Sport & Gesellschaft

Paralympics-Schwimmerin und Goldmedaillen-Siegerin Elena Semechin auf dem VOGUE-Digitalcover im August 2024: "Diese zwei Prozent sind alles, was ich habe"

Vom 28. August bis zum 8. September 2024 finden in Paris die Paralympischen Spiele statt. Elena Semechin hat eine Sehbehinderung und geht für Deutschland im Para-Schwimmen an den Start. Bereits in London und Tokio konnte sie Medaillen gewinnen – dann folgte 2021 die Diagnose Gehirntumor. Nun hat sie sich in Paris erneut mit Gold gekrönt. "Der Krebs hat sich mit mir die Falsche ausgesucht", sagt Elena Semechin heute. VOGUE traf sie für die Reihe "In The Bag".
ParalympicsSchwimmerin Elena Semechin auf dem VOGUEDigitalcover im August 2024
Talent: Elena Semechin. Director: Clara Böhm. Producer: Marie Engelhardt. Video Team: Bariş Kutlu, Luca Hüther, boheifilm. Casting: Dominik Wimmer. Stylist: Camille Franke. Hair & Makeup Artist: Natalia Soboleva. Programming Lead: Nora Hiller. Edit: Tobias Kopske. Creative Optimization: Charlotte Jooß. With special thanks to: Hotel Oderberger

Elena Semechin ziert das rein digitale Cover von VOGUE im August 2024 – anlässlich der Paralympics in Paris.

Update: Am 5. September 2024 hat Elena Semechin ihren Titel verteidigt und erneut Gold bei den Paralympics gewonnen – mit neuem Weltrekord.

Von Wolke sieben auf Asphalt geknallt. Ein drastisches Bild. Eines, das Elena Semechin selbst verwendet, um den Tag im Oktober 2021 zu beschreiben. Den Tag, der ihr Leben für immer verändern sollte. Damals, als die Ärzt:innen in der Berliner Charité eine Auffälligkeit in den MRT-Aufnahmen ihrer linken vorderen Gehirnhälfte feststellten. Diagnose: diffuses Astrozytom. Gehirntumor.

"Das war erst mal ein Schock für uns alle", berichtet Elena Semechin im Gespräch mit VOGUE heute. "Das hat mein Leben um 180 Grad gedreht. Ich hatte unfassbar Angst davor, was jetzt mit mir passiert und wie lange ich noch leben kann." Für die Video-Aufnahmen mit VOGUE zu "In the Bag" sitzt sie in einem Schwimmbad. Eine gewohnte Umgebung für Semechin. Immerhin ist sie eine von Deutschlands besten Para-Schwimmer:innen.

Hier können Sie das "In the Bag"-Video mit Elena Semechin anschauen:

Elena Semechin verrät, wie man Profischwimmerin wird – ohne Wasser zu mögen

Im Alter von sieben Jahren wird bei Elena Semechin, die unter ihrem Geburtsnamen Krawzow in Kasachstan auf die Welt kommt, eine Makuladystrophie diagnostiziert. Mit elf Jahren zieht sie mit ihren Eltern nach Deutschland, wo sich ihre Netzhauterkrankung immer weiter verschlechtert: "Die Sehbehinderung ist mit Schüben immer schlimmer geworden, das heißt, ich hatte irgendwann hundert Prozent, und über die Pubertät hat sich das sehr rasant verschlechtert. Den letzten Schub hatte ich ungefähr mit Mitte zwanzig, jetzt ist es bei ungefähr zwei Prozent stehen geblieben, und ich hoffe, dass es auch so bleibt." Für sie seien diese zwei Prozent "alles, was ich habe, und ich versuche, das so gut es geht zu nutzen", so Semechin im VOGUE-Video. Die zwei Prozent, die ihr an Sehvermögen geblieben seien, würden dafür ausreichen, "um Kontraste oder auch mal größere Gegenstände erkennen zu können".

Und um im Schwimmbecken in ihrer Paradedisziplin, dem 100-Meter-Brustschwimmen, alles zu geben. Dabei bezeichnet Elena Semechin selbst ihre Beziehung zum Wasser in einem Beitrag von Magenta Sport überraschenderweise nicht als gut. Sie sei keine Wasserratte und möge es auch nicht, nass zu werden. In der ARD-Dokureihe "Generation F" offenbart sie, warum sie sich im Alter von 13 Jahren dennoch für den Schwimmsport entschied: "Ich bin eher froh, wenn ich aus dem Wasser raus kann. Aber damals habe ich mich einfach für einen Sport entschieden, denn wenn man jahrelang aufgrund der Behinderung mitgeteilt bekommt, dass man nichts kann und nichts schafft […], dann sehnt man sich irgendwann danach, allen zu beweisen, dass man doch was kann."

