Hans Magnus Enzensberger: Verdruss und Verdacht machen sich breit in Europa

Woher kommt das politische und gesellschaftliche Misstrauen, das allenthalben zu dominieren beginnt? Und was lässt sich aus der Geschichte womöglich lernen? Dazu drei Stimmungsbilder: 1914, 1918, 2018.

Hans Magnus Enzensberger
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Mit dem Schiff in den Krieg: amerikanische Soldaten 1918, unterwegs Richtung Frankreich. (Bild: AP Photo / U.S. Army Signal Corps)

Mit dem Schiff in den Krieg: amerikanische Soldaten 1918, unterwegs Richtung Frankreich. (Bild: AP Photo / U.S. Army Signal Corps)

Der Erste Weltkrieg ist so fern und so nah zugleich. Wie kann das sein?

Das ist eine ganz gewöhnliche Erscheinung. Du brauchst nur dein Paar Handschuhe zu betrachten. Der eine liegt vor dir auf dem Tisch; den andern hast du an. Diesen fühlst du von innen; jenen betastest du von aussen. Und du stellst fest, dass es zwei ganz verschiedene Objekte sind. (Die Topologen nennen das Chiralität.)

Niemand braucht ein Studium, um diesen Unterschied zu bemerken. Die eigene Haut erkennt ihn sofort.

Wer den Ersten Weltkrieg nicht leibhaftig erlebt hat, für den ist er weit entfernt. Nach hundert Jahren sind kaum noch Zeugen am Leben, die ihn ertragen haben und für die er zu ihrem biografischen Gepäck gehört. Jüngere schleppen diese Bürde nicht mehr mit sich. Wie es wirklich gewesen ist, werden die Nachgeborenen nie genau wissen. Die Vergangenheit ist ein Ausland, zu dem wir keinen Zutritt haben. Wir müssen uns grosse Mühe geben, um uns ein Bild davon zu machen, und im besten Fall bringen wir ein Mosaik zustande, eine Collage aus Filmen, Memoiren, Plakaten und Dokumenten. Dazu ist eine Arbeit nötig, die der des Historikers nahekommt.

Frage einen, der heute zwanzig Jahre alt ist, nach der Konferenz von 1919 im Schloss von Versailles, frage ihn, wer Clemenceau oder Foch waren, Woodrow Wilson, Lloyd George oder Scheidemann. Vielleicht kennt er einen Strassennamen in Paris oder Berlin, aber viel mehr wird er über diese Herren kaum wissen. Und was ist mit Hausmann und Bismarck, welcher Sieg wird mit der Place de la Victoire gefeiert?

Postheroisches Zeitalter

Es wäre absurd, den heutigen Europäern ihre Geschichtsvergessenheit vorzuwerfen. Manche können sich noch an 1933 erinnern, als Hitler triumphierte, und an den Zweiten Weltkrieg, weil ihre eigene Haut oder ihre eigene Familie die zerrissenen, blutbefleckten Handschuhe dieser Epoche von innen kennen.

Mein Grossvater ist der Einzige in meinem Clan, den ich nach dem Ersten Weltkrieg fragen konnte. Ein schlechter Zeuge! Er war offenbar anno 1914 begeistert. Aber nie trug er eine feldgraue Uniform, und sein Enthusiasmus verflüchtigte sich, sobald er und seine vielen Kinder in den späteren Kriegsjahren hungerten. Er verlor Geld, überstand aber alles, die Weimarer Republik, die Diktatur, den zweiten Vernichtungs- und den Kalten Krieg und das sogenannte Wirtschaftswunder.

Jetzt sind die meisten, die im «Westen» leben, Pazifisten, besonders die Deutschen. Das Ende der Geschichte hat nicht stattgefunden. Das Posthistoire gibt es nicht, aber eine Art postheroisches Zeitalter ist in Europa angebrochen. Selbst Ernst Jünger, der Letzte, der in Deutschland die alten Kriegertugenden verkörperte, hat 1942 in Paris heimlich mit der Niederschrift eines klandestinen Aufrufs an die Jugend Europas begonnen, der für die Zeit nach dem Sturz Hitlers gedacht war und «Der Friede» hiess.

