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Eric Gauthier über die Situation der Tanzkunst: „Die großen Experimente sind vorbei“

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„Jetzt haben die meisten Theater dieselben Rezepte“, sagt Eric Gauthier. Foto: Jeanette Bak
„Jetzt haben die meisten Theater dieselben Rezepte“, sagt Eric Gauthier. Foto: Jeanette Bak © Jeanette Bak

Eric Gauthier, dessen Company nicht nur am Stuttgarter Theaterhaus erfolgreich ist, über die Situation der Tanzkunst, den choreografischen Nachwuchs und die Leidenschaft seines Jobs.

Herr Gauthier, Sie haben erstaunlich schnell eine beeindruckende Company völlig neu auf die Beine gestellt. Was war damals, im Jahr 2008, was ist vielleicht noch das wichtigste Ihrer Talente? Geld locker zu machen?

Am Anfang? Oh wow, da war ich noch jung. Ich war davor nur Tänzer, ich habe mich nur auf der Bühne gut ausgekannt. Ich habe gute Beziehungen gehabt aus meiner Zeit – elf Jahre – beim Stuttgarter Ballett, ich habe dort tolle Leute kennengelernt. Als ich die Company gegründet habe, diese Chance bekommen habe, kannte ich mich mit fast nichts aus. Ich hatte diese große Begeisterung und dachte, ich könnte andere mitbegeistern. Ich habe aus Fehlern gelernt. Aber Geld lockermachen? Ich war bei der Stadt, man hat mir gesagt: tolle Idee, aber wir haben ein Ballett. Es hat fünf Jahre gedauert, dann habe ich den deutschen Tanzpreis Zukunft bekommen. Und da hat der Bürgermeister von Stuttgart gesagt: Okay, wir müssen was machen. Es gab die erste Förderung. Seit zwei, drei Jahren, seit der Pandemie ist es wieder sehr schwierig, niemand will Geld lockermachen. Es ist nicht wie vorher, leider nicht, nicht für Kultur und Tanz.

Warum musste es damals eine neue Company sein? Sie hätten doch sicher irgendwo künstlerischer Leiter der Tanz-Sparte werden können?

Ich glaube, mit dreißig war ich nicht wirklich bereit, ist niemand bereit, Leiter von einer Gruppe zu sein. Ich habe einige Freunde, die jetzt aufhören mit ihrer Tänzerkarriere, sie wollen alle den Sprung machen zum Chefposten einer Company. Aber du musst so viel wissen, wenn du das Glück hast, einen Job zu kriegen als Chef. Hat das Ihre Frage beantwortet?

Zum Teil. Es gibt so wenige neue Companies, eine Neugründung ist ein so immenser Schritt – und es hat bei Gauthier Dance/Dance Company Theaterhaus Stuttgart so gut funktioniert.

Es war viel Arbeit, sehr viel Arbeit. Es hat mich viel gekostet. Ich habe aufgebaut und aufgebaut, viele Fehler gemacht.

Was für Fehler?

Ich habe drei ganz tolle Kinder mit meiner Ex-Frau, aber ich weiß, ich habe da nicht genug gegeben. Ich habe immer gearbeitet. Dieser Job, Tanz, ist keine normale Arbeit, es ist pure Leidenschaft. Man denkt nicht: Ich gehe arbeiten. Man denkt: Ich freue mich, in den Ballettsaal zu gehen, ich freue mich, auf die Bühne zu gehen.

In Ihrer Tänzer-Biografie bilden die Namen der Choreografen, mit denen Sie gearbeitet haben, fast ein komplettes Who’s who zeitgenössischen Tanzes. Alle Großen waren dabei. Das hat beim Aufbau eines Repertoires für Gauthier Dance sicher geholfen.

Ganz am Anfang war das Hans van Manen, auch andere berühmte Choreografen, sie haben uns Stücke gegeben. Und ich bin dankbar dafür. Meine Truppe ist aber keine Balletttruppe, das darf man nicht vergessen. Die 16 Tänzerinnen und Tänzer, 22 mit den Juniors, haben ihre Karriere in meine Hände gelegt. Ich muss auch dafür sorgen, dass sie wachsen können. Das ist wichtig. Darum auch die vielen Stilwechsel, die Reisen um die Welt, damit sie eben auch als Künstler wachsen können. Wir gehen nach New York, ich bin glücklich, den Tänzern das als Erfahrung mitgeben zu können. Auch wenn sie dann zu einer anderen Truppe gehen, sie sind bei mir gewachsen und jetzt können sie in die große Welt gehen, ohne Angst. Sie sind ein bisschen wie meine Kinder. Ich freue mich, und das ist auch meine Aufgabe als Chef.

Wie wählen Sie die Choreografen, Choreografinnen für Ihre Company aus? Sie gehen ja mit jungen Leuten auch immer wieder Risiken ein. Ist das ein Bauchgefühl?

Ja. Ich gehe ins Risiko – aber andererseits auch nicht. Für die Hauptmannschaft machen wir nur ein oder zwei neue Programme pro Jahr. Da sind die Choreografen, mit denen wir arbeiten, kein großes Risiko. Wie zuletzt bei „Elements“, mit den Teilen Earth, Wind, Fire und Wasser. Jeder Choreograf hat ein Element gemacht. Ich wusste, wenn Sharon Eyal Feuer übernimmt, wird es irgendwie geil. Auch, wenn Mauro Bigonzetti die Erde übernimmt. Louise Lecavalier aus Montréal hat noch nie ein Stück für eine Company gemacht, never ever, aber sie hat zugesagt, weil ich sie seit Jahren bestürmt habe. Sie hat gesagt: Ja gut, Eric, ich übernehme den Wind. Sie hat ein schönes Solo für eine Frau gemacht. Und der Grieche Andonis Foniadakis war perfekt für das Wasser. Er kommt aus Kreta, er war als Kind immer mit seinem Papa im Boot unterwegs. Es geht also nicht nur darum: mach ein neues Stück für uns. Es muss immer passen. There has to be a connection. Als Sharon Eyal den Feuer-Teil choreografierte, hatte sie gerade einen Todesfall in ihrer Familie. Sie war so am Brennen, sie sagte: Ich muss kreieren, ich will nicht, aber ich muss.

Nehmen wir Louise Lecavalier, ich kenne sie als Tänzerin, aber überhaupt nicht als Choreografin, und dachte: Wo kommt das plötzlich her?

Ja, die Leute haben gejubelt. Aber Louise hat gesagt: Ich mache das nie wieder. Und ich habe sie natürlich gefragt, warum. Und sie hat gesagt: So bleibt dieser perfekte Moment in Erinnerung. Und ich habe gesagt: Ohhh. Aber da kommen wir auch zu meinen Wurzeln, ich bin aus Montréal, aus Kanada. Ich bringe kanadische Choreografen, meine Heimat nach Europa.

Zur Person

Eric Gauthier , geboren 1977 im kanadischen Montreal, ist Tänzer, Choreograf und Leiter des von ihm gegründeten Ensembles Gauthier Dance/Dance Company Theaterhaus Stuttgart. Mit dem Kanadier Reid Anderson wechselte er 1996 vom National Ballet of Canada zum Stuttgarter Ballett, als Anderson hier künstlerischer Leiter wurde. Elf Jahre lang tanzte Gauthier für das Stuttgarter Ballett, 2002 wurde er zum Solotänzer ernannt.

2008 hatte Gauthier Dance im Stuttgarter Theaterhaus, das die Heimat des Ensembles ist, die erste Premiere. Mauro Bigonzetti, William Forsythe, Itzik Galili, Jirí Kylián, Paul Lightfoot, Sol León, Hans van Manen und Christian Spuck stellten in den Jahren danach Werke für die Compagnie zur Verfügung oder schufen für sie Stücke. 2011 wurde Eric Gauthier mit dem deutschen Tanzpreis Zukunft für Choreographie ausgezeichnet.

Termine: www.theaterhaus-com

Könnten Sie eine solche Company in Kanada aufbauen, oder braucht man dafür das deutsche Theatersystem?

Es ist dort anders als hier, als eine Truppe in Deutschland. You could do it anywhere, aber die Mittel dafür müssen da sein. Es gab diese tolle Truppe aus New York, Cedar Lake Contemporary Ballet. Aber sie hat nur existiert, weil eine Dame Millionen hineingesteckt hat. Und als diese Frau gesagt hat, okay, ich hab das jetzt gemacht, ich will nicht mehr, ich mache jetzt etwas anderes, musste die Company sofort schließen. Es ist viel Arbeit, damit Gauthier Dance am Leben bleibt. Seit diesem Jahr ist die Stadt Stuttgart mehr dabei wie je zuvor, wie in sechzehn Jahren.

