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Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge

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Robert Musil (1880-1942).
Robert Musil (1880-1942). © imago

Immer wieder lesenswert: Robert Musils großer Roman "Mann ohne Eigenschaften"; in einer Neuausgabe.

Die überraschendste Entdeckung beim Wiederlesen: Musils ausufernder Mammutroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ ist auch ein Krimi, und er endet nicht gut. Das mag allein deshalb verblüffen, weil das Buch Fragment geblieben ist. Bereits 1904 hatte der österreichische Militär, Ingenieur, Philosoph und Dichter Robert Musil erste Notizen angefertigt, und noch an seinem letzten Lebenstag, am 15. April 1942, beugte er sich über die insgesamt 11 00 Seiten des schriftlichen Nachlasses zu diesem Romangebirge.

Das ist natürlich einschüchternd. Immer wieder wurde der „Mann ohne Eigenschaften“ als Wunderwerk bestaunt, als Funkelstein der modernen Literatur bestaunt, angeblich unerreichbar in seiner erzählerischen Komplexität, seiner inhaltlichen Dichte und formalen Kühnheit. Das Buch wurde mehr bewundert als gelesen. Aber das ändert sich jetzt, die Gründe dafür liefert es selbst.

Was ist der „Mann ohne Eigenschaften“? Schwindelerregender philosophischer Essay und Liebesgeschichte zugleich, Geschichtserzählung und Gesellschaftsporträt, Wetterbericht wie Weltanschauungsanalyse. Dazu der Krimi.

Er entwickelt sich im Rahmen dessen, was Musil „Parallelaktion“ nennt. Zwei unterschiedlich patriotische Parteien planen für das Jahr 1918 „den großen Schlag“: auf der einen Seite die „Idee von einem „Welt-Österreich“, auf der anderen die preußische „Idee der Macht aufgrund der technischen Vollkommenheit“. Im Hintergrund stehen hier konkrete historische Entwicklungen: 1918 sollte das 70-jährige Regierungsjubiläum von Franz Joseph I. und zugleich das 35-jährige von Wilhelm II. gefeiert werden. Wir wissen heute, was den Figuren bei Musil unbekannt war, weil sie sich noch im Jahr 1913 befinden: Alle patriotischen Träume enden, wie Musil schreibt, „im Kladderadatsch von 1914“, in jenem Weltkrieg, den der deutsche Kaiser später mit dem verräterischen Satz „Ich habe es nicht gewollt!“ kommentierte.

Aber das reale Geschehen interessierte Musil nicht vordergründig; er habe, so in einem Brief, einen „aus der Vergangenheit entwickelten Gegenwartsroman“ schreiben wollen, um die „geistige Konstitution einer Zeit“, das „geistig Typische“ zu erfassen. Er findet es darin, dass sich „die Ruhe starrer Setzungen“ in ein „bewegliches Gleichgewicht“ verwandelt.

Nicht nur die moralischen Normen, auch die Tatsachen, die naturwissenschaftlichen Annahmen wie die weltanschaulichen Überzeugungen verlieren ihre Festigkeit. Seine zentrale Figur im Roman, den Mathematiker Ulrich, lässt er denken, dass „die Gegenwart nichts als eine Hypothese ist, über die man noch nicht hinausgekommen“ sei. Das gesamte Buch erprobt eine Situation des Denkens und Handelns, „die nach allen Seiten frei“ ist.

Zur Größe dieses Romans gehört, dass Musil diesen Zustand weder feiert noch schlicht beklagt, sondern erforscht. Sein Ulrich nimmt sich ein Jahr „Urlaub vom Leben“, um zu begreifen, in welcher Zeit und unter welchen Umständen er lebt. Der „Mann ohne Eigenschaften“ ist deshalb auch ein sozial-, zeit- und gesellschaftskritisches Buch bis hin zur Analyse der anonymen Funktionsweisen des Kapitalismus als „das Entstehen der größten Verbrechen durch Gewährenlassen“.

Das betont sehr zu recht das jüngst erschienene Musil-Handbuch. Es ist sehr dick und sehr teuer, aber für jeden Musil-Leser unerlässlich. Denn es wird hier nicht nur das Gesamtwerk Musils nach den unterschiedlichen Aspekten von der Mode bis zur Mystik erörtert, sondern die Signatur seiner Schaffenszeit von Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Tod infolge eines Schlaganfalls 1942 geschildert. Ein Handbuch als umfassendes Epochenporträt, das hat man wirklich selten.

Es fällt mitten in eine Zeit, in der Musil wieder vermehrt gelesen, in Theatern inszeniert und vielfach diskutiert wird. Dass der österreichische Verlag gerade jetzt mit einer neuen, liebevoll gemachten Gesamtausgabe und diese selbstredend mit dem „Mann ohne Eigenschaften“ beginnt, zeugt von dem wachsenden Interesse an einem Autor, der zusehends an Aktualität zu gewinnen scheint. Es braucht ja wenig, um beim Musil-Lesen an die eigene Gegenwart zu denken. Es reicht ein Satz wie dieser: „Ungemein viele Menschen fühlen sich heute in bedauerlichem Gegensatz zu ungemein viel anderen Menschen.“

Musils Figuren kennen bereits die heute als angeblich zeitgemäß ausgerufenen Gleichzeitigkeitserfahrungen, von der Natur-Sehnsucht des Großstädters bis zur Fortschrittsgläubigkeit der Technologen, von dem Verlangen nach Echtheit bis zum Zwang der Selbstdarstellung. Sie kennen auch die Gefahren und Verlockungen „vaterländischer Ideen“ und europäischer Utopien. Eine Zeit, die gleichermaßen an „einem Zuviel und einem Zuwenig“ leidet, wie es bei Musil heißt.

Aber das vermeintlich Aktuelle verführt auch zu falschen Parallelen: Robert Musil zu lesen ist gerade deshalb Gewinn und Genuss, weil er nicht unser Zeitgenosse ist. Man kann, wie Ulrich, hier von der schieren Gegenwart Urlaub nehmen – um diese und damit sich selbst schärfer zu sehen.

Hinweis: In einer früheren Version dieses Textes war irrtümlich angeben, Musil sei durch Suizid gestorben.

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