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Zum Tod von Karl Dietrich Bracher

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Karl Dietrich Bracher, 1982 in Bonn.
Karl Dietrich Bracher, 1982 in Bonn. © picture-alliance / dpa

Der Legendenzerstörer und Lehrer der Bonner Republik: Nachruf auf den großen Historiker Karl Dietrich Bracher.

Von Wilhelm von Sternburg

Am Anfang war Karl Dietrich Bracher. Zwischen seiner 1955 vorgelegten Habilitationsschrift „Die Auflösung der Weimarer Republik“ und der 14 Jahre später folgenden Veröffentlichung seiner Untersuchung „Die deutsche Diktatur. Entstehung – Struktur – Folgen des Nationalsozialismus“ erlebte die deutsche Geschichtswissenschaft eine tiefgreifende Neuorientierung. Ihre Bedeutung für die bundesdeutsche Gesellschaft ist kaum zu überschätzen.

Erst Brachers bahnbrechende Studien haben den Weg frei gemacht, auf dem die Westdeutschen unter heftigen geistigen Kämpfen und Krämpfen begannen, sich der Wirklichkeit ihrer jüngeren Geschichte zu stellen. Bracher war es, der die Legenden zerstörte, die viele seiner älteren Kollegen nach 1945 mit ideologischer Blindheit und der ihnen gegebenen Macht des Wortes in die Welt setzten.

Viele von ihnen hatten schon an den gleichgeschalteten Universitäten nicht ohne Begeisterung die Pflicht nach Erkenntnissuche mit dem Dienst für eine Diktatur verwechselt. Weimar, so lehrten und schrieben sie dann in den Frühjahren der Adenauer-Republik, sei für die Deutschen unentrinnbares Schicksal und die Folge kommunistischer Unruhestifter oder uneinsichtiger alliierter Weltkriegssieger gewesen. Hitler deuteten sie lediglich als Unfall, der einem großen Kulturvolk ohne Zutun widerfahren war.

Bürger und Gelehrte, Offiziere, Richter oder Unternehmer – sie alle seien getäuscht und belogen worden, hätten nicht geahnt, welche Verbrechen die Nazi-Diktatur geplant und begangen habe. Die Schuldigen seien nur in einem kleinen Kreis von radikalen Gewalttätern zu finden. Die Eliten seien wie das Volk nur treu, redlich und naiv ihrer Pflicht nachgekommen. Vom Holocaust berichtete ohnehin in diesen Jahren kaum ein deutscher Historiker.

Nach dem Schweigen und Verleugnen

Brachers Werk hat dieses Schweigen und Verleugnen durchbrochen. In seinen Arbeiten zeigt er, dass es keinen Automatismus in der deutschen Geschichte gab, der unabwendbar zum 30. Januar 1933 hatte führen müssen. Weimar scheiterte an seinen egoistischen, um den Erhalt der eigenen Macht ringenden Eliten. Hitler konnte die Macht erobern und stabilisieren, weil die preußischen Junker um Hindenburg, die Industriemagnaten an der Ruhr und eine demokratieverdrossene Angestellten- und Arbeiterschaft glaubten, der Mann werde sich schon zähmen lassen und habe im übrigen ja auch in vielem recht. Er konnte seine Pläne umsetzen, weil er in der Beamtenschaft und in der Justiz so willige Helfer fand. Er konnte im Osten seinen Vernichtungskrieg inszenieren, weil die Wehrmachtsführung ihm nahezu widerspruchslos folgte.

Die Bedeutung von Brachers Analyse des Weimarer Untergangs und der Hitlerdiktatur ergibt sich in der so gelungenen Verbindung von Struktur- und Ereignisgeschichte. Joachim Fest schrieb 1969 in seiner Rezension über Brachers „Deutsche Diktatur“: „Es ist die erste sachkundige Gesamtdarstellung von Entstehung, Geschichte und Nachwirkung des Nationalsozialismus.“ Brachers Arbeiten wurden zur Bibel einer jungen Historikergeneration, die 20 Jahre nach dem Untergang des Hitler-Staates damit begann, die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert in zahllosen thematischen Einzeluntersuchungen neu zu interpretieren.

Mancher von ihnen hatte am Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere als Student in Brachers Bonner Seminaren gesessen. Nicht selten schrieb neben ihm ein Hörer mit, der sich bald in seinen Reden als Abgeordneter im benachbarten Parlament auf die Analysen des Historikers Bracher stützte. Ohne Bracher ist aber auch die Kulturrevolution der 68er gar nicht denkbar. An der restaurativen Geschichtsbetrachtung, die in den Hörsälen und Medien der Bonner Republik verkündet wurde, entzündete sich bald ein Flächenbrand. Eine junge Generation empörte sich und stellte ihren Eltern und Lehrern Fragen, die in Brachers Büchern bereits erste „revolutionäre“ Antworten gefunden hatten. Am Anfang auch dieser Entwicklungen stand die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit.

Bracher war nicht nur Historiker, sondern auch ein wacher und kritischer Beobachter der aktuellen politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen. In zahllosen Büchern (darunter auch grundlegenden Darstellungen der Geschichte der Bundesrepublik), Essays, Zeitungsartikeln und Vorträgen mischte er sich als überzeugter Demokrat und bürgerlicher Gelehrter ein. Die Stärke seiner Urteile und Analysen lag im Zusammenspiel von Geschichtsschreibung und politischen Wissenschaften. Beide Felder beherrschte er glänzend.

Die Wiedervereinigung: „zu schnell“

Die Wiedervereinigung von 1989 wird er bald als „zu schnell“ kritisieren und angesichts der Finanzkrise entsetzt er sich in einem Interview zu seinem 90. Geburtstag mit dem Satz: „Ich habe mir nicht vorstellen können, dass unsere Marktwirtschaft von verantwortungslosen Menschen zum Lotteriespiel umfunktioniert wird.“

Der 1922 in Stuttgart geborene Bracher kommt aus dem Bildungsbürgertum. Den Weg zur Geschichte fand der Musik- und Literaturliebhaber als Soldat. Der Krieg und das zweijährige Leben in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager wurden zum lebensbestimmenden Wendepunkt. Das Studium in Tübingen, die Dissertation 1948 und die Habilitation 1955 in Berlin führten schließlich an die Bonner Universität, wo er bis 1987 lehrte.

Zeitlebens blieb Bracher ein unabhängiger Denker. Er mischte sich in die Historikerkämpfe seiner Zeit immer ein, aber er blieb eine Stimme der Vernunft. Emotionen waren nicht das Markenzeichen dieses Wissenschaftlers. In öffentlichen Diskussionen trat er als nüchterner, gelegentlich spröde wirkender Gelehrter auf. Seine glanzvolle Wissenschaftskarriere wurde von Auszeichnungen, ehrenvollen Berufungen, Ehrendoktorwürden und Leitungsfunktionen begleitet. So war er viele Jahre auch Beiratsvorsitzender des so wichtigen Instituts für Zeitgeschichte in München.

Wäre die Berliner Demokratie eine Gelehrtenrepublik, sie müsste dem jetzt 94-jährig gestorbenen bedeutendsten deutschen Historiker der ersten vier Nachkriegsjahrzehnte ein Staatsbegräbnis bereiten.

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