Und auch wenn sie selbst sagt, man könne bei ihr beim Schwimmen nicht von Talent sprechen, arbeitet sie sich mit hartem Training und Ausdauer an die Spitze des Para-Schwimmens. Nicht immer schmerzfrei, wie sie in der ARD verrät: "Ich bin ja Brustschwimmerin, ich kann mir also auch über die Züge ein bisschen Orientierung verschaffen. Inzwischen weiß ich – je nachdem, wie schnell ich schwimme –, wie viele Züge ich brauche für eine Bahn und wann ungefähr die Wand kommt. Klar, es geht trotzdem öfter was schief. Ich habe mir schon Finger gebrochen und Bänder gerissen. Das gehört dazu."

Heute ist Elena Semechin zweifache Weltmeisterin, vierfache Europameisterin, mehrfache Weltrekordhalterin – und paralympische Goldmedaillen-Gewinnerin. Bei ihren dritten Paralympics in Tokio, die aufgrund der Corona-Pandemie 2021 stattfinden, kürt sie sich mit der wohl höchsten Auszeichnung, die es im Para-Schwimmen zu gewinnen gibt. Doch: Während sie sportlich am Höhepunkt angekommen ist, plagen sie körperlich starke Kopfschmerzen, die nicht besser werden wollen. Es folgt besagter Tag in der Berliner Charité – und der Fall von Wolke sieben auf Asphalt.

Elena Semechin, damals noch unter ihrem Geburtsnamen Krawzow schwimmend, gewinnt bei den Paralympics in Tokio Gold – schon damals plagen sie schreckliche Kopfschmerzen. Wenig später folgt im Herbst 2021 die Diagnose Hirntumor.

Dean Mouhtaropoulos/Getty Images

"Der Krebs hat sich mit mir die Falsche ausgesucht"

Der Tumor wird in Elena Semechins linker Gehirnhälfte lokalisiert und damit in der Nähe des Sprach-, Motivations- sowie Persönlichkeitszentrums. "Also eigentlich all das, was für mich so enorm wichtig ist", sagt die Para-Schwimmerin gegenüber Filmemacherin Juliane Möcklinghoff, die Elena Semechin für "Generation F" mehrere Monate begleitet hat. "Der Tumor war ja diffus, das heißt, man konnte nicht richtig trennen, was ist jetzt Gehirn und was ist der Tumor. Wenn sie nur einen Millimeter daneben schneiden, kann es total in die Hose gehen."

Da die Ärzt:innen nicht garantieren können, dass bei der OP der Tumor restlos entfernt werden kann, folgt im Dezember 2021 eine Bestrahlung und anschließend eine 13-monatige Chemotherapie. "Der Krebs hat sich mit mir die Falsche ausgesucht", sagt Elena Semechin heute. Sie wolle nicht, dass der Krebs über ihr Leben bestimme: "Deswegen möchte ich weiterhin bestimmen, was ich damit mache", so die Athletin gegenüber Magenta Sport.

Und so erscheint Elena Semechin Ende 2021, sieben Tage nach ihrer Hirn-OP, wieder zum Training im Berliner Schwimmteam des Paralympischen Sport Clubs Berlin. "Das war schon verrückt", sagt ihr Trainer, "aber das war die Elena, die ich kannte." Ihr Trainer Phillip Semechin ist mittlerweile auch ihr Ehemann. Kurz vor der Tumor-Diagnose hatten sie gemeinsam nach Ringen gesucht, wenige Tage vor der schweren Operation fand die Hochzeit statt. "Das war für mich auch wichtig, dass ich mein Jawort selber noch im vernünftigen Zustand sagen konnte. Das war vielleicht egoistisch im Nachhinein, aber Gott sei Dank ist alles gut gelaufen", so Elena Semechin in "Generation F".

