Politik & Gesellschaft

US-Botschafterin Dr. Amy Gutmann über die Lage der Demokratie: "Der Hass darf nicht gewinnen"

Seit zweieinhalb Jahren engagiert sich Dr. Amy Gutmann als US-Botschafterin in Berlin für Völkerverständigung. Einblick in einen Job, der aktuell immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Dr. Amy Gutmann USBotschafterin in Berlin
Botschafterin Dr. Amy Gutmann in ihrer (Noch-)Residenz am Grunewald.Jacobia Dahm

Dr. Amy Gutmann über ihre Rolle als US-Botschafterin in Berlin und ihren Blick auf die Lage Deutschlands, die transatlantischen Beziehungen und die anstehende US-Wahl.

Wenn man die Residenz der US-Botschafterin Dr. Amy Gutmann in Berlin besucht, kann man leicht vergessen, dass man sich immer noch in einer 3,8-Millionen-Einwohner-Stadt befindet. Das Anwesen liegt umgeben von Grün am Südost-Zipfel des Grunewalds, ringsherum ruhige, verschlafene Straßen, in denen Gartenquadratmeter unbegrenzt und die Probleme der Villenbewohner:innen generell überschaubar scheinen, fußläufig zum Brücke-Museum und dem Kunsthaus Dahlem, zwei Oasen idyllischem Kulturkonsums. Bei Gutmann geht dieser direkt weiter. Als sie 2022 als Botschafterin der Vereinigten Staaten nach Deutschland kam – übrigens als erste Frau in dieser Position –, war eine ihrer ersten Amtshandlungen, das Haus mit passender Kunst zu füllen. Unter dem Motto "Celebrating Diversity, Inclusion and Unity" finden sich dort nun nicht nur Werke von großen Künstler:innen der deutschen und amerikanischen Moderne wie Josef Albers oder Alexander Liberman, sondern auch zeitgenössische Namen wie Alicja Kwade oder die in Kalkutta geborene US-Künstlerin Rina Banerjee. Und die New Yorkerin Ann Agee – ihre weißen Porzellanfiguren muten zunächst antik an, entpuppen sich dann aber als Abbilder arbeitender Frauen mit unterschiedlichsten Hintergründen.

Nach einer kurzen Begrüßung in der Bibliothek gibt Dr. Gutmann eine energetische Spontantour durch die Ausstellung. 74 Jahre alt und energetisch: Man merkt, dass ihr das, was sie selbst als "Kulturdiplomatie" bezeichnet, ein Herzensanliegen ist: das Verbinden und bessere Verstehen zweier Nationen, basierend auf dem Austausch von Kunst und Kultur.

US-Botschafterin Amy Gutman über die deutsch-amerikanischen Beziehungen und ihre Gefühle zur US-Wahl

Die deutsch-amerikanischen Beziehungen, die ja aktuell ihr Job sind, empfindet sie als "stärker denn je". "Ich habe mit Bundeskanzler Scholz und Präsident Biden im Oval Office gesessen. Sie haben eine sehr freundschaftliche und äußerst erfolgreiche Beziehung", so die US-amerikanische Botschafterin. Ihr Land steht an einem kritischen Punkt – Anfang November finden die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten statt, und damit wird auch der Ton für die nächsten vier Jahre festgelegt. Und der kann von einem rechtspopulistischen, postfaktisch argumentierenden und seit dem Attentat im Juli zum Märtyrer stilisierten Choleriker oder einer demokratischen Woman of Color, die sich als einstige Staatsanwältin dem Recht verschrieben hat (und die Dr. Gutmann wohl inhaltlich näher wäre), bestimmt werden. Allerdings darf eine Botschafterin keine Parteipolitik betreiben. Auf die Frage, mit welchem Gefühl sie auf die bevorstehenden Wahlen in den USA blickt, sagt sie: "Das Wichtigste ist, und das stimmt mich zuversichtlich, dass wir ein wirklich starkes System mit freien und fairen Wahlen haben. Es ist meine Aufgabe, jede und jeden zu ermutigen, wählen zu gehen. Ich bin sehr optimistisch."

