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„Es war jenseits meiner Vorstellungskraft, dass ich als Einzige gerettet war“

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Auch der Weg von Edith Blau: Am Bielefelder Bahnhof starten am 12./13. Dezember 1941 erste Deportationen ins Ghetto von Riga.
Auch der Weg von Edith Blau: Am Bielefelder Bahnhof starten am 12./13. Dezember 1941 erste Deportationen ins Ghetto von Riga. © imago/Reinhard Schultz

Andrea Löw lässt in „Deportiert“ deutsche Jüdinnen und Juden zu Wort kommen, die verfolgt, verschleppt und gequält wurden. Sie beschreibt ein Mosaik des Schrecklichen – und die verzweifelte Suche nach einer Gegenwelt im Grauen.

Eine junge, dunkelhaarige Frau mit heller Bluse und elegantem Halsschmuck blickt die Leserin oder den Leser des Buches „Deportiert“ von Andrea Löw an. „Edith Blau nach der Befreiung“ steht nüchtern unter dem Passbild. Von dem fürchterlichen Schicksal, das hinter der jungen Frau liegt, ist auf dem Foto nichts zu ahnen. Aber wer die vorangegangenen 284 Seiten gelesen hat, weiß, dass der jungen jüdischen Frau aus dem westfälischen Minden in den Jahren seit ihrer Deportation nichts erspart geblieben ist.

Die Historikerin Andrea Löw lässt die Betroffenen erzählen. Aus Hunderten von Briefen, Tagebucheinträgen und Interviews fügt sie zusammen, wie Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich die Nazi-Zeit erlebt haben. Wie sie aus dem heimischen Umfeld gerissen, in Ghettos verschleppt, in Konzentrationslagern gequält wurden, wie sie noch in Todesmärschen die letzten Kräfte zu mobilisieren versuchten. Und wie viele von ihnen diese Torturen nicht überlebten.

Eine solche Art der Geschichtsschreibung ist 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus immer noch ungewöhnlich. Lange befasste sich die Forschung vorwiegend mit den Systemen von Ghettos und Lagern, mit der Schuld der NS-Schergen, also mit der Täterseite. Andrea Löw hingegen gibt den betroffenen Jüdinnen und Juden Raum. In einer Zeit, in der von erstarkenden extrem rechten Kräften die nationalsozialistischen Verbrechen verniedlicht und beschönigt werden, erscheint das wichtiger denn je – zumal immer weniger Holocaust-Überlebende noch selbst berichten können.

Dieses Buch ist keine leichte Kost. Es findet Worte für das, was Menschen anderen Menschen antun können. „Die Hände zittern – und man will alles in einem großen Wort sagen – aber ich weiß es, dass es dieses Wort nicht gibt. Es würde ein herzzerreißender Schrei sein, ein Schrei, bei dem ich selbst meine Stimme nicht erkennen würde, weil es ja gar keine menschliche Stimme mehr ist“, formuliert Edith Blau am 11. Mai 1945. Vier Jahre zuvor hat sie in Bielefeld auf den Zug gewartet, der sie nach Riga verschleppte.

Edith Blau ist eine der vielen Protagonistinnen und Protagonisten des Reports. Das Personenverzeichnis enthält die Namen von mehr als 300 Menschen, deren Berichte Andrea Löw zu einem Mosaik des Schrecklichen verdichtet. Ein Buch aus der Wirklichkeit, keine distanzierte Betrachtung. Dabei lässt Löw keinen Zweifel an ihrer wissenschaftlichen Arbeitsweise – auf 290 Seiten Text folgen 80 Seiten Anmerkungen und Literaturhinweise.

Andrea Löw ist stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München. Recherchiert hat sie als Gastwissenschaftlerin am United States Holocaust Memorial Museum, Quellen hat sie in acht Ländern gesucht und gefunden – nicht nur in Archiven, sondern auch in privaten Sammlungen von Verwandten der Deportierten.

Bewegend sind die Berichte der vielen Unbekannten, die von Hunger, harter Arbeit, von Krankheiten und Tod um sie herum berichten, von Ungewissheit, Verzweiflung, Unmenschlichkeit und seltenen Momenten der Hoffnung. „Es ist so ein wahnsinniges Leben, dieses Ghettoleben“, schreibt Edith Blau über das Ghetto in Riga. „Der Tod ist ständig unter uns, und man lacht und liebt sogar wie in einem Irrenhaus.“ Konzerte gebe es und Fußballspiele, „gerade mitten auf dem Galgenplatz, wo gestern noch jemand gehängt wurde, weil man bei ihm 1 Kilo Butter gefunden hatte“. Leben mit irrsinnigen Widersprüchen, die der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki so beschrieb: „Sie waren auf eine Gegenwelt angewiesen.“

Von Riga wird Edith Blau ins KZ Stutthof in der Nähe von Danzig transportiert. „Wir wissen nichts und ahnen alles“, schreibt sie. „Das ist der Tod. Nicht der schnell erlösende, sondern der quälende, langsame, der uns jeden Tag ein Stückchen sterben lassen wird.“

Von vielen Deportierten gibt es nur einzelne Dokumente – dann verliert sich ihre Spur. Der Tod war stets gegenwärtig. Andere haben dank teils unglaublicher Zufälle und Hilfen überlebt. Doch dann mussten sie das Leben neu für sich finden – das wird im Epilog deutlich. „Was eigentlich mein glücklichster Augenblick sein sollte, verkehrte sich ins Gegenteil“, erinnert sich Hannelore Marx, die mit ihrer Familie 1941 von Stuttgart nach Riga transportiert worden war und im KZ Stutthof befreit wurde. „Ich fühlte mich ganz allein auf dieser Welt, wie ein einzelnes Blatt im Wind. Es war jenseits meiner Vorstellungskraft, dass ich als einzige Überlebende meiner Familie gerettet war.“

Ähnlich ging es auch Edith Blau nach der Befreiung. Ein Arzt gab ihr einen dicken Block und sagte ihr, sie solle alles aufschreiben, wenn sie nicht reden wolle. Innerhalb von zwei Tagen und einer Nacht verfasste sie den Bericht über die Zeit seit ihrer Deportation, der sich durch Andrea Löws Buch zieht.

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