Sport & Gesellschaft

B-Girl Jilou über den wohl schwersten sportlichen Rückschlag – oder: Wenn olympische Träume fast in Erfüllung gehen

Aktuell richten sich alle Augen auf Paris und die Sportler:innen, die bei den dortigen Olympischen Spielen um Medaillen kämpfen. Doch was ist mit all jenen, die daheim bleiben mussten? Sind ihr jahrelanges Training, ihre Aufopferungen nicht ebenso viel Aufmerksamkeit und Wertschätzung wert? Und wie gehen all diese Sportler:innen damit um, wenn der Traum von den Olympischen Spielen nicht in Erfüllung geht? VOGUE-Redakteurin Katharina Fuchs wollte es wissen und sprach mit B-Girl Jilou, die sich für das olympische Debüt ihrer Sportart Breaking nur knapp nicht qualifizieren konnte.
Gesamtes Outfit von NIKE.
Gesamtes Outfit von NIKE.Foto: Timothy Schaumburg. Styling: Peninah Amanda

B-Girl Jilou über den Umgang mit Rückschlägen im Sport und ihren eigenen olympischen Traum, der fast in Erfüllung gegangen wäre.

"Fast". Ein einfaches Wort. Vier Buchstaben – die jedoch für Sportler:innen nicht grausamer sein könnten. "Fast", das bedeutet, kaum noch von einem bestimmten Ziel entfernt zu sein; einem spezifischen Ergebnis oder einer Anzahl von Punkten ziemlich nahezukommen; eine bestimmte Messgröße beinahe erreicht zu haben. Bei einem "fast" fehlt also nicht viel – und doch hängt alles davon ab.

Georgia Sheehan, eine australische Wasserspringerin, musste dies unlängst selbst erfahren, verpasste sie doch mit nur 0.5 Punkten die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Paris. In einem kürzlich erschienenen Essay für VOGUE Australia schreibt sie dazu: "Ich fand mich in dem Club wieder, dem kein:e Sportler:in angehören möchte: dem Kreis der 'Fast-Olympionik:innen'. Wir haben genauso hart trainiert, genauso viel geopfert und genauso viel geträumt, aber durch eine grausame Fügung des Schicksals haben wir unser Ticket für die diesjährigen Olympischen Spiele leider nicht lösen können." Es sei ein eigenartiger Schmerz, der entstünde, wenn man "seine Träume fast, aber nicht ganz erreicht hat. Ein Schmerz, der sich tief in der Brust einnistet. Ein ständiger Begleiter, der einen daran erinnert, was hätte sein können." Sie ergänzt: "Wenn deine Träume so groß sind wie die Olympischen Spiele, werden sie zu einem Teil von dir, so selbstverständlich wie das Atmen oder der Herzschlag."

Auch Breakerin Jilou träumte von klein auf davon, bei den Olympischen Spielen dabei zu sein – zuerst als Turnerin, dann als Tänzerin bei der Eröffnungszeremonie. Und schließlich als Athletin. Denn bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris feiert Breaking das Debüt als olympische Disziplin. Im VOGUE-Interview Anfang des Jahres berichtete das B-Girl von ihrem bisherigen Karriereweg und ihren Bemühungen, als eine der besten Breakerinnen Deutschlands ihr olympisches Ticket zu lösen. Immer mit an ihrer Seite: Eine Sonderprägung der Deutschen Mark zu den Olympischen Spielen 1972 in München, die sie von ihrer Großmutter – ebenfalls eine Sport-Enthusiastin – geschenkt bekommen hatte. In zwei Turnieren der sogenannten Olympic Qualifier Series für die Disziplinen Breaking, Sportklettern, Skateboarding und BMX Freestyle in Shanghai und Budapest trat Jilou schließlich gegen die internationale Konkurrenz an und verfehlte die Qualifizierung nur knapp. Jilous olympischer Traum – wie bei Georgia Sheehan scheiterte er an einem "fast".

