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Was lügt mehr - Erinnerung oder Fotografie?

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Lebohang Kganye, „Mohlokomedi wa Tora“, 2018, Scene 2. Foto: Lebohang Kganye
Lebohang Kganye, „Mohlokomedi wa Tora“, 2018, Scene 2. Foto: Lebohang Kganye © Lebohang Kganye

Im Eschborner The Cube geht es in zwei Ausstellungen um die Suggestivkraft eines vermeintlich realitätsnahen Mediums.

Die kleine Reise nach Eschborn lohnt sich für Fotografie-Interessierte zurzeit doppelt. In den Ausstellungsräumen des The Cube mitten im gläsernen Bürogebäude der Deutschen Börse werden zwei sehr sehenswerte Ausstellungen präsentiert: Eine Schau zur RAY-Triennale „Echoes“ mit dem Thema „Memory“ und eine zum „Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2024“. Hinter den sperrigen Titeln versammeln sich nachdenkliche, gesellschaftskritische, experimentierfreudige, humorvolle fotografische Positionen, die zeigen, wie tiefgreifend zeitgenössische Fotografie heute Lebensrealitäten reflektiert.

Der Deutsche Börse Photography Foundation Prize wird seit 20 Jahren gemeinsam mit der Londoner Photographer’s Gallery an ein Ausstellungs- oder Fotobuchprojekt der vergangenen zwölf Monate vergeben, der Gewinnerin oder dem Gewinner winken 30 000 britische Pfund. In diesem Jahr geht der Preis an die Südafrikanerin Lebohang Kganye für ihre Ausstellung „Haufi nyana? I’ve come to take you home“ am Foam Fotografiemuseum in Amsterdam. Dort hatte Kganye in einer bühnenartigen Installation zwei fotografische Kulissen aufgebaut, die sich mit Apartheid und Kolonialismus auseinandersetzen. Die Installation ist nun, neben den Werken der drei weiteren Finalistinnen und Finalisten, im The Cube zu sehen.

Mit fast lebensgroßen, schwarz-weißen Aufstellern reinszeniert die 1990 geborene Südafrkanerin Bilder aus dem Familienalbum: Zu sehen sind die Küche ihrer Großmutter und eine Außenszene, in der ihr Großvater vor einem Township House auf einem Stuhl sitzt. Weitere Verwandte tauchen in den Tableaus auf. Kganyes Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen der Apartheidsgesetze für ihre Familie, die zum Umzug und zur Änderung ihres Nachnamens gezwungen worden war. Anne-Marie Beckmann, Direktorin der Deutsche Börse Photography Foundation und Jurymitglied begründet die Preisverleihung an Lebohang Kganye mit ihrem politischen Engagement: „Die Risikobereitschaft, mit der sie ihre eigene Familiengeschichte erkundet, regt die Diskussion über die Realitäten und Folgen der Apartheid an.“

Auch die weiteren drei Final-Positionen zeichnen sich durch ihre gesellschaftskritischen Herangehensweisen aus. Die 1940 in Österreich geborene Valie Export ist für ihre radikal feministischen Arbeiten bekannt. Im The Cube sind Werke der Serie „Körperkonfigurationen“ zu sehen, auf denen sich der Körper der Künstlerin Architekturen anschmiegt und etwa gebogen an der Rundung eines Brunnen liegt oder hockend mit ausgestreckten Armen an einer Gebäudeecke klebt. Es sind Verrenkungen, die Frauen machen müssen, um sich patriarchalen Strukturen anzupassen - und in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.

Der syrische Fotograf Hrair Sarkissian nahm Orte auf, an denen in Kriegen spurlos Verschwundene zum letzten Mal von den Hinterbliebenen gesehen wurden. Erst, wenn man diesen Hintergrund kennt, ergeben die menschenleeren Fotografien mit ihren Orts- und Datumsangaben Sinn. Die Fotografien der Inderin Gauri Gill verbinden sich mit den traditionellen Malereien Rajesh Vangads zu Erzählungen, in denen es um Enteignung von Land und Zerstörung der Kultur indigener Gruppen geht - aber auch um das Erhalten von Wissen und Traditionen als Akt des Widerstandes gegen kolonialen Raubbau.

