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ADHS: So fühlt sich die neurologische Verhaltensstörung für Betroffene an

ADHS ist eine bei Frauen unterdiagnostizierte Entwicklungsstörung, die bei Nichtbehandlung schmerzliche Folgen hat. Amel Mukhtar, Redakteurin der britischen VOGUE, beschreibt ihren Weg damit. Und bittet um Mitgefühl.
ADHS So fühlt sich die neurologische Verhaltensstörung für Betroffene an
Karyna Bartashevich

ADHS ist eine neurologische Verhaltensstörung: VOGUE-Redakteurin Amel Mukhtar schreibt hier über ihren Weg damit – und verrät, was Mitgefühl bereits bewirken kann

Sie lesen diesen Artikel kurz nach dem "ADHD-Awareness-Month", weil ich es versäumt habe, ihn wie vereinbart zur Monatsmitte im Oktober einzureichen. Als wir den Artikel in unserer Redaktionssitzung besprachen, machte ein Vorgesetzter genau darüber einen Witz – und im Geiste schwor ich mir, dass diese Situation nicht eintreten würde. Ich würde mich beweisen. Doch es passierte wieder.

Es ist immer wieder von Neuem schwer, meinen Mitmenschen zu erklären, was eigentlich genau passiert ist, wenn ich sie auf irgendeine Weise enttäuscht habe: Ich bin schon wieder zu spät. Ich habe mich wochen- oder monatelang nicht gemeldet – oder ich habe sogar vergessen, mich überhaupt zu melden. Mein Text kommt zu spät. Dann geht es los: Warum stehst du nicht früher auf oder fängst früher an? Warum antwortest du nicht sofort? Warum kannst du nicht aus deinen Fehlern lernen?

Für ADHS bezahlen die Betroffenen tagtäglich in ihrem Alltag

Wenn man dann ADHS erwähnt, werden oft die Augen gerollt. Es wird die "Bootstraps"-Mentalität genannt: Jeder war schon einmal zu spät, niemand macht gerne diese oder jene Arbeit, jeder verliert hin und wieder Dinge – also reiß du dich doch bitte auch zusammen. Das ist bereits ein großer Teil der Frustration; wie dumm es erscheint, wie einfach es sein sollte und wie persönlich es sich anfühlt, doch immer wieder zu "versagen". Es ist eine Störung, für die man gleich zehnfach bezahlt: Nicht nur mit der Bitterkeit, seine eigenen Ziele nicht erreicht zu haben, sondern auch mit der Scham die anderen enttäuscht zu haben. Man leidet unter der Bestrafung, die man in diesen Moment erfährt – und verliert dadurch langfristig möglicherweise eine Beförderung, eine Beziehung, eigene Träume, ja sogar Lebenszeit.

Ein Beispiel: Bevor ich ein offizielles Dokument für ADHS hatte, erhielt ich in der Schule in vielen Wochen nicht mein "Education Maintenance Allowance"-Geld, weil ich zu oft zu spät kam. Eine Lehrerin ließ mich morgens in der Klasse warten, während sie außer Hörweite unterrichtete – und ich fühlte mich gedemütigt, weil die Augen meiner Mitschüler auf meinen Rücken gerichtet waren und an mir und mit mir ein Exempel statuiert werden sollte. Schließlich schrie sie mich an – einmal sogar mit Tränen in den Augen –, weil ich ihren Unterricht augenscheinlich nicht ernst nahm. Ich verpasste neben dem Geld also auch ihren Unterricht und verlor wertvolle Zeit. Zudem entstand dadurch jeden Tag eine Angst zur Schule zu gehen; ich schämte mich und fühlte mich schlecht, weil ich sie verletzt hatte. Aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte mich nicht konsequent ändern.

Durch ADHS kann das Zeitgefühl nicht richtig genutzt werden

Der Neurologe Dr. Russell Barkley, ein führender Experte auf dem Gebiet der Störung, erklärt, dass "Menschen mit ADHS ihr Zeitgefühl nicht richtig nutzen können, da es ja ein Teil ihres Frontallappens ist". Dieser Teil des Gehirns ist kleiner, wodurch die Neuronen eine schwächere Funktion haben. Es führt somit zu "Zeitblindheit", also dazu, dass das Vergehen der Zeit nicht so wahrgenommen werden kann, wie die Mitmenschen es erleben, oder, wie Barkley das Phänomen nennt, zu einer "Kurzsichtigkeit in Bezug auf die Zeit, die es ihnen unmöglich macht, sich darin normal zu orientieren".

Die Forschung zeigt, dass alle Exekutivfunktionen des Gehirns von ADHS betroffen sind – von der Verhaltenshemmung über die Wahrnehmung visueller Bilder bis hin zum verbalen Arbeitsgedächtnis – was zu kurzfristiger Vergesslichkeit führt – sowie der Emotionsplanung. Die letztgenannte Funktion ist nach Barkleys Ansicht ein wichtiger Schlüsselpunkt bei dieser Störung – sie führt zu Impulsivität, aber auch zu der Unfähigkeit, Gefühle zu regulieren.