Wenn auf dem Weg zum Erfolg das eigene Selbst verloren geht

"Ich finde es wichtig, dass wir sportliche Geschichten auch einmal so erzählen, dass nicht der Erfolg und das Ergebnis zählen, sondern auch die Menschen dahinter", erzählt Jilou an einem Dienstagmittag Ende Juli. Wir haben uns erneut zu einem Gespräch verabredet und wollen über ihre Nicht-Qualifikation für die Olympischen Spiele sprechen. Ob es für eine solche Konversation einen geeigneten Zeitpunkt gibt? Vermutlich nicht. Und doch erscheint es mir für einen kurzen Moment fast schon grausam, die Breakerin so unmittelbar vor dem Start der Olympischen Spiele in Paris zu interviewen. Oft merke ich, wie ich mit meiner Wortwahl hadere. "Ein geplatzter Traum"? "Misserfolg"? "Scheitern"? Irgendwie scheint die deutsche Sprache keine passenden Vokabeln für Fast-Errungenschaften zu haben. Gleich zu Beginn kommt unser Gespräch auf den Artikel von Georgia Sheehan zu sprechen. Sie habe den Text gelesen und ihn in einer Instagram-Story posten müssen, berichtet Jilou. "Ihre Worte haben sich wie eine Umarmung angefühlt, weil man das Gefühl hatte, mit den eigenen Emotionen und dem Hinterfragen nicht alleine zu sein." Trotz des unermüdlichen Engagements sei der Weg von Sportler:innen selten geradlinig, heißt es in dem Artikel der Wasserspringerin und weiter: "Ein verpasstes Ziel, eine verpatzte Übung, eine schlecht getimte Verletzung – mehr braucht es nicht, um Jahre der Hingabe und Aufopferung zu untergraben."

Übungen oder Moves verpatzt habe Jilou eigentlich keine, wie sie mir berichtet. "Vor Shanghai war ich sehr zuversichtlich und bin selbstbewusst in die Battles gegangen. Deshalb war ich schon ein bisschen schockiert, dass es nicht wie geplant geklappt hat." Schnell habe sie dann nach Verbesserungspotential bei sich selbst gesucht, denn "wenn man die Fehler immer nur in Bereichen sucht, auf die man keinen Einfluss hat, führt das nur zu Frustration." Es sei vor allem um Ausdruck gegangen, um eine offensivere statt eine defensivere Haltung. "Mir war aufgefallen, dass ich – vielleicht auch durch meine Erfahrung und mein Alter – nicht mehr diesen unbedingten Willen und Hunger nach dem Sieg hatte. Ich glaube, irgendwann kommt man in einer sportlichen Karriere an einen Punkt, an dem man das Gefühl hat, es nicht mehr allen beweisen zu müssen. Also musste ich mir nach Shanghai eigentlich viel eher die Frage stellen: Wem will ich denn etwas beweisen? Vielleicht ja nicht jemand anderem, sondern wir selbst." Diese Erkenntnis habe bei ihr nochmal eine ganz neue Leidenschaft entfacht. Gleichzeitig sei der Breakerin noch etwas klar geworden: "In Shanghai wollte ich unbedingt eine neue Jilou zeigen. Aber auf dem Weg dahin habe ich mich selbst verloren. Deswegen wollte ich für Budapest wieder zu mir zurückkommen." In der ARD-Dokuserie "Generation F", die vor unserem Interview Mitte Juli erschien, offenbart Jilou: "Ich glaube, ich war wirklich die letzten Monate immer noch super nah dran, einen Burnout zu bekommen. Ich musste mich mehrfach daran erinnern, warum ich das Tanzen eigentlich liebe und warum ich überhaupt tanze. Weil ich manchmal echt einfach das Gefühl hatte, ich tanze gar nicht mehr für mich selber, sondern ich tanze einfach nur noch, um irgendwelche Ergebnisse zu holen, um irgendwelche Erwartungen zu erfüllen."

Die wieder gefundene Liebe zum Tanzen. Vielleicht auch deshalb sei sie mit ihrer eigenen Leistung bei dem zweiten Qualifikations-Turnier "sehr zufrieden". Jedoch: "Es ist nicht leicht, in ein Battle zu gehen und zu wissen, dass man eigentlich keine Chance mehr hat", so die Wahl-Berlinerin. "Das Problem war zudem, dass ich noch gar nicht richtig in meiner Routine war. Es war unheimlich früh, 9:30 Uhr morgens. Das ist keine Zeit, zu der wir normalerweise Battles tanzen. Breaking ist kein Morgensport. Einfach, weil es auch ein emotionaler Sport ist. Einer, für den man nicht nur physisch funktionieren muss, sondern für den man auch mental bereit sein muss." Es ginge ihr nicht darum, die Schuld bei anderen zu suchen, dennoch sei es ihr wichtig, auf solche wichtigen Faktoren hinzuweisen, "weil unser Sport so jung ist und je jünger ein Sport ist, desto mehr Chancen hat man eigentlich, alles richtig zu machen." Bei den Qualifier Series sei aus Jilous Sicht nicht alles ideal für die Ansprüche an ihren Sport gewesen. "Meiner Meinung nach lagen die Prioritäten auf dem Zeitplan, dem Streaming und der Übertragung. Wenn man jedoch auch die Bedürfnisse der Breaker:innen und des Sports mehr berücksichtigt, kann sich das zu einem Win-Win für beide Seiten entwickeln. Ich fand es zudem auch schade, dass wir B-Girls wieder einmal bei Turnieren vor den B-Boys starten mussten. Die Vormittagsveranstaltungen sind selten gut besucht. Dabei zehren wir doch extrem vom Publikum und dessen Energie. Wenn man vor leeren Rängen tanzen muss, dann geht es nur noch darum, abzuliefern und irgendwelche Punkte zu erreichen. Die Liebe zum Tanzen zu transportieren, fällt da extrem schwer und dabei ist das ein wesentlicher Teil im kompetetiven Breaking." Grundsätzlich habe die Athletin das Gefühl bekommen, "dass bestimmte Wege, die in der Vergangenheit mit anderen Sportarten gegangen wurden, dass man die auch mit Breaking gehen wollte, ohne zu realisieren, dass unsere Sportart und auch unsere Persönlichkeiten einfach anders sind. Ich glaube, da brauchen wir noch ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen." Auch aufmunternde Sprüche wie "Nach dem Battle ist vor dem Battle" habe sie als sehr unsensibel wahrgenommen, "wenn es um die Olympischen Spiele geht, eine Möglichkeit, die man vielleicht nur einmal in der Sportler:innen-Karriere hat."

