf, wie die 1877 einsetzende, in Kanada
angesiedelte Erzählung durch die Anlegung heutiger moralischer Maß-
stäbe ihrer Zwischentöne, Ambivalenzen und Spannungen beraubt und
die Botschaft identitärer Selbstverwirklichung »eingehämmert« wird. Der
kritische Anspruch der Serie schlage letztlich in autoritative Belehrung
um, wobei aktuelle Standpunkte als Gegenbild zur Zeit des 19. Jahrhun-
derts idealisiert würden und Kritik an der heutigen Gesellschaft weitge-
hend auf der Strecke bleibe.
Eine Brücke zur fünften Rubrik, Rezensionen, schlägt die essayistische,
autobiographisch geprägte Miniatur des Schriftstellers Stephan Wack-
witz, dessen Lektüre von Benjamin Mosers monumentaler, zuerst im Jahr
2019 erschienener Susan Sontag-Biographie bei ihm einen intensiven
flashback auslöste, führte sie doch vor Augen, wie sehr ihn selbst in jun-
gen Jahren die damals vorherrschende »Leibfeindlichkeit des Bildungs-
bürgertums« beschränkt hatte. Wackwitz beschreibt Sontags Distanz zum
Körperlichen bis hin zur demonstrativen Vernachlässigung des eigenen
Körpers und verweist auf die bis an ihr Lebensende aufrechterhaltene
Weigerung, als öffentliche Person dazu zu stehen, sexuell Frauen zu be-
vorzugen. Sontags Lebensproblem sei das einer körperlich unerlösten In-
tellektualität gewesen – ein Problem, das die Intellektuellengeneration
um 1968 geradezu charakterisiere.
editorial 13

Im Rezensionsteil finden sich schließlich vier Besprechungen von aus-


gewählten Büchern, die 2021, in einem Fall schon 2020, erschienen sind.
Behandelt werden Julia Königs Dissertation über Geschichte, Begriff und
Probleme kindlicher Sexualität, ein Sammelband über »Homosexua-
lität und mann-männliches Begehren in Kulturgeschichte und Kultur-
vergleich«, die Textsammlung »Westberlin – ein sexuelles Porträt« sowie
die frühe Autobiographie von Tokio Hotel-Sänger Bill Kaulitz über seine
»ersten dreißig Jahre«.
Hinsichtlich der Redaktion des Jahrbuchs ist erneut von einem Wech-
sel zu berichten: Nach vier gemeinsamen Jahrgängen hat Benedikt Wolf
seine Aufgabe als Mitherausgeber abgegeben; eingetreten ins Heraus-
gabeteam ist die Kasseler Medizinhistorikerin und Ärztin Marion Hul-
verscheidt.

Wir wünschen – auch in schwierigen Zeiten – eine anregende Lektüre.

Berlin/Kassel/Hamburg, im Mai 2022


Jan Feddersen
Marion Hulverscheidt
Rainer Nicolaysen
Essay
Von Blüher zu Butler
Über die zerstörerische Wirkung queerer Identitätspolitik*

Alexander Zinn

»I am what I am / and what I am / needs no excuses«: Gloria Gaynors


Disco-Adaption aus dem Musical »Ein Käfig voller Narren« wurde 1984
zu einem Welterfolg – und zur internationalen Hymne der Schwulen-
bewegung. Die Botschaft war gerade in ihrer Schlichtheit anschlussfähig:
Jeder nach seiner Façon, keiner soll sich entschuldigen für sein »So-Sein«,
niemand soll mit den Wölfen heulen müssen.
40 Jahre später propagieren die meisten Lesben- und Schwulenver-
bände das glatte Gegenteil. Entschuldigen sollen sich nun allerdings die
»Anderen«: die Heterosexuellen, denen man »Heteronormativität« oder
»Heterosexismus« vorhält, zunehmend aber auch Angehörige der »ei-
genen« LGBTI-Communities, die man in einem lehrbuchhaften Akt des
»Otherings« als »cis-gender«, »weiß«, »alt« oder »homonationalistisch«
diskreditiert. Jedenfalls dann, wenn sie nicht jede Verbandsforderung
willfährig unterstützen, wenn sie Kritik üben, aus der Reihe tanzen, einen
eigenen Kopf beweisen. Die Reihe derjenigen, die sich dieses »Verge-
hens« schuldig gemacht haben, wird immer länger. Zu ihnen gehören
Birgit Kelle, Joanne K. Rowling und Jan Feddersen, neuerdings nun auch
Sandra Kegel, Gesine Schwan und Wolfgang Thierse. Organisationen,
die Vielfalt predigen, produzieren nur noch Einfalt. Statt den Diskurs zu
suchen, auf Kritik mit Argumenten zu antworten, besteht man auf Un-
terwerfungsgesten und fordert Entschuldigungen für angeblich verletzte
Gefühle. Wer sich nicht beugt, muss mit Ausladung, Ausgrenzung und
öffentlicher Denunziation als homo- und, inzwischen fast schlimmer,
transphob rechnen.
So wie in einem dieser »Skandale«, der im Februar 2021 durch einen
Kommentar von Sandra Kegel, Feuilletonchefin der »Frankfurter Allge-
meinen Zeitung« (FAZ), ausgelöst wurde.1 Darin hatte sie vorsichtige
* Der Essay basiert auf einem Livestream-Vortrag, der am 17. Mai 2021 als taz Talk
meets Queer Lectures gehalten wurde; abrufbar unter: https://www.youtube.com/
watch?v=0vqyvN1O1jU [letzter Zugriff am 23.2.2022].
1 Sandra Kegel: Manifest der 185. Selbstbewusstsein und Kalkül. In: Frankfurter Allge-
meine Zeitung vom 5.2.2021, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/wir-sind-schon-
da-manifest-der-185-17183459.html [letzter Zugriff am 23.2.2022].
18 alexander zinn