Betroffene von ADHS sind Kritik gegenüber emotional empfindlicher

Bei den meisten Menschen dämpfen die neuronalen Netze auf natürliche Weise die anfängliche Angst vor einer Aufgabe, um sie letztendlich zu bewältigen – aber ein Gehirn mit ADHS hat damit Schwierigkeiten. Die Emotionen können so stark sein, dass man zu allem greift, um sich zu beruhigen – sei es als Reaktion auf eine Nachricht von einer nahestehenden Person, oder die Sorge, wie man selbst oder die eigene Arbeit aufgenommen werden könnte. Dies wird als "Rejection Sensitivity Dysphoria (RSD)" bezeichnet; eine extreme emotionale Empfindlichkeit gegenüber möglicher Ablehnung oder Kritik. Dadurch entsteht eine Zwickmühle, die die Betroffenen, zusammen mit Konzentrationsproblemen, von der Ausführung Ihrer Pläne abhält. Durch die unvermeidliche Ablehnung und Kritik, die wiederum aus dem Scheitern resultiert, werden Menschen mit ADHS noch zusätzlich bestraft.

Manche meiden ihre Aufgaben schließlich ganz und geben ihre einstigen Ziele auf. Andere versuchen, die Probleme durch einen Kreislauf aus Schmerz, Ablenkung und Neuversuchen zu bekämpfen, der sich jedoch über den ganzen Tag erstrecken kann. So habe ich Abende und Wochenenden durchgearbeitet und mich durch Nachtschichten gequält, um Aufgaben zu erledigen, die meine Kolleg:innen innerhalb der Bürozeiten schaffen – und bin trotzdem am nächsten Morgen wieder zur Arbeit gekommen. Auch wenn die Arbeit einen größeren Teil des Lebens eines ADHS-Betroffenen einnimmt – weil die sichtbaren Ergebnisse geringer sind oder länger brauchen –, entsteht immer wieder der Eindruck, dass man sich nur nicht genug anstrenge.

Statt Aufmerksamkeitsdefizitstörung, so Barkley, könnte man auch von einer "Absichtsdefizitstörung" sprechen: "Ich scheine also nicht in der Lage zu sein, die meisten Dinge, die ich mir vorgenommen habe, auch zu erreichen."

Medikamente helfen bei ADHS zur Bewältigung des Alltags

Mein erster Tag mit dem Medikament Methylphenidat öffnete mir die Augen, wie es sich wohl anfühlen würde, diese Störung nicht zu haben. Anstatt mich von meinen E-Mails, Nachrichten und Terminen überwältigt zu fühlen – die gleichzeitig mehrere ungeordnete Gedanken und Gefühle ausgelöst hätten und dann zwischen Erinnerung und Vergessen hin- und hergeschoben würden –, spürte ich ein ruhig arbeitendes Gehirn. Und eine andere Beklemmung: Es fühlte sich alles so geradlinig an. Meine Gedanken schweiften nicht ab: Eine E-Mail kam rein, ich wollte sofort antworten und dann weiter zur nächsten. Meine Textabgabe stand am Ende des Tages bevor, also verspürte ich auch hier den Drang, direkt zu handeln – und stattdessen nicht diese überwältigenden, schwerfälligen Gefühle, die mich wie ein kurzer Atemstopp überkommen und mit der vergeblichen Hoffnung verbunden sind, auch wieder zu verfliegen.

Es handelt sich um eine genetisch bedingte neurologische Entwicklungsstörung. Die ADHS meines Vaters könnte sogar der Grund dafür sein, dass ich überhaupt auf die Welt kam. Er war am Flughafen im Sudan und bereit, woanders ein neues Leben zu beginnen, als er einem Freund begegnete und sich in ein Gespräch vertiefte, das seine Aufmerksamkeit von seinem Koffer ablenkte. Sein gesamtes Hab und Gut wurde gestohlen. Schließlich blieb er also im Sudan und lehrte an einer Universität, wo er schließlich meine Mutter kennenlernte.

ADHS und Autismus sind verwandt und treten oft zusammen auf

ADHS ist eng mit Autismus verwandt. Wenn eine der beiden Störungen in einer Familie vorkommt, hat man in der Regel auch die andere – sie haben gemeinsame Merkmale und treten häufig zusammen auf. Autismus ist ebenso vielfältig wie ADHS in der Ausprägung und den Arten, in denen es sich manifestieren kann. Ein Cousin von mir ist dadurch nonverbal, während man bei anderen Menschen nicht weiß, dass sie Autismus haben, solange man nicht danach fragt. Auch bei ADHS gibt es ein Spektrum.

