Coverstory

Ein VOGUE-Cover zu Ehren Isa Genzkens: Zum 75. Geburtstag der Künstlerin trifft Kunst auf Mode in der Neuen Nationalgalerie

Isa Genzken ist eine der bedeutendsten Künstlerinnen unserer Zeit, ihr Werk zeitlos modern. Eine Hommage an die Künstlerin und ihren progressiven Stil, fotografiert in der Retrospektive "75/75" in der Neuen Nationalgalerie Berlin.
Ein VOGUECover zu Ehren Isa Genzkens Zum 75. Geburtstag der Künstlerin trifft ihr Werk in der Neuen Nationalgalerie auf...
GRETA HOFER trägt eine Jacke von CHANEL. Kunstwerk von ISA GENZKEN.Fotografin: Julia Noni. Styling: Ondine Azoulay. Haare: Alexander Soltermann. Make-up: Karin Westerlund

Künstlerische Werke von Isa Genzken treffen auf Mode für die Coverstory der Dezemberausgabe 2023 "Ausdrucksstark"

In den Augen der Designerin Phoebe Philo ist die Künstlerin Isa Genzken ein "Benchmark of Style" – allerdings meint sie das nicht auf Mode begrenzt, denn eingrenzen lässt sich bei Isa Genzken nichts. Sie, die als eine der wichtigsten lebenden Künstlerinnen unserer Zeit gilt, greift in ihren Werken auf verschiedenste Elemente der Alltagskultur zurück, darunter Medien, Konsumgüter, Mode, Design, Architektur und städtische Umgebungen. Aus all diesen Inspirations- und Materialquellen schuf Isa Genzken komplexe und manchmal rätselhafte Kunst, die bis Ende November in der Retrospektive "75/75" in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen ist. Was es mit der Zahl auf sich hat: Am 27. November wird Isa Genzken 75 Jahre alt. Unter den Bewunder:innen ihres Werks finden sich viele Kreative wie der Fotograf Wolfgang Tillmans, der Modedesigner Raf Simons oder die Designer hinter der New Yorker Modemarke Proenza Schouler, Jack McCollough und Lazaro Hernandez, mit denen Isa Genzken unter anderem für deren Frühjahr/Sommer-Kollektion 2019 zusammenarbeitete.

Exhibition 'Isa Genzken: Make Yourself Pretty!'

picture alliance/Getty Images

Über das bewegte Leben Isa Genzkens und die Faszination für Veränderung

Was ist so faszinierend an Isa Genzkens Kunst? Ist es das sich stetige Weiterentwickeln? Nur durch Weiterkommen entsteht für sie Modernität. "In meinem Leben habe ich mich immer mit dem Fließenden beschäftigt und mich gegen das Starre gewehrt. Das war automatisch – ich musste nie darüber nachdenken", sagt die Künstlerin. Diese Faszination für Veränderung macht sich auch an Isa Genzkens bewegtem Leben bemerkbar. Zu den wichtigsten Stationen in ihrem Leben gehörten ihre Zeit an der Düsseldorfer Kunstakademie, ihr Aufenthalt in Köln während der Ehe mit dem Künstler Gerhard Richter, Episoden in ihrer Lieblingsstadt New York sowie ihr Leben in Berlin. Hier tauchte sie 1996 nach ihrer Scheidung in die Kulturszene der Hauptstadt ein, tanzte zu elektronischer Musik, setzte sich für LGBTQI+-Rechte und die Umwelt ein und protestierte gegen den Golfkrieg. Während ihrer beeindruckenden Karriere nahm sie an fünf Venedig Biennalen teil, 2007 repräsentierte sie den Deutschen Pavillon. Drei Mal war sie Teil der Documenta in Kassel, der weltweit wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, und erfuhr 2013 den Ritterschlag als weltweit anerkannte Künstlerin mit einer Retrospektive im MoMA New York. Die Ausstellung wurde von Phoebe Philo, damals noch Chefdesignerin von Céline, finanziell unterstützt. Große Bewunderung empfand Isa Genzken für das Deutsche Bauhaus, Mies van der Rohe im Speziellen. So betitelte sie es einst als Lebenstraum, in der von Mies van der Rohe er- bauten Neuen Nationalgalerie eine eigene Ausstellung zu haben. Die allgemeine Faszination für das Bauwerk ist bis heute ungebrochen: Es ist seit der Wiedereröffnung 2021 die wohl begehrteste Ausstellungsfläche Deutschlands, vielleicht sogar Europas, weshalb beispielsweise Anthony Vaccarello diesen Sommer dort seine Frühjahr/Sommer-Kollektion 2024 für Saint Laurent Men zeigte.

