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Solocoreografico-Festival im Gallus-Theater Frankfurt: Der Mensch ohne Schutz

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Aus der Ukraine: die Tänzerin Daria Koval in Maciej Kuzminskis Arbeit „Resistance Movement“.
Aus der Ukraine: die Tänzerin Daria Koval in Maciej Kuzminskis Arbeit „Resistance Movement“. Foto: Maciej Rusinek © Maciej Rusinek

Eindrücke vom 6. Festival Solocoreografico im Frankfurter Gallus-Theater.

Vier Tage dauerte das von Raffaele Irace 2014 in Turin begründete und nach Frankfurt ausgeweitete Festival Solocoreografico, das ganz auf Tanzsoli setzt. Als Wettbewerbsfestival vergibt es den Solocoreografico Award. 550 Tanzvideos wurden eingesendet, eine so große Anzahl, dass Tag 1 mit 19 Stücken außerhalb des Wettbewerb einen eigenen „Fringe“-Teil auf die Bühne stellte.

Sieben Soli qualifizierten sich fürs Wettbewerbsprogramm an Tag 2 und 3, die Expertenjury bestand aus Tony Rizzi, Sam Young-Wright, Juliane Raschel und Maike Piechot. Sie belohnten die beste Choreografie und die beste Performance, auch war mit dem Performance-Preis eine Künstlerresidenz am Mousonturm ausgelobt.

Rizzi rühmte die Authentizität einer Performerin, die ihre „coolen, einzigartigen, schwierigen Schritte“ mit „Kraft, Überraschung und Genauigkeit“ erfülle, was entsprechend für die Kostümwahl gelte. An der besten Choreografie lobte Juliane Raschel (Tanzplattform) die Präzision und Konsequenz der Tänzer-Choreografin, die mit starker körperlicher Präsenz berührend und beeindruckend den Druck vorführe, der in dieser hektischen Welt auf uns laste. Aus Neugier auf ihre Entwicklung sei der Mousonturm glücklich, auch ihr eine Residenz zu offerieren.

Wer die Preise zugesprochen bekam? Warten Sie ab.

Zu den Eindrücken. Am „Fringe“-Tag waren Regina Van Berkels „Ineekh“ mit dem Mongolen Odsuren Dagva als Tänzer oder „Blooming“ von und mit der Ungarin Lena Arvay-Vass beileibe keine zweite Wahl. „Blooming“ erhielt den Publikumspreis des Tages.

Der ging am zweiten Tag nicht an die Favoritin des Kritikers: das Solo „Resistance Movement“ von Maciej Kuzminski mit Tänzerin Daria Koval. Sondern stimmgleich an „Sogno trascendentale“ von Teresa Curotti und „Coppelia Project“ von C. Mochi Sismondi. Was an „Resistance Movement“ begeisterte, war die ausdrucksstarke Interpretation des Leidensdrucks einer jungen Frau, die im Off berichtet, wie sie am 24. Februar 2022 vom russischen Angriff auf die Ukraine überrascht wird, flieht und auf Teneriffa in einen Leerlauf der Zeit gerät, als sie täglich ans Meer geht und sich die Verzweiflung aus der Seele schreit und tanzt: „Mein ganzes Herz ist in der Ukraine, aber mein Körper ist hier... Tanz bedeutet nichts mehr.“

Eingerahmt wird ihr Auftritt mit schutzlos entblößter Brust vom Wechsel ihrer Kleidung gegen einen Folklorerock, gefolgt von Brandungsgeräuschen und dramatischem Tanz und Gesten. „Coppelia Project“ war bestechend, setzte aber arg auf Zirkusakrobatik, da Elisa Mutto an den Haaren aufgehängt im Raum schwang. Hingegen bot „Sogno trascendentale“ mit Anna Lane durch Scat-artige Klangbegleitung und passende Bewegungssprache ein subtil-heiteres Vergnügen.

Am Jury-Tag ging der Publikumspreis endlich doch an „Resistance Movement“. Zugleich erhielt Daria Koval den Jurypreis für ihren Auftritt. Wunderbar! Dass „Topography of Breath“ tags zuvor noch leer ausging und nun Choreografie-Sieger wurde, war beides recht so. Obwohl das heftige, eng getaktete Schnaufen der Tänzer-Choreografin Pat Toh ins Standmikro sinnlich abstoßend und erschreckend statt anziehend war, handelte es sich um die originellste Choreografie. Wie sich die Tänzerin im Sportbikini verausgabt und, von einer Klingel getrieben, über ihren Sprechrausch in angedeuteten Autokannibalismus steigert, war widerwärtig faszinierend.

Jugendsoli und Kurzfilme rundeten Solocoreografico 2023 ab. Gut, dass es das im Gallus-Theater kompetent aufgezogene, vor Liebe zur Sache glühende Festival gibt.

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