Zweifel angemeldet, ob homosexuelle Schauspieler tatsächlich so stark


diskriminiert werden, wie es in dem damals veröffentlichten Manifest
»Act-Out« behauptet wird. Zweifel, die nicht völlig aus der Luft gegriffen
sind, galten Bühne und Film bislang doch als Sphären, in denen Schwule
und Lesben nicht unbedingt benachteiligt werden. Bekannt sind eher ge-
genteilige Klagen: So beschwerte sich ein heterosexueller Schauspieler
schon 1963, dass es am Zwickauer »Theater einen allgemein verbreite-
ten Standpunkt gibt, dass Homosexualität gleich Talent wäre«.2 Nun mag
Sandra Kegel mit ihren Zweifeln ja völlig falsch liegen. Doch statt mit Ar-
gumenten zu kontern, bezichtigte man sie lieber der Homophobie und
AfD-Nähe und forderte von Gesine Schwan, Kegel von einer Diskussi-
onsveranstaltung der SPD auszuladen. Hervor tat sich in diesem Fall auch
der Lesben- und Schwulenverband, von dem man Aktivitäten in Sachen
»Cancel-Culture« bisher noch nicht gewohnt war. In einem Newslet-
ter empörte sich der LSVD, dass sich die SPD trotz »tagelangem, hartnä-
ckigem Engagement« »nicht zu schade« gewesen sei, »die Einladung an
Kegel aufrechtzuerhalten«. Damit habe die SPD »versagt« bei der »Par-
teinahme für queere Menschen«.3 Tatsächlich hatte Gesine Schwan die
FAZ-Feuilletonchefin nicht aus-, sondern stattdessen die Kritiker eingela-
den, sich an der Diskussion zu beteiligen. Doch diese gebärdeten sich dort
dann wie Inquisitoren, die allenfalls ein mea culpa der Angeklagten zu ak-
zeptieren bereit waren.
Dass man mit solchen Aktionsformen weder die Bevölkerung für sich
gewinnt noch das durchaus vielfältige Spektrum von Lesben, Schwu-
len und Transmenschen repräsentiert, haben die Reaktionen in Presse
und Politik zur Genüge gezeigt. Doch es wäre zu einfach, die Sache
als die Verirrung einiger Fanatiker abzutun. Dass nicht nur LGBTI-Or-
ganisationen und -medien, sondern auch der SPD-Vorstand den An-
klägern beisprangen, zeigt vielmehr, wie salonfähig die Cancel-Politik
inzwischen geworden ist. Der SPD-Politiker und frühere Bundestagsprä-
sident Wolfgang Thierse hat zu Recht darauf hingewiesen, wie gefähr-
lich diese Entwicklung ist. Die Verweigerung der rationalen Auseinander-
setzung, der Rückzug in eine emotional grundierte Opferkultur und die
Diskreditierung jeder Kritik als »verletzend« und deswegen homophob,
frauenfeindlich, rassistisch oder rechtsextrem, ist im Kern tatsächlich

2 Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, MfS BV Karl-Marx-Stadt XIV


148/63,Teil A, Bd. 2, Bl. 8-10, Bericht vom 8.1.1963, Zitat Bl. 8.
3 SPD versagt bei Parteinahme für queere Menschen. Fassungslose Farce bei SPD-Grund-
wertekommission und Kulturforum der Sozialdemokratie: Sandra Kegel zu Gast bei jour
fixe. In: LSVD-Newsletter vom 19.2.2021, https://www.lsvd.de/de/ct/4534-SPD-ver-
sagt-bei-Parteinahme-fuer-queere-Menschen [letzter Zugriff am 23.2.2022].
von blüher zu butler 19

»demokratiefeindlich«.4 Wie konnte es dazu kommen, dass viele Lesben-


und Schwulenverbände in ein solches Fahrwasser gerieten?
Betrachtet man die schwul-lesbische Gleichstellungspolitik der ver-
gangenen 30 Jahre, erscheinen die jüngsten Entwicklungen eher überra-
schend. Mit der Gründung des Schwulenverbandes (SVD) im Jahr 1990
schlug man einen pragmatischen, bürgerrechtlich orientierten Kurs ein,
der große Erfolge zeitigte. Erfolge, die vor allem darauf zurückzuführen
waren, dass man, mit den Worten Thierses, »das Eigene in Bezug auf das
Gemeinsame« dachte. So zum Beispiel mit der »Aktion Standesamt«:
Schwule und lesbische Paare liebten einander ebenso wie heterosexu-
elle, weshalb ihnen auch die Ehe nicht verboten werden dürfe, lautete die
simple Botschaft. Eine Botschaft, mit der der (L)SVD die Herzen vieler
Menschen erobern und zunächst die »Eingetragene Lebenspartnerschaft«,
später dann auch die Öffnung der Ehe durchsetzen konnte.
Werden die Verbände nun Opfer ihres eigenen Erfolgs? Das zumin-
dest meint der britische Journalist Douglas Murray, der die neue Radi-
kalität der Gay-, Black- und Women-Rights-Bewegungen darauf zurück-
führt, dass die rechtliche Gleichstellung in den westlichen Demokratien
weitgehend erreicht sei. Wie der »Heilige Georg im Ruhestand« suchten
Interessenverbände nun verzweifelt nach neuen Aufgabenfeldern, und
man sehe sie immer häufiger mit ihrem »Schwert in der Luft herum-
fuchteln und unsichtbare Drachen herausfordern«.5 Tatsächlich suchen
sich Organisationen wie der um lesbische Frauen zum LSVD erweiterte
Schwulenverband in den letzten Jahren immer neue Themen- und Auf-
gabengebiete. Mit großem Engagement kämpft man nun zum Beispiel für
Trans- und Intersexuelle. Freilich verschärft man damit auch die inneren
Konflikte. Schon Schwule und Lesben waren nur schwer vor einen Kar-
ren zu spannen. Und auch die Forderung nach Auflösung der binären Ge-
schlechterordnung erschließt sich einer Basis, deren sexuelle Präferenz an
das eigene Geschlecht gebunden ist, nicht unmittelbar.
Tatsächlich regt sich Unmut: so insbesondere unter Feministinnen,
die nicht akzeptieren wollen, dass heterosexuelle Männer künftig durch
bloßes Vorsprechen beim Standesamt (und ohne medizinisch-pharma-
kologische Maßnahmen) zu lesbischen Frauen werden sollen. Oder dass
Kinder im Alter von acht, zwölf oder vierzehn Jahren reif genug sind, um

4 Wolfgang Thierse: Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft? Frankfurter Allgemeine
Zeitung vom 22.2.2021, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wolfgang-
thierse-wie-viel-identitaet-vertraegt-die-gesellschaft-17209407.html [letzter Zugriff am
23.2.2022].
5 Douglas Murray: Wahnsinn der Massen. Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Ge-
sellschaft vergiften. München 2020, S. 19.
20 alexander zinn