Und genau dort wurde nun Isa Genzkens Traum mit einer der meistbeachteten Ausstellungen dieses Jahr wahr. Klaus Biesenbach, Direktor der Neuen Nationalgalerie in Berlin, sagt über sie: "Sie ist eine Künstlerin, die sich mit der Moderne auseinandersetzt, aber so radikal immer neue Wege beschreitet und neue Materialien ausprobiert, sich immer wieder so wunderbar neu erfindet und verletzlich macht, weil sie wieder ganz neue Formen einbringt. Sie ist dadurch eigentlich die Definition von Zeitgenossenschaft." Klaus Biesenbach leitet seit 2022 die Neue Nationalgalerie, davor war er Direktor des Museum of Contemporary Art, Los Angeles (MOCA), davor Chief Curator at Large am Museum of Modern Art (MoMA) in New York City sowie Leiter der New Yorker Kunsthalle MoMA PS1. Seine Sicht auf Kunst und den Umgang damit bringen frischen Wind in die Neue Nationalgalerie: Spannende, das Museum ganz einnehmende Ausstellungskonzepte, aber auch ein Performance- und Eventprogramm in und um dem Museumsbau herum öffnen die Neue Nationalgalerie nun einem breiteren Publikum. Die Ausstellung "75/75" kuratierte er gemeinsam mit Lisa Botti, die mehrere Jahre bei der Sydney-Biennale tätig war und in Singapur einen Kunstraum leitete. Unsere Kunstexpertin Anna Deilmann sprach mit beiden über das Werk und die Bedeutung von Isa Genzken.

Klaus Biesenbach, Direktor der Neuen Nationalgalerie, und Lisa Botti, Co-Kuratorin, im VOGUE Interview – über Leben und Kunst Isa Genzkens:

Anna Deilmann: Besonders aufsehenerregend ist die aufragende Rose (siehe Seite 162), die direkt vor Ihrer Tür, also der Neuen Nationalgalerie stand. Die Idee dazu hatte Isa Genzken, als sie auf dem Boden lag und ihr die Blumen um sie herum aus dieser Perspektive größer vorkamen. Welche Bedeutung haben Maßstäbe für die Künstlerin?

Lisa Botti: Maßstab, Monumentalität und Vorstellungskraft sind sehr wichtig in Isa Genzkens Arbeit und führen zu einer skulpturalen Narration. Die Rose muss so groß sein, damit der Rest um sie klein wird. Ihre Werke haben nie eine Eins-zu-eins-Wirkung, sondern eher die Qualität eines Modells. Die wahre Größe wird nur in der Vorstellung der Betrachtenden realisiert. Die Betonwerke mit den Titeln "Kapelle" und "Atelier" denkt man sich gedanklich viel größer. Die Idee der Narration ist ein wiederkehrender Aspekt in ihrer Arbeit. Sie schafft es, relativ kleine Skulpturen zu machen, die dann eine große, relative Monumentalität erlangen. Das ist ein sehr seltenes Attribut. Sie selbst sagte 2009: "Die Rose scheint ja ein internationales Zeichen zu sein, es gibt keine andere Blume als die Rose, bei der sich jeder wahnsinnig freut, wenn er sie sieht." Und das stimmt! Sie ist für alle Vorbeifahrenden eine Freude und wurde schon als neuer Treffpunkt angenommen: Man trifft sich an der Rose.

Klaus Biesenbach: Isa Genzken erlaubt oft sehr spezifische Assoziationen: Sie lädt die Besucher:innen ein, viel mehr als in der Konzeptkunst oder dem Minimalismus, zu assoziieren, in etwas fast persönlich Anekdotisches, und öffnet damit eine narrative Ebene. Viel Kunst, die Einfluss auf sie hatte, sperrt sich dagegen. Der Mut, das Assoziative zuzulassen, macht meiner Meinung nach ihre Kunst so stark und persönlich.

Isa Genzkens Kunst: Kommunikation und Fragen des Menschseins im Fokus

Isa Genzkens Werk zeigt im Laufe ihres Schaffens Veränderungen. Gibt es Aussagen oder ästhetische Elemente, die beständig sind?

L. B.: Alle Skulpturen von Isa Genzken sind Körper, die etwas Anthropologisches in sich haben: Die Ellipsoiden (siehe S. 168) schreite ich ab und messe so meinen Körper. Auf dem Foto, auf dem sie das Hyperboloid hält (siehe S. 178), sieht man die Idee des direkten Dialogs der Skulptur mit dem Menschen. Serien wie "die Weltempfänger" (siehe S. 169) und Betonarbeiten sind genau auf Kopfhöhe installiert auf eigenen Podesten, wobei das Podest der Torso ist und die Skulptur der Kopf. Alle Podeste sind von Isa Genzken selbst angefertigt und gehören zum Kunstwerk. Außerdem ist in allen Werken etwas Fragiles, Zerbrechliches zu erkennen, inhaltlich, aber auch materiell. Sogar in den Betonarbeiten wie beispielsweise dem "Atelier" von 1990 (siehe S. 168.). Das Zusammenspiel der Arbeit wirkt durch das verwendete Material massiv, es sind jedoch alles Einzelteile, die nur lose aufeinandergestapelt sind. Auch der Drang nach Kommunikation ist im ganzen Werk zu erkennen: Die Antennen der Weltempfänger und die Öffnungen der Fenster (siehe S. 161) sind dafür Hinweise. Auch durch verwendete Materialien wie beispielsweise reflektierende Spiegel und Folien (siehe S. 166f ) stellt sie die Fragen des Menschseins, die sie an sich selbst stellt, immer an die Betrachtenden zurück.

Das hat es mit Genzkens Arbeiten "Die Weltempfänger" und "Fuck the Bauhaus" auf sich

Die Weltempfänger (siehe S. 169) sind eine der bekanntesten Serien von Isa Genzken. Was erzählen sie uns?

L. B.: Der erste von 1982 ist noch ein Readymade – ein echtes Radio, auf Kopfhöhe platziert, mit zwei Antennen. Auch hier das Podest der Körper, das Radio der Kopf. Die Skulptur will sagen: Ich sende, ich empfange – ich bin Teil der Gesellschaft. Die Antennen geben den Skulpturen meiner Meinung nach etwas Lebendiges.

Transparenz und den Moment des Durchscheinens finden wir auch in diversen Materialien wie Folien, durchsichtigem Plastik, Gittern und Lichtquellen, die in verschiedenen Werkserien eingesetzt sind.

L. B.: Genau. Die Nofretete, die uns nicht durch ihre Sonnenbrille ansieht, sondern lieber durch die Glasfassade herausschaut und dort die Vorbeispazierenden begrüßt, das gibt es nur hier in der Neuen Nationalgalerie. Das Bauwerk hat mit seinem Raster auf dem Boden eine Art Umkehreffekt, es hat auch ein Raster in der Decke, das schafft mit den Skulpturen von Isa Genzken ein einmaliges Gefühl des Fließens. Außerdem nimmt sie in ihren Werken auch direkte Bezüge zu Mies van der Rohe auf: wie beispielsweise mit dem hängenden Barcelona Chair oder dem Werk "New Buildings of Berlin" mit dem Verweis auf seinen nicht realisierten Hochhausentwurf für die Friedrichstraße von 1928.

Welche Aussage soll die Serie "Fuck the Bauhaus" machen, wo diese Kunstepoche doch als ihre liebste gilt?

L.B.: "Fuck the Bauhaus" stellt für mich eine Art De-Coding des Gesetzten dar. Die Serie markiert ihre ersten Werke aus handgemachten Assemblagen. Sie antwortet ironisch auf eine Materialhierarchie des Bauhauses und setzt dort Alltagsmaterialien mit repräsentativen, puristischen Materialien wie Glas, Stein und Stahl gleich. Diese dreidimensionalen Collagen kombinieren Plastik und Alltagsgegenstände – wie Pizzakartons, Zeitungsausschnitte und Fotografien. Sie scheinen prekär durch Klebebänder zusammengehalten. Gegenüber den klaren, ornamentlosen vorherigen Werken wirken die in den Collagen verwendeten Fundstücke in ihrer Anordnung scheinbar chaotisch.

