Kolumne "(Un)erwachsen"

Ich habe verlernt, Bücher zu lesen. Und das Internet ist schuld

In ihrer Kolumne "(Un)erwachsen" widmet sich Lisa Ludwig dem gesellschaftlichen Graubereich zwischen Kater und Kinderwunsch. In dieser Folge schreibt sie über ihre verlorene Fähigkeit, sich auf Bücher zu konzentrieren - und wie sie sie sich wiederholen möchte
Frau sitzt im Zug und liest ein Buch
KATIE + JOE

“Die Unfähigkeit zu Lesen oder: Wir Kinder von der Mängelexemplar-Kiste am Bahnhof Zoo”: Der 14. Teil von "(Un)erwachsen", der VOGUE-Kolumne von Lisa Ludwig

Kürzlich ging eine Aussage des Schauspielers Chris Pine auf Twitter viral. Sie erinnern sich: Der Meme-Gott, der aus dem ganzen Drama um Olivia Wildes neuen Film “Don’t Worry Darling” empor stieg. Pine sagte in einem Interview mit dem Podcast “Happy Sad Confused” zu seiner vergleichsweise frischen Entscheidung, sich ein Smartphone zuzulegen: “Ich habe früher so viele Bücher gelesen, Josh. Ich habe diese Bücher verdammt nochmal totgelesen, 15 Bücher in ungefähr drei Monaten. Und dann ist das Handy aufgetaucht und es … Ich kann dir alles über Pete Davidson und Kim Kardashian erzählen, aber absolut gar nichts über Literatur. Ich möchte mich übergeben. Ich hasse mich dafür.”

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Die Aussage stammt aus dem April 2022. Trotzdem gibt es nichts, was sich zu gleichen Teilen zeitgemäßer anfühlt und die letzten 15 Jahre meines Lebens besser beschreibt als Chris Pines handyinduzierter Nervenzusammenbruch. Ich habe verlernt zu lesen und damit einen riesengroßen Teil dessen verloren, was mich als Mensch definiert hat.

Als Kleinkind hatte ich ein Lieblingsbuch. Eine Kindergeschichtensammlung mit blauen Delfinen auf dem Cover. Ständig wollte ich daraus vorgelesen bekommen. Bis alle so genervt waren, dass ich schließlich selbst die Initiative ergriff – und laut vorlas. Damals konnte ich noch nicht lesen, aber ich tat so. Was ich nicht sowieso schon auswendig wusste, dachte ich mir aus.

Über das Lesen als ultimative Beschäftigung und Schlüssel zu anderen Welten

Lesen können war für mich als Kind der ultimative Skill. Auf niemanden angewiesen sein dabei, in andere Welten abzutauchen. Es war mir unbegreiflich, warum ich die einzige in der Familie war, die wie besessen jedes Buch in die Hand nahm, dass sie greifen konnte. Erwachsene verbrachten ihre Zeit mit langweiligen Sachen. Aufräumen, Kochen, Einkaufen, mit großem Tamtam („Ihr müsst jetzt ALLE ins Bett gehen! Das ist nichts für euch!“) sonntagabends den Tatort gucken. „Warum lesen sie nicht einfach?“, dachte ich. Sie können es doch.

Ich konnte Stunden auf dem Sessel neben dem Ofen verbringen, zusammengerollt wie eine überdimensionierte Nacktschnecke, der man einen spitzen Stock in die Seite gestoßen hat. Aber ich habe nicht gelitten, ich habe gelebt. Andere Leben, bessere Leben, in denen ich nicht das dicke Mädchen mit der chronischen Krankheit und der immer schlimmer werdenden Sozialangst war. Durch Bücher, durch die Protagonistinnen und Protagonisten einer fiktiven Welt, konnte ich meine Ängste überwinden, beliebt sein, irgendetwas Großes, Gewaltiges schaffen, die richtige Art von Dingen fühlen – alles, was mir im echten Leben verwehrt war.

Mit 8 Jahren begann das Bücherregal meiner Eltern eine magische Anziehungskraft auf mich auszuüben. Mit 10 traute ich mich schließlich, „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zu klauen und in mein Kinderzimmer zu verschleppen. Der Einband war abgegriffen. Das Schwarz hatte die Art von weißen Abnutzungsspuren, die es wie ein magisches Buch wirken ließ, dass jemand in einer Bibliothek findet und durch das Aufschlagen direkt in eine andere Welt gebeamt wird. Meine unendliche Geschichte. Das Buch war verboten. Als mich meine Mutter das erste Mal damit erwischte, nahm sie es mir direkt wieder aus der Hand. Was es natürlich nur noch interessanter machte. Heimlich las ich die Geschichte eines drogensüchtigen Teenagers. Wunderte mich, was Worte wie „Heroin“ bedeuten mögen, noch unfähig, das Konzept von Sucht und Drogen und Sexarbeit zu begreifen. Wer David Bowie ist, wusste ich damals natürlich auch noch nicht. In meinem CD-Player lief der Digimon-Soundtrack auf Repeat. Wie die Geschichte von Christane F. ausging, habe ich allerdings nicht erfahren. Der Einband war schon so kaputt, dass Seiten lose waren. Die letzten zehn oder zwanzig fehlten.

Das Buch habe ich anschließend in meinem Kinderzimmer versteckt. Als ich von Zuhause auszog, nahm ich es mit. Auch heute noch steht es in meinem Bücherregal. Dem perfekten Bücherregal. Das erste Möbelstück, was ich mir für meine erste richtig schöne Wohnung anschaffte. Heute ist es rettungslos überfüllt. Buchläden sind für mich nach wie vor magische Orte, in denen ich Stunden verbringen könnte. Es ist mir körperlich fast unmöglich, an einer Mängelexemplar-Kiste vorbeizugehen, ohne auch nur ein Buch mitzunehmen.

Das Problem ist: Die Bücher, diese unendlichen Welten aus Papier, die mein Regal lange überwältigt haben und sich mittlerweile auf dem Boden neben meinem Bett in kleinen Türmchen wie zu einer Art Burgmauer verbinden – ich lese sie nicht. Oder zumindest nicht ganz. Die Bücher, die ich in den letzten Jahren von Anfang bis Ende gelesen habe, kann ich an zwei Händen abzählen.

Wie es dazu kam, dass ich nicht mehr lese – zumindest keine Bücher

Lange wollte ich nicht wahrhaben, dass ich ein Problem habe. Ich arbeite als Redakteurin, natürlich lese ich! Artikel, Twitter-Threads, Transkripte … Ich habe sogar ein Probeabo für den “New Yorker” abgeschlossen, mit seinen Texten zu Themen, von denen ich noch nie gehört habe. Warum sollte ich das tun, wenn ich nicht gerne lese? Stattdessen stapeln sich die “New Yorker”-Ausgaben auf meinem Couchtisch. Als ich schließlich aufgebe und sie verschämt in ein übervolles Fach meines Bücherregals stopfe, stecken manche von ihnen immer noch in ihrer Versandfolie. Mein 10-jähriges Ich wäre fassungslos.

Was zur Hölle ist passiert?

Das Internet. Smartphones. Ständige Erreichbarkeit und Informationsbombardierung, die meine Aufmerksamkeitsspanne zerschossen hat. Keine innere Ruhe mehr für irgendwas, nur ein reizüberflutetes Gehirn im Panikmodus. Scheint wie die einfachste und naheliegendste Antwort, denke ich, und möchte mich übergeben. Wie Chris Pine.

Aber dann muss ich an meine Eltern Ende der 90er denken. Ihr großes Bücherregal mit Sci-Fi-Klassikern und Biografien historischer Figuren, leicht wegzulesenden Bahnhofs-Thrillern und Reclam-Büchlein. Und mittendrin die zerlesene Ausgabe von “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo”. So ein Regal hat niemand, der nicht gerne liest. Nur jemand, der mittlerweile andere Prioritäten hat.

Ich bin kein Kind oder Teenager mehr. Meine freie Zeit ist begrenzt. Ich bin jetzt die langweilige Erwachsene mit dem faszinierenden Bücherregal, die trotzdem viel zu selten ein Buch in die Hand nimmt, weil es eben nichts ist, was man nebenbei machen kann. Beim Kochen und Putzen höre ich Podcasts, beim Essen oder Nägel lackieren gucke ich Serien oder Filme, über die ich anschließend Texte schreibe. Ich habe zu wenig Zeit, um nicht mehrere Dinge auf einmal zu machen. Außer ich bin stundenlang internetlos in einem Zug gefangen oder liege an einem Strand. Früher waren Bücher für mich ein Weg, mich aus der Realität zu verabschieden. Heute muss ich mich erst aus der Realität verabschieden, um mich auf ein Buch konzentrieren zu können.

Vielleicht ist es also gar nicht möglich für mich, so zu lesen wie ich als Kind und Teenager gelesen habe. Vielleicht muss ich Lesen neu lernen, als ganz bewusste Entscheidung, für die ich mir dann auch ganz bewusst Zeit freiräume und nur lese, was mir wirklich Spaß macht, statt mich durch hunderte Seiten zu quälen. Ich versuche, mir jedes einzelne Buch vorzustellen wie eine neue Netflix-Serie: Wenn die mich nach einer, maximal zwei Folgen nicht gepackt hat, gucke ich ja auch nicht weiter. Warum also nicht auch ein Buch weglegen und ein anderes anfangen, wenn ich schon nach dem ersten Kapitel das Interesse verliere?

Damit komme ich zwar ziemlich sicher nicht auf 15 “totgelesene” Bücher in drei Monaten, aber warum nicht erstmal mit fünf anfangen? Ich muss doch niemandem etwas beweisen, nicht einmal mir selbst. Lesen war nie ein Teil meiner Persönlichkeit, meine Begeisterung für Geschichten war es – und ist es immer noch.

“Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns”, schrieb Franz Kafka. Doch da ist kein endloses Eis in mir, sondern ein Sturm. Ich brauche also keine Axt mehr, ich brauche einen Anker, eine Bastion der Ruhe. Manchmal ist das das launig geschriebene 250-Seiten-Buch über eine Kannibalenfamilie, die ihre verhasste Mutter verspeisen muss, um ans Erbe zu kommen. Manchmal die neue Folge von “House of the Dragon”. Ich glaube, mein 10-jähriges Ich würde das verstehen.

Weiter “Unerwachsen”-Episoden von Lisa Ludwig bei VOGUE

Lisa Ludwig arbeitet als Journalistin für Politik und Popkultur in Berlin und ist Chefredakteurin bei Moviepilot. Sie ist Single, Anfang 30 und besitzt weder Küchenmaschine noch private Altersvorsorge. Dafür aber mehrere Spielkonsolen. Ist das noch jung und aufregend oder doch schon ein alternatives Lebensmodell? In ihrer Kolumne "(Un)erwachsen" widmet sich Ludwig dem gesellschaftlichen Graubereich zwischen Kater und Kinderwunsch. Auch ihr Twitter-Account ist sehr unterhaltsam.