Die bemerkenswerte Karriere von Dr. Amy Gutmann

Dr. Amy Gutmann stammt aus einer jüdischen Familie, ihr Vater, Kurt Gutmann, war Deutscher. Er wuchs in Feuchtwangen in Mittelfranken auf und floh 1934 vor den Nazis zunächst nach Bombay. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs emigrierte er weiter in die USA, wo Gutmanns Eltern 1948 in New York heirateten, ein Jahr später wurde Gutmann im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren. Ihr Vater starb, als sie 16 war. Dass sie heute als Repräsentantin der USA in Deutschland lebt, würde ihr Vater unterstützen, davon ist Gutmann überzeugt. "Er hatte auf die Wiedervereinigung Deutschlands gehofft und sie nie erlebt. Ich weiß, dass er, wo immer er ist, lächelt und sehr, sehr stolz wäre."

Archivfoto: Amy Gutmann mit ihrem Vater, Kurt Gutmann

Courtesy US Embassy / privat

Gutmanns Eltern hatten keine großen finanziellen Mittel, mithilfe von Stipendien ermöglichte sie sich dann selbst eine äußerst ansehnliche Akademikerinnenkarriere. Sie studierte am Radcliffe College und in London, promovierte in Harvard, war Provost (Leiterin der Verwaltung) an der Princeton University und Präsidentin der University of Pennsylvania, dem größten Arbeitgeber in Philadelphia und dem zweitgrößten des Bundesstaats. Barack Obama machte sie als US-Präsident 2009 zur Vorsitzenden seiner Bioethikkommission, im Juli 2021 nominierte Joe Biden sie für das Amt der US-Botschafterin in Deutschland, doch Mitglieder der Republikanischen Partei im Senat blockierten ihre Ernennung zunächst. Im Februar 2022 wurde sie schließlich bestätigt.

Hinter Dr. Amy Gutmann liegen turbulente zweieinhalb Jahre. Nach Amtsantritt ging es umgehend zur Münchner Sicherheitskonferenz, "weil uns Informationen vorlagen, dass Putin erneut in die Ukraine einmarschieren würde. Eines meiner ersten Ziele war es, sicherzustellen, dass Deutschland und die USA zusammenstehen und die Ukraine unterstützen. Eine Woche später fand die Invasion statt." Es folgten der Anstieg der Energiepreise, die Inflation, im vergangenen Jahr die katastrophale Zuspitzung der Situation in Israel und Palästina. "Vielen Menschen fällt es schwer, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Nach meinem Empfinden herrscht hierzulande viel Angst, genauso wie in meinem Land", so Gutmann. Sie spricht amerikanisches Englisch, doch "Angst" sagt sie auf Deutsch. Sie wisse, dass gerade die Deutschen ein Volk seien, dem es manchmal besonders schwer falle, optimistisch zu sein. "Einmal saß ich in einem Lufthansa-Flug, München-Berlin, glaube ich, und der Pilot sagte: 'Wir landen gleich in Berlin. Es hat 20 Grad, und die Sonne scheint. Aber morgen wird es regnen'", erzählt sie und lacht.

"Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es ein Stück weit die Angst der Deutschen ist, die mich optimistisch macht, dass Deutschland nicht untergehen wird. Wenn den Deutschen gleichgültig wäre, was passiert, wäre ich pessimistisch. Aber sie sind nicht gleichgültig. Sie reden über die Probleme und gehen sie an. Zum Beispiel unterstützen Deutschland und die meisten Deutschen ukrainische Geflüchtete tatkräftig, auch wenn es teuer ist. Aber es würde sehr viel mehr kosten, es nicht zu tun." Ihr Credo: Wenn man sich keine Sorgen mache, tue man nichts. Aber wenn man sich nur Sorgen mache, dann laufe etwas schief.