Vom Einsatz privater Kleidungsstücke bis hin zu Ein-Euro-Shop Produkten – das vermittelt die Serie "Schauspieler"

Die prominente Serie "Schauspieler" (siehe S. 178) hatte ihr Debüt in Isa Genzkens Retrospektive im MoMA 2013. Ästhetisch passiert hier ein Bruch zu ihrem vorherigen Werk, das geometrischer und abstrakter war. Sie sind eine Komposition aus Materialien, Farben und Themen. Handelsübliche Mannequins stehen den Betrachtenden auf Augenhöhe gegenüber und sind mit Kleidung aus ihrer eigenen Garderobe und scheinbar zufällig ausgesuchten Alltagsgegenständen bestückt. Was sollen die "Schauspieler" vermitteln?

L. B.: Sie benutzt die Elemente als Tool, die sie collageartig zusammenfügt – das kann über private Kleidungsstücke, gefundene Objekte auf der Straße herumliegend bis hin zu Ein-Euro-Shop Produkten sein. Mit jedem eingesetzten Element will sie etwas sagen, so wie in früheren Werken mit reflektierenden Spiegelfolien, die etwas abweisen, oder dem Einsatz von Materialien wie Beton, die eine augenscheinliche Monumentalität versinnbildlichen sollten. Ihre "Schauspieler" tragen die eben angesprochenen Masken, Brillen und Helme oder Hüte, es scheint, als ob diese Skulpturen nicht mehr senden und empfangen wie bei den früheren Weltempfängern, sondern auf die Abwehr, den Schutz vor der Außenwelt ausgerichtet sind. Durch sie kann man Ambivalenz und Entfremdung, Vorahnung und Unbehagen wahrnehmen. Der Kunsthistoriker Benjamin H. D. Buchloh beschreibt sie als "Gegenöffentlichkeit".

Isa Genzkens Praxis gilt als intensiv, herausfordernd und selbstbewusst. Sie schloss sich weder Bewegungen oder Künstler:innengruppen an noch legte sie irgendwann Wert auf Eigen-PR. Wie spiegelt sich das in Genzkens Werk?

L.B.: Die Ausstellung "75/75" zeigt ein Werk voller Mut, Neugier und Faszination für Material, Skulptur, Kunstgeschichte und Popkultur. Ihr Werk ist unvorhersehbar und zeigt zugleich viele Parallelen auf. Sie hat alles anders gemacht als das, was ihr die Gesellschaft vorlebt.

Genzkens Werke als Spiegel persönlicher Erfahrungen

Die wenigen Interviews, die es mit Isa Genzken gibt, sind eher ein freier Austausch unter Gleichgesinnten (mit Künstlern wie Simon Denny, Wolfgang Tillmans). In einem 2016 veröffentlichten Beitrag spricht sie über schwierige Zeiten und den Kampf mit Alkohol, Drogen und Krankheit nach ihrer Scheidung. Sieht man diese persönlichen Erfahrungen in ihrem Werk?

L.B.: Ich kann nur darüber sprechen, was ich in den Werken sehe. Im Großteil ihrer Arbeiten spielt die Ehe keine explizite Rolle. Es gibt jedoch eine Arbeit, ein Weltempfänger von 1990 mit dem Titel "Gerhard", sowie eine Gruppe an Skulpturen mit dem Titel "Untitled" von 2015, in der sie ihre Scheidung von Gerhard Richter thematisiert. Wir sehen ein Foto von dem jungen Paar, darunter hängen Zeitungsausschnitte mit Titelüberschriften wie: "Alles endet in Grausamkeit", "Putin greift an" oder "Erbarmungslos". Das Auge wandert weiter und sieht eine Postkarte mit einem abstrakten Werk von Richter, eine Postkarte eines jungen Mannes von Lucian Freud sowie eine Apothekentüte und den Beipackzettel von Schmerztabletten. Umrundet man die Skulptur, sieht man das Selbstporträt der toten Isa Genzken, darüberliegend eine Studie eines männlichen Torsos aus der Renaissance. Die Künstlerin Nan Goldin hat 2023 in einem Vortrag über das Thema "Stigma" gesprochen. Auch sie hat in ihrem Leben die Höhen und Tiefen der Sucht durch Alkohol und Drogen kennengelernt und nun diesen schwer revidierbaren Stempel auf ihr sogenanntes wildes Leben. Interessant ist dabei, dass das Stigma und die damit einhergehenden Vorurteile vor allem auf Frauen angewandt werden. Wenn männliche Künstler trinken oder Drogen nehmen, wird das meist nicht wahrgenommen und schon gar nicht verurteilt. Bei einer Frau wird es direkt als Schwäche gesehen.

