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„Letzter Frühling / Last Spring“ in Kassel – Wir wissen nur nicht wann

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Tanzen die Frauen weicher? Bildet man sich das ein?
Tanzen die Frauen weicher? Bildet man sich das ein? © Sylwester Pawliczek

Yossi Bergs und Oded Grafs originelles „Letzter Frühling/Last Spring“ in Kassel.

Igor Strawinskys als Ballettmusik entstandene Komposition „Le Sacre du printemps“, rhythmisch herausfordernd und mal mächtig auftrumpfend, mal betörend fremd, hat immer wieder neue Generationen von Choreografinnen und Choreografen gelockt. Längst ist aber kein Skandal mehr zu erwarten, weder durch die Musik, noch eine ungewohnte Bewegungssprache – während Vaslav Nijinsky 1913 das Publikum noch durch (gegen jede Ballettregel) eingedrehte Beine und geflexte Füße empören konnte. Heute freut man sich, wenn Tanzschaffende im weiten Raum der Möglichkeiten noch in irgendwelchen Ecken Neues, Ungesehenes finden.

So wie es dem israelischen Choreografenduo Yossi Berg und Oded Graf gelingt, das jetzt für Tanz Kassel und das dortige Ensemble einen kraftvollen Sacre-Abend erarbeitet hat. Mit Absicht wird „Letzter Frühling/Last Spring“ im kleinen TiF gezeigt, dem 99 Plätze bietenden Theater im Fridericianum. Berg und Graf nutzen die Intimität, auch die gar nicht breite Treppe zwischen den Reihen, so dass einzelne Tänzerinnen und Tänzer fast schon auf Tuchfühlung gehen (und plötzlich denkt man zurück an die Pandemiezeit und: wie schön, dass so etwas wieder möglich ist). Aber apropos Tänzerinnen und Tänzer, ein Clou des Abends ist, dass die Choreografie, mit einigen wenigen Änderungen, zweimal gezeigt wird, zuerst getanzt von vier Männern, nach der Pause von vier Frauen.

Strawinsky beschrieb seine „Vision“ einer Handlung, einer „großen heidnischen Feier“ so: „Alte angesehene Männer (…) sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das zufällig ausgewählt wurde und geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.“ Kein zeitgenössischer Choreograf fühlt sich noch an die üble Jungfrauen-Opfer-Geschichte gebunden, höchstens, um sie kritisch aufzugreifen. Aber indem bei Berg/Graf das Opfer aus einer mal männlichen, mal weiblichen Vierergruppe kommen muss, indem sie außerdem im Grunde offenlassen, ob nicht alle sterben beziehungsweise keiner und keine stirbt, öffnen sie die „heidnische Feier“ ins Heute und zu dessen vielfältigen und unübersichtlichen Schrecknissen, gerade auch im Heimatland der Choreografen.

Eine kurze gemeinsame Eröffnung gibt es, dann bleiben die eng sich umarmenden Männer zurück. Mit Einsetzen der Musik folgen, divers verschränkt im Quartett, eckig-aggressive Bewegungssequenzen – aber Moment: als dies dann die Frauen tanzen, empfindet man es gleich nicht mehr als so aggressiv. Führen die Frauen ihre Arme weicher? Ja, durchaus. Oder liegt der andere Eindruck vor allem daran, dass ihnen die breiten Schultern, die muskulösen Oberarme fehlen? Geschlecht spielt keine Rolle? Doch, das tut es, wie die homosexuellen Choreografen zeigen, die auch privat ein Paar sind.

Es gibt ein wenig Text – über den Mond und das nächtliche Verlorengehen –, mal ein wütendes „Go, go“, mal zählt man „one, two, three, four“. Rasantes, Ausgreifendes und Gesten der Gewalt wechseln sich ab mit kokettem Hüftwiegen, tröstend wirkenden Umarmungen. Dies in einem unbestimmt-modernen, zarten Kleidungsmix (Kostüme: Elisa Maria Merce Pfeifer). Einmal tupfen sich die vier pantomimisch Tränen unter die Augen – oder bereiten sie sich darauf vor, den Clown zu geben? Auch rote Taschentücher spielen zwischendurch eine Rolle, man hält sie im Mund, als flösse das Blut aus diesem und den Hals hinunter. Dann wieder befestigen die Tänzer bzw. Tänzerinnen die roten Tücher an der Taille, wo man wieder darauf zugreifen kann.

Wird am Ende niemand geopfert? Oder werden alle symbolisch geopfert, auch wir, das Publikum? Eine augenzwinkernde musikalische Auflösung schließen Yossi Berg und Oded Graf an. Tänzerinnen und Tänzer sind gemeinsam auf der Bühne, wenn nach dem zweiten Strawinsky-Durchgang AJ Smiths Song „We’re All Gonna Die“, wir werden alle sterben, erklingt, dessen Text nach der unbestreitbar wahren Titelzeile weitergeht: „we just don’t know when“.

Das Publikum nimmt es mit Humor und, was dieses bewegliche und bewegende Tanzstück betrifft, mit Begeisterung.

Staatstheater Kassel im TiF: 6., 7., 9., 12. Juli. www.staatstheater-kassel.de

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