Von Pride-Empfang zu Schulbesuchen: So betreibt Dr. Amy Gutmann Kulturdiplomatie

Als Diplomatin sehe sie einen großen Teil ihrer Arbeit darin, den Menschen vor Ort zuzuhören und sie in ihren Gefühlslagen abzuholen. Dabei gleicht kein Tag dem anderen. Nach ihrem VOGUE-Interview wird sie in die US-Botschaft am Brandenburger Tor fahren und an einem geheimdienstlichen Briefing teilnehmen. Anschließend findet im Innenhof der Botschaft ein Empfang anlässlich des Pride-Monats statt. Dr. Gutmann wird hier, gekleidet in eine enge schwarze Lacklederjacke von Courrèges, schwarze Skinny-Jeans, Onitsuka-Tiger-Sneakers und mit Regenbogenfähnchen in Herzform, inbrünstig die Rechte der queeren Community betonen. Nach ihrer Auftaktrede sprechen Ferda Ataman, Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung und Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, sowie der ehemalige Profifußballer Marcus Urban, der sich im Fußball gegen Homophobie und Diskriminierung generell starkmacht.

Ferda Ataman, Dr. Amy Gutmann und Marcus Urban beim Pride-Empfang im Innenhof der US-Botschaft

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Am nächsten Tag geht es für sie zum dritten Mal in ihrer Amtszeit in ihren väterlichen Heimatort, wo sie eine Rede zur Bedeutung von Erinnerungskultur und Zivilcourage im Fränkischen Museum halten und sich dort mit einer Gruppe Jugendlicher treffen wird. Das geschieht im Rahmen der von ihr Ende 2023 ins Leben gerufenen und von einem Treffen mit den Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer und Inge Auerbacher inspirierten Kampagne "Stand Up and Speak Out for Democracy". Gemeinsam mit verschiedenen Partnerorganisationen stellt sich diese gegen Antisemitismus und andere Formen von Hass; Gutmann hat sich im Zuge der Initiative mit über 1000 Schüler:innen und Studierenden getroffen.

Die kulturellen Veranstaltungen, bei denen die Botschafterin Dr. Amy Gutmann und ihr Team Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammenbringen, sind sehr vielseitig. Neben dem Pride-Event gibt es etwa jährliche Berlinale-Empfänge, vergangenes Jahr mit Hollywood-Regisseur Steven Spielberg. Im Dezember lud sie in ihrer Residenz zur Feier des jüdischen Lichterfests Chanukka, im März zum muslimischen Fastenbrechen Iftar. "Wir müssen die Demokratie immer wieder verteidigen und immer wieder zeigen, dass wir bereit sind, nicht nur unsere eigenen Freiheiten, sondern auch die anderer Menschen zu unterstützen. Kulturdiplomatie hilft uns dabei. Sie lässt uns Teil von etwas Größerem werden, indem wir Menschen beistehen, die Unterstützung brauchen."

Beim Blick auf ihren Kalender und die Flut an repräsentativen Aufgaben fragt man sich, ob sie sich eigentlich jemals als Privatperson fühlt. "Ich bin vielen Menschen bekannt, aber alle, die mich wirklich kennen, wissen auch, dass ich immer ich selbst bin. Ich bin Botschafterin, aber auch Mutter und Großmutter. Ich werde 'Nana' genannt und fahre mit dem Fahrrad durch Deutschland. Das würde ich genauso tun, wenn ich privat unterwegs wäre. Das ist es, was ich am liebsten tue. Allerdings habe ich kaum Privatsphäre, ich brauche Personenschutz. Ich lerne jedoch Leute kennen, mit denen ich arbeite, und zähle sie zu meiner erweiterten Familie. Mein öffentliches Leben ist auch ein Teil meines Privatlebens. Ich bin nicht zwei Menschen. It's all of me", erklärt sie und springt in ihrer typischen Art gleich zur nächsten Anekdote. "Das ist übrigens einer meiner Lieblingssongs! Ich war auf den John-Legend-Konzerten in Berlin und Stuttgart. Er ist Absolvent der Universität von Pennsylvania, und während ich dort Präsidentin war, haben wir ihm die Ehrendoktorwürde verliehen. Zufällig hielt er dann seine Antrittsrede in der Woche, in der sein Song 'All of Me' auf Platz eins der Charts stieg."

