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„Anthology“ von Hofesh Shechter in Stuttgart – Wie leicht es ist, jemanden umzubringen

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Ein „Bonus Track“, in dem sich Dunkelheiten verbergen. Jeanette Bak
Ein „Bonus Track“, in dem sich Dunkelheiten verbergen. Jeanette Bak © Jeanette Bak

Hofesh Shechters „Anthology“-Abend bei Gauthier Dance in Stuttgart.

Der erste Teil von „Contemporary Dance 2.0“, „Part I“, wird mit einem Schild angekündigt, auf dem nur „Pop“ steht. Hm. Der zweite ist „with feelings“, okay, warum nicht. Der dritte beschäftigt sich mit „Mother“ – „Mutter“? Es folgt „Part IV“, „Contemporary Dance“. Und schließlich „The End“, logisch. Frank Sinatra singt dazu „My Way“: „And now, the end is near /And so I face the final curtain“.

Einen ganzen Abend mit Werken Hofesh Shechters, überschrieben „Anthology“, zeigt Gauthier Dance im Stuttgarter Theaterhaus jetzt, künstlerischer Leiter Eric Gauthier konnte den israelischen Choreografen schon 2021 als „Artist in Residence“ gewinnen (übrigens war es zuvor Marco Goecke gewesen). Es ist, mit Pause, ein gut zweistündiger Abend mitreißender Fülle, das betrifft den Tanz wie auch die Musik, denn Shechter komponiert fast immer selbst. Mächtige, rhythmusgetriebene Klänge, daruntergemischt Loops von Gesangszeilen. Und während man noch überlegt, wo in „Contemporary Dance 2.0“ das Mütterliche steckt, hört man aus dem Soundtrack „Fucking“ und „Motherfucker“ heraus, wieder und wieder.

List, Ironie, (blutiger) Ernst, auch sie stecken in den üppigen Choreografien Shechters, ihre ungeheure Sogwirkung lässt das gern vergessen. Der Israeli liebt die Ensembles, in „Contemporary Dance 2.0“ ist die Gruppe von acht Tänzerinnen und Tänzern nur selten auseinandergesprengt, in „Swan Cake“ (entstanden 2021 für den Coronazeit-Abend „Swan Lakes“) sind es neun Unermüdliche, 22 schließlich in „Bonus Track“, das Shechter für die Haupt-Company und die „Juniors“ geschaffen hat. Man würde es munter nennen und ein „Tanzfest“ – und das ist es ja auch –, wäre nicht wie beiläufig Schreckliches in den Bewegungsfluss gewebt (und man denkt an den 7. Oktober): Pantomimisch erschießen, erstechen die 22 den Kollegen, die Kollegin, schneiden Kehlen durch mit schneller Geste, vergewaltigen mal kurz. Wie leicht es ist, jemanden umzubringen, scheinen die venezianischen Masken, die das Ensemble trägt, zu suggerieren (Kostüme: Gudrun Schretzmeier, Shechter). Körper stürzen ohne Gegenwehr, stehen gleich wieder auf, tanzen weiter.

Energisch vorwärts

Pina Bauschs berühmter Satz „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren“ passt am Ende auch auf diesen Abend. Denn es ist die Dringlichkeit, die er bei allen Showqualitäten seiner Stücke (gern auch mit Theaternebel und dramatischer Beleuchtung) stets vermittelt, die Shechter zu einem großen Choreografen macht. Das Ausgreifen, die energische Vorwärtsbewegung wechseln sich ab mit Gebeugtheit, kurzem Schlurfen, abwehrendem, manchmal auch panischem Handwedeln. Das Leben ist keine Party in diesen Choreografien – oder jedenfalls nicht durchgehend. Und wer gerade noch mit einem sexy Hüftschwung und geschwellter Brust lockte, den schütteln gleich darauf ganz andere Gefühle durch.

Wie auf ganz andere Art Marco Goecke gelingt es Shechter, Stimmungsnuancen zu vermitteln. Und sich auch mal einen Scherz zu erlauben, wenn zu Bachs berühmtem Air aus der Suite Nr. 3 in D-Dur (gerade wurde das Schild „Contemporary Dance“ hochgehoben) ein paar eher untypische Bewegungssequenzen folgen. Es mag ein Augenzwinkern sein, mit dem der Choreograf zeigt, dass er auch anders könnte: nämlich das heute auf Tanzbühnen sehr oft vertretene geschmeidig-schön Verwebte. Aber das Laue ist seine Sache nicht, das belegt dieser Abend.

Theaterhaus Stuttgart: 26.-29. Juni. www.theaterhaus.com

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