beurteilen zu können, ob sie transgeschlechtlich sind – mit allen Konse-


quenzen einschließlich der Behandlung mit Pubertätsblockern, Hormo-
nen etc. Tatsächlich gibt es Anlass für Fragen und Zweifel, wie Erfahrun-
gen aus Großbritannien zeigen. Dort melden sich immer mehr Menschen
zu Wort, die sich als vermeintlich transsexuelle Kinder und Jugendliche
dazu verführen ließen, sich einer medizinischen Behandlung zu unter-
ziehen. Einige von ihnen stellten später fest, dass sie eigentlich lesbisch
oder schwul sind – und bereuen es bitterlich, ihren Körper mit Pubertäts-
blockern und Hormonen geschädigt zu haben. Doch die führenden Ver-
bände und Medien der LGBTI-Community wollen von solchen Proble-
men nichts hören. Wer sie anspricht, wird als »transphob« abgekanzelt:
so etwa Jan Feddersen, als er die lesbische Aktivistin Gunda Schumann
im März 2020 zu einer taz Queer Lecture einlud, um über dieses Thema
zu sprechen. Der Proteststurm war so heftig, dass Schumann ihre Zusage
zurückzog und die Veranstaltung abgesagt werden musste.6 Für hysteri-
sche Reaktionen sorgte auch die Ankündigung von ähnlichen Vorträgen
beim LesbenFrühlingsTreffen 2021.
Wie konnte es so weit kommen? Die seit einigen Jahren zu beobach-
tende Orientierungslosigkeit der Interessenverbände hat sie zu einem
leichten Opfer radikaler Ideologen werden lassen. Pragmatische Politik-
ansätze wurden zurückgedrängt, stattdessen übernahmen Akteure das
Ruder, die in den akademischen Blasen der Universitäten in Fragen von
Queer Theory, Postkolonialismus und intersektionaler Diskriminierung
geschult worden sind. Mangels anderer Berufsaussichten drängen sol-
che Absolventen bevorzugt in Nichtregierungsorganisationen und Me-
dien, wo sie in den letzten Jahren an vielen Stellen tonangebend werden
konnten. Im »ideologischen« Gepäck haben sie all jene Vorstellungen, die
Caroline Fourest in ihrem Buch »Generation Beleidigt« als »linksidenti-
tär« bezeichnet: die Reduzierung der komplexen modernen Gesellschaf-
ten auf ein tribalistisches Konzept identitär bestimmter Gruppen, die für
sich eine »angemessene« Repräsentation fordern, was nur in einer neuen
Form des Ständestaates enden kann.7

6 Vgl. etwa Inga Barthels: »Absolut fassungslos«. Taz-Veranstaltung als transfeindlich kri-
tisiert. Tagesspiegel vom 26.2.2020, https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queer-
spiegel/absolut-fassungslos-taz-veranstaltung-als-transfeindlich-kritisiert/25579916.
html; Wilhelm Vogelpohl: Chronik der Ereignisse. Eine geplante Veranstaltung und
die Folgen, https://blogs.taz.de/hausblog/eine-geplante-veranstaltung-und-die-folgen
[letzter Zugriff jeweils am 23.2.2022].
7 Vgl. Caroline Fourest: Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei.
Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer. Berlin 2020.
von blüher zu butler 21

Wie regressiv die linksidentitären Konzepte sind und wie wenig sie
noch mit der Vision einer Gesellschaft freier Individuen zu tun haben,
haben in der LGBTI-Bewegung bislang nur die Wenigsten verstanden.
Dabei lässt sich kaum übersehen, dass mit der neuen »Identitätspoli-
tik« hoher Konformitätsdruck einhergeht. Wer nicht mit den Wölfen
heult, wird zum Paria. Mit der populär gewordenen Losung »I am what
I am« hat das nichts mehr zu tun. Stattdessen werden Individuen auf
ihre identitären Eigenschaften reduziert, aus denen sich ihr Platz in einer
Welt ergeben soll, die aufgeteilt ist in Schwarz und Weiß, Freund und
Feind. Wie in archaischen Stammesgesellschaften wird die eigene Gruppe
vor »schädlichen Einflüssen« und »Ehrverletzungen« geschützt. Doch die
»Safe Spaces«, die man nun allenthalben fordert, sind geistige Gefäng-
nisse, an deren Toren Diskurswächter die neuen Benimmregeln kontrol-
lieren. Worin sich all das von den miefigen fünfziger Jahren unterschei-
det, aus denen man einst zur sexuellen Revolution aufbrach, ist kaum
auszumachen.
Befremdlich ist das Selbstbild, das mit all dem einhergeht. Wer sich
lediglich als potenzielles Diskriminierungsopfer wahrnehmen kann, ist
kaum in der Lage, anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Im Gegenüber
sieht man dann nur noch einen Aggressor, dem man selbst Fragen nach
Herkunft oder Lebensumständen als Affront auslegt. Natürlich kann die
Konfrontation mit Vorurteilen belastend sein. Doch Vorurteile basie-
ren oft auf Erfahrungswerten, und ohne sie könnte kein Mensch leben.
Manchmal handelt es sich um dümmliche Pauschalisierungen, aber nur
selten entspringen sie böser Absicht. Die Kunst besteht darin, »mit Vor-
urteilen zu leben«, wie der jüdische und schwule Soziologe Alphons Sil-
bermann stets betonte.8 Eine Kunst, die vor allem Gelassenheit und Hu-
mor erfordert – Tugenden, die uns offenbar abhandengekommen sind.
Die größte Gefahr, die von der heutigen, linksidentitären Ideologie
ausgeht, ist, dass sie die Werte der Aufklärung, besonders die univer-
selle Gültigkeit der Menschen- und Bürgerrechte, infrage stellt. Stattdes-
sen frönt man einem exzessiven Kulturrelativismus, der sich von rechts-
identitären Konzepten nur in Nuancen unterscheidet. Einige Akteure
relativieren sogar die Genitalverstümmlung junger Frauen als Ausdruck
kultureller Authentizität und diskreditieren deren Kritiker als »eurozen-
tristisch« oder »rassistisch«. Konsequent zu Ende gedacht, könnte man
dann auch rechtfertigen, dass die Terroristen des Islamischen Staates Ho-
mosexuelle von Hochhausdächern warfen. Das kulturrelativistische und

8 Alphons Silbermann: Alle Kreter lügen. Die Kunst, mit Vorurteilen zu leben. Bergisch
Gladbach 1995.
22 alexander zinn

»intersektionale« Antidiskriminierungsbündnis führt dazu, dass solche


Widersprüche aus falscher Rücksichtnahme auf vermeintliche Bündnis-
partner unter den Teppich gekehrt werden. So etwa vom LSVD-Bundes-
verband, der nicht müde wird, die Homophobie der katholischen Kirche
anzuprangern, von dem aber wochenlang nichts zu hören war, als ein isla-
mistischer Attentäter in Dresden ein schwules Paar angriff und einen der
Männer ermordete.
Was aber sind die tieferen Ursachen dafür, dass Organisationen, die
in den 1990er Jahren mit einer neuen Realpolitik die wohl erfolgreichste
Phase der Homosexuellenemanzipation einleiteten, inzwischen unter
einem derartigen Realitätsverlust leiden? Douglas Murrays Analyse, die
immer abstruseren Forderungen der Interessenverbände seien darauf zu-
rückzuführen, dass Gleichberechtigung und Gleichstellung bereits weit-
gehend erreicht seien, ist sicher nicht falsch, greift aber zu kurz. Schließ-
lich könnten sich die Verbände in einer so komfortablen Situation auch
beruhigt zurücklehnen und mit einer gelassenen Wächterposition be-
gnügen, etwa nach dem Vorbild der Verbraucherzentralen. Woher also
kommt der Eifer, der Fanatismus, der die neue Identitätspolitik bestimmt?
Um diese Frage zu beantworten, hilft ein Blick in die Geschichte der ho-
mosexuellen Emanzipationspolitik. Denn der Konflikt zwischen »Realos«
und »Fundis«, der in den Debatten über die neue Identitätspolitik ausge-
tragen wird, ist nicht neu. Im Gegenteil: Die LGBTI-Bewegung hat Ähn-
liches schon früher erlebt, ja sie scheint eine gewisse Affinität zu derarti-
gen Konflikten zu haben. Eine der Ursache liegt in der Neigung zu einer
Theoriebildung, die darauf zielt, Homosexualität historisch oder sozio-
logisch zu legitimieren, der dabei mitunter aber jeglicher Realitätsbezug
abhandenkommt.
Als wenig realitätstauglich erweist sich aktuell vor allem die Gender-
Theorie, deren wesentlicher Gründungsimpuls von der US-amerikani-
schen Philosophin Judith Butler ausging. Mit ihr und ihren Texten wurde
diese Theorie aus der akademischen Welt in die LGBTI-Politik impor-
tiert. Butlers These, dass nicht nur das soziale, sondern auch das biolo-
gische Geschlecht »konstruiert« sei, hat die sozialwissenschaftliche For-
schung gerade wegen ihrer Radikalität in vielerlei Hinsicht befruchtet.
Doch solche Theorien werden unter Forschern kontrovers diskutiert und
lassen sich kaum als wissenschaftliche und schon gar nicht als alltags-
taugliche »Wahrheiten« verkaufen. Das Problem ist, dass bei Butler wie
bei vielen ihrer Vorgänger die Grenzen zwischen sozialwissenschaft-
licher Theorie und politischer Ideologie verschwimmen. Wer sich in sei-
ner Theoriebildung von dem Ziel einer vermeintlich idealen, nämlich dis-
kriminierungsfreien Welt leiten lässt, ja wer sozialphilosophische Thesen
von blüher zu butler 23

gar als politische Handlungsanweisungen betrachtet, landet schnell im


Bereich autoritärer Zwangsmaßnahmen. Doch derartige Versuche, einen
»neuen Menschen« zu erschaffen, sind noch immer gescheitert: Meist en-
deten sie in diktatorischen Regimen. Wer die Menschen zu ihrem »Glück«
zwingen, wer die heterosexuelle Mehrheit darüber belehren möchte, wie
sie eigentlich zu leben hätte, provoziert massiven Widerstand – und mit-
unter auch neue Verfolgungswellen. Ein lehrreiches historisches Beispiel
sind die Theorien Hans Blühers, eines Homosexuellenaktivisten der ers-
ten Stunde, der 1912 mit einem Buch über die »Wandervogelbewegung als
erotisches Phänomen« ins Licht der Öffentlichkeit trat.
Blüher konstruierte in seinen Büchern unter Bezug auf die antike
Päderastie eine homosexuelle Traumwelt: Er attestierte Männerbünden
wie dem deutschen Wandervogel, sie würden durch unbewusste Homo-
erotik zusammengehalten, und entwarf das Bild eines homosexuellen
»Führers«, des sogenannten »Männerhelden«, dem die männliche Ju-
gend aufgrund seiner erotischen Ausstrahlung quasi zu Füßen liege: Der
»Männerheld« war für ihn der ideale Staatsmann und Erzieher von Kna-
ben und jungen Männern. Aufgrund ihrer »Heldenliebe« zu ihm könne
er mit seinen »päderastischen Wünschen offen hervortreten, sie durch-
setzen, aber nicht das mindeste dadurch an Autorität verlieren«.9 Letzt-
lich, so meinte Blüher, basiere das gesamte Staatswesen auf Homoerotik
und Homosexualität: Während in der »heterosexuellen Liebesrichtung
die Tendenz zur Absonderung« liege, so Blüher, wirke »die invertierte
[homosexuelle; A. Z.] Richtung stets sozialisierend«. Unbewusste Homo-
erotik wie auch ausgelebte Homosexualität erklärte er nicht nur zum Bin-
deglied von Männerbünden wie dem Wandervogel, er betrachtete sie als
»die Grundlage der Staatenbildung«.10
Blühers Theorie war eine Reaktion auf die Eulenburg-Affäre von
1906, bei der Homosexuellen im Umfeld des Kaisers vorgeworfen
wurde, Cliquen und Netzwerke zu bilden, die die deutsche Außenpolitik
schwächten und das Kaiserreich schädigten. Blüher hingegen versuchte
das tradierte Klischee vom negativen, »zersetzenden« Einfluss homose-
xueller Kreise ins Gegenteil zu verkehren und der Homosexualität einen
staatspolitischen Sinn zuzuweisen. Insoweit war Blühers Konzept weni-

9 Hans Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Jena 1917, S. 243;
vgl. auch ders.: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Eine Theorie der
menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert, II. Band: Familie und Männerbund.
Jena 1919, S. 217-224.
10 Hans Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Berlin
1914, zitiert nach dem Faksimile-Nachdruck in: ders.: Wandervogel 1 bis 3. Geschichte
einer Jugendbewegung. Frankfurt a. M. 1976, S. 85 f.
24 alexander zinn

ger eine sozialwissenschaftliche Theorie als ein politisches Programm.


Und in seiner Radikalität erregte es große Aufmerksamkeit. Blühers The-
sen wurden in den 1920er Jahren breit diskutiert und waren unter Intel-
lektuellen ähnlich populär wie es Judith Butlers Gender-Theorie heute ist.
Populär waren sie nicht zuletzt unter den Homosexuellen selbst, und das
über alle politischen Lager hinweg.
So zeigte sich der Linksintellektuelle Kurt Hiller, führender Mitar-
beiter und seit 1929 auch zweiter Vorsitzender der realpolitisch orien-
tierten Homosexuellenorganisation »Wissenschaftlich-humanitäres Ko-
mitee« (WhK), begeistert von Blühers frühen Büchern und zählte sie
zu den Standardwerken über Homosexualität.11 Thomas Mann notierte
nach einer Rede Blühers, der er im Februar 1919 als Ehrengast gelauscht
hatte: »Ein ausgezeichneter Vortrag, mir fast Wort für Wort aus der Seele
geredet.«12 In seiner 1922 gehaltenen Rede »Von deutscher Republik«
versuchte Mann, das Phänomen der »mann-männlichen Erotik« für »die
Republik nutzbar zu machen«.13 Und 1925 schrieb er, Blühers Buch sei
»von starkem Wahrheitseinschlag« und habe »die Herkunft des Staa-
tes selbst aus dieser Sphäre zu erweisen gesucht und plausibel zu ma-
chen verstanden«.14 Doch auch ein homosexueller SA-Mann berief sich
auf Blüher, als er dem WhK 1932 vorwarf, den »Degout der Masse durch
peinliche Sexualvorstellungen wachgerufen« zu haben. Hätte man da-
gegen, »von Hans Blüher geführt«, den »Kampf der Aufklärung erst ge-
gen die Verfemung gerichtet«, so wäre die Abschaffung des Homosexuel-
lenparagrafen 175 »nebenbei erledigt worden«.15 Besonderer Beliebtheit
erfreuten sich Blühers Thesen auch unter pädophilen Homosexuellen:
Neben Gustav Wyneken galt ihnen Blüher als ein geistiger Vater des
»pädagogischen Eros«, eines Konzeptes, das dazu genutzt wurde, sexuelle
Kontakte zu Kindern und Jugendlichen zu legitimieren.16
Doch Blühers Thesen provozierten auch massiven Widerstand. Und
von ihnen führte schließlich eine direkte Linie ins »Dritte Reich«. Denn

11 Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit, Teil 1 [Logos]. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 115;
ders.: Der Sinn eines Lebens. In memoriam Magnus Hirschfeld. In: Gesundheit und
Wohlfahrt 15 (1935), Nr. 7, S. 333-336.
12 Thomas Mann: Tagebücher 1918-1921. Frankfurt a. M. 1979, S. 148 [Eintrag vom
19.2.1919].
13 Zitiert nach Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik
und Jugendkultur (1880-1934). Köln 2008, S. 449.
14 Thomas Mann: Die Ehe im Übergang. In: Hermann Graf Keyserling: Das Ehe-Buch.
Darmstadt 1926, S. 217-231, hier S. 221.
15 Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK), Jg. 1926-1933, Faksi-
mile-Nachdruck. Hamburg 1985, S. 341.
16 Zu Gustav Wyneken vgl. insbes. seine Schrift Eros. Lauenburg/Elbe 1921.
von blüher zu butler 25

auch Heinrich Himmler las Blühers Bücher über die »Rolle der Erotik
in der männlichen Gesellschaft«. Und auch er zeigte sich zutiefst beein-
druckt von Blühers Thesen. So notierte er am 4. März 1922 in seinem Ta-
gebuch: »In dem Buch gelesen, es packt und rüttelt einen im Tiefsten,
man möchte zur Frage kommen, was hat das Leben für einen Zweck, es
hat aber einen. – Tee. Studiert. Abendessen. Wieder gelesen. […] Übun-
gen. ½ 11 Uhr Bett, unruhig geschlafen.« In seiner Leseliste notierte er:
»Der Mann ist sicher kolossal tief in die menschliche Erotik eingedrun-
gen und hat sie psychisch und philosophisch erfasst.« Letztlich jedoch zog
Himmler ganz andere Schlüsse aus Blühers Thesen, als es diesem recht
sein konnte: »Dass es eine männliche Gesellschaft geben muss, ist klar.
Ob man es als Erotik bezeichnen kann, bezweifle ich. Auf jeden Fall ist die
reine Päderastie eine Verirrung eines degenerierten Individuums, da sie
naturwidrig ist.«17
Letztlich entwickelte der spätere Gestapo-Chef aus Blühers Ideen eine
Verschwörungstheorie, mit der er dann die nationalsozialistische Homo-
sexuellenverfolgung rechtfertigen sollte: In seinen Augen bildeten Ho-
mosexuelle eine verschworene Gemeinschaft, die das Leistungsprinzip
durch »ein erotisches Prinzip« ersetzte. Wenn aber »ein geschlechtliches
Prinzip im Männerstaat von Mann zu Mann einkehrt, beginnt die Zerstö-
rung des Staates«, so Himmler in einer Geheimrede vor SS-Führern im
Jahr 1937: »Homosexualität bringt also jede Leistung, jeden Aufbau nach
Leistung im Staat zu Fall und zerstört den Staat in seinen Grundfesten.«18
Wie ein roter Faden zog sich diese Verkehrung der Blüher-Thesen durch
alle Stellungnahmen, mit denen die nationalsozialistische Homosexuel-
lenverfolgung gerechtfertigt wurde. So etwa durch eine im Frühjahr 1937
publizierte Artikelserie der SS-Zeitschrift »Das Schwarze Korps«. Hier
hieß es unter der Überschrift »Das sind Staatsfeinde«: »Sie sind Staats-
verbrecher, weil sie nicht nur aus ›Neigung‹, sondern ebenso aus Zweck-
mäßigkeitsgründen immer mit ihresgleichen umgehen, sobald sie ir-
gendwo eine leitende Stellung bekleiden und Vorgesetzte abhängiger
Untergebener sind. Sie bilden einen Staat im Staate, eine geheime, den
Interessen des Volkes zuwiderlaufende, also staatsfeindliche Organisa-
tion.« Wenig überraschend war es, dass als Kronzeuge für diese These der
»Wandervogelapostel Hans Blüher« auch namentlich angeführt wurde,

17 Zitiert nach Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie. München 2008, S. 59.
18 Heinrich Himmler: Geheimrede am 18.2.1937. In: ders.: Geheimreden 1933 bis 1945 und
andere Ansprachen. Hg. von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson. Frankfurt a. M.
1974, S. 93-104, hier S. 95 f.
26 alexander zinn

dessen »Ideologie« sich »gegen den Bestand der Volksgemeinschaft« rich-


te.19
Die Wirkungsgeschichte Blühers und seiner Homosexualitätstheorie
macht deutlich, welche Gefahren radikale politische Konzepte bergen, die
emanzipatorische Traumwelten entwerfen, ohne sich um deren sozial-
wissenschaftliche Evidenz zu scheren. Und hier liegt die Gemeinsamkeit
Hans Blühers mit Judith Butler. Denn auch Butlers Theorien sind mehr
von politischem Wunschdenken getrieben als von faktenbasierter Ana-
lyse. Und das räumt sie auch offen ein. So schrieb sie schon 1990 in ihrem
Kult-Buch »Das Unbehagen der Geschlechter«, ihr eigentliches Ziel sei
eine feministische Politik, die »die Geschlechter-Binarität in Verwirrung
bringt und ihre grundlegende Unnatürlichkeit enthüllt«. Butlers Thesen
standen also von Beginn an im Dienste eines politischen Programms, bei
dem es darum ging, »die ›De-Naturalisierung‹ bzw. ›Ent-Selbstverständ-
lichung‹ der hegemonialen Kategorien voranzutreiben«.20 Im Laufe der
vergangenen 30 Jahre wurde dieses Programm von den Butler-Jüngern
immer weiter radikalisiert, sodass es inzwischen eher als politische Ideo-
logie denn als sozialwissenschaftliche Theorie bezeichnet werden muss.
Und so verwundert es auch nicht, dass Butlers weltweite Fangemeinde
jede Frage nach dem Kernbestand des biologischen Geschlechts als ket-
zerisch wahrnimmt und mit Vehemenz abwehrt. Zweifel sind unzuläs-
sig, der Diskurs wird verweigert, trägt die Frage nach einer biologischen
Letztinstanz aus Perspektive der »Butleristen« doch nur »zur Restabi-
lisierung gesellschaftlicher Machtstrukturen bei« und gilt ihnen als »ein
strategisches Argument im Konflikt um Ressourcen«.21 Judith Butler
selbst eskaliert diese Haltung, indem sie Kritik an der Gender-Theorie
neuerdings als Ausdruck eines »faschistischen Trends« denunziert, der
»immer stärkere Formen des Autoritarismus« fördere. Doch ihr Appell,
gender-kritische Feministinnen sollten sich wieder in die LGBTI-Einheits-
front einreihen und »antifaschistische Solidarität« üben, wird kaum ver-
fangen, wirkt er doch eher wie eine Karikatur realsozialistischer Durch-
halteparolen.22

19 O. V.: Das sind Staatsfeinde. In: Das Schwarze Korps vom 4.3.1937, S. 1 f.
20 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991 [zuerst amerik.
1990], S. 216, 218.
21 Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz: Geschichte der Männlichkeiten. Frankfurt a. M.
2008, S. 53-55.
22 Judith Butler: Why is the idea of »gender« provoking backlash the world over? In: The
Guardian vom 23.10.2021 (https://www.theguardian.com/us-news/commentisfree/2021/
oct/23/judith-butler-gender-ideology-backlash [letzter Zugriff am 23.2.2022].
von blüher zu butler 27

Abb. 1: Hans Blüher 1907 Abb. 2: Judith Butler 2012

Dass Butlers Thesen massiven Widerstand provozieren, liegt – ebenso


wie bei Blüher – an ihrer Realitätsferne. Denn dem Gros der Bevölkerung
erscheint die Existenz von Männern und Frauen alles andere als »unna-
türlich«. Im Gegenteil: Die meisten Menschen nehmen erfahrungswelt-
lich grundierte Narrative wie das einer auf »natürliche« Reproduktion
ausgerichteten binären Geschlechter- und Weltordnung im Sinne Han-
nah Arendts als eine »Tatsachenwahrheit« wahr. Und »Tatsachen« ste-
hen nach Arendt »außerhalb aller Übereinkunft«, sie sind »von einer
unbeweglichen Hartnäckigkeit«.23 Hierin liegt das ungeheure politische
Potenzial des Themas, das rechtspopulistische Bewegungen schon lange
erkannt haben und zu nutzen versuchen. Hinzu kommt, dass der Kon-
flikt auch eine soziologische Dimension hat und sich als Ausdruck einer
zunehmenden Entfremdung gesellschaftlicher Milieus lesen lässt. Denn
die Gender-Theorie ist ein Produkt der von Andreas Reckwitz beschrie-

23 Offen bleibt, ob Hannah Arendt das biologische Geschlecht als »Tatsachenwahrheit«


betrachtet hätte. Hannah Arendt: Wahrheit und Politik. In: dies.: Wahrheit und Lüge in
der Politik. Zwei Essays. München 1987, S. 44-92, hier S. 61.
28 alexander zinn

benen »neuen Akademikerklasse«, die auch zum Träger der LGBTI-Politik


geworden ist. Die Renaissance alter Ressentiments, die in jüngster Zeit
zu beobachten ist und die sich nicht zuletzt gegen »homosexuelle Eliten«
richtet, ist insofern als eine Folge der »Prozesse der Valorisierung und
Entwertung« zwischen den neuen Klassen und insbesondere der »Pola-
risierung auf der Ebene von Bildung und kulturellem Kapital« zu verste-
hen.24 Und so verwundert es nicht, dass die akademische These, ein biolo-
gisches Geschlecht existiere nicht per se, sondern werde erst durch einen
»Sprechakt« konstituiert, gerade in nicht-akademischen Milieus nicht nur
als ein Angriff auf tradierte Weltbilder, sondern auch auf die eigene Iden-
tität wahrgenommen wird.
Was einst als interessante sozialwissenschaftliche These daherkam,
entpuppt sich als gesellschaftspolitischer Sprengsatz und könnte im Worst
Case – wieder einmal – die Erfolge jahrzehntelanger Bürgerrechtspolitik
zunichtemachen. Wer Politik, Kultur, Sprache und alltägliches Rollenver-
halten unter Verweis auf die vermeintliche »Unnatürlichkeit« des biologi-
schen Geschlechts einer totalen Revision unterziehen möchte, muss sich
nicht wundern, wenn sich »Otto Normalverbraucher« kopfschüttelnd ab-
wendet. Dass die Bevölkerung die prinzipiell »binäre« Geschlechterord-
nung als offenkundige »Tatsachenwahrheit« begreift, lässt sich auch durch
Beschlüsse eines »queeren« Politbüros nicht ändern. Doch eine Politik,
die die vermeintlichen Interessen immer neuer »Opfergruppen« absolut
setzt und dabei über Jahrhunderte entwickelte und hart errungene rechts-
staatliche Prinzipien wie die Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfrei-
heit zur Disposition stellt, wird die Spaltung der Gesellschaft weiter
vertiefen. Mehr noch: Der zunehmende Realitätsverlust des grün-bürger-
lichen Establishments, die Überheblichkeit und Kompromisslosigkeit, mit
der die ideologischen Vorgaben exekutiert werden, haben das Potenzial,
genau den »Backlash« herbeizuführen, vor dem die linken Identitätspoli-
tiker in stetigen Sirenentönen warnen.
Letztlich geht es darum, in was für einer Welt wir leben wollen: Soll
es eine Welt freier Individuen sein, in der jeder nach seiner Façon glück-
lich werden kann, in der man aber auch ertragen muss, dass andere ihr
Glück woanders suchen und finden? Oder wollen wir den Menschen vor-
schreiben, wie das richtige Leben, wie ihr Leben auszusehen hat? Die Hy-
bris, mit der viele Verbandsvertreter heute agieren, der unumschränkte
Wahrheitsanspruch, der aus ihren Verlautbarungen spricht, klingt immer
weniger nach dem Ideal einer freien Gesellschaft. Zweifel, Widerspruch

24 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Mo-
derne. Bonn 2018, S. 279 f., 284.
von blüher zu butler 29

und Dissens können diese Ideologen nicht ertragen. Die Empörungs-


wellen, die sie initiieren, zeugen zwar von Schwäche. Denn nur wem die
Argumente fehlen, reagiert mit Verleumdung und Diskreditierung des
Gegners. Doch diese Schwäche sollte nicht über die Gefahren hinweg-
täuschen, die von einem solchen Politikstil ausgehen. Lassen wir die Ideo-
logen weiter gewähren, so enden wir entweder in einer queeren Erzie-
hungsdiktatur – oder wir provozieren den großen »Backlash«. Weder das
eine noch das andere kann uns recht sein. Deswegen gilt es, das Spielfeld
zurückzuerobern und jenen eine Stimme zu verleihen, die Zweifel und
Widerspruch anmelden.
Das Geheimnis des Erfolgs von »I am what I am« lag in der Übertrag-
barkeit der Erfahrung des »Anders-Seins« als Schwuler ins Allgemeine.
Jeder konnte sich in dem Song wiedererkennen, denn jeder macht in sei-
nem Leben derartige Erfahrungen: wegen individueller Eigenschaften ge-
ringgeschätzt und ausgegrenzt zu werden. Kurz: Erfolg haben immer die
politischen Konzepte, die Brücken bauen, die die Mehrheit berühren und
mitnehmen.
Queer Lectures
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INDIA AND THE BOERS.
The Boers are a sober, industrious and most hospitable
body of peasantry.—Dr. Livingstone.

You heard that song of the Jubilee!


Ten thousand cannon took up the song,
Ten million people came out to see,
A surging, eager and anxious throng.
And the great were glad as glad could be;
Glad at Windsor, glad at Saint James,
Glad of glory and of storied names,
Generals, lords and gentlemen,
Such as we never may see again,
And ten thousand banners aflying!
But up the Thames and down the Thames
Bare, hungered babes lay crying,
Poor, homeless men sat sighing;
And far away, in fair Cathay,
An Eden land but yesterday,
Lay millions, starving, dying.

Prone India! All her storied gems—


Those stolen gems that decked the Crown
And glittered in those garment-hems,
That Jubilee in London town—
Were not, and all her walls were down,
Her plowshare eaten up with rust,
Her peaceful people prone in dust,
Her wells gone dry and drying.
You ask how came these things to be?
I turn you straight to historie;
To generals, lords and gentlemen
Who cut the dykes, blew down the walls
And plowed the land with cannon-balls,
Then sacked the ruined land and then—
Great London and the Jubilee,
With lying banners aflying.

Eight millions starved to death! You hear?[B]


You heard the song of that Jubilee,
And you might have heard, had you given ear,
My generals, lords and gentlemen,
From where the Ganges seeks the sea,
Such wails between the notes, I fear,
As you never had cared to hear again.
The dead heaped down in the dried-up wells,
The dead, like corn, in the fertile fields
You had plowed and crossed with your cannon wheels,
The dead in towns that were burning hells
Because the water was under your heels!
They thirsted! You drank at the Jubilee,
My generals, lords and gentlemen,
Drank as you hardly may come to when
The final account of your deeds may be.

Eight millions starved! Yet the Jubilee—


Why, never such glory since Solomon’s throne.
The world was glad that it came to see,
And the Saxon said, “Lo, the world is mine own!”
But mark you! That glittering great Crown stone,
And the thousand stars that dimmed in this sun,
Were stolen, were stolen every one,
Were stolen from those who starved and died!

Brave Boers, grim Boers, look to your guns!


They want your diamonds, these younger ones—
Young generals, lords and gentlemen—
Robbers to-day as they were robbers then.
Look to your guns! for a child can see
(Can your children see now for crying?)
That they want your gems! Ah, that Jubilee,
With those lying banners aflying!

[B] See report of Julian Hawthorne, sent by a


New York magazine to photograph and give
details of the starving in India, about the time of
the Jubilee. He does not give these figures, but
his facts and photographs warrant a fearful
estimate. As for the subjugation of India and the
wanton destruction, not only of life, but the very
means of life, this is history. And now, again, is
despoiled India starving,—starving, dying of
hunger as before; even more fearfully, even while
England is trying to despoil the Boers. And when
her speculators and politicians have beaten them
and despoiled them of their gold and diamonds
and herds, what then? Why, leave them to starve
as in India, or struggle on in the wilderness as
best they can.
AT THE CALEND’S CLOSE.
“For faith hath still an Olivet
And Love a Galilee.”

Two things: the triple great North Star,


To poise and keep His spheres in place,
And Zeus for peace: for peace the Tzar.
Or Science, Progress, Good or Grace,
These two the centum’s fruitage are;
And of the two this olive tree
Stands first, aye, first since Galilee.

Christ’s centum bends his frosted head;


Christ’s calend calls a solemn roll.
What shall be writ, what shall be said
Of Saxon when this blood-writ scroll
By God’s white light at last is read?
What of ye Saxon nations, ye
Who prate the Christ most noisily?

The eagle’s bent beak at the throat


Of Peace where far, fair islands lie:
The greedy lion sees a mote
In his brave, weaker brother’s eye
And crouches low, to gorge and gloat.
The Prince of Peace? Ye write his name
In blood, then dare to pray! For shame!

These Saxon lies on top of lies,


Ten millstones to the neck of us,
Forbid that we should lift our eyes
Till we dare meet that manlier Russ;
In peons for peace of paradise:
Forbid that we, until the day
We wash our hands, should dare to pray.
AS IT IS WRITTEN.
The she wolf’s ruthless whelp that tare
Old Africa is dead and all
Despised; but Egypt still is fair,
Jugartha brave; and Hannibal
Still hero of the Alps and more
To-day than all red men of Rome.
Archimedes still holds his measured home;
Grim Marius his ruins as of yore,
And heart still turns to heart, as then.
Live by the sword and by the sword
Ye surely die: thus saith the Lord—
And die despised of men.
TO OOM PAUL KRUGER.
ON HIS SEVENTY-FIFTH BIRTHDAY.

His shield a skin, his sword a prayer:


Seventy-five years old to-day!
Yet mailed young hosts are marshaling there
To hound down in his native lair—
Oom Paul Kruger, South Africa.

Mars! Ever was such shameless shame?


Christ’s calend calls the roll to-day,
Yet Christians write the sweet Christ’s name
In blood, and seek, with sword and flame—
Oom Paul Kruger, South Africa.

Stand firm, grim shepherd-hero, stand!


The world’s watchtowers teem to-day
With men who pray with lifted hand
For you and yours, old, simple, grand—
Oom Paul Kruger, South Africa.

God’s pity for the foolish few


Who guide great England’s hosts to-day!
They cannot make the false the true;
They can but turn true hearts to you—
Oom Paul Kruger, South Africa.

Or king or cowboy, steep or plain,


Or palace hall, where, what—to-day,
All, all, despite of place or gain,
Are with you, with you heart and brain—
Oom Paul Kruger, South Africa.
Brave England’s bravest, best, her Fair,
Who love fair play, are yours to-day.
And oh, the heart, the hope, the prayer—
The world is with you over there—
Oom Paul Kruger, South Africa.
USLAND[C] TO THE BOERS.

And where lies Usland, Land of Us?


Where Freedom lives, there Usland lies!
Fling down that map and measure thus
Or argent seas or sapphire skies:
To north the North Pole, south as far
As ever eagle cleaved his way;
To east the blazing morning star,
And west? West to the Judgment Day!

No borrowed lion, rampt in gold;


No bleeding Erin, plaintive strains;
No starving millions, mute and cold;
No plundered India, prone in chains;
No peaceful farmer, forced to fly
Or draw his plowshare from the sod,
And, fighting, one to fifty, die
For freedom, fireside and God.

Fear not, brave, freeborn, voiceless Boers.


Great Usland’s heart is yours to-day.
Aye, England’s heart of hearts is yours,
Whatever scheming men may say.
Her scheming men have mines to sell,
And we? Why, meat and corn and wheat.
But, Boers, all brave hearts wish you well;
For England’s triumph means defeat.

[C] It is a waste of ink and energy to write “United


States of America” always. All our property is
marked Us. Then why not Usland? And why
should we always say American? The Canadian,
the Mexican, the Brazilian and so on are as
entirely entitled to the name American as we.
Why not say Usman, as Frenchman, German,
and so on?
THAT USSIAN OF USLAND.
Anent the boundary line—“Lest we forget, lest we forget.”

“I am an Ussian true,” he said;


“Keep off the grass there, Mister Bull!
For if you don’t I’ll bang your head
And bang your belly-full.

“Now mark, my burly jingo-man,


So prone to muss and fuss and cuss,
I am an Ussian, spick and span,
From out the land of Us!”

The stout man smole a frosty smile—


“An Ussian! Russian, Rusk, or Russ?”
“No, no! an Ussian, every while;
My land the land of Us.”

“Aw! Usland, Uitland? or, maybe,


Some Venezuela I’d forgot.
Hand out your map and let me see
Where Usland is and what.”

The lank man leaned and spread his map


And shewed the land and shewed,
Then eyed and eyed that paunchy chap,
And pulled his chin and chewed.

“What do you want?” A face grew red,


And red chop whiskers redder grew.
“I want the earth,” the Ussian said,
“And all Alaska, too.
“My stars swim up yon seas of blue;
No Shind am I, Boer, Turk or Russ.
I am an Ussian—Ussian true;
My land the land of Us.

“My triple North Star lights me on,


My Southern Cross leads ever thus;
My sun scarce sets till burst of dawn.
Hands off the Land of Us!”
FIGHT A BOY OF YOUR SIZE.

Back, far back in that backwood’s school


Of Lincoln, Grant and the great we prize
We boys would fight, but we had one rule—
You must fight a boy of your size.

Or white boy or brown, aye, Boer no doubt,


Whatever the quarrel, whatever the prize
You must stand up fair and so fight it out
With a boy somewhat your size.

But a big boy spoiled so for fights, he did,


He lied most diplomatic-like-lies
And he fought such fights—ye gods forbid—
But never a boy of his size.

He skinned and he tanned, kept hide, kept hair,


Now I am speaking figure-wise—
But he didn’t care who and he didn’t care where
Just so he was under size.

Then the big boy cried, “A big chief am I,


I was born to bang and to civilize,
And yet sometimes I, in my pride I sigh
For something about my size.”

Then the good Schoolmaster he reached a hand


And across his knee he did flop crosswise
That bully, and raise in his good right hand
A board of considerable size.

And the good Schoolmaster he smote that chief,


He smote both hips and he smote both thighs;
And he said as he smote, “It is my belief
This board is about your size.”

Beware the bully, of his words beware,


His triangular lips are a nest of lies,
For he never did dare and he never will dare,
To bang a boy of his size.
MILLER, C. H. (Joaquin)
(The Poet of the Sierras)
Complete Poetical Works
In One Volume
This volume completes the life work of this “Sweet Singer by
the Sunset Sea.” In it are included all the best poems
formerly published under the following titles: “Songs of the
Sierras”—“Songs of Sunland”—“Songs of
Summerlands”—“Songs of Italy”—“Songs of the Mexican
Seas”—“Classic Shades”—“Songs of the Soul”—“Olive
Leaves”—“Joaquin,” and others. The book contains 330
pages of double column matter, printed from new type on
laid paper. Each of the longer poems is followed by
extensive foot notes written by the poet himself, also a
most interesting, reminiscent preface and appendix
narrating incidents and scenes in his eventful life, never
published before. It has several illustrations showing the
poet at different ages, also a beautiful scene from his
present home on “The Hights.”

PRICE.

Beautifully Bound in Silk Cloth, side and back stamp $2


in gilt, gilt top 50
Gift Edition, bound in three-quarter Levant 4 50
Limited Autograph Edition, bound in full Morocco 7 50
WHAT TWO GREAT POPULAR POETS SAY:
Edwin Arnold recently said: “Joaquin Miller is one of the
two greatest American poets.”
James Whitcomb Riley said of Joaquin Miller’s singing: “It
is the truest American voice that has yet thrilled the
echoes of our wild, free land, and awakened the
admiration and acclaim of the Old World. No marvel that
our Country is proud of this proud child of hers, who in all
lands has sung her dawning glory and his own changeless
loyalty to her.”

Songs of the Soul


This volume contains this well known poet’s latest, and as
pronounced by all critics, best poetic productions. The
longest poem, entitled “Sappho and Phaon,” occupies
seventy-three pages of the book, and is destined to
become a classic. Besides this there are several of his
older and most popular poems, such as “Columbus,”
“Passing of Tennyson,” “Sunset and Dawn at San Diego,”
etc., making a 12 mo. volume of 163 pages, with author’s
latest portrait.

PRICE.

Bound in Fine Silk Cloth, design on cover, Library $1


Edition 00
Author’s Autograph Gift Edition, bound in full
3 50
padded Leather
Paper Edition, printed in Gilt 25
“If Joaquin Miller had written nothing else, this one poem
(Sappho and Phaon) would make a place for him among
immortals.”—The Wave.
The Critic, in a recent article, places him among the
world’s greatest poets.
The London Athenæum gives “Columbus” first place
among all the poems written by Americans as to power,
workmanship and feeling.
TRANSCRIBER’S NOTES:
Inconsistencies in hyphenation have been
standardized.
Archaic or variant spelling has been retained.
The Table of Contents was created by the transcriber
for the convenience of the reader and is granted to the
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*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK CHANTS FOR
THE BOER ***

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