Welche Folgen medialer Druck haben kann

Auch Georgia Sheehan findet in ihrem Essay erneut die richtigen Worte. Sie schreibt: "Diejenigen, die das olympische Ziel weiterverfolgen, sollen wissen, dass sie meinen größten Respekt haben. Die emotionale Energie, die es braucht, um hungrig und bescheiden zu bleiben, wenn man das Gefühl hat, dass das eigene ungenutzte Potenzial zum Greifen nahe ist, ist anstrengend." In den kommenden Wochen habe Jilou die erste Session mit ihrer Sportpsychologin. "Emotional war die zurückliegende Zeit echt schwierig für mich", erzählt sie mir. "Ich habe sehr viel verdrängt in den vergangenen Wochen – auch weil die Olympischen Spiele ja noch nicht vorbei sind. Da gehen extrem viele Emotionen in mir vor, die ich noch gar nicht einordnen kann." Ob sie denn vorhabe, die Breaking-Battles in Paris zu verfolgen, frage ich vorsichtig – und werde von einem breiten Lächeln seitens Jilou überrascht: "Ja, denn ich werde die olympischen Wettkämpfe im Breaking fürs Fernsehen kommentieren, was eine Möglichkeit ist, die ich so noch nie hatte und auf die ich mich extrem freue." Nur kurz zögert sie und ergänzt dann: "Klar werde ich dann auch all die Athletinnen sehen, die da sind, wo ich gerne gewesen wäre. Ich sage nicht gerne, dass mich das traurig macht, aber ich glaube, ich werde schon um die Erfahrung trauern, die ich unglaublich gerne gemacht hätte." Umso glücklicher sei sie über den Support ihres Ausstatters Nike. "Die Menschen dort erinnern mich immer wieder an meinen Wert als Menschen. Dass es eben nicht nur auf die Ergebnisse ankommt, sondern auf das, was man zu sagen hat. Dass das der Mehrwert im Sport ist – und eben nicht nur der Wettkampf."

Spätestens seit dem Erscheinen der Netflix-Dokumentation "Simone Biles: Wie ein Phönix aus der Asche" wurde deutlich, unter welchem enormen Druck Profisportler:innen rund um die Olympischen Spiele stehen. Druck, den sie sich auch selbst machen; den sie seitens der Verbände, ihrer Trainer:innen oder auch von Familie und Freund:innen ausgesetzt sind. Und den die Medien auf sie ausüben. Auch Jilou wurde als deutsche Medaillenhoffnung in der neuen olympischen Disziplin Breaking für zahlreiche Interviews und Shootings angefragt – auch von VOGUE. Ob denn möglicherweise auch der immense mediale Hype rund um das olympische Debüt von Breaking sie als Athletin zusätzlich gestresst habe, will ich von Jilou wissen. "Nein, das würde ich nicht sagen", beruhigt sie mich und ergänzt: "Ich glaube, dieser Hype hat uns extrem weit nach vorne gebracht. Aber: Ich würde mir bei manchen Fragen einfach mehr Sensibilität wünschen. Oft sind es Fragen, die wir uns selbst stellen, die wir uns gerne beantworten würden, auf die wir die Antwort aber einfach nicht wissen. Ein einfaches Beispiel: 'Wie schätzt du deine Chancen ein?' Das klingt nach einer simplen Frage, aber kein:e Athlet:in sollte darauf antworten, dass er:sie die eigenen Chancen als schlecht einschätzt. Wir Athlet:innen müssen daran glaube, dass wir es schaffen können und dann wird genau dieses Selbstbewusstsein durch eine solche Frage vor der Öffentlichkeit infrage gestellt." Dennoch sehe sie die Medien als wertvolles Hilfsmittel, um sich mit den Fans und der Öffentlichkeit auseinanderzusetzen und um "unsere Geschichte zu erzählen."

Wie Trauer auch Positives bringen kann

"Unsere Geschichte" – nicht "meine". Es ist bezeichnend für Jilous Charakter, dass sie selbst in Zeiten, in denen es vollkommen verständlich wäre, ausschließlich an sich selbst zu denken, die anderen Breakerinnen beachtet. So berichtet sie von dem japanischen B-Girl Riko, die bei beiden Olympic Qualifier Series Dritte wurde – nach ihren Landsfrauen B-Girl Ami und B-Girl Ayumi. Aufgrund der Regelung, dass bei den Olympischen Spielen lediglich zwei Plätze pro Nation vergeben werden, war klar, dass Riko es nicht schaffen würde. "Wir alle wussten, sie wird sich trotz ihrer enormen Leistung nicht mehr für die Olympischen Spiele qualifizieren können. Ich konnte an dem Tag nicht um mich selbst weinen, aber Rikos Emotionen in ihrem Gesicht zu sehen, während sie trotzdem auf der Bühne alles gibt, hat mir das Herz gebrochen." Oder das B-Girl Stefani. Jilou erzählt: "Sie ist Ukrainerin und damit aus einem Land, in dem seit über zwei Jahren Krieg herrscht. Sie hat während der Qualifikationsphase ein Kind bekommen und sich wenige Monate danach in die Competitions geschmissen und war immer bei den Besten dabei. Ich glaube, jede:r einzelne Athlet:in hat eine spannende Geschichte, die sich lohnt, erzählt zu werden."

Und was ist mit Jilous eigener Geschichte? Die ist definitiv noch nicht zu Ende. Auf meine Frage hin, ob sie denn schon die Kraft hatte, Learnings aus der Nicht-Qualifikation zu ziehen, sagt sie: "Es klingt vielleicht nach einem totalen Klischee, aber: Der Weg ist das Ziel. Ich habe auf diesem langen Weg zu den Olympischen Spielen so viel gelernt. Ich habe so viele Fragen über mich selbst beantwortet, die ich mir nie gestellt hätte und dadurch habe ich extrem viel über mich gelernt." Auch, dass sie stolz auf sich sein könne: "Wer ich bin, was ich geschafft habe und was ich erreicht habe." Auf Instagram postet sie wenige Tage vor unserem Interview, wie sehr sie es genieße, wieder befreiter Tanzen zu können. Ich spreche sie darauf an und will wissen, wie das zu verstehen ist. "Künstler:innen haben meistens Probleme mit Deadlines", erzählt sie schmunzelnd. "Gerade in der Kunst – und Breaking ist nicht nur eine Sportart, sondern auch eine Kunstform – versucht man ja nicht unbedingt, ein Produkt zu erschaffen, sondern man versucht, einen Stil zu erschaffen. Etwas für die Ewigkeit. Bilder, Performances oder Schriftstücke sind alles eine Momentaufnahme des Stils an sich. Und ich glaube, mehr Zeit und Energie in den Stil zu investieren und nicht in ein singuläres Produkt, gibt einem nochmal mehr Erfüllung." Mit den Olympischen Spielen habe sie immer den Druck verspürt, abliefern zu müssen. Eine gewisse Deadline, zu der sie ihr Produkt fertig haben musste. "Jetzt kann ich mich wieder mit meinem Stil auf langfristiger Ebene beschäftigen."

Auch Georgia Sheehan findet zum Abschluss ihres Essays fast schon versöhnliche Worte: "In diesen schwierigen Zeiten finde ich Trost in dem Wissen, dass ich Teil einer bemerkenswerten Gemeinschaft von Profisportler:innen und Träumer:innen bin, die durch die Liebe zum Sport, die uns geprägt hat, vereint sind." Ihre Liebe zum Breaking und zum Tanzen wird auch Jilou weiter tragen – wenn auch ihre Beziehung zu den Olympischen Spielen in Paris 2024 ein schmerzliches Ende gefunden hat. "Die Trauer ist noch immer da. Vielleicht ist es wirklich vergleichbar mit dem Ende einer romantischen Beziehung, in der man zwar Liebe empfindet, aber dennoch nicht gut füreinander ist. Man vermisst die Person, man vermisst die gemeinsamen Erfahrungen, aber am Ende ist es eben doch nicht das, was richtig für einen ist. Was bleibt, ist sich neu zu orientieren und zu schauen, wohin der Weg einen stattdessen führt."

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