Amy Gutmann mit ihrem Ehemann Michael W. Doyle (r.) und dem Künstler Shepard Fairey (l.), von dem sie im vergangenen Jahr ein Portrait von John F. Kenedy anfertigen ließ, um dessen Verdienste für die transatlantischen Beziehungen zu würdigen. Es hängt im JFK Forum in der US-Botschaft unweit des Brandenburger Tors, wo auch dieses Foto entstand.

Courtesy US Embassy

Warum sich Dr. Amy Gutmann im Alltag lieber für Sneaker statt Absatzschuhe entscheidet

Mit ihrem entgrenzten Konzept von Work-Life-Balance möchte sie auch Vorbild sein. "Gerade Frauen, die häufig den Großteil der Care-Arbeit in einer Familie übernehmen, haben oft das Gefühl, ihr Leben aufteilen zu müssen. Ich habe schwanger unterrichtet, als ich als Professorin an der Princeton University anfing. Und als meine Tochter geboren wurde, habe ich sie mit zur Arbeit genommen. Meine Studierenden hatten noch nie erlebt, dass Professor:innen ihr Kind mit zur Arbeit bringen. Vor allem die Studentinnen waren sehr glücklich, mich so zu sehen." Auch mit ihrer Kleidungswahl möchte sie ein modernes Vorbild sein. "Ich trage sehr gern Sneaker, weil sie so bequem sind. Früher nur gelegentlich, aber dann schrieben mir Frauen und bedankten sich dafür – sie hatten vorher das Gefühl, nicht in Sneakers zur Arbeit gehen zu können. Ich trage sie jetzt noch öfter, weil ich positive Signale senden möchte an jüngere Menschen, die in ihrer Karriere noch nicht so sicher sind wie ich."

Positive Signale senden und Optimismus versprühen, so könnte man Gutmanns Arbeitsansatz generell beschreiben. Aber wann wird aus Optimismus verklärtes Wunschdenken – gerade in Hinblick auf den Zustand der Demokratie in der sogenannten westlichen Welt? Die Europawahlen liegen gerade hinter uns, in Deutschland hat die in Teilen als gesichert rechtsextremistisch eingestufte AfD die zweitmeisten Stimmen geholt, in einigen Bundesländern liegt sie auf Platz eins. "Wenn ich über Optimismus spreche, meine ich damit, dass ich optimistisch bin, wenn die meisten Menschen sich weiterhin engagieren, ihre Stimme erheben, friedlich für das demonstrieren, woran sie glauben. Wenn das nicht mehr so ist, gibt es allen Grund, sehr besorgt zu sein", so Gutmann. "Schweigen fördert Ungerechtigkeit. Es geht um Respekt kontra Respektlosigkeit. Der Hass darf nicht gewinnen. Das kann und wird nur gelingen, wenn die meisten Menschen sich auch für jene einsetzen, die an den Rand gedrängt werden. Hoffnung allein ist noch kein Plan. Aber Hoffnung, die mit Taten verbunden ist – das ist der Weg, auf dem die Demokratie überlebt und gedeiht. Bei den Europawahlen hat die Mitte gehalten."

Egal, wie die US-Wahlen am 5. November ausgehen, Dr. Amy Gutmann wird Berlin als Botschafterin nicht erhalten bleiben. Sie hat sich schon jetzt entschlossen, aus dem Amt auszuscheiden und zusammen mit ihrem Mann zurück in die USA zu gehen. Ihre Besonnenheit wird fehlen – bleibt zu hoffen, dass uns ihr Spirit erhalten bleibt.

Dieser Artikel ist Teil unserer VOGUE-Septemberausgabe. Seit Samstag, 24. August 2024, ist diese im Zeitschriftenhandel oder hier erhältlich.