Die Auswirkungen sind ungleich: Als POC spüre ich den Druck, eine der wenigen Vertreterinnen in einer Medienlandschaft zu sein, die zu 94 Prozent weiß ist. Wenn man versucht, Menschen zu beeindrucken, denen man – wenn auch nur unbewusst – beigebracht hat, von vornherein wenig von einem zu erwarten, kann es sich so anfühlen, als würde man ihren Verdacht bestätigen und möglicherweise Türen für andere schließen, anstatt sie zu öffnen. Wahrscheinlich ist dies der Grund dafür, dass ADHS seit Generationen bereits als Störung bei weißen Männern angesehen wird – bei ethnischen Minderheiten und Frauen jedoch unterdiagnostiziert wurde, was im letzten Jahr zu einem Wachrütteln seitens dieser Bevölkerungsgruppen in den sozialen Medien führte. Wenn weiße Männer ein Problem haben, neigen die Menschen dazu, nach einem Grund zu suchen, anstatt es als persönliches Versagen abzutun. Wenn man bereits gegen rassistische Stereotypen wie Mangel an Bildung oder Betrug am System ankämpft, können ADHS-Symptome vermeintlich all das bestätigen, was Kritiker insgeheim oder unbewusst denken.

ADHS ist bei Frauen und ethnischen Minderheiten unterdiagnostiziert

Es ist erschreckend, das auch bewusst zuzugeben. In einer Unternehmenskultur, in der wir gezwungen sind, die gleichen Stärken wie Zeitmanagement, Organisationstalent und die Fähigkeit, unter Druck hervorragende Leistungen zu erbringen zu besitzen, ist es beängstigend zuzugeben, dass diese Bereiche einem manchmal Schwierigkeiten bereiten können. Was ist, wenn man uns keine Verantwortung mehr überträgt? Was ist, wenn wir dadurch nicht mehr eingestellt werden? Was, wenn wir dadurch Investoren für eine Start-up-Idee abschrecken? Was ist, wenn die Mitmenschen entscheiden würden, dass wir den potenziellen Ärger nicht wert sind?

Mehr noch als "nur" ein Bewusstsein für ADHS brauchen wir ein tiefes Verständnis dafür, dass diese Störung keine Eigenart oder eine Ausrede für geringere Leistung ist – sondern eine Behinderung, die schmerzhafte Auswirkungen haben kann. Denn man bezahlt dafür: Man verliert dadurch viel, man läuft ins Messer. Fast jede:r Freund:in mit ADHS von mir hat mindestens diesen einen niederschmetternden persönlichen Misserfolg erlebt: Vielleicht ist es nur ein drittklassiger Abschluss – oder das Studium wurde überhaupt nicht abgeschlossen, vielleicht wurde man in jedem (wirklich jedem!) Job gefeuert. Bei mir trat der schlimmste Moment ein, als ich versehentlich eine meiner Abiturprüfungen verpasste und daraufhin in meinen beiden vorläufig bestätigten Studiengängen abgelehnt wurde.

Ein Bewusstsein für ADHS kann den Zugang zur Diagnostik erleichtern

Wenn ADHS ernster genommen würde, könnte das Bewusstsein dazu beitragen, den Zugang zur Behandlung zu erleichtern. Mehr als anderthalb Jahre, nachdem meine Freundin Atila mich zum ersten Mal dazu gedrängt hat, mich dignostizieren zu lassen, stehe ich immer noch auf einer Warteliste des National Health Service. In der Zwischenzeit habe ich immerhin die private Krankenversicherung über mein Unternehmen abgeschlossen, die die erste Konsultation abgedeckt hat – und zu einem Rezept führte, aber jede weitere Behandlung (um die richtige Dosierung zu finden) kostet Hunderte von Pfund. Bei einer Störung, die einen so extrem einschränken kann, ist es entmutigend, dass Hilfe so schwer zu finden und zusätzlich so teuer ist.

Wir könnten Systeme schaffen, die jedem helfen, auf die eigene Art erfolgreich zu sein – und zwar so, dass wir alle davon profitieren. Wie bei Autismus gibt es Bereiche, in denen Menschen mit ADHS besondere Stärken haben – einfallsreiche Lösungen, übermäßige Konzentration auf eigene Interessen, eine hohe Kreativität, die sich auch durch ihre Überrepräsentation in der Kunst widerspiegelt. In meinem Job habe ich das Glück, einen Vorgesetzten zu haben, der anerkennt, was ich einbringe – und mir auch vieles verzeiht, was ich manchmal nicht kann. Für Menschen, die neurologisch bedingt überempfindlich auf Ablehnung reagieren, kann das eine sehr große Ermutigung sein.

Der Behandlungserfolg von ADHS hängt vom Mitgefühl aller ab

Einfühlungsvermögen ist sowieso der erste Schritt. Dr. Barkley erklärt, dass bei dieser chronischen Behinderung "der Erfolg jeder Behandlung vom Mitgefühl der Mitmenschen abhängt; wie stark sind sie bereit, den Weg zur Leistung zu modifizieren", d.h. "Prothesen" zu integrieren, die bei Schwächen helfen. Die Anzahl der Menschen, die ich versehentlich verletzt, verärgert oder im Stich gelassen habe, und die Angst, dass ich dadurch abgeschrieben wurde oder dass man mir nie verzeihen wird, hat mich nächtelang wach gehalten. Ich möchte mich also bei allen entschuldigen, die ich kenne, bei allen, denen ich geschadet habe, und ich möchte mich im Voraus für Verhaltensweisen entschuldigen, die ich nur schwer ändern kann. Um was ich im Gegenzug bitte? Nur ein wenig Mitgefühl.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Vogue.co.uk.

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