Persönliche Bezüge und eine ausgeprägte Körperlichkeit finden sich ja in ihrem gesamten Werk. Was hat es damit auf sich?

K.B.: "We are all like humans, we all look different, we are like a sculpture, that’s why I like it", sagt Isa Genzken. Wenn man das auf ihre Arbeiten bezieht, dann sind die einzelnen Werke in einer Werkgruppe, wie beispielsweise den "Schauspielern", wie Individuen in einer Familie, in einer Gruppe von sich Ähnelnden. Differenzen und Wiederholungen und das Ausformulieren des Besonderen sind für mich die Art, wie Isa Genzken immer wieder eine Form findet, auch wenn es viele Parallelen in den Strategien der verschiedenen Werkserien gibt, etwas Individuelles zu schaffen. Die Skulpturen sind für mich fast so individuell, dass sie extrem verletzlich erscheinen, selbst wenn sie monumental groß sind.

L.B.: Ihre Werke sind in gewisser Art auch Selbstporträts und lassen aber auch mich als Besucher meinen eigenen Körper, mein eigenes Gewicht, meine Größe spüren.

In Isa Genzkens Werk sind zum einen durch die bereits erwähnten personalisierten Titel der Arbeiten, später auch durch konkrete Abbildungen Verbindungen zu bekannten Vertretern der Hoch- sowie der Popkultur zu erkennen. In der Arbeit Wind (B) von 2009 ist eine Abbildung von Michael Jackson integriert. Eine Aufnahme eines Shootings von Annie Leibovitz 1987, das Isa Genzken als Poster drucken ließ. Sie sagt dazu: "Es geht um seine Bewegungen, da sein Tanzen 'das Beste der Welt' ist". Wie fügt sich das in Genzkens Werk ein?

K.B.: Sie scheut nicht davor zurück, nicht nur die Pop-Art, sondern auch die Populärkultur mit ins Bild zu bringen und in gewisserweise mit zu verewigen. Ihre Arbeiten sind Collage und Assemblage. Sie arbeitet sich an der Moderne, am Minimalismus und an der Konzeptkunst, aber auch an der Pop- und Populärkultur ab. Ich glaube, dass dieses Sich-Vorantasten und das Finden neuer, radikaler Formen das ist, was sie einzigartig macht.

"Traumfrauen" in der Kunstgeschichte und die Rolle von Schönheitsidealen in Isa Genzkens Arbeiten

Isa Genzken hat während ihres Studiums als Model gearbeitet. Welche Rolle spielt das Bild der idealen Schönheit in ihrem Werk?

L. B.: Ab 2007 verwendet sie Schaufensterpuppen, die sie mit privater Kleidung und gefundenen Objekten bestückt. Diese industriell gefertigten Puppen mit ihren standardisierten Proportionen und einem begrenzten Repertoire an Posen, mit ihren teilnahmslosen Gesichtern und gleichförmigen Oberflächen stehen im Gegensatz zur klassischen Statue, bei der es gerade darum ging, das Individuelle durch besondere Gesichtszüge oder Körperformen darzustellen. Ein Beispiel ist hier die berühmte antike Nofretete, ihr Name bedeutet "die Schöne ist gekommen", die sich ab 2012 als Gipsabguss in das Werk von Isa Genzken einfügt, einmal sogar in Kombination mit Mona Lisa. Beide Frauen gelten in der Kunstgeschichte als die schönsten Frauen, fast als gottgleiche Traumfrauen. Doch was bedeutet das für uns heute im 21. Jahrhundert? Was sind unsere Schönheitsideale? Wir sehen eine Schauspielerin von Isa Genzken, deren Oberkörper frei ist, und man sieht die schwarzen Markerspuren um die Brust gemalt, die auf eine Brustoperation hindeuten. Sind das Unnatürliche und alle gleich aussehenden Nasen und volle Lippen und Brüste unser heutiges Schönheitsideal? Alle Nofreteten und Schauspieler von Isa Genzken tragen Sonnenbrillen, Masken, Helme und Hüte und scheinen so ihr Gesicht zu schützen – sich zu verstecken? – und strahlen somit ein Unbehagen und Abwehren gegen die – richtende? – Öffentlichkeit aus.

Besuchende verließen die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie aufgeregt, aber auch ermüdet von der Assoziationssuche. Die Arbeiten Isa Genzkens fordern emotional und intellektuell. Was beobachteten Sie bei Besucher:innen?

L.B.: Am Ende der Ausstellung steht ein großer Tisch, den wir aus ihrem Studio ausgeliehen haben, und hier sind alle Besucher:innen eingeladen, mit Materialien wie Klebefolien, Krepppapier, Pappe, Spiegelfolien und so weiter selbst etwas zu gestalten: Interessant ist, dass hier nicht nur, wie zu erwarten war, Kinder und Familien sitzen, sondern auch sehr viele junge Erwachsene. Niemand schaut auf sein Handy. Alle sind voller Eindrücke aus der Ausstellung und inspiriert davon, etwas zu basteln, zu bauen, zu erschaffen. Isa Genzkens Werk hat stets etwas Spielerisches in sich. Es ist unvorhersehbar, faszinierend, rätselhaft, aber immer einladend. Es weigert sich, stillzustehen, und findet immer wieder neue Wege, um zu blenden, zu alarmieren und anzuregen. Über Jahrzehnte hinweg ist es Isa Genzken gelungen, eine Kunst zu schaffen, die zum Nachdenken anregt, die sich jeder Kategorisierung entzieht und die konsequent und erfrischend einzigartig ist – eine Seltenheit in einer Welt, die von Gleichartigkeit geprägt ist.

Weitere Einblicke in die Cover-Strecke "Beeindruckende Weitsicht" mit Greta Hofer in der Neuen Nationalgalerie:

Maxikleid mit Schluppendetails am Hals und Boots, beides von BALENCIAGA. Handschuh mit silber abgesetzten Fingern, von GUCCI.

Fotografin: Julia Noni. Styling: Ondine Azoulay. Haare: Alexander Soltermann. Make-up: Karin Westerlund

Transparentes Minikleid und Strumpfhose mit Rosenprint, beides von JACQUEMUS. Overkneeboots in Jeansoptik, von Y/PROJECT.

Fotografin: Julia Noni. Styling: Ondine Azoulay. Haare: Alexander Soltermann. Make-up: Karin Westerlund

**Die VOGUE-Ausgabe für Dezember 2023 mit Greta Hofer auf dem Cover erscheint am 02.12.2023. Hier können Sie das Heft schon jetzt vorbestellen! **

GRETA HOFER trägt eine Jacke von CHANEL. Kunstwerk von ISA GENZKEN.

Fotografin: Julia Noni. Styling: Ondine Azoulay. Haare: Alexander Soltermann. Make-up: Karin Westerlund

Full Credits Fotoshoot – "Beeindruckende Weitsicht":

Fotos: JULIA NONI. Styling: ONDINE AZOULAY. Haare: ALEXANDER SOLTERMANN. Make-up: KARIN WESTERLUND. Maniküre: SHIRIN TAMER. Setdesign: STEFANIE GRAU. Assistenz: ARABELLA ROMEN. Modeassistenz: TOMMASO PALAMIN. Lighting Director: FELIX GUNDLACH.
Assistenz: CHAEMUS MAC MILLAN. Digital Tech: CHRISTOPH STIEBER. Choreograf: STEFANO MAGGIOLO. Executive Production: PRODUCTION BERLIN. Local Production Support: ROLLERCOASTER PRODUCTION. Casting: DOMINIK WIMMER. Visual Director: JAMIE SPENCE. Global Creative Director: JUAN COSTA PAZ. Head of Editorial Content: KERSTIN WENG.

Mit bestem Dank für die freundliche Unterstützung an das Isa Genzken Studio, die Galerie Buchholz und die Neue Nationalgalerie Berlin.

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