Die deutsche Bundeswehr muss der Nato gelegentlich einen Tribut entrichten, in Afghanistan, in Mali oder anderswo, aber sie tut es lustlos. Die Wehrpflicht ist abgeschafft, und das Verteidigungsministerium unterhält das einzige Militärmuseum der Welt, das die Schrecken des Krieges nicht verschweigt, sondern thematisiert.

Militär kostet

Heute sind die Briten die Einzigen in Europa, die sich noch etwas auf ihr Militär und ihre Waffen zugutehalten. Der Falkland-Krieg war ein letzter Versuch, am verlorenen Empire festzuhalten, ganz so, als litte die Nation an einer Art von Phantomschmerz. Frankreich kann sich zwar einer Force de frappe und eines Sitzes im Unsicherheitsrat der Vereinten Nationen rühmen, und es hält am kostspieligen Rest seines kolonialen Imperiums fest, aber wahr ist, dass die Franzosen in Wirklichkeit ganz andere Sorgen haben.

Rüstung und Verteidigung sind teuer. Damit wollen die Regierungen die Steuerzahler ungern belasten. Überall in Europa sind die Streitkräfte zurechtgestutzt worden, obwohl der amerikanische Präsident ganz offen fordert, die Mitglieder der Europäischen Union müssten ihre Rüstungsausgaben erhöhen.

Die Schweden, für die Neutralität und Pazifismus zur Staatsräson gehören, stehen seit langem wehrlos da. Si vis pacem, para bellum, diese altrömische Ermahnung, findet wenig Gehör. Merkwürdige Heuchelei auf allen Seiten! Denn zugleich wollen alle ihre Exportindustrie schützen. Sipri, das Stockholm International Peace Research Institute, ist eine Institution, die darüber am zuverlässigsten berichtet. (Dass sie schwedisch ist, kann kein Zufall sein.)

Danach nehmen die Rüstungsausgaben seit 1990 weltweit erheblich zu. Die grössten Exporteure sind die Vereinigten Staaten. Den zweiten Rang nimmt Russland ein. Es folgen China, Frankreich und Deutschland. Die grössten Importeure finden sie in Asien, im Nahen Osten, und sogar die afrikanischen Regime kaufen ein, soweit sie können. Und das ist nur der legale Anteil am Rüstungsgeschäft. Daneben blüht ein ungesetzlicher Waffenhandel, der sich an keine Regeln hält und der sogenannte Befreiungsbewegungen, Terroristen, Drogenhändler, Piraten, Schleuser und Warlords mit allem versorgt, was sie brauchen.

Kontrolle überall

Im Vergleich zu den Religions- und Bürgerkriegen auf anderen Kontinenten ist Europa eine Insel der Seligen. Man kann hier gewöhnlich die Strasse überqueren, ohne dass geschossen wird. Aber die Ruhe ist trügerisch, und keine Regierung kann den Europäern versprechen, dass sie sicher vor organisierten, freiwilligen und spontanen Terroristen sind. Überall Kontrollen, bewaffnete uniformierte und getarnte Einsatzkräfte, Überwachungskameras, Spitzel, Geheimdienste, die sich als Herren aufspielen, Provokateure, Flüchtlinge, Migranten, Asylsuchende, gefährliche Hassprediger, die abgeschoben werden sollen – aber wohin? Niemand will sie haben.

Überall, in Paris, in London, in Berlin und Madrid, machen sich Verdruss, Verdacht und Misstrauen breit: eine labile und schwüle Stimmung. Ahnungsvolle Geister wollen bemerkt haben, dass sie von der, die 1914 herrschte, nicht weit entfernt ist.

Der Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber Hans Magnus Enzensberger lebt in München. Bei Suhrkamp ist zuletzt sein Buch «Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert» erschienen.