Vor Beginn der weiteren Krebstherapie schneidet sie schließlich ihre langen Haare ab und spendet diese, "um noch etwas Sinnvolles damit anzufangen", wie sie in einem Interview mit "Zeit Online" im Mai 2022 berichtet. Wenige Wochen vor besagtem Gespräch gibt die Para-Schwimmerin ihr Wettkampf-Comeback bei den Internationalen Deutschen Meisterschaften in Berlin. "Vier Tage zuvor war der zweite Zyklus ihrer Chemotherapie zu Ende gegangen. Zum ersten Mal war es Semechin richtig schlecht gegangen: Sie aß und trank nichts, hatte Schwindel und Fieber, war kraftlos. Bis 15 Minuten vor dem Start war unklar, ob sie mitschwimmt. Am Ende wurde sie Zweite", heißt es in dem Artikel der "Zeit". Und wenige Wochen später, bei den World Para Swimming Championships 2022 auf Madeira? Sichert sich Elena Semechin erneut den zweiten Platz und damit die Silbermedaille.

Elena Semechin (links) bei der Medaillenvergabe nach dem Finale über 100 Meter Brust bei den World Para Swimming Championships 2022 Funchal auf Madeira.

Octavio Passos/Getty Images

Warum sich Elena Semechin keine Ruhe gönnt? Warum sie sich trotz der kräftezehrenden Krebstherapie so quält? Wissen wird das nur sie selbst. In Interviews sagt die Para-Schwimmerin, das Training habe ihr die Kraft gegeben, die Chemo durchzustehen. Welche Bedeutung der Sport für professionelle Athlet:innen hat, kann man als Freizeitsportler:in vermutlich nur ansatzweise erahnen. Schon vor der Tumor-Diagnose scheint für Elena Semechin das Schwimmen weit über die physische Betätigung hinauszugehen. "Ich muss gestehen, dass ich wirklich viel zu spät für mich selbst akzeptiert habe, dass ich eben so bin, wie ich bin", offenbart sie im Video mit Magenta Sport. "Das war tatsächlich erst mit Anfang 20, als ich im Para-Sport erfolgreich wurde und gemerkt habe, dass ich aus meinem Leben etwas machen kann, […] dass man ja durchaus trotzdem etwas mit seinem Leben anfangen kann, auch wenn man eine Behinderung hat."

Mit Größenwahn erneut zu Gold?

Drei Jahre nach ihrer Goldmedaille in Tokio und drei Jahre nach ihrer Krebsdiagnose wird Elena Semechin bei den Paralympischen Spielen in Paris erneut an den Start geben. Es werden ihre vierten Paralympics sein, "aber trotzdem sind das für mich irgendwie besondere Spiele", so Semechin gegenüber Magenta Sport. Nach alldem, was sie in den vergangenen Jahren erlebt habe, wolle sie es sich selbst beweisen, "ob ich es schaffe, noch besser zu performen als vor der Erkrankung". Und doch sei sie "gierig danach, zu gewinnen und eine Bestleistung zu zeigen", wie sie in der ARD-Dokumentation sagt.

Dabei versuche sie, die Krebserkrankung "schon eher wegzuschieben und nicht so viel darüber nachzudenken, aber ich habe manchmal so Phasen, gerade auch, wenn es mir nicht ganz so gut geht". An dieser Stelle stockt die Para-Schwimmerin kurz und wirkt nachdenklich. Sie berichtet vom vergangenen Jahr, als sie eine Panikattacke bekommen habe, aus Angst, dass der Krebs wiederkommen könnte. Denn: Auch wenn das diffuse Astrozytom als "eingeschränkt gutartig oder niedriggradig bösartig" gilt, ist es fast nie heilbar. Aktuell bezeichnen die behandelnden Ärzt:innen Elena Semechins Tumorbefund als stabil, alle fünf Monate muss sie zu einem Kontroll-MRT.

Wenn Elena Semechin sich selbst beschreiben soll, fällt in Beiträgen immer wieder der Begriff "größenwahnsinnig". Es klinge vielleicht größenwahnsinnig, dass sie in Paris ihre Goldmedaille verteidigen wolle, doch schließlich sei sie ja schon immer größenwahnsinnig gewesen, sagt sie etwa im "Zeit"-Interview. Man mag es Semechin angesichts ihres Ehrgeizes, ihrer Beharrlichkeit und ihres scheinbar unermesslichen Durchhaltevermögens durchaus zutrauen, dass besagter Größenwahn sie zu Gold führt. Es wäre vermutlich die Geschichte der Paralympischen Spiele 2024. Wenn es für Elena Semechin vom Asphalt wieder hinauf geht – erneut auf Wolke sieben.

Mehr Themen auf VOGUE.de: