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Bachmann-Preis in Klagenfurt: Beim Bestellen im Baumarkt und beim Verzehr eines Gürkchens

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Im ORF-Studio in Klagenfurt: Bachmannpreisträger Tijan Sila (2.v.r.) mit Tamara Štajner, Johanna Seebauer und Denis Pfabe.
Im ORF-Studio in Klagenfurt: Bachmannpreisträger Tijan Sila (2.v.r.) mit Tamara Štajner, Johanna Sebauer und Denis Pfabe. © JOHANNES PUCH | WWW.JOHANNESPUCH.AT

Das Wettlesen in Klagenfurt präsentiert ein breites Spektrum reeller literarischer Möglichkeiten, den Bachmann-Preis gewinnt aber verständlicherweise Tijan Sila.

Erneut ein starker Jahrgang beim Wettlesen der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, ein sehr starker. Ob das auch damit zu tun hat, dass manchmal etwas weniger riskiert wird und in diesem Jahr besonders viele Autoren und Autorinnen eingeladen waren, die schon erfolgreiche Romane in großen Verlagen veröffentlicht haben: schwer zu sagen. Es ist zudem nicht nur nicht verboten, es hat auch den Vorteil, dass Peinlichkeiten auf ein Minimum reduziert werden. Es hat den Nachteil, dass zu viele leer ausgehen.

Der Juror Philipp Tingler, der übrigens und mit großem Erfolg auf Nummer sicher gegangen war, rief während einer der teils milden, teils tüchtig turbulenten Diskussionen aus, nun werde die Jury doch wieder zu ihrer eigenen Parodie. Neben ihm saß die Jurorin Mithu Sanyal und sagte beiseite ihren schönsten Satz des ganzen Wettbewerbs, nämlich: Wir seien doch alle unsere eigenen Parodien. Man kann ihr an dieser Stelle nicht genug recht geben und das mit ins Leben und in jeden Moment auch des eigenen Lebens mit hinausnehmen.

Dabei war eine besondere Parodie da noch gar nicht über die Bühne gegangen. Es handelte sich hierbei am Sonntagvormittag um die Ermittlung der Preisvergabe selbst, die in einem neuerlich leicht veränderten Verfahren sich so verwirrend darstellte, dass man endlich einmal begriff, weshalb die Anwesenheit jenes friedlich mit unsereinem alternden Justiziars zwingend ist. Der Justiziar hatte das System, zu dem eine geheime erste Rangliste und sodann mehrere Stichwahlen gehören, offenbar verstanden, verriet zwar einmal einen halben Namen zu früh, aber das versendete sich rasch. Die Jury und die Kandidatenschar hatten das Verfahren, schätzen wir einmal, halbwegs verstanden. Es gab Nachfragen und im Garten des ORF-Studios, wo die Kandidatenschar wartete, so einen Gewitterwind, dass die Moderatorin Cécile Schortmann sich zwischenzeitlich mit verwehenden Karteikarten und Haaren der Situation stellen musste und stellte. Es ist immer strittig oder vielmehr ungern gesehen, wenn Texte beim Klagenfurter Wettlesen sich mehr oder minder auf das Klagenfurter Wettlesen beziehen, aber es zeigte sich diesmal doch wieder einiges literarisches Potenzial.

Die Vergabesituation war somit auch der eine ernstlich humoristische Moment des diesjährigen Wettbewerbs, gerade weil sich alle Mühe gaben, es trotzdem schön und irgendwie würdig zu gestalten. Der andere ernstlich humoristische Moment war der Beitrag von Johanna Sebauer, die mit ihrem hinreißenden Text „Das Gurkerl“ den mit 7500 Euro dotierten 3sat-Preis sowie den mit 7000 Euro dotierten Publikumspreis gewann. Klaus Kastberger, der neue Juryvorsitzende, hatte die in Hamburg lebende Österreicherin, Jahrgang 1988, eingeladen und machte in seiner Laudatio noch einmal klar, wie schwer es komische Texte im Wettbewerb (und anderswo) haben, denen nämlich selten zugetraut werde, nicht nur lustig, sondern auch bedeutend zu sein.

Die astreine, von Sebauer eiskalt servierte Satire „Das Gurkerl“ spielt nicht nur zu unserer allergrößten Freude im Großraumbüro einer Zeitungsredaktion. Sie schildert auch den typischen Verlauf einer heutigen Empörungsspirale anhand eines Vorfalls, bei dem einem sehr wichtigen Redakteur etwas Essiggürkchenwasser ins Auge spritzt, so dass er sich nun für ein Verbot von Essiggürkchen einsetzt. Und nicht nur er. Das ist hier jetzt abgekürzt wiedergegeben. Kastberger warb auch für Sebauers Debütroman „Nincshof“ (Dumont, siehe oben).

Der mit 25 000 Euro dotierte Ingeborg-Bachmann-Preis ging hingegen relativ erwartungsgemäß an Tijan Sila, 1981 in Sarajevo geboren, heute in Kaiserslautern lebend und spätestens mit seinem vorzüglichen vierten (!) Roman „Radio Sarajevo“ (Hanser, ja, genau) weithin bekannt geworden. Seit 2017 (Ferdinand Schmalz) ist Sila damit der erste Mann, der den Hauptpreis gewinnt. Der Text „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“ (es war am 12. August 2007, wie man im ersten Satz erfährt) erzählt, wie ein Sohn bei einem Besuch bei den Eltern feststellen muss, dass seine Mutter schizophren und sein Vater verzweifelt und am Ende seiner Kräfte ist. Sila schildert das mit jener harten Plastizität, die solche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft trümmernden Erlebnisse haben, und er verzahnt es äußerst gekonnt mit den furchtbaren (stark, aber dosiert erzählten) Kriegserfahrungen im auseinanderbrechenden Jugoslawien sowie dem als Scheitern empfundenen Leben der Eltern in der Fremde. Auch der Sohn bleibt nicht verschont vom fortgesetzten Trauma, für das es mehr Schweigen als Worte gibt, unter dem besonnenen Erzählen liegt ein großes Schreien (nur der Vater schreit dann wirklich).

Ein meisterhaftes Stück mit Ausdehnungsmöglichkeiten, aber trotzdem in sich geschlossen, sagen wir hier jetzt ein bisschen unoriginell, aber auch Juror Tingler sprach in seiner Laudatio von „unsentimentaler Lakonie“, „Tragikomik“ und „Melancholie“.

Der gemeinhin als zweiter Preis verstandene, mit 12 500 Euro am zweithöchsten dotierte Deutschlandfunk-Preis ging zuvor an den 1986 in Bonn geborenen Denis Pfabe, dessen bisher zwei vielbeachtete Romane bei Rowohlt Berlin erschienen sind. Sein Beitrag „Die Möglichkeit einer Ordnung“ erzählt von einem Mann, der in Trauer um ein (ungeborenes, gewünschtes?) Kind befangen ist und eines Morgens das eheliche Bett verlässt und in einem Baumarkt große Mengen für die überfällige Fertigstellung des gemeinsamen Hauses aussucht und bestellt. Statt heimzukehren, schlüpft er jedoch schließlich durch ein Loch hinter die Baumarkt-Regale. Auch dies ein vorzüglich gebauter Text, über dessen Übersichtlichkeit die Jury merkwürdigerweise gar nicht sprach und der insofern doch bedauerlicherweise viele andere, vielschichtigere Beiträge hinter sich ließ.

Es hat auch mit der geheimen Rangliste zu tun, dass man ziemlich befremdet zur Kenntnis nehmen musste, wie zum Beispiel ein zweiter Haus-Text (Haus-Texte: diesmal ein Genre, wie sonst etwa Tiergeschichten) gar keine Erwähnung mehr fand: Henrik Szántós intensive „Treppe aus Papier“. Aber auch die beinharte Modeschöpferin aus Christine Koschmieders „Nylfrance“ oder die Mütterschar und der Fußballstar aus Olivia Wenzels „Hochleistung, Baby“ oder sogar die fokussierte und sich zugleich entziehende „Schakalin“ von Sophie Stein hätten den traurigen Mann im Baumarkt überflügeln können. Laudator Tingler betonte aber die „Geste der Fürsorglichkeit“ am Ende des Textes, wenn der sich nun hinter dem Regal einrichtende Mann einen dort in eine Mausefalle geratenen, vertrockneten Frosch mit den Schnipseln seiner Bestellzettel, äh, zudeckt oder, äh, beerdigt.

Ebenfalls nicht naheliegend, aber nachvollziehbar ging zuvor der 10 000 Euro dotierte Kelag-Preis an die 1987 in Slowenien geborene, in Wien lebende Tamara Štajner, ausgebildete Bratschistin, die derzeit in Mainz in Musiktheorie promoviert. Ihr Text mit dem guten Titel „Luft nach unten“ ist ein Brief an die Mutter. Er rekapituliert Gewalterfahrungen, ebenfalls im Jugoslawienkrieg, vornehmlich aber in der Familie und gegen die Tochter gerichtet, die von der Mutter einem demütigenden Schlankbleibediktat unterworfen wird. Laudatorin Brigitte Schwens-Harrant hob hervor, wie hier Gewalt durch die Generationen weitergereicht werde und die Autorin dem eine dringliche Suche nach einer Konstellation fürs Leben entgegenstelle.

Dass die Autorin kurz mit den Tränen rang, war ein ungewöhnlicher Moment, alle im Saal ganz still und abwartend, was man vor Ort als immens rücksichtsvoll und als ungewohnte Diskretion im Kollektiv erleben konnte. Alles darf vorkommen, und wer liest, darf für sich entscheiden, wie es weitergehen soll. Tamara Štajner entschied sich eindeutig fürs Sammeln und Weiterlesen.

Das Gutgebaute schlug diesmal das experimentelle Wagnis (immerhin noch in einer Stichwahl: Miedya Mahmods tollkühner Vortragstext „Es schlechter ausdrücken wollen. Oder: Ba, Da“). Gelegentlich verbarg sich, ganz klassisch, politische Haltung hinter dann doch pseudoästhetischen Argumenten. Gesinnte warfen anderen Gesinnung vor. Jurydiskussionen sind kein Kosmos für sich, aber man ist unbedingt im Gespräch und Aug’ in Aug’.

Ein großes Wort wurde zwischendurch gelassen ausgesprochen: Das Klagenfurter Wettlesen erschließt sich zwar sofort, aber es wird erst prächtig, wenn man sich über Jahre und irgendwann über Jahrzehnte darüber wundert und geduldig zuhört und sich ärgert und merkt, was sich alles verändert und was nicht.

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