Die Finalistenausstellung des Photography-Foundation-Preises wird auf der oberen Ausstellungsfläche präsentiert. Im Erdgeschoss ist die Ausstellung „Memory“ zu sehen, die mit weiteren acht künstlerische Positionen die unerschöpflichen Möglichkeiten der Fotografie auslotet. Oberthema ist das fehleranfällige menschliche Erinnern.

Die Fotografien der Offenbacherin Johanna Schlegel sind kaum mehr als solche zu erkennen: Für ihre Serie „memories I don’t have“ hat Schlegel Fotos aus ihren Familienalben genommen, auf denen sie selbst zu sehen ist, sich aber nicht an sie erinnert. Die Fotos hat sie groß aufgezogen und chemisch so bearbeitet, dass sich die Farbpartikel ablösten: Geblieben ist ein malerisch wirkendes, abstraktes Wirrwarr, löchrige Netze an Farbklecksen - ein Schweizer Käse des menschlichen Gedächtnisses sozusagen.

Die Britin Maisie Cousins arbeitet genau anders herum: Aus ihrer Kindheit sind keine Fotografien erhalten, deshalb erschafft sie - mithilfe von Künstlicher Intelligenz - eigene Fotos, die ihre Erinnerungen bebildern. Oft ist sie mit der Familie in den Freizeitpark „Blobbyland“ gefahren. Die KI-generierten „Erinnerungen“ an diese Ausflüge sind schräg-schaurige Fake-Fotos im Polaroid-Format mit dem Titel „Walking Back to Happiness“. Wie authentisch können diese rekonstruierten Erinnerungen sein? Oder lügen sie? Lügen Erinnerungen nicht sowieso immer?

Eine biografische Serie ist von Lebohang Kganye, der Photography-Foundation-Prize-Trägerin, zu sehen: Nach dem Tod ihrer Mutter hat sie sich als eine Art Doppelgängerin in alte Fotos von ihr hineinmontiert. Wie ein Geist ist sie unscharf hinter oder neben der Mutter zu erkennen. Die Serie „Her Story“ ist ein posthumer Dialog, den es real nicht geben kann und ein Versuch, Erinnerungen wach zu halten.

Was nicht ist oder nie war, wird reinmontiert. Der Senegalese Omar Victor Diop hat das auf humoristische Weise perfektioniert. Mit Zigarette und Kaffee in den Händen sitzt er lachend auf einem Sofa, neben ihm ein ebenfalls rauchendes, kaffeetrinkendes und ausgelassen lachendes Paar. Ein Schnappschuss im bürgerlichen Wohnzimmer in den 1960er Jahren. Natürlich ist Diop Fehl am Platze: Das hier ist eine weiße Welt, die Schwarze ausschließt. Für sein Projekt „Being there“ hat sich Diop an dem Amateuraufnahmen-Archiv des Filmemachers Lee Shulman bedient - und sich als Schwarzer in zahlreiche Porträts der weißen Mittelschicht der USA in den 50er und 60er Jahren montiert: Das ist amüsant anzusehen, trotz oder gerade wegen der subtilen Gesellschaftskritik.

Nicholas Nixon hat in seiner Fotoserie „The Brown Sisters“ seine Ehefrau mit ihren drei Schwestern fotografiert - immer in derselben Position - Jahr für Jahr, 48 Mal. Man kann ihr Altern in einer Art Zeitraffer beobachten. Das Langzeitprojekt ist nun beendet: Die Schwestern wollten einen Rahmen für das Erinnern setzen - und ihn nicht von Krankheit oder Tod bestimmen lassen.

The Cube, Eschborn:

beide Ausstellungen bis 22. September. Zutritt nur mit Führung (Anmeldung erforderlich) oder am „Open Saturday“, 14. September. deutscheboersephotographyfoundation.org

Johanna Schlegel, „memories I don’t have I“, 2021 Foto: Johanna Schlegel
Johanna Schlegel, „memories I don’t have I“, 2021 Foto: Johanna Schlegel © Johanna Schlegel
Maisie Cousins, „Walking Back To Happiness“, 2023. Foto: Maisie Cousins
Maisie Cousins, „Walking Back To Happiness“, 2023. Foto: Maisie Cousins © Maisie Cousins

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