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Tochter von Alice Munro schreibt über Missbrauch durch ihren Stiefvater – Das große Abwiegeln

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Alice Munro in jungen Jahren.
Alice Munro in jungen Jahren. © imago/ZUMA Press

Die Tochter von Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro wirft ihrer Mutter vor, sie mit den sexuellen Übergriffen des Stiefvaters alleine gelassen zu haben.

Margaret Atwood sagte am Montag, sie sei schockiert gewesen, habe es lange nicht gewusst, und als sie es erfahren habe, sei Alice Munro bereits nicht mehr in der Lage gewesen zu sprechen. Details seien ihr bislang nicht bekannt gewesen – dies auch der Tenor anderer Stimmen, die vom „Toronto Star“ zu einem Enthüllungsartikel vom Wochenende befragt wurden.

Es geht um ein halboffenes Geheimnis, insofern sogar gar kein Geheimnis, als es spät zu einer Verurteilung kam: 2005 erkannte ein Gericht den zweiten Mann der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin von 2013 für schuldig, seine Stieftochter Andrea Robin Skinner, ein Kind Munros aus erster Ehe, von 1976, ihrem neunten Lebensjahr, bis in ihre Pubertät sexuell missbraucht zu haben. Skinner zeigte ihn mit Ende 30 an. Gerald Fremlin, der im Nobelpreisjahr starb, war geständig.

Mit einem Artikel hatte sich Skinner nun an die Öffentlichkeit gewandt – einige Wochen nach dem Tod Munros, die im Mai starb und zuvor an Demenz gelitten hatte. Skinner zufolge kam es zu den Übergriffen bei Aufenthalten bei ihrer Mutter, die sich mit ihrem ersten Mann das Sorgerecht teilte. Ihrem Vater habe sie davon erzählt, er habe nichts unternommen. Auch Munro, später von der Tochter informiert, habe abgewiegelt und sie alleingelassen, so Skinner. Sie sei nicht bereit gewesen, sich von Fremlin zu trennen, habe stattdessen ihrer Tochter vorgeworfen, das von ihr zu erwarten. Skinner brach den Kontakt zur Familie über lange Zeit ab.

Es ist so weit

Atwood, mit ihrer Kollegin gut befreundet, beschrieb, dass Munro ohne Fremlin nicht zurechtgekommen sei. Munro-Biograf Robert Thacker berichtete, er habe mit Munro darüber gesprochen, der klar gewesen sei, dass das irgendwann ans Licht kommen werde.

Interessant ist das erstens, weil es sich insgesamt um den klassischen Ablauf einer Missbrauchsgeschichte handelt: jene durchlässige, aber aufrechterhaltene Wand des Schweigens der unbeteiligten, aber auch nicht helfenden Erwachsenen. Zweitens ist es unwahrscheinlich, dass man Munros Familienszenarien noch ohne diesen Hintergrund wird lesen können, in denen häufig die Frauen die Verzeihenden gegenüber ihren fehlbaren Männern sind. Wohingegen in diesen Tableaus die Lage der Kinder keine große Rolle spielt. Munro zeigt sich hier womöglich als härtere Realistin, als unsereiner dachte – aber mancher längst wusste. Die nun allseits sichtbaren Enthüllungen vervollständigen ein Bild.

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