Wie hat sich die Tanzszene verändert, seit Sie mit Ihrer Company angefangen haben?

Die Landschaft ist eine andere. Jedes Theater hat früher Tanztheater gemacht. Und jetzt haben die meisten Theater dieselben Rezepte – leider, muss ich sagen. Oft ist Sharon Eyal dabei, ist Andonis Foniadakis dabei – weil es funktioniert. Die großen Experimente sind vorbei. Es geht auch um Sicherheit, denn die Company-Leiter müssen ihre Plätze verkaufen, sie bekommen Druck von den Intendanten.

Aber gäbe es noch genug choreografische Talente, um es anders zu machen?

Es gibt nicht so viele. Nehmen Sie Marcos Morau und La Veronal. Wir wollten vor vier Jahren etwas zusammen machen, dann haben wir gemerkt, es ist zu schwierig, damit zu touren, man muss Veronal bezahlen und Gauthier Dance bezahlen. Aber wir wurden Freunde, er hat dann „Die sieben Todsünden“ für uns gemacht. Und wurde plötzlich von allen gebucht. Nun ist Marcos Morau Hauschoreograf in Berlin. Ja, es gibt junge Talente, aber die machen oft dieselben Sachen. Früher hat alles ausgesehen wie Forsythe oder Kylián, heute ein bisschen wie Goecke. Man muss seinen eigenen Weg, seine eigene Handschrift finden. Das ist sehr selten. Das ist das Dilemma. In den letzten Jahren haben das Goecke gemacht, Morau, dass sie ihre eigene Bewegungssprache entwickelten, aber das ist rar. Aszure Barton aus den USA macht es, sie wird gerade ganz groß. Man wartet immer auf die nächste Frau im Tanzgeschäft. Ich möchte auch neue Choreografen finden, wie zum Beispiel Nadav Zelner. Nadav hat vor sieben Jahren in Tel Aviv immer nur seine Videos gepostet. Und ich habe gesagt: This is very cool. Ich habe ihn angerufen und gefragt, ob er ein Stück für uns machen kann, ein Duett. Dann habe ich ihn gefragt, ob er sein erstes abendfüllendes Stück für Gauthier Dance machen möchte. Er war 26 und er hat es „Bullshit“ genannt. Meine Güte. Aber es war fantastisch. Und jetzt geht Nadav seinen Weg. Dasselbe bei Po-Cheng Tsai, er arbeitet inzwischen viel in Bern. Er hatte einen wunderschönen Pas-de-deux, „Floating Flowers“, wir haben das Duett ins Programm aufgenommen, es hat ihn groß gemacht.

Passiert an den Theatern, bei den etablierten Companies, genug in Sachen Nachwuchs-Förderung, auch mit Blick auf das Publikum?

Ich finde, was fehlt – aber vielleicht haben sie an den Theatern dafür nicht die Zeit –, das ist die soziale Seite unserer Kunst. In meiner kurzen Zeit auf der Erde möchte ich so viel Gutes erreichen mit der Kunst. Wir sind bei der Alzheimer-Gala dabei, es gibt Gauthier Dance mobil, da gehen wir in Altersheime, zeigen dort eine kleine Show. Oder „moves for future“, da gehen wir in Schulen, in Grundschulen, in Sporthallen. Wir sind in diesem Sinn extrem sozial. Viel von dem Geld, das wir erhalten, geben wir auch für solche Sachen aus. Das kommt von meinem Budget, aber das ist mir ganz, ganz wichtig. Wenn mehr Companies so etwas machen würden, würde sich der Tanz viel mehr profilieren.

Haben Sie zuletzt einen stilistischen Trend entdeckt bei jungen Choreografen und Choreografinnen, wollen Sie ihn abbilden?

Ich werde oft gefragt: Warum engagierst du den – und nicht diesen? Es gibt diese Grenzen, sie sind schmerzhaft, aber nicht alles ist für Gauthier Dance geeignet. Mancher sagt: Aber ich kann auch lustig sein. Doch darum geht es gar nicht, wir haben viele dunkle Abende.

Haben Sie für die Zukunft noch einen Wunsch für Gauthier Dance? Größer werden?

Größer werden ist nicht wichtig. Es war mir wichtig, Gauthier Dance Juniors/Theaterhaus Stuttgart zu haben, die jungen Tänzer. Die Juniors waren ein wichtiger Faktor für mich, in Stuttgart zu bleiben. So können wir uns entwickeln, haben eine